Tagesschulen im Fokus (E-Book) - Patricia Schuler Braunschweig - E-Book

Tagesschulen im Fokus (E-Book) E-Book

Patricia Schuler Braunschweig

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. In der Deutschschweiz gibt es immer mehr Tagesschulen, die Unterricht und Betreuung unter einem Dach anbieten. Welche Chancen ergeben sich dadurch? Und welchen Herausforderungen müssen sich die Akteur*innen von Tagesschulen stellen? Dieser Band nimmt die Institution Tagesschule im Hinblick auf die drei Themen Akteur*innen, Kontexte und Perspektiven in den Fokus.

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Patricia Schuler Braunschweig / Christa Kappler (Hrsg.)

Tagesschulen im Fokus

Akteur*innen – Kontexte – Perspektiven

 

ISBN Print: 978-3-0355-2226-6

ISBN E-Book: 978-3-0355-2227-3

 

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Tagesschulen im Fokus – Vorwort

Tagesschulen – was sie sind und was dort gemacht wird

Akteur*innen

Wo Kinder sich in Tagesschulen wohlfühlen

«Ein noch stärker auszuschöpfendes Potenzial!» Umfassende Bildung durch die Zusammenarbeit von Lehrpersonen und Fachpersonen Betreuung an Tagesschulen – die Sicht der sozialpädagogischen Fachpersonen

Tagesschul-Narrative von Lehrpersonen

Tagesschule live und praktisch – die Sicht einer Schulleiterin

Kontexte

Die Mittagszeit in Tagesschulen

Bewegungs- und Sportangebote in der Tagesschule – partizipative Auswahl

Zwischen Entlastung und Kontrollverlust – was bedeutet der Wegfall der Hausaufgaben für das Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule?

Perspektiven

Ganztagsschule in Deutschland: Konzeption, Ansprüche und Forschungsbefunde

Das «School-age Educare» (SAEC) in Schweden: Betreuung, Bildung und Freizeit

«Wenn es an Tagesschulen knistert» – Ein Qualitätsmodell zu resonanten Tagesschulen

Autorinnen und Autoren

Tagesschulen im Fokus – Vorwort

Patricia Schuler Braunschweig und Christa Kappler

In der Schweiz ist das Modell der Tagesschule – anders als im europäischen Ausland – noch eher Neuland. Das gängige Modell der Schweizer Volksschule ist so ausgerichtet, dass die Schülerinnen und Schüler vormittags und je nach Schulstufe auch nachmittags Unterrichtslektionen besuchen. Dazwischen können Angebote für die Morgen- und/oder Nachmittagsbetreuung sowie für das Mittagessen additiv dazugebucht werden. Im Tagesschulmodell hingegen finden vielseitige Bildungsangebote «unter einem pädagogischen Dach» statt, die Kinder verbringen tendenziell mehr Zeit an der Schule, und verschiedene Professionen arbeiten eng zusammen.

Was ist überhaupt eine «Tagesschule» in der Deutschschweiz? Wie erleben die relevanten Akteurinnen und Akteure den Alltag in einer Tagesschule? Welches sind spezielle Themen und Aspekte, die sich durch den Tagesschulbetrieb eröffnen? Und was zeigt ein Blick über die Ländergrenze sowie in die visionäre Zukunft der Tagesschule?

Der vorliegende Sammelband gibt entlang dieser Fragen Einblicke in das Thema Tagesschule. Zunächst legen Patricia Schuler Braunschweig und Ursula Rellstab in einer Einleitung dar, wie der Diskurs rund um Tagesschulen in der deutschsprachigen Schweiz verläuft und wie dieses Schulmodell grundsätzlich konzeptioniert wird.

Im darauffolgenden Teil werden die Sichtweisen verschiedener Akteurinnen und Akteure beleuchtet. Patricia Schuler Braunschweig berichtet von einer Studie mit Kindern in einer Tagesschule, die sich der Frage widmete, wo diese sich (nicht) wohlfühlen und warum. Emanuela Chiapparini und Andrea Scholian fokussieren auf die Fachpersonen Betreuung und deren Blick auf die professionelle Zusammenarbeit mit Lehrpersonen, wobei sie vier zentrale Handlungsmuster ausmachen. Hannes Ummel zeichnet demgegenüber in essayistischer Form die Narrative und Berufsverständnisse von vier Lehrpersonen in sich neu konstituierenden Tagesschulen nach. Schliesslich gibt Romy Müller aus Sicht der Schulleitung Einblicke in den Prozess, wie ihre Schule den Wechsel vom traditionellen Schulmodell zur Tagesschule vollzogen hat und welche Chancen und Herausforderungen sich dadurch ergaben.

Der zweite Teil widmet sich spezifischen Kontexten in Tagesschulen. Patricia Schuler Braunschweig und Christa Kappler gehen der Frage nach, was die Neugestaltung der Mittagszeit in entstehenden Tagesschulen für Lehrkräfte, Betreuungspersonen und Eltern bedeutet. Anschliessend berichten Ilaria Ferrari, Kathrin Bretz und Patricia Schuler Braunschweig von ihrer Studie zu ausserunterrichtlichen Sport- und Bewegungsangeboten in Schulen mit Tagesstrukturen und zeigen eine Möglichkeit auf, diese Angebote partizipativ mit den Schülerinnen und Schülern auszuwählen. Christa Kappler und Patricia Schuler Braunschweig fragen schliesslich, was mit der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Elternhaus und Schule passiert, wenn in neu gegründeten Tagesschulen plötzlich die Hausaufgaben wegfallen.

Im dritten Teil folgen erweiterte Perspektiven auf das Thema der Tagesschulen. Zunächst gibt Natalie Fischer einen Überblick über die Entwicklung von Ganztagsschulen in Deutschland und stellt anhand der Ergebnisse empirischer Studien die damit einhergehenden Erwartungen und Hoffnungen auf den Prüfstand. Im Anschluss blicken wir im Beitrag von Lina Lago und Helene Elvstrand auf die School-age Educare (SAEC) in Schweden, die als bedeutsamer Bestandteil des Wohlfahrtsstaates institutionelle Freizeitaktivitäten für alle Kinder und Jugendlichen anbietet. Zum Abschluss skizzieren Esther Forrer Kasteel und Patricia Schuler Braunschweig eine Vision und ein Qualitätsmodell von Tagesschulen mit Resonanz, in denen Beziehungen zwischen Menschen und Menschen, Menschen und Inhalten sowie der Welt insgesamt als echte und wahrhafte Begegnungen gepflegt werden.

Das Buch richtet sich an ein breites Publikum: an Eltern, die sich informieren wollen; Lehrpersonen, welche die Perspektive der Betreuung kennenlernen möchten und umgekehrt; Behördenmitglieder, die sich für die Sicht der Kinder interessieren; und viele andere mehr, die neugierig sind, was Tagesschulen und Schulen mit Tagesstrukturen in der Deutschschweiz zu bieten haben.

 

Zürich, im Februar 2023

Patricia Schuler Braunschweig und Christa Kappler

Tagesschulen – was sie sind und was dort gemacht wird

Patricia Schuler Braunschweig und Ursula Rellstab

1Ausgangslage

In zahlreichen OECD-Ländern sind Tagesschulen oder Schulen als «Unterricht und Betreuung» die gängige Form öffentlicher Bildung und Erziehung, wohingegen in der Schweiz diese Entwicklung deutlich langsamer verläuft (Allemann-Ghionda, 2003; Schuler Braunschweig, & Kappler, 2018). Jedoch wird seit geraumer Zeit der Ausbau von Tagesschulen gefordert, in denen Kinder nicht nur unterrichtet, sondern auch betreut werden. Vor allem wirtschafts-, sozial- und bildungspolitische Überlegungen fliessen ein. Als Argumente für die Ausbauforderungen von Tagesschulen werden die vermehrte Lernzeit und die Verknüpfung von formalen mit non-formalen Inhalten (Böllert, 2008; Lanfranchi, 2004), die gerechte Verteilung von Bildungschancen und der Zugang zu Bildungsinhalten (Holtappels, Klieme, Rauschenbach, & Stecher, 2008) sowie der demografische Wandel und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Criblez, & Manz, 2011; Salvi, 2016) ins Feld geführt.

Zwar existiert der Hort in manchen Kantonen als ausserunterrichtliche Betreuung schon lange. Auch Mittagstische wurden an Schulen in Bergregionen organisiert, damit Kinder die langen Schulwege nicht auf sich nehmen mussten. Eine pädagogisch-konzeptuelle Verbindung zwischen den beiden Organisationen Betreuung und Schule wurde allerdings weder gefordert noch etabliert, wodurch die beiden Strukturen bislang eher parallel verlaufen. So melden Eltern ihr Kind bei Krankheit meist bei der Lehrperson wie auch bei der Betreuungsperson ab, feiern Weihnachten und Sommerfeste sowohl in der Schule als auch in der Betreuung.

Während die Schulpflicht eine konstante Anwesenheit der Kinder verlangt, ist der Besuch in der ausserunterrichtlichen Betreuung bedürfnisorientiert, punktuell, auf die Wünsche der Eltern abgestimmt und kostenpflichtig. Ähnlich wie in privat angebotenen Kursen sind die Kinder in der ausserunterrichtlichen Betreuung in altersdurchmischten Gruppen, befinden sich unter Aufsicht von professionellen, meist sozialpädagogisch qualifizierten Betreuenden, besuchen thematische Kurse und Aufgabenhilfe, spielen in der offenen Turnhalle oder frei. Kurz: Sie werden betreut, versorgt, beaufsichtigt und manchmal beschult.

Es zeigt sich, dass diese Kinderbetreuung regional sehr unterschiedlich genutzt wird, was unter anderem mit der Verfügbarkeit von Betreuungsangeboten zusammenhängt. In französischsprachigen Kantonen, städtischen Kantonen wie Basel-Stadt und Genf sowie Kantonen mit einer Grossstadt wie Zürich nehmen über 70 Prozent der Eltern familienergänzende Kinderbetreuung in Anspruch. In den eher ländlichen Kantonen der Deutschschweiz und im Tessin kommt mehrheitlich die nicht institutionalisierte Betreuung zum Zuge. Dabei greifen die Eltern vor allem auf die Grosseltern zurück (BFS, 2020).

Im Kanton Zürich wird unter Tagesstrukturen allgemein die Betreuung der Schülerinnen und Schüler ausserhalb der Unterrichtszeit verstanden (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2022; EDK, 2022). Konkret handelt es sich dabei beispielsweise um Horte, Mittagstische, Betreuung während der Randzeiten am Morgen und am Nachmittag oder betreute Aufgabenhilfe. Mit Tagesschulen sind geleitete Schulen mit einem ganzheitlichen pädagogischen Konzept zur Verzahnung von Unterricht und Freizeit gemeint, welche – entsprechend dem Grad der Anwesenheitspflicht der Kinder – als gebunden, offen und teilgebunden charakterisiert werden (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2022).

Die Stadt Zürich treibt als erste Schweizer Gemeinde den Schulentwicklungsprozess flächendeckend voran: Mit dem Projekt «Tagesschule 2025» sollen sukzessiv sämtliche bestehende Regelschulen in das Modell der Tagesschule überführt werden. Schülerinnen und Schüler nutzen dabei an mindestens drei Tagen verbindlich ausserunterrichtliche Angebote im und ums Schulhaus (wie beispielsweise Mittagstisch sowie Förder- und Freizeitangebote).[1] Verglichen mit der klassischen Schulpädagogik orientiert sich dieses Schulmodell an einem erweiterten Bildungs- und Erziehungsbegriff (Böllert, 2008; Chiapparini, Kappler, & Schuler Braunschweig, 2018), dem zufolge Bildung und Erziehung nicht nur als Teil des Unterrichts angesehen werden, sondern ebenso in ausserunterrichtlichen Angeboten stattfinden. Damit schlägt die Stadt Zürich einen deutlich anderen Weg ein als die meisten anderen Gemeinden im Kanton: Während in der Stadt Zürich von den Eltern eine Abmeldepflicht der Kinder von der (für alle stark subventionierten) Mittagsbetreuung erwartet wird, sind in den anderen Gemeinden modulare kostenpflichtige Betreuungsangebote vorgesehen, die von den Familien je nach Bedarf gewählt werden können (Schuler Braunschweig, & Kappler, 2018).

2Wie kommt es zu politischen Forderungen von Tagesschulen in den letzten zwanzig Jahren?

In schweizerischen Volksschulen existierte lange, seit mehreren hundert Jahren, eine Zweiteilung. Unterricht fand am Morgen und am Nachmittag statt, über Mittag assen die Kinder zu Hause. An dieser Zweiteilung wurde in der deutschsprachigen Schweiz lange festgehalten, während viele andere europäische Länder wie Frankreich, Italien sowie die englischsprachigen und skandinavischen Länder einen anderen Weg gingen und schon früh den ganztägigen Schulbesuch konzipierten, mit dem Mittagessen an der Schule und ausserunterrichtlichen Aktivitäten rund um den Unterricht (Allemann-Ghionda, 2020).

Auch in Deutschland liess sich nach den ernüchternden Ergebnissen der PISA-Studie im Jahr 2000 eine bildungspolitische Bemühung und damit eine verstärkte Entwicklung Richtung Ganztagsschule verzeichnen (Ludwig, 2020). Stetig wird der Unterricht in Deutschland heute durch Aktivitäten ausserhalb des Unterrichts ergänzt, welche an der Schule stattfinden (Fischer, & Kuhn, 2021). Zahlreiche reformpädagogische Strömungen hatten Einfluss auf die Konzeption von Schule, und Erfahrungen aus den Landschulheimen wurden für die Gestaltung der Ganztagsschule in Deutschland genutzt (Ludwig, 2020).

In der Schweiz wurde in den letzten zwei Jahrzehnten mit dem (politischen) Ruf nach Tagesschulen das Bedürfnis nach einer stabilen Lösung institutioneller Bildung und Betreuung für Kinder und deren Eltern und somit nach einer Verbundenheit zwischen ausserunterrichtlicher Zeit und Unterricht erneut deutlich. Der soziodemografische Wandel und veränderte Familienstrukturen (z.B. weniger Grosseltern, die im selben Haushalt leben und die Enkelkinder betreuen), die Migrations- und Zuwanderungsbewegung von Fachkräften wie auch die Erhöhung von arbeitstätigen Eltern (insbesondere teilzeitarbeitende Frauen) führten zu einer vermehrten Nachfrage nach Kinderbetreuungsplätzen (Aeberli, & Binder, 2005). Die Anzahl der Kindertagesstätten wurde erhöht, und sobald diese Kleinkinder in die Schule kamen, waren im Anschluss Betreuungsplätze für Schulkinder gefragt (Mangold, & Messerli, 2005). Vor allem in den Städten Genf, Basel, Bern und Zürich stiegen die Anmeldungen für ausserunterrichtliche Betreuung und machten damit manifest, dass ein Bedürfnis an Betreuung bestand.

Sowohl Parteien im linken wie auch im liberalen Spektrum plädierten für Tagesschulen, weil sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vereinfachen und so dem Mangel insbesondere an weiblichen und ausländischen Fachkräften entgegenwirken (Schüpbach, Frei, & Nieuwenboom, 2018). Die primär wirtschaftlich dominierte Diskussion wurde zunehmend pädagogisch gefüttert: Ziel sollte auch mehr Zeit fürs Lernen, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit sowie verstärktes soziales und personales Lernen sein (Aeberli, & Binder, 2005; Larcher, & Oelkers, 2003). Schule sollte nicht nur für den Unterricht zuständig sein, sondern ein Rundum-Paket bereitstellen, das allen Familien ermöglichen würde, Kinder ganztags in der Schule versorgt zu wissen.

3Was sind Tagesstrukturen und Tagesschulen?

Heute begegnet man kantonal unterschiedlich ausgestatteten Betreuungseinrichtungen: schul- und familienergänzender Betreuung, Tagesstrukturen, Tagesschulen, Mittagstischen, ausserunterrichtlichen Kursen und Angeboten in der Schule. Zur Klärung werden im Folgenden einige Begriffe umrissen.

Angebote ausserhalb des Unterrichts werden als Tagesstrukturen bezeichnet und sind in der Ausgestaltung vielseitig. So gehören Mittagstische, Unterrichtshilfe, Kurse, freies Spiel in der Betreuung und begleitete Aktivitäten in der Betreuung dazu. Notwendig ist allerdings ein pädagogisches Konzept, das Betreuung und Unterricht verbindet (BFS, 2020), sodass die Angebote weder zufällig noch zusammenhangslos zum Unterricht stattfinden. Die konzeptionelle Verbindung der Angebote mag inhaltlicher, zeitlicher, räumlicher, organisatorischer, administrativer oder personeller Art sein.

Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektionen (EDK) wie auch die Schweizerische Konferenz der kantonalen Sozialdirektionen (SODK) verweisen auf das HarmoS-Konkordat (EDK, 2022), in dessen Rahmen sich die Beitrittskantone verpflichten, die Unterrichtszeit auf der Primarstufe vorzugsweise in Blockzeiten zu organisieren und dem Bedarf vor Ort entsprechende Tagesstrukturen anzubieten. Vorgesehen ist ein bedarfsgerechtes Angebot an Tagesstrukturen für die obligatorische Schule, dessen Nutzung jedoch freiwillig bleibt und für die Erziehungsberechtigten grundsätzlich kostenpflichtig ist. Es obliegt der jeweiligen kantonalen Bildungsbehörde oder -verwaltung, die verbindlichen Grundlagen zu formulieren, welche von den Gemeinden umgesetzt werden müssen (EDK, 2020). Die Argumentation zur Auswahl der angebotenen Tagesstrukturen bleibt Gestaltungsraum der einzelnen Schule, muss aber im schuleigenen, pädagogischen Konzept ausgewiesen sein.

Aufgrund des föderalistischen Systems in der Schweiz wird die institutionelle Bildung von Kanton zu Kanton unterschiedlich beschrieben. Nationale Verbindlichkeit hingegen hat der Begriff der «Tagesstruktur» in der Klassifikation der Betreuungsformen des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) und des Bundesamts für Statistik (BFS, 2015). Modulare und gebundene Tagesstrukturen werden dort als formelle und bezahlte schul- und familienergänzende Kinderbetreuung bezeichnet.

 

Modulare Tagesstrukturen für Schulkinder:

Die Tagesstrukturen für Schulkinder bieten verschiedene Betreuungseinheiten an, und zwar vor der Unterrichtszeit (Morgen), danach (Nachmittag) und dazwischen (Mittag). Das Angebot ist modular, d.h. es kann zwischen den verschiedenen Betreuungseinheiten gewählt werden. Im Unterschied zu den gebundenen Tagesstrukturen decken nicht alle modularen Tagesstrukturen für Schulkinder alle Tageszeiten ab. So gibt es modulare Tagesstrukturen, die nur eine, zwei oder alle drei Betreuungseinheiten (Morgen, Mittag, Nachmittag) anbieten. Die Tagesstruktur kann sich im selben Gebäude wie die Schule oder ausserhalb befinden. Die Trägerschaft kann die Schule selbst (Gemeindeebene) oder ein privater Anbieter sein.

(BFS, 2015, S. 6)

Gebundene Tagesstrukturen für Schulkinder:

Ausserhalb der Unterrichtszeiten bieten die gebundenen Tagesstrukturen für Schulkinder eine ganztägige Kinderbetreuung an (in einigen Regionen Tagesschule genannt). Die Betreuungseinheiten (vor und nach der Schule sowie am Mittag) lassen sich in der Regel nicht beliebig wählen und die Kinder müssen mindestens während eines Teils der Betreuungseinheiten anwesend sein. Die Tagesstruktur befindet sich im Allgemeinen im gleichen Gebäude wie die Schule, die auch für die Organisation der Tagesstruktur zuständig ist. Nebst den Lehrpersonen kümmern sich von der Schule angestellte Betreuungspersonen mit entsprechender pädagogischer Ausbildung um die Betreuung der Kinder. Die Lehr- und Betreuungspersonen sind derselben Leitung unterstellt und die Gestaltung von Unterricht und Freizeit orientiert sich an einem gemeinsamen pädagogischen Konzept.

(EBD.)

Weniger klar definiert ist der Begriff der Tagesschule. Während eine Tagesschule in der Stadt Zürich ein Begriff für eine Schule ist, in der Unterricht und (modulare) Betreuung unter einem Dach stattfinden, bezeichnet man im Kanton Bern damit die Betreuung im Schulhaus.

4Aktivitäten und Angebote in der ausserunterrichtlichen Zeit

Im Sammelbecken der ausserunterrichtlichen Angebote finden sich sehr unterschiedliche Aktivitäten. Da sie in der Zeit ausserhalb des Unterrichts angeboten werden, führen sowohl Betreuungs- als auch Lehrpersonen diese inhaltlich unterschiedlichen Angebote durch. Grob können sie fünf Themengebieten zugeteilt werden: Sprache und Lesen, MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), Sport und Bewegung, bildnerisch-ästhetische Angebote, Outdoor & Schulgelände (Schüpbach, Rohrbach-Nussbaum, & Grütter, 2018).

Vom Format her werden geleitete von ungeleiteten Angeboten unterschieden. Ein Jahreskurs ist ein geleiteter Kurs, der während des ganzen Jahres zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tag für eine angemeldete Kindergruppe von einer Lehr- oder Betreuungsperson angeboten wird. Diese Kurse haben eine Förderorientierung und können kostenpflichtig sein.

Nicht geleitete Angebote werden oft von Betreuungspersonen angeboten. Sie zeichnen sich durch eine stärkere Selbstbestimmung durch die Kinder aus, was Inhalt und Form des Angebotes beinhaltet. Erwachsene begleiten das freie Spiel auf dem Pausenplatz, die Nutzung der Pausenkiste und der Betreuungsräume mit dem zur Verfügung stehenden Material oder initiieren Anlässe; die Steuerung und Ausgestaltung der Aktivitäten wird jedoch den Kindern überlassen. Auch diese Angebote sind kostenpflichtig. Kinder sollen die Möglichkeit haben, unterschiedliche Angebote zu nutzen, in Jahreskursen Basketball zu lernen oder sich polysportiv zu betätigen, sich im Malatelier kreativ auszudrücken und im Theaterkurs eine Aufführung zu inszenieren. Gleichwohl sollen sie auch selbst bestimmen können, wie sie die freie Zeit mit ihren Freundinnen und Freunden im Schulhaus und auf dem Schulareal verbringen wollen, ob sie andern beim Spiel zuschauen, selbst Spiele initiieren oder sich in der Bibliothek oder bei einer Bastelarbeit selbstständig beschäftigen. Die inhaltliche Variabilität und der Grad der Selbstbestimmung bei Aktivitäten ausserhalb des Unterrichts sind für die Kinder Möglichkeiten, neue Lernräume zu entdecken und zu nutzen. Schulen wird deshalb empfohlen, Angebote zu konzipieren, welche inhaltlich und in der Charakteristik unterschiedlich sind. Betreuungszeit und Kurse sollten sich nicht konkurrenzieren, sondern ergänzen, sodass alle Kinder von den unterschiedlichen Angeboten profitieren können.

Im Gegensatz zum Unterricht, welcher in der Regel von diplomierten Lehrpersonen erteilt wird, finden sich in der Betreuung unterschiedliche Berufsgruppen: sozialpädagogische Fachpersonen mit Master- oder Bachelorabschluss, Fachpersonen Betreuung mit einem Lehrabschluss, Quereinsteigende mit oder ohne Qualifikationen. Sie sind alle in erster Linie der Leitung Betreuung, indirekt der Schulleitung, unterstellt und betreuen die Kinder an den Schulen in unterschiedlicher Verantwortlichkeit.

5Sind Schulen mit Tagesstrukturen die besseren Schulen?

Schön wäre es, wenn es so einfach wäre, gute Schule zu gestalten! Schulen sind sehr komplexe Institutionen, die anders funktionieren als wirtschaftliche Unternehmen. Die Schulen in der Schweiz sind auch aufgrund ihrer rechtlichen Grundlagen relativ frei in der Ausgestaltung des Unterrichts und der Tagesstrukturen. Die Lehr- und Betreuungspersonen sind zentral für die Kinder, aber auch die Eltern und Familien haben einen enormen Einfluss auf das Kind und seine schulischen Leistungen. Die Schul- und Betreuungsleitung sind wiederum zentral für das schulische Personal. Das Quartier, in dem die Schule sich befindet, beeinflusst die Nutzung des Schulareals. Örtliche schulische Netzwerke und die Bildungsverwaltung respektive Bildungspolitik bestimmen mit, welche Ziele in Schulen erreicht werden sollen. Mit dem Wechsel zur Schule mit Tagesstrukturen wird in diesem komplexen Netzwerk nicht alles besser oder schlechter. Aber Schulen mit Tagesstrukturen haben mehr Zeit für die institutionelle Bildung. Sie können für die Kinder Lernräume schaffen, wo Kinder miteinander und voneinander lernen können. In Schulen mit Tagesstrukturen können für alle Kinder Angebote, welche einen starken Gegenwartsbezug aufweisen und lebensnah sind, gemacht werden.

Literatur

Aeberli, C., & Binder, H.-M. (2005). Das Einmaleins der Tagesschule. Ein Leitfaden für Gemeinde- und Schulbehörden. 1. Aufl. Zürich: Avenir Suisse.

Allemann-Ghionda, C. (2003). Ganztagsschule – ein Blick über den Tellerrand. In S. Appel, H. Ludwig, & U. Rother (Hrsg.), Neue Chancen für die Bildung (S. 206–215). Schwalbach/Taunus: Wochenschau-Verlag.

Allemann-Ghionda, C. (2020). Zeitstrukturen (vor-)schulischer Bildung in Europa. In P. Bollweg, J. Buchna, T. Coelen, & H.-U. Otto (Hrsg.), Handbuch Ganztagsbildung (S. 1207–1219). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

BFS Bundesamt für Statistik (2015). Statistik der familienergänzenden Kinderbetreuung. Typologie der Betreuungsformen. Abgerufen von https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/familien/familienergaenzende-kinderbetreuung.assetdetail.1343435.html [26.09.2022].

BFS Bundesamt für Statistik (2020). Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung im Jahr 2018: Neue Ergebnisse. Abgerufen von https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.11927448.html [26.09.2022].

Bildungsdirektion Kanton Zürich (2022). Die Tagesschule – von der Idee bis zur Einführung. Abgerufen von https://www.zh.ch/content/dam/zhweb/bilder-dokumente/themen/bildung/informationen-fuer-schulen/informationen-fuer-die-volksschule/unterrichtsergaenzende-angebote/tagesstrukturen/tagesschule_broschuere.pdf [26.09.2022].

Böllert, K. (2008). Bildung ist mehr als Schule – Zur Kooperativen Verantwortung von Familie, Schule, Kinder- und Jugendhilfe. In K. Böllert (Hrsg.), Von der Delegation zur Kooperation (S. 7–31). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Chiapparini, E., Kappler, C., & Schuler Braunschweig, P. (2018). Ambivalenzen eines erweiterten Bildungsbegriffs an Tagesschulen. Befunde aus einer qualitativen Untersuchung mit Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften an Tagesschulen in Zürich. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 13(2), 321–335.

Criblez, L., & Manz, K. (2011). «Neue» Familienpolitik in der Schweiz – für die Familie, für die Frauen – oder für die Wirtschaft? In R. Casale, & E. Forster (Hrsg.), Ungleiche Geschlechtergleichheit. Geschlechterpolitik und Theorien des Humankapitals (S. 113–130). Opladen, Farmington Hills: Budrich.

EDK (2020). Tagesstrukturen: Rechtliche Grundlagen. Stand März 2020. Abgerufen von https://edudoc.ch/record/208990/files/Tagesstrukturen_2020.pdf [26.09.2022].

EDK (2022). Tagesstrukturen. Abgerufen von https://www.edk.ch/de/themen/harmos/tagesstrukturen [26.09.2022].

Fischer, N., & Kuhn, H.P. (2021). Abschlussbericht der Evaluation «Pakt für den Nachmittag». Kassel. Abgerufen von https://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=23314 [26.09.2022].

Holtappels, H.G., Klieme, E., Rauschenbach, T., & Stecher, L. (Hrsg.) (2008). Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der «Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen» (StEG). 2. Aufl. Weinheim: Juventa.

Lanfranchi, A. (2004). Kinderbetreuung ausser Haus – eine Entwicklungschance. Bern: Haupt.

Larcher, S., & Oelkers, J. (2003). Die besten Ausbildungssysteme – Thematischer Bericht der Erhebung PISA2000. Neuchâtel: BFS.

Ludwig, H. (2020). Geschichte der modernen Ganztagsschule. In P. Bollweg, J. Buchna, T. Coelen, & H.-U. Otto (Hrsg.), Handbuch Ganztagsbildung (S. 915–926). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Mangold, M., & Messerli, A. (2005). Die Ganztagsschule in der Schweiz. In V. Ladenthin, & J. Rekus (Hrsg.), Die Ganztagsschule. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie (S. 107–124). Weinheim, München: Juventa.

Salvi, M. (2016). Gleichstellung. Warum der Arbeitsmarkt nicht versagt. Zürich: Avenir Suisse.

Schuler Braunschweig, P., & Kappler, C. (2018). Tagesstrukturen und Tagesschulen in der Stadt und im Kanton Zürich. In M. Schüpbach, L. Frei, & W. Nieuwenboom (Hrsg.), Tagesschulen – Ein Überblick (S. 85–99). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Schüpbach, M., Frei, L., & Nieuwenboom, W. (Hrsg.) (2018). Tagesschulen – Ein Überblick. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Schüpbach, M., Rohrbach-Nussbaum, R., & Grütter, E. (2018). Pädagogische Qualität: Geleitete und freie Aktivitäten in der Tagesschule bzw. im Tagesschulangebot. In M. Schüpbach, L. Frei, & W. Nieuwenboom (Hrsg.), Tagesschulen – Ein Überblick (S. 145–172). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Akteur*innen

Wo Kinder sich in Tagesschulen wohlfühlen

Patricia Schuler Braunschweig

1Einleitung

Tagesschulen und Schulen mit Tagesstrukturen sind in der Schweiz, vor allem in urbanen Gebieten und der Agglomeration, keine Seltenheit mehr. Angebote ausserhalb des Unterrichts sind für Schülerinnen und Schüler vorhanden, oft auch von der Schule selbst organisiert und koordiniert, sodass vor und nach der Schule ein Betreuungsangebot für Kinder in den Räumlichkeiten der Schule besteht. Trotzdem kann nicht von einem flächendeckenden Angebot gesprochen werden: Aufgrund der politischen Struktur der Schweiz entscheiden die Kantone und Gemeinden selbst über die Art und Anzahl dieser Bildungsangebote. So zeichnet sich ein heterogenes Bild bezüglich der ausserunterrichtlichen Betreuungsangebote in den Schweizer Kantonen ab: Nur gewisse Kantone bieten einen Mittagstisch oder Tagesstrukturen an einzelnen oder allen Wochentagen an (SKBF, 2018).

2Institutionalisierung der Kindheit oder Scholarisierung der Freizeit?

Gesellschaftliche Veränderungen führen dazu, dass Kinder zunehmend ihre unterrichtsfreie und damit ihre eigentlich freie Zeit an und in der Schule verbringen. Kinder besuchen ausserhalb des Unterrichts zusätzliche Kurse und Angebote, die ihrer Form und dem Inhalt nach mit unterrichtlichen Lernangeboten vergleichbar sind: Die Veranstaltungen finden in speziellen Räumen statt, die Zeiten sind genau festgelegt, die Betreuenden haben eine mehr oder weniger umfangreiche pädagogische Ausbildung erhalten, und die Lerninhalte sind oftmals identisch mit dem schulischen Curriculum – oder aber schulnah (Fölling-Albers, 2000). Beklagt wird in diesem Zusammenhang die Entgrenzung der beiden Bereiche Schule und Freizeit sowie die zunehmende Scholarisierung der Kindheit (Brake, & Büchner, 2022). Der Besuch der ausserunterrichtlichen Angebote wird deshalb kontrovers diskutiert: einerseits die Rückbesinnung auf die Schule als Ort des Unterrichts (Giesecke, 1996), andererseits die Erweiterung der Schule als Lebensraum (von Hentig, 1993). Schule soll die Entwicklung sozial-kognitiver Fähigkeiten und Kompetenzen unterstützen, gleichzeitig kreatives und selbstständiges Lernen fördern, aber auch die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit und der Teamarbeit begünstigen. Damit befinden sich Tagesschulen in einem Spannungsfeld, wo ihnen Aufgaben zufallen, welche früher andere Einrichtungen wahrgenommen haben.

Mit der sorgenvollen Betrachtung der Entgrenzung von Unterricht und der Scholarisierung der Freizeit an der Schule kann die Frage nach der Funktion der Schule gestellt werden. Wozu dient die Schule? Und in diesem Kontext vor allem: Wozu dient die Tagesschule?

Mit der zunehmenden Institutionalisierung von Kindheit (Zeiher, 2009; Betz, Bollig, Joos, & Neumann, 2018) wird die Frage diskutiert, was eine gute Kindheit ist und wie Schulen ausgestaltet sein müssen, damit sie Kindern bestmögliche Entwicklungs- und Bildungschancen eröffnen. Schulen sind nicht nur Orte der Pädagogik, sondern haben gesellschaftliche Funktionen: Kindheit und Kindsein wird formiert und normiert (Fend, 2008; Walther, Nentwig-Gesemann, & Fried, 2021). Lehr- und Betreuungspersonen an Tagesschulen haben also auch einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen. Damit unterliegen die Kinder den normativ-kontrollierenden Erziehungs- und Bildungsvorstellungen, wie sie sich als Schülerinnen und Schüler zu verhalten haben. Kinder an Tagesschulen begegnen Erwachsenen und anderen Kindern jedoch sowohl in der Rolle als Schülerin oder Schüler wie auch in der Rolle als Kind. In Tagesschulen werden demnach nicht nur bestehende Ordnungen zwischen den Kindern und den verschiedenen Professionen aus- und umgestaltet, sondern auch Normen, Programmatiken und Rollenerwartungen zwischen allen Beteiligten hinterfragt, verhandelt und (neu-)bestimmt, weil zwischen Unterricht und freier Zeit oszilliert wird (ebd.).

3Qualität in Tagesschulen

In Bezug auf das aktuelle Bildungs- und Qualitätsverständnis von Tagesschulen halten Fischer, Radisch, Theis und Züchner (2012) fest, dass das Ziel von Bildung und Erziehung in der Ganztagsschule die umfassende Entwicklung der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler sei: «Zu betrachten sind demnach nicht nur die Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler im kognitiven Bereich, sondern auch fächerübergreifende Wirkungen auf z.B. Motivation, Wohlbefinden und soziales Lernen in Abhängigkeit schulischer Qualitätsmerkmale» (ebd., S. 24).

In Schule, Unterricht und Betreuung geht es um das Kind direkt «berührende Angelegenheiten» und darum, sein «Wohl» vorrangig zu berücksichtigen (UN-Kinderrechtskonvention, 1989; Wapler, 2021). Der Zusammenhang zwischen Bildung und Wohlbefinden wird als relevant und evident beschrieben (Andresen, 2014; Walden, 2012). Wohlbefinden wird als facettenreiches Konzept genannt, da Kinder und Jugendliche einerseits auf der Mikroebene von ihren Erziehungsbeauftragten, andererseits auf der Makroebene von ökonomischen und politischen Kontexten abhängig sind. Das Wohlbefinden von Kindern resultiert aus einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren auf beiden Ebenen (Dinisman, & Ben Arieh, 2015). Dieses Wohl soll nicht nur von aussen durch Erwachsene und deren Ansprüche bestimmt werden, sondern muss die Sicht der Kinder und ihr subjektives Wohlbefinden in diesen Räumen berücksichtigen (Walther et al., 2021).

Wird eine Schule zur Tagesschule, bedeutet dies, dass Kinder, Lehrpersonen und Betreuungspersonal mehr Stunden in der Schule verbringen. Informelles und formelles Lernen rücken näher zusammen, was meistens eine flexible Organisation von Betreuung und Unterricht impliziert. Die Zusammenarbeit von Lehrpersonen und anderen Professionen wird auch räumlich nicht mehr getrennt, das heisst, die Räume werden multifunktional genutzt. Die räumliche Konfiguration hat dabei einen Einfluss auf die Lernbereitschaft und die Arbeitseffektivität (Rittelmeyer, 2010). Zudem sind Kinder interessiert, selbstständig Orte aufzusuchen, die ihnen interessant und erlebenswert erscheinen und die zur Basis von Lernerfahrungen werden (Weidel, 2015). Verbringen Kinder den ganzen Tag in der Schule, stellt sich deshalb die zentrale Frage, in welchen Räumen und an welchen Orten sie sich wohlfühlen und wie sie dies begründen.

Zusammenhängend mit der Frage nach Qualität in Tagesschulen und dem Lernen an Tagesschulen unter Bezugnahme der Räumlichkeiten wird in der vorliegenden Studie ein kaum erforschter Ausschnitt unter die Lupe genommen: Es interessiert primär die Sicht der Kinder, welche partizipativ in den Forschungsprozess eingebunden werden, und zweitens Orte und Räume, in welchen die Kinder sich wohlfühlen und wo gelernt werden kann. Insofern wird auf der Mikroebene ein Ausschnitt aus der Perspektive der Kinder in den Fokus genommen, der mit dem Schulmodell «Tagesschule» in Bezug gesetzt wird.

4Forschungsfrage und methodisches Vorgehen

Die leitenden Forschungsfragen lauten: Wie fühlen sich Kinder an Tagesschulen, wo der Schultag durch Unterricht und Betreuung gestaltet wird, wo Kinder ihre Schul- und Freizeit verbringen, wo sie mit anderen Kindern und Erwachsenen zu Mittag essen?

4.1Forschungsdesign und Befragung der Kinder

Im Rahmen einer Qualitätsdiskussion an einer deutschschweizerischen Tagesschule wurden die Kinder (n=72) der öffentlichen Primarschule (1.–6. Klasse) zu ihrem Qualitätsverständnis befragt, in welchen Räumen an der Tagesschule (Innen- und Aussenräume) sie sich wohlfühlen und weshalb. Der Einbezug der Sicht des Kindes in Verbindung mit einem multimethodischen Ansatz ermöglicht eine umfassende Beurteilung des Wohlbefindens des Kindes und nicht nur Aussagen über Kinder, sondern auch von Kindern als reflexive und kritische Akteurinnen und Akteure (Fattore, Mason, & Watson, 2012). Damit die Kinder aller Altersstufen an dieser Befragung konsequent in gleichem Ausmass teilhaben konnten, wurde ein mehrstufiges und multimethodisches Verfahren gewählt.

Die Kinder fotografierten während einer Woche Orte, an denen sie sich wohlfühlen. Ende der Woche sichtete die jeweilige Lehrperson die Fotos, und die Kinder einigten sich auf maximal 50 Bilder pro Klasse, welche der Forschungsleitenden abgegeben wurden. Dabei durften auch einzelne Fotografien, welche als Negativbeispiel dienten, zur Kontrastierung in die Sammlung aufgenommen werden.

Die Lehrpersonen ermunterten die Kinder zudem, täglich schriftliche Kurzeinträge in einem Reisetagebuch zu verfassen (siehe Abbildung 1) und Situationen und Orte zu beschreiben, in welchen sie sich wohlfühlten. Auch diese Unterlagen wurden der Forschungsleitenden zur Analyse abgegeben.

Abb. 1:

Ausschnitte aus den Reisetagebüchern der Kinder

Um allen Kindern eine Teilhabe zu ermöglichen, konnten sie auf Plakaten schriftlich und auf Audiogeräten mündlich Optimierungsvorschläge festhalten (siehe Abbildung 2).

Abb. 2:

Plakat mit Optimierungsvorschlägen der Kinder

4.2Auswertungsmethode

Generell stützten wir uns auf die Methode der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016), bei der es um die inhaltliche und themenorientierte Auswertung sowie die Kategorisierung von Ober- und Unterthemen zu Räumlichkeiten, Situationen und Wohlbefinden an der Schule geht. Die Fotografien wurden zuerst innerhalb der Antworten der Klasse gruppiert und kategorisiert, sodass klassenspezifische Tendenzen sichtbar wurden. In einem zweiten Schritt mündeten die gruppierten und kategorisierten Fotografien in den Gesamtpool des Bildmaterials, sodass eine Übersicht über die Klassen hinweg geschaffen wurde. Diese klassenspezifische und gesamthafte Kategorisierung wurde von der Forschungsleiterin unternommen, im Anschluss mit den Schülerinnen und Schülern besprochen und verifiziert, um sicherzustellen, dass die Codierung des Materials im Sinne der Kinder vorgenommen wurde. Das Textmaterial aus den Reisetagebüchern, welche von den Kindern verfasst wurden, unterstützte die Kategorisierung der Bilder. So konnten spezifische Benennungen von Plätzen und Orten verstanden und lokalisiert werden (bspw. Bunker, Arena, Hochsitz). Zudem hatten die Kinder durch die Kurzeinträge die Möglichkeit, Tätigkeiten zu schildern oder Personen zu nennen, die sie mit dem Ort respektive dem Raum in Verbindung brachten.

In einem nächsten Schritt wurde aus dem qualitativ kategorisierten Fotomaterial von der Forschungsleiterin ein quantitativer Fragebogen für die Kinder erstellt, auf dem sie alle mit Smileys[1] angaben, wie gerne sie sich bei dem abgebildeten Ort aufhalten (siehe Abbildung 3).

Abb. 3:

Fragebogen, zusammengestellt aus den Fotos der Kinder

5Ergebnisse der qualitativen Befragung

Die Kinder fotografierten Aussenräume rund um das Schulhaus: Abbildungen des gesamten Pausenplatzes, Detailfotos von natürlichen Nischen (unter den Bäumen) rund um das Schulhausareal, den Fussballplatz. Die Fotografien der Kinder zeigten vor allem Orte und Räume, an denen sie sich sehr wohlfühlen, Orte, wo Begegnungen mit anderen Kindern stattfinden können – entweder die Möglichkeit, über das Spiel miteinander in Kontakt zu treten, wie beim Fussball- und dem Pausenplatz, oder das eher vertraute Gespräch in der Kleingruppe (versteckte Nischen und weniger kontrollierte oder überwachte Zonen). Die scheinbare Abwesenheit von Erwachsenen, die hohe Orientierung hin zu den anderen Kindern, der Aufenthalt ausserhalb des Schulhauses und die Möglichkeit zur Aktivität und Bewegung charakterisierten die gewählten Orte.

Gleichzeitig machten die Kinder deutlich, dass sich Zonen des Wohlbefindens auch im (Schul-)Haus befinden: das eigene Schulzimmer mit der Bücher- oder Spielecke, die Möglichkeit, sich in die Leseecke zurückzuziehen und die Sitz- und Liegenischen im Betreuungsraum für sich allein oder zu zweit zu nutzen. Hierbei wurden altersspezifische Unterschiede deutlich: Jede Altersgruppe definierte einen gemeinsamen Rückzugsort, wo sie sich mit Gleichaltrigen oder Freundinnen und Freunden aus der Klasse aufhielt. Während die jüngeren Kinder die Spielecke im Klassenzimmer als Ort des Wohlfühlens definierten, «chillten» die älteren lieber auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum unter ihresgleichen. Das Klassenzimmer als sicherer Rückzugsort, aber auch Nischen in den Betreuungsräumen ermöglichen den Kindern, Ruhe oder Vertrautheit zu finden, allein oder in der Kleingruppe. Offene Orte, an denen Kinder in unterschiedlichem Aktivitätsgrad an den Tätigkeiten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler teilhaben, sei das zuschauend oder mitspielend, deckten die anderen Bedürfnisse der Kinder im Laufe des Tages an der Schule ab.