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Leidenschaftliche Frauen, feurig-melancholischer Tango und ein dunkles Familiengeheimnis ... Elena, Tangolehrerin in Buenos Aires, ist auf Spurensuche: Was hat es mit ihrer geheimnisvollen Tante Marí auf sich - einer Malerin, die in den zwanziger Jahren ein tragisches Ende fand? Elena weiß wenig über Marí, nur dass sie Frauen liebte und als Künstlerin wenig Erfolg hatte - trotz der faszinierenden Entwürfe in ihren Skizzenbüchern, die ihr Talent zeigen. Die Spurensuche führt Elena nach Las Palmas de Gran Canaria, wo sie Inés begegnet. Bei einem leidenschaftlichen Tango springt der Funke über - der Beginn einer heißen Affäre ...
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Seitenzahl: 350
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FRAUEN IM SINN
Verlag Krug & Schadenberg
Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)
Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben
Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.
Bettina Isabel Rocha
Tango mit Inés
Roman
Passagierschiff Esperanza, 2.September 1936
Marí saß auf ihrer Lieblingsbank auf dem zweiten Oberdeck, das Skizzenbuch auf den Knien, und starrte hinüber zu dem jungen Paar. Die Dame im maßgeschneiderten Hosenanzug lehnte an der Reling, schaute aufs Meer und rauchte. Die Art, wie sie die überlange Zigarettenspitze hielt und von Zeit zu Zeit betont langsam zum Mund führte, fand Marí verrucht. Natürlich hatte sie die Worte ihrer Mutter im Ohr, eine Dame rauche nicht, doch es sah einfach unglaublich elegant aus. Elektrisiert verfolgte sie jede Bewegung der Frau. Der junge Mann, bemüht, die Aufmerksamkeit der schönen Frau auf sich zu lenken, tänzelte mit überlautem Lachen und großspuriger Gestik um sie herum. Marí strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht und schob sie unter ihre Haarspange. Wann nur würde ihre Mutter ihr erlauben, die Haare wie die Fremde zu tragen? Das braune glatte Haar der Frau war kurz, im Nacken knapper als vorn und an den Seiten. Es fiel wie eine seidene Kappe und betonte die schöne Form ihres Kopfes. Marí seufzte. Vorerst musste sie sich mit langen Haaren, Schleifchen und Spangen abfinden. Doch jetzt galt es, endlich ihr Bild von der Frau fertigzubekommen. Rigoberta, ihr Kindermädchen, sollte staunen am Abend. Sie konzentrierte sich und fixierte bleistiftkauend das Paar. Sie wünschte, der Mann ginge ein wenig zur Seite, um den Blick auf die schöne Frau freizugeben, die sie nun schon seit Tagen beobachtete. Als erhöre er ihren Wunsch, ging Plusterhose, so hatte Marí ihn im Stillen getauft, ein paar Schritte nach rechts. Kaum war der Blick frei, flog ihr Bleistift über das Papier. Dann blickte sie kritisch auf ihr Werk. Die lässige, unnahbare Haltung der Frau war ihr gut gelungen, aber ihr Profil hatte sie nicht wirklich getroffen. Dazu müsste sie näher an die Frau herankommen, doch das traute sie sich nicht. Was, wenn die Fremde sie entdeckte? Sie würde sich vor Scham in Luft auflösen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben verließ sie Spanien. Das Schiff brachte sie und ihre Eltern nach Buenos Aires. Eine Stadt, größer als Sevilla, ihr Name eine einzige Verheißung.
Ihre Mutter, Magda de la Peña, wollte nicht aus Spanien fort. Doch Marís Vater, Raúl Domínguez del Río, bestand auf einem neuen Leben in Übersee. Zu lange gärte es schon zwischen linken und rechten Gruppen im Land, und schließlich war es zu Aufständen gekommen. Im Februar hatten Linksrepublikaner, Sozialisten und Kommunisten die Wahlen knapp gewonnen. Im Juli war es zu einer Militärrevolte gekommen, bei der General Franco zum Chef der nationalspanischen Regierung berufen wurde. Ihr Vater war überzeugt, dass es nicht lange dauern würde, bis Franco gemeinsame Sache mit Hitler und Mussolini machte. Das bedeute Krieg, hatte er Marís Mutter ein ums andere Mal prophezeit. Auf dem Globus in seinem Arbeitszimmer zeigte er Marí, wo Argentinien lag. Er beschrieb das Leben in dem reichen Land auf der anderen Hälfte der Erdkugel in schillernden Farben, und Marí war mächtig beeindruckt. Raúl Domínguez del Río hegte schon lange den Wunsch, sich eine neue Existenz in Übersee aufzubauen. Hacerce la América, es in Amerika zu etwas bringen, lautete seine Devise, das Ziel Buenos Aires. Das Geschäft in Sevilla mit feinen Stoffen aus aller Welt war aufgelöst worden, die Villa gegenüber dem Parque María-Luisa verkauft und die Überfahrt gebucht, um seinem Bruder Ezequiel, der schon fünfzehn Jahre zuvor ausgewandert war, zu folgen. Raúl war überzeugt, in Argentinien Geschäfte zu machen wie nie zuvor.
Marí, die gerade zwölf Jahre alt geworden war, verstand nichts vom Geschäft und noch weniger von Politik. Sie wollte malen, und diese Reise bot ungeahnte Möglichkeiten dazu. Kein Unterricht bei den Nonnen, scharenweise Passagiere und die gesamte Schiffsbesatzung vom Kapitän bis zum Schiffsjungen als Motiv. Sie genoss die Freiheit an Bord. Rigoberta war mit ihrem seekranken kleinen Bruder und ihrer ewig jammernden heimwehkranken Mutter vollauf beschäftigt. Marí, frei wie nie zuvor, erkundete das Schiff und die bunte Fracht, die es geladen hatte. Bist mein Engel, Marí, sagte Rigoberta immer, geh schön raus und guck dir die feinen Leute an. Da kannst du mir abends was erzählen! Marí kicherte. Sie mochte Rigoberta. Ihr konnte sie mit einer Zeichnung von der eleganten Dame bestimmt eine Freude machen. Sie wusste, dass Rigoberta manchmal heimlich rauchte. Sie war schon dabeigewesen, wenn sich das pummelige Kindermädchen weltgewandt eine Zigarette ansteckte und Rauchwölkchen in die Luft stieß. Sie würde entzückt sein von der Zigarettenspitze, da war sich Marí sicher.
»Hoye, das bin ja ich!«
Marí fuhr erschrocken herum und sah sich der eleganten Dame gegenüber. Der Duft ihres Parfüms erfüllte die Luft, und sie war noch schöner, als Marí gedacht hatte. Die Frau wies mit der leeren Zigarettenspitze auf die Zeichnung, ohne das Blatt zu berühren.
»Fantastisch! Hast du das gezeichnet?«
Marí nickte. Sie brachte kein Wort heraus und strich nervös die widerspenstige Haarsträhne zurück.
»Eugenio, schau nur, das bin ich – bin ich nicht gut getroffen?«
Der Mann warf einen knappen Blick auf das Skizzenbuch. »Mmh, ja, wirklich ausgezeichnet, ausgezeichnet«, beteuerte er, ungehalten über die Aufmerksamkeit, die das Objekt seiner Anbetung der kleinen Göre mit den Schleifchen im Haar schenkte. »Du solltest weiter üben, meine Kleine«, sagte er gönnerhaft und rang sich ein Lächeln ab.
»Was heißt hier üben?«, schnaubte die Frau. »Schau doch mal, wie exakt. Willst du behaupten, du könntest es besser?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich an Marí. »Das Bild ist wirklich wunderschön. Ob du für mich vielleicht auch so eine Zeichnung anfertigen könntest?« Sie musterte die junge Künstlerin. »Weißt du, sie würde mich immer an diese Reise erinnern«, fuhr sie fort. »Und an dich natürlich«, setzte sie hinzu. »Wie heißt du überhaupt?«
»Marí.« Marí schluckte. »Sie können diese haben, wenn Sie wollen.«
Mit fliegenden Händen trennte sie das Blatt heraus. Gott sei Dank riss es nicht ein – wie hätte das ausgesehen? Behutsam glättete sie den Rand.
»Oh, wirklich? Wenn das so ist, könntest du sie vielleicht noch signieren?« Sie sah Marís verdattertes Gesicht und sagte: »Schreib einfach Marí darunter.«
Marí schrieb ihren Namen winzig klein in die Mitte unter die Zeichnung und reichte sie der Frau. In diesem Augenblick vernahm sie die quengelige Stimme ihrer Mutter.
»Maríquel, was machst du da? Es ist schon spät. Rigoberta wartet auf dich!« Magda de la Peña trat näher, und die elegante Dame wandte sich mit einer vollendeten Drehung auf dem rechten Fuß an sie. »Buenas tardes. Schauen Sie nur – ist die Zeichnung nicht hervorragend?«
»Nun ja«, antwortete Marís Mutter zögernd. Sie wusste nicht recht, wie sie der Überschwänglichkeit der anderen begegnen sollte. »Sie zeichnet ständig und überall …« Die Worte hingen in der Luft. Magda de la Peña nestelte unsicher an den Rüschen ihrer Ärmel. »Ich bin Marís Mutter«, fügte sie hinzu.
»Das habe ich mir gedacht, und ich muss Ihnen sagen, dass ich mich sehr über die Zeichnung freue, die Marí mir geschenkt hat!«
Magda de la Peña nickte. »Wir müssen jetzt aber wirklich gehen. Komm, Marí, sag der Señora adiós.«
Marí errötete vor Scham. Sie war doch kein Kleinkind mehr! Was sollte die Dame von ihr denken? Wenn ihre Mutter sie von dieser aufregenden Fremden schon auf so peinliche Weise fortzerrte, dann wollte sie mit Würde gehen, also sagte sie: »Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Bis auf ein andermal!«
»Adiós, Marí, bis auf ein andermal!« Die Fremde zwinkerte ihr verstohlen zu und verabschiedete sich mit einem höflichen Nicken. Magda de la Peña zog ihre Tochter ungeduldig mit sich fort.
Außer Hörweite fragte Marí aufgeregt: »Mutter, wer ist diese Señora?«
»Mein Gott, Kind, das ist Rosalia Catala de la Vega! Die Tochter des Wirtschaftsattachés an der spanischen Botschaft in Buenos Aires. Dein Vater und ich haben gestern mit ihr zu Abend gegessen. Was musst du auch immer deine vielen Zeichnungen machen und die Leute bedrängen!«
»Aber Mutter, sie hat ihr wirklich gefallen! Ich will Malerin werden!«
Magda de la Peña war ihr Entsetzen anzusehen. Malerin! Und Raúl unternahm nichts. Statt seiner Tochter die Flausen auszutreiben, schenkte er ihr Papier und Farben.
Buenos Aires, 21.August 1979
Elena stand in ihren dicken Mantel gehüllt zwischen ihren Eltern auf dem Friedhof La Chacarita. Der kalte Wind blies ihr die feuchte Luft des Río de la Plata ins Gesicht. Sie fröstelte und vergrub die zu Fäusten geballten Hände in den Manteltaschen. Sie trat von einem Bein aufs andere und zog die Schultern hoch.
»Elena, nimm die Hände aus den Taschen!«
Nur ihre Mutter schaffte es, sogar flüsternd einen unbarmherzigen Befehlston an den Tag zu legen, dachte Elena.
»Und halt dich gerade! Wir gehen jetzt nach vorne, um deiner Tante die letzte Ehre zu erweisen.«
Elena erstarrte. Vor der Beerdigung war ihre Mutter jedes kleine Detail mit ihr durchgegangen – von der Messe bis zur Grabrede.
»Dein Vater, du und ich treten gemeinsam vor und werfen nacheinander ein wenig Erde ins Grab. Erst dein Vater, dann ich und dann du. Hast du mich verstanden, Elena?«
Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, während sie mit ihren Eltern vortrat. Ihr Vater legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. Sie spürte, dass er seine Frau über ihren Kopf hinweg anblickte. Er hatte nicht gewollt, dass seine sechzehnjährige Tochter mit zur Beerdigung ging. Doch ihre Mutter hatte aus unerfindlichen Gründen darauf bestanden, und ihr Vater hatte nachgegeben – nicht zuletzt weil Elena selbst darum gebeten hatte. Sie wusste, dass ihre Mutter den Blick des Vaters ignorierte. Letztlich war er froh gewesen, dass Elenas ausdrücklicher Wunsch ihm eine Auseinandersetzung mit seiner Frau erspart hatte.
Gemeinsam traten sie an das offene Grab. Elena blickte auf den langen schwarzen Kasten in der ausgehobenen Grube zu ihren Füßen und warf, wie geheißen, Erde in den Schlund. Sie hatte einige Augenblicke am Grab zu verharren, bevor sie sich umwenden durfte. Als die Krumen überlaut auf den Sarg fielen, wandte sie den Blick ab und versuchte, den Kopf dennoch gesenkt zu halten. Schräg vor ihr, unweit vom Grab, entdeckte sie eine hohe, aufrechte Frauengestalt. Elena hob den Kopf. Die Frau stand reglos da. Ein kurzer Schleier bedeckte die obere Hälfte ihres Gesichts. Links neben ihr ein Mann, hilflos, als traue er sich nicht, die gleiche Luft zu atmen wie sie. Sie stand dort wie unter einer Glasglocke, abgekapselt, ohne Verbindung zu den Menschen um sie herum. Elena wusste, die Tränen am Mundwinkel der Frau waren still geweint. In ihrer Kehle formte sich der Schrei, den die Frau nicht auszustoßen vermochte. Sie wagte nicht zu atmen. Unwirsch zog ihre Mutter sie am Ärmel.
»Komm jetzt, Elena!«
Sie stolperte zwischen ihren Eltern vom Grab fort. Ihre Mutter ging schnellen Schrittes neben ihr. Ihr Vater wandte sich floskelhaft grüßend nach links und rechts.
»Mutter, wer ist diese Señora?«, wagte Elena zu fragen.
»Welche Señora?«
»Die große Frau am Grab – wer war das?«, fragte Elena atemlos. Der Schritt ihrer Mutter beschleunigte sich.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«, zischte ihre Mutter. Ihr Vater drückte seinen Hut tiefer ins Gesicht.
»Aber …«
»Schweig still! Oder willst du selbst am Grab deiner Tante Widerworte geben?«
Atemlos lief Elena die Calle Güemes entlang. Da vorn musste es sein. Sie wusste, dass ihre Mutter auf sie wartete, doch auf dem Weg von der Schule hatte sie die Zeit vergessen. Endlich erreichte sie das Haus. Elena hielt ihre Schultasche vor die Brust und drückte sich an die Wand des Treppenhauses. Zwei Männer schleppten schnaufend einen dunklen Schrank die Stufen hinab. »Vorsicht, die Kleine!«, warnte der eine den anderen. Elena huschte schnell weiter. Im zweiten Stock, hatte ihre Mutter gesagt, sei die Wohnung von Tia Marí. Nie zuvor war sie hier gewesen. Sie betrachtete das schön geschwungene hölzerne Treppengeländer und die Deckenmalerei. Hier also hat ihre Tante gelebt.
Elena trat durch die offene Wohnungstür und blieb, geblendet vom hellen Licht, das durch die hohen Fenster fiel, stehen. Die Vorhänge waren bereits abgenommen, und die Diele war ausgeräumt bis auf einen Wandspiegel und den Deckenleuchter. In seinen Kristallen brach sich das Sonnenlicht tausendfach und malte fröhliche Flecken auf die Wände. Welch ein schönes Heim! Hier zu leben musste wunderbar sein. Verzaubert folgte ihr Blick dem Lichtspiel an der Wand. Dann erschrak sie. Die Wohnung einer Toten. Sie hatte es für einen Augenblick vergessen. Hier war Tia Marí gestorben. Elena zögerte. Wo hatte man die Tote gefunden? Im Schlafzimmer, überlegte sie. Menschen starben oft im Schlaf. Wenn sie alt und müde sind, schlafen sie ein, gehen fort. Elena zögerte. Ihre Tante war nicht sonderlich alt gewesen. Gewiss älter als ihr Bruder, Elenas Vater, aber nicht wirklich alt. Elena lief ein Schauder über den Rücken, und während sie noch überlegte, welches Zimmer sie betreten sollte, schrillte die unerbittliche Stimme ihrer Mutter in ihren Ohren.
»Elena, mein Gott, was stehst du denn herum und starrst? Komm hier herüber, ins Schlafzimmer, und hilf mir mit dieser elenden Kommode!«
Elena schrak zusammen. Ins Schlafzimmer? War dies das Sterbezimmer? Zögernd trat sie ein und sah erleichtert, dass auch dieser Raum fast leergeräumt war – kein Bett, kein Schrank, lediglich eine kleine Frisierkommode, an deren Schublade ihre Mutter ungeduldig zerrte. Sie gab Elena keine Gelegenheit, sich weiter umzuschauen.
»Fass hier mit an, Elena! Die Schublade klemmt. Was für ein hässliches Ding! All dieser Plunder! Ich schlage drei Kreuze, wenn ich hier fertig bin!«
Elena erwiderte nichts. In Gegenwart ihrer Mutter war es besser zu schweigen, erst recht, wenn sie erregt war. Sie tat wie geheißen und griff nach der Schublade. Während sie zog und rüttelte, tasteten ihre Augen das Möbelstück neugierig ab. Es war gar nicht so hässlich. Genau betrachtet war es sogar sehr hübsch mit seinem um den Spiegel herum eingelegten bunten Glas. Endlich öffnete sich die Lade mit einem Ächzen und gab ihren Inhalt preis. Taschentücher, Schmuck, Bürsten und Kämme, verschiedener Krimskrams und ein Bündel Briefe, die von einem feinen Band zusammengehalten wurden. Ihre Mutter schnaubte verächtlich und ergriff mit spitzen Fingern die Schleife.
»Was ist das, Mutter?«, konnte sich Elena nicht verkneifen zu fragen.
»Dreck! Dreck ist das! Es kommt sofort ins Feuer!«
Das kleine Bündel von sich haltend lief sie in die Küche, in der ein altmodischer Herd stand, und warf es hinein. Sie riss ein Streichholz an und hielt es an das Papier. Sofort leckten Flammen über die Seiten und verschlangen sie in wenigen Augenblicken. Elena starrte ins Feuer. Wie viele Buchstaben jetzt wohl verbrennen, dachte sie, und ihr war schwer ums Herz. »Ekelerregend» war das einzige Wort ihrer Mutter, das sie vernahm, während sie bedrückt ins Feuer blickte.
Später räumte sie, wie ihre Mutter angeordnet hatte, Bücher aus einem riesigen Regal in Kartons. Elena fand die Arbeit langweilig. Klassische Literatur, viele englische und französische Bücher. Während sie die Bücher einpackte, fragte sie sich, wie ihre Mutter es nur wieder fertiggebracht hatte, ihr die langweiligste aller anfallenden Arbeiten aufzuhalsen. Lieber wollte sie den Sekretär ausräumen oder die Vitrinen im Wohnzimmer, um zu sehen, was sie für Schätze bargen. Vielleicht wussten sie etwas zu erzählen von dieser Tante, die sie nur wenige Male in ihrem Leben gesehen hatte. Wer wohl die Briefe geschrieben hatte, die ihre Mutter so eilig verbrannt hatte? War es ein Absender gewesen oder verschiedene? Die Geringschätzung, die ihre Mutter den meisten Menschen, Marí und ihr Vater eingeschlossen, entgegenbrachte, war ihr von jeher vertraut, doch die nervöse Aufgeregtheit, als sie das Bündel ins Feuer geworfen hatte, hatte Elena nie zuvor erlebt. Diese liebevoll verschnürten Briefe, die sie so sorgsam in ihrer Frisierkommode aufbewahrt hatte, mussten Marí sehr wichtig gewesen sein. Elena griff die Bücher immer stapelweise und packte sie achtlos in die Kartons. Als sie erneut ins Regal langte, bekam sie nicht den üblichen Schwung zu fassen. Das Format zweier Bücher war anders. Elena ergriff sie einzeln, um sie in die Kiste zu verfrachten, da fiel ihr der raue Ledereinband auf und sie warf einen flüchtigen Blick darauf. Marí 1938–1963 stand darauf. Der zweite Band trug das Jahr 1963, der Rest war verwischt. Neugierig schlug Elena den ersten Band auf und blätterte wie gebannt durch die Zeichnungen, die er enthielt. Mit jeder Seite, die sie umwandte, klopfte ihr Herz schneller. Sie hielt einen Schatz in der Hand. Ihre Tante war früher Malerin gewesen, hatte ihre Mutter einmal abschätzig erzählt. Das hier waren ihre Skizzen. Elena hatte keine Zweifel. Aufgeregt blätterte sie weiter, bis die Fotografie einer Frau aus dem Buch glitt. Elenas Puls beschleunigte sich. Versunken betrachtete sie das Bild einer wunderschönen Señora, bewunderte die Linie von den Brauen bis zur Nasenwurzel, die mandelförmigen Augen und die sorgfältig frisierten Haare. Sie musste sehr jung sein. Ein gewinnendes Lächeln umspielte die vollen Lippen. Ob das Foto wohl aus der Zeit vor dem Krieg stammte? Es wirkte wie aus einer anderen Welt, und doch schien es Elena seltsam vertraut. Sie drehte das Bild um und las auf der Rückseite die in schönster Schrift festgehaltenen Zeilen:
Mi amor,
dulce dolor de mi vida, melodía de mi alma
Meine Liebe, süßer Schmerz meines Lebens, Melodie meiner Seele. Eine Liebeserklärung. In Elenas Ohren rauschte es. Ihre Tante hatte das Foto einer Frau besessen, mit einer solchen Widmung. Wer war diese Señora?
Sie hörte die herrischen Schritte ihrer Mutter ein unbarmherziges Stakkato auf den Dielenboden trommeln. Eilig ließ sie die beiden Bücher und das Foto in ihre Schultasche gleiten. Diesen Schatz würde sie sich nicht nehmen lassen. Sie musste die Señora und die Bilder vor dem Feuer bewahren. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass ihre Mutter das alles ohne zu zögern ebenfalls den Flammen übergeben würde.
»Elena, bist du bald fertig?! Die Männer wollen los, die Sachen für das Waisenhaus ins Convento Santa Clara bringen. Jetzt mach schon, du träumst wieder nur!«
Buenos Aires, 30.Juli 2003
Ramón tippte ihr auf die Schulter. Als sie sich umwandte, schloss er sie in die Arme und sagte: »Dein letzter Tag hier, Elena. Wann immer du zurückkommst, lass dich hier blicken!«
Sie nickte stumm und drückte ihn kurz. Weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, küsste sie ihn auf beide Wangen, bevor sie sich aus der Umarmung löste. Ramón kannte Elena und erwartete keine Antwort.
»Wenn du mit dem Unterricht fertig bist, sag Conchita, sie soll die Gruppe heute Abend ins Michelangelo führen – ich erwarte sie dort. Vielleicht nutzt du die Gelegenheit und gehst noch mal ein paar grundsätzliche Dinge mit ihnen durch?«
»In Ordnung, Ramón, aber mach dir nicht allzu viele Hoffnungen, was die Anpassungsfähigkeit von gringos in fremder Umgebung angeht.«
»Sei nicht so streng mit ihnen. Außerdem hast du ja bald selber Gelegenheit, dich mit fremden Gepflogenheiten anzufreunden.« Er zwinkerte ihr zu. »Schade, dass du heute Abend nicht mehr dabei bist.«
»Mir läuft die Zeit davon.« Und mit Blick zur Tür sagte sie: »Da kommen sie schon – es geht los.« Sie legte ihm kurz die Hand auf den Arm; dann wandte sie sich um und ging.
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