Tannenfall - Bernhard Hofer - E-Book

Tannenfall E-Book

Bernhard Hofer

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Beschreibung

Der Garten Eden steht für das Paradies – Tannenfall für die Hölle. Ein verlassenes Tal in den Alpen: Immer hat Viktor davon geträumt, einmal zur Jagd zu gehen. Doch nun ist es zu spät. Er ist alt, sein Leben vertan, und die Liebe seines Lebens liegt im Sterben. Noch einmal macht er sich auf, um seiner Frau den letzten Wunsch zu erfüllen: Tannenfall zu sehen! Jenen Ort, an dem er ihr vor siebzig Jahren einen Heiratsantrag machte. Doch als ein gespenstischer Hirsch die beiden attackiert und die Frau verschwindet, beginnt der Alptraum: Auf der Jagd nach dem mysteriösen Tier dringt Viktor immer tiefer in eine geheimnisvolle Welt zwischen Wahn und Wirklichkeit – und stößt auf ein Geheimnis, das gefährlicher ist als alles, was die Welt je zuvor gesehen hat.

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Bernhard Hofer, 1970 in Mürzzuschlag, Österreich, geboren, studierte Publizistik, Literatur und Drehbuch und arbeitete bei einer Investmentgesellschaft in Wien. Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er als Storytelling-Experte das Studio einer internationalen Kommunikationsagentur leitet.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: iStockphoto.com/SIphotography

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-500-8

Alpen Krimi

Originalausgabe

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Für Anna, Larissa und Alma.Die beste Familie der Welt.

Wenn ein einziger Hund damit beginnt,einen Schatten anzubellen, dann folgen die nächstenund die nächsten, und bald machenHunderte Hunde daraus eine Wirklichkeit.

Leidemann, F.: Kriegstagebuch, 1914

Schuld

Ist er zurück?

Die Rückkehr

Seine Frau würde sterben. Wie viele Tage ihr noch blieben, wusste er nicht. Er verdrängte den Gedanken. Wenn sie im Tod ertrank, würde auch er verschwinden, versinken in ihren nassen Augen, als hätte er nie existiert.

Draußen schrien die Schneehexen. Die Heizung blieb kalt. Die knappe Rente reichte nicht mehr. Er griff nach ihrer faltigen Hand, sie war warm. Das war das Wichtigste.

Er zog die Wolldecke über die Schultern der Kranken. Ohne den Blick zu heben, rückte er das Bild zurecht, das hinter dem Bett an der Wand hing. Es zeigte einen Hirsch, gejagt von einem Rudel geifernder Wölfe. Der Rahmen war vergoldet. An manchen Stellen lugte die weiße Grundierung hervor.

Ein Hund bellte.

Sie fuhr hoch. »Schh. Schh. Alles wird gut«, sagte er und schob sie sanft zurück in das feuchte Kissen. Er achtete darauf, dass nichts sie aufregte oder störte. Nichts. In diesen Stunden fühlte er sich wie ein kleiner Junge, ohnmächtig und wütend.

Das Bellen. Wieder.

»Schh. Schh.«

Er stopfte den Schal in das Hemd und klappte den Kragen der Jagdjacke über das Kinn. Verfluchter Köter, dachte er und suchte seinen Hund im brüllenden Weiß. Was hatte ihn so aufgeschreckt? War er es? Das Bellen verwandelte sich in ein Wimmern und Flehen, bis es nach einer kurzen Stille darin erstarb.

Er zog die Hand aus dem Fäustling und legte den Zeigefinger auf den kalten Abzug der Bockbüchsflinte. Er konnte ihn nicht mehr retten. Er hatte es gut bei ihm gehabt. Jetzt war er weg. Vermutlich über die Felswand gestürzt.

Er hielt den Atem an.

Auf diese eine Jagd hatte er sein Leben lang gewartet. Ein Augenblick. Ein Schuss. Ein tödlicher Treffer. Er lauerte hinter der eisigen Schneemauer. Der Schatten, das mächtige Geweih, der heiße Nebel aus den starken Lungen: Das war er. Auch er hatte sich vorbereitet auf den großen, langen Kampf. Mann gegen Tier, Jagd gegen Flucht, er gegen ihn.

Den Schuss hörte er nicht.

Sie umschloss mit der Hand seine müden Finger. Er spürte ihren Herzschlag. »Ist etwas passiert? Ist er zurück?«, fragte sie und schob verwirrt den Kopf zu ihm. Er roch nach Weihrauch, nach bitterem Öl.

»Alles ist gut. Ich bin bei dir. Ich bleibe immer bei dir. Immer. Schh. Schh.«

Das stumme Lied

Das Abschiedslied des Hornbläsers drang in ihn ein wie ein heißes Messer. Er sah zu den hohen, schneebedeckten Tannen, die den Friedhof umgaben. Der Musiker wirkte davor verloren, schwach. Sein Lied aber schnitt schärfer als jedes Schwert. Er wandte den Blick ab, starrte auf die gefalteten Hände. Das karierte Flanellhemd lugte unter den Ärmeln des Trachtenanzuges hervor. Ein getrockneter Milchfleck hatte die Farben verblassen lassen.

Die Nachricht von Konrads Tod war überraschend gekommen. Er hatte eben die übergelaufene Milch vom Herd gewischt. Sie kochte wütend aus dem roten Stahlbecher, während er die frisch gewaschene Wäsche in den klammen Heizraum hängte.

Seine Frau hatte sich an den Geruch von Verbranntem längst gewöhnt. Sie liebte es, einen Schuss heiße Kuhmilch in den Morgentee zu rühren – eine kindliche Torheit, die jetzt, knapp vor ihrem Ende, nach zu Hause schmeckte.

»Wer war das?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Sie bemerkte gleich, dass etwas nicht stimmte, als sie ihren Mann mit erstickten Augen an der Tür stehen sah. Er ging über den alten Holzboden zu ihr und setzte sich ans Bett. Ihre Mundwinkel hüpften, neugierig wie damals, als er sie kennengelernt hatte, beim Tanzen, beim Kirchtag, vor dem Krieg.

»Konrad ist tot.«

Der abgemagerte Arm sank langsam an ihre Seite. »Konrad?« Tränen drückten an ihren Hals. Er schwieg. »Was ist passiert?«

»Beim Jagen. Ein Unfall.«

»Ein Unfall?«

Er nickte. Wie oft hatte Gott die Hand schützend über ihn gehalten? Konrad hätte dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Eine gute Bilanz. Er hatte sich in Konrads Glück gesonnt. Das eine Mal etwa, als er mit der Motorsäge das Bein unter dem Knie fast abgetrennt hatte und dann mit dem Auto ins Krankenhaus gefahren war. Seine Frau besaß keinen Führerschein, seine Kinder waren zu klein gewesen, und sein Vater hatte sich nur mit Vorwürfen zu helfen gewusst. Es war damals keine Zeit zum Leiden gewesen. Er hatte an die anderen denken müssen, nicht an sich. Er hatte die Zähne zusammengebissen, bis er unter den Augen der Ärzte das Bewusstsein verloren hatte.

Oder als er vom Hochstand gefallen war, mit dem Rücken auf die Kissen aus Blaubeeren. Die letzte Sprosse war morsch gewesen. Er hatte Glück gehabt. Konrad hatte ihn immer ausgelacht. Er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte meist mitgekichert, da ihm nichts anderes eingefallen war. Und obschon seine Wirbelsäule geschrien hatte, hatte er versucht, wenigstens zu schmunzeln, denn er hatte Konrad beneidet, der all das getan hatte, wovon er träumte. Er hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt. Das Haus, der Vater, die Mutter, die Kinder. Für sie hatte gesorgt werden müssen. Eines Tages hätte er Anerkennung bekommen. Aber damals hatte er mit Konrad gelacht und sich vorgestellt, wie der Himmel über ihm zerbrach, während er wie ein Käfer versucht hatte, sich aufzurichten.

»Das Eis? Ist er ausgerutscht?«, fragte seine Frau.

»Das Gewehr, er ist hängen geblieben. Ein Unfall. Der Schnee soll ganz rot sein, der ganze Schädel …«

Sie drehte ihren Kopf zur Seite.

Konrad war tot. Er hatte ihn seit seiner Geburt gekannt. Sie hatten sich nie aus den Augen verloren. Es war, als hätte Konrad immer auf ihn achtgegeben. Wie ein großer Bruder, der ständig auf den kleineren hinschlagen musste, um sicherzugehen, dass er selbst existierte. Genau das war seine Rolle gewesen. Er war der lächerliche Verlierer an Konrads Seite gewesen. Jetzt, da Konrad tot war, war er auch kein Versager mehr. Jetzt war er nicht einmal mehr das.

»Möchtest du schlafen?«, fragte er.

»Gehst du zur Beerdigung?«

Er erhob sich, ohne zu antworten, und sah nach der Milch. Eine Angst befiel ihn, die er nie zuvor verspürt hatte. Was, wenn die anderen aufhörten zu sein? Wenn sein Herz als Letztes schlug?

Die Zeit bis zum Begräbnis brachte er schweigend zu. Er stand wie jeden Tag um fünf Uhr auf, kümmerte sich um das leere Haus, versorgte seine Frau, wusch Wäsche, las in der Zeitung. Eine Kaltfront würde noch mehr Schnee bringen. Er sah aus dem Küchenfenster zu den waldbedeckten Bergen. Noch mehr Schnee. Bevor er von Konrad Abschied nehmen wollte, musste er die Straße freischieben. Sonst würde kein Wagen hierherauf kommen.

Er zog den Trachtenanzug mit der schwarzen Armschleife an. Er hatte sie seit dem letzten Begräbnis nicht abgenommen. Er hasste den Anzug. Jetzt kehrte der Tod die Alten weg, und die Jungen verjagte das Leben. Sie wollte noch etwas sagen, aber sie war zu schwach. Er nickte, da er verstand.

Das Lied endete. Er hatte es gut überstanden. Der Pfarrer sah zum Hornbläser. Wer die Wahrheit nicht an sich heranließ, der ging darin auch nicht unter.

Er warf die zweite Schaufel Erde auf Konrads Sarg, als eine Stimme hinter ihm »Mein Beileid« sagte. Er kannte den Mann nicht. Auch die anderen beiden Männer kannte er nicht. Sie mussten aus dem anderen Dorf kommen. Vermutlich hatte sie der Pfarrer gebeten, dem Begräbnis beizuwohnen.

Er sah zum Dorf, seiner Heimat. Es war leer. Niemand konnte mehr sterben. Ein einziges Mal würde er noch hier stehen. Dann, wenn seine Frau starb. Und wäre er an der Reihe, wäre dort niemand mehr außer diesen drei Männern, die ihn nicht kannten und die er nicht kannte.

Auf ein geheimes Zeichen hob der Bläser zu einem neuen Lied an. Die letzten Vögel verließen die leeren Laubbäume hinter den Tannen. Die Traurigkeit in ihm erstarrte zu Stein. Es gab niemanden mehr, mit dem er über seine Benachteiligungen sprechen konnte. Was blieb, war der süße Duft des Todes, der Stein in seinem Herzen und der Geruch verbrannter Milch, die noch einmal überkochte und letztendlich verschwand wie seine Kinder.

Die Blutscheune

Traf ihn eine Schuld? Die blattlosen Äste griffen nach ihm, als er den Gottesacker verließ und das Weiß des Winters vor ihm zurückwich wie ein Vorhang, der die farbige Welt dahinter behutsam verbergen wollte. Wie hatte das geschehen können? Konrad war doch durchaus geschickt gewesen? Ein Unfall?

Er lugte zu dem einen Baum, der an der schmalen, am Friedhof vorbeiführenden Straße stand wie ein müder Wächter. Dort hatten sie damals gespielt, obwohl es nur zur kurzen Pause geläutet hatte. Sie waren hochgeklettert und hatten mit mutigen Sprüchen die Baumkrone erklommen. Falsch, Konrad hatte sie erklommen. Nicht er. Er war abgerutscht und hatte sich den Arm gebrochen. Er hatte Konrads Fuß zu spät kommen sehen.

Er blieb vor der Buche stehen und berührte die ledrige Rinde. Klebte noch etwas von damals daran? Ein Faden einer roten Wolljacke? Ein bisschen Blut? Ein Stück Haut? Was für ein Unsinn. Bäume erinnerten sich nicht. Bäume waren. Ihre Gefühle und Empfindungen vergingen wie der Wind, trieben keine Narben in die Seele.

Der Unfall war auf der Bärenmauer geschehen, einem Felsvorsprung dicht unter dem Gipfel der Kammalm. Von dort aus sah man in das Tal hinein. Er hatte Konrad geholfen, den Hochstand zu bauen. Hatte er ordentlich gearbeitet? Eine dunkle Ahnung befiel ihn.

Er blickte zu dem Felsen, der mit blassem Schatten zwischen Kirchturm, Grundschule und den hohen Wäldern klebte. Wenn er jetzt losging, würde er zurückkommen, bis die Nacht hereinbrach. Seine Frau würde es nicht bemerken. Sie hatte das Gefühl für Zeit längst verloren. Er hätte ein Schwätzchen mit dem Pfarrer gehalten. Für den Fall, dass sie aufwachte. Sie hätten über Konrad gesprochen und über seine großzügigen Spenden an die Kirche. Er hasste Ausflüchte, doch die Neugierde war stärker.

Und wenn sie auf ihn wartete? Sie würde sich Sorgen machen. Er könnte das Auto nehmen. Wer sollte ihn sehen? Es gab keinen mehr. Und wenn schon. Würden sie die Waffen entdecken? Sie schliefen auf der Fahrerseite unter den Sitzen. Der alte Rucksack, das Heu, die Reste des Rehfutters. Und wenn schon.

Er war aufgeregt, als er den Wagen erreichte. Er hatte ihn in der Scheune des Fernerbauern abgestellt. Der Fernerbauer hatte sich vor vier Jahren erschossen. Das Blut klebte noch immer an der Schoberwand. In einer halben Stunde würde er oben bei der Mauer sein. Er würde sich umsehen und wieder zurückfahren. Niemand würde ihn sehen, niemand würde es bemerken, niemand würde ihm die Schrotflinten pfänden. Er hatte sie von seinem Großvater.

Der Fahrersitz kreischte und umklammerte ihn mit kaltem Atem. Seine Finger suchten neben der Handbremse nach den Gewehren. Mit den Fingerkuppen spürte er den eisigen Lauf. Alles noch da. Er schlug die Tür zu. Leise. Leise.

Er drehte den Schlüssel und stieg auf die Kupplung, bis der Wagen mit einem Husten ansprang. Der scharfe Geruch von Benzin drang in seine Nase. Die Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich schlichen dunkle Schatten hinter ihm. Nein, nein. Da war nichts.

Eine Faust krachte gegen die Fensterscheibe des alten Autos. Er sah zur Seite und starrte in die Gesichter der drei Männer, die er vorhin am Grab gesehen hatte. Einer hielt eine Polizeimarke in der Hand, der andere klappte den Kragen der Jacke hoch. Er erkannte das Abzeichen des Gerichtsvollziehers. Der Dritte war nur hier. Es spielte keine Rolle, was er von ihm wollte.

Nachdem er die Raten nicht mehr bezahlen konnte, hatte er versucht, mit der Bank zu reden. Die Kosten für die Pflege, die vielen Fahrten ins Krankenhaus, die Medikamente: Er war wirtschaftlich am Ende. Jetzt, da er seine Frau im Haus pflegte und auf keinerlei ärztliche Hilfe zurückgreifen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Gnade seiner Gläubiger zu hoffen. Zugegeben, am Anfang waren sie auch gnädig gewesen. Sie hatten gesagt, dass sie mit den Pfändungen warten würden, bis seine Frau starb. Man kannte sie schließlich. Sie war eine stolze Frau. Diese letzte Ehre war man ihr schuldig. Doch sie lebte länger. Und die Bilanzen duldeten keine Gnade.

Man hatte im Keller angefangen. Dann kam der Dachboden dran. Dann die Elektrogeräte. Die Kleider. Die Waffen. Alles. Das Auto und die letzten beiden Gewehre waren bei der Einbruchswelle von Diebesbanden abhandengekommen. Der Gerichtsvollzieher hatte ihm geglaubt. Dass sie einen anderen schicken würden, hatte er nicht gewusst.

Er stieg aus dem Wagen und reichte den drei Männern die Hand. Er fühlte sich schuldig, wagte kaum, den dreien in die Augen zu sehen. Wortlos setzten sie sich in das Fahrzeug und ließen ihn allein zurück.

»Sie wird bald sterben, ich verspreche es …«, rief er ihnen nach. »Nicht das Haus … nicht jetzt.«

Er trat aus der Blutscheune und strich über den weißen Bart. Ein Wurm suchte im feuchten Scheunenboden ein neues Versteck. Er zertrat ihn und vergrub seine Wut. Die drei Männer hatten seine Identität geraubt und ihn zu einem Lügner gemacht.

Die Bärenmauer. Ein Sturm löste sich.

Wenn er jetzt losginge, würde er gleich nach Einbruch der Nacht bei seiner Frau sein. Sie sollte in Frieden sterben. Die zerfressenen Gedanken, die Gebrochenheit, die Ohnmacht, die Demütigungen: All das sollte sie nicht mehr sehen. Einen glücklichen Tod wollte er ihr schenken, das würde er doch schaffen. Sein ganzes Leben für einen glücklichen Tod. Die eigenen Ziele hatte er immer zurückgestellt. Seine Träume hatten in dieser Welt keinen Raum mehr. Und so musste er jeden Weg, der ihn von der Pflege seiner Frau fortführte, sofort verbrennen. Sonst würde er vor ihr zerbrechen wie altes Glas, und sie würde ohne ihn verhungern und eines unwürdigen Todes sterben.

Er hatte keine Wahl. Er musste sich von der Schuld befreien, die er vermutlich am Tod Konrads trug. Erst dann, wenn er befreit war von dieser Schuld, wollte er versuchen, noch einmal Mann zu sein und stark wie ein Tier.

Der Hochstand

Er öffnete den oberen Knopf des Hemdes. Weiße Brusthaare wirbelten heraus. Er blieb stehen und besah den langen Weg, der durch den verschneiten Wald kroch. Er hatte es anders in Erinnerung. Kürzer. Flacher. An seiner rechten Seite erhob sich ein Hang mit einer schmalen Schneise. Vor Jahren war er mit seinem Sohn im Geländewagen hinaufgefahren, um zu reden. Sein Kind hatte darauf bestanden. Er hatte Angst gehabt, aber geschwiegen. Manchmal war es besser, seine Träume unerfüllt zu lassen.

Die Hochspannungsleitungen surrten in der klirrenden Kälte. Sie schnitten mit ihren Fäden die Baumkronen ab und zerteilten den blassen Himmel.

Endlich, die Bärenmauer, wie ein Staudamm aus Fels.

Bei den drei alten Tannen führte ein dünner Weg zu einer Felskuppe, die Hunderte Meter steil abfiel. Das rostige Eisengeländer hatte in der Witterung den Halt verloren. Vorne an der Spitze des Felsens ragte ein knorriger Baum in die Höhe. Er nannte ihn Zweibaum, da er sich in der Mitte teilte und mit zwei Kronen nach oben drehte. Von der Ferne ähnelte die Föhre einem in sich geschlungenen Ypsilon.

Konrad und er hatten die Leiter zum Hochstand in die Rinde genagelt, der zwischen den beiden Ausläufern aus ein paar Brettern, einem Verschlag und einem mit Reisig getarnten Dach bestand.

Er blieb darunter stehen und sah in das Tal, in dem der Nebel verschwand. Am Horizont drückte die Nacht gegen die Berge und trieb die weißen Schwaden in die umliegenden Wälder. Der Hochsitz raunte, ächzte in der Kälte. Er liebte diese Geräusche.

Hier war es geschehen. Hier hatte Konrad den Tod gefunden. Er suchte nach Spuren. Fußstapfen hatten den Schnee zusammengetreten und grau eingefärbt. Obwohl die Zeit drängte, wollte er den Tatort genau untersuchen, wollte sichergehen, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte.

Er hielt sich an der Leiter des Ansitzes fest und beugte sich über den Felsen. Zwanzig Meter tiefer ragte ein Felsvorsprung hervor, wo im Sommer Wiesenenziane blühten. Konrad und er waren oft hinuntergeklettert. Von dort kam man leichter zu den Höhlen. Jetzt lag an der Stelle gefrorener Schnee. Und Konrads Blut. Der Rest war vermutlich ins Tal gefallen wie Regen.

Er trat zurück und stieg die Holzleiter hinauf. Dabei kontrollierte er mit jedem Schritt die Festigkeit der Sprossen. Er erinnerte sich an jeden Nagel, den er in den Baum geschlagen hatte. Alles hielt stand. Er erreichte die oberste Stufe, schob den Querbalken des Hochstandes zur Seite und drehte sich mit geducktem Kopf in den engen Käfig. Die Holzbank war kalt. Seine Füße rutschten auf dem eisigen Boden. Er war erleichtert. Unter der Eisschicht der letzten Tage schimmerten rote Spritzer.

War Konrad abgerutscht? Er legte den Schießstock in die Position, die Konrad ebenfalls eingenommen haben könnte. Er hob ein unsichtbares Gewehr, richtete es auf den Schlag und stützte sich an der Stange ab. Er atmete tief ein, schloss die Augen, hielt mit einem stillen Lächeln inne. Dann ließ er den Arm abgleiten und tat so, als würde die Kugel seiner Flinte ihn treffen.

So könnte es gewesen sein. Aber warum war Konrad abgerutscht? Das Eis? Worauf hatte er gezielt?

Die Wimpern klebten aneinander. Er fixierte die Lichtung jenseits des abgeholzten Hanges. Ein Wild hatte Fährten im Schnee hinterlassen. Ein Mufflon? Eine Gämse? Ohne Fernglas waren die Spuren nicht zu lesen.

Nachdem er am Hochstand noch einmal alles kontrolliert hatte, um sicherzustellen, dass er an dem Unfall unschuldig war, beschloss er, über die steile Schneise zu gehen. Die Wildspuren ließen ihm keine Ruhe. Er versprach sich nicht viel davon, aber jetzt war er schon einmal hier und das vermutlich zum letzten Mal.

Er stieg die Leiter behutsam hinab und tastete sich mit ausgestreckten Armen den Weg auf dem Hang entlang. Eisige Äste peitschten in sein Gesicht. Er kannte den Pfad hinüber, an dem schon viele den Halt verloren hatten und in die Tiefe gedonnert waren. Auch er. Meist war es beim Schreck geblieben, und bis auf ein paar Schürfwunden waren die meisten heil wieder zurückgekommen. Auch er.

Diesmal musste er jedoch vorsichtig sein. Ein neuerlicher Aufstieg würde Zeit kosten. Zeit, die er nicht mehr hatte.

Außer Atem erreichte er die Lichtung. Der Hochstand lag nun auf der anderen Seite. Er sah sich um – und tatsächlich: Spuren. Sie führten von überall hierher. Es waren die eines Hochwildes. Zumindest hatten sie dieselbe Form. Er war aufgeregt, und ihn fröstelte. Ein Hirsch. Allerdings stimmte etwas nicht. Die Größe. Wenn die Abdrücke zu einem Hirsch gehörten, musste er … er legte die Stirn in Falten und sah zum Hochsitz. Die Fährte des Wildes lag zehn Meter oberhalb des Pfades, den er vorhin gegangen war. Über dem Felsen waren Äste zerbrochen. Es sah so aus, als wären sie mit einer Axt abgeschlagen worden. Erst jetzt aus der Ferne bemerkte er, dass der Zweibaum auf der einen Seite schwere Wunden aufwies. Ein großes Geweih musste sich daran gerieben haben.

War das die Ursache für Konrads Unfall? Ein Hirsch? Aber warum war das Tier auf Konrad losgegangen, und vor allem: Wie groß musste es sein, wenn es solche Spuren hinterließ und die gewundene Föhre derart schüttelte, dass ein Jäger den Halt verlor?

Er würde es nie erfahren. Seine Frau würde sterben. Er musste zurück. Noch einmal blickte er sich um, genoss die abendliche Stille. Er war schuldlos. Tief zog er die Luft, die er so sehr liebte, in die Lunge. Ein zarter Hauch von Rosmarin. Rosmarin? Er drehte den Kopf.

Ein gutes Stück weiter unten sah er ein Wurzelnest zwischen Eis und Schnee hervorblitzen. Es war umgeben von verfärbten Blüten des Sumpfporsts, geschützt von den festen Stielen schlafenden Schierlings und einer sonderbaren Pflanze, die er noch nie gesehen hatte. Behutsam stieg er hinab. Je näher er kam, umso mehr füllten sich seine Augen mit Tränen.

Sein Vater hatte ihm als Kind davon erzählt. Das blaue Leben. Eine kleine, zärtliche Blume mit fedrigen Blütenblättern und einem Blau, das nicht von dieser Welt schien. Hatte sie ihre dünnen Wurzeln erst geschlagen, schaffte es keine Witterung, sie zu vertreiben. So hieß es wenigstens in den Legenden.

Weder konnte sie ein Sommer verdursten lassen noch ein stürmischer Herbst zerreißen noch ein durstiger Frühling ersäufen oder ein Winter erfrieren – hatte sie zum Leben gefunden, hatte sie den Tod besiegt. Das blaue Leben, dachte er, das blaue Leben. Wieder und wieder rief er den Namen der Blume in ihrem Volkslaut und sank erschöpft neben dem Wunder der Natur nieder. Wie konnte das sein? Dass die Erde hier besonders war, wusste er. Er prahlte gerne damit, wenn er von Kräutern und Pflanzen erzählte, die keiner kannte. Aber das blaue Leben? Er streckte die Finger aus und berührte die zarten Blätter.

Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Er wusste nicht, warum ihm diese Zeilen in den Sinn kamen. Das blaue, das ewige Leben.

Es war beinahe Nacht geworden. Er blickte ins Tal und stellte fest, dass ihn unendlich fror. Er hatte eine Antwort gesucht und eine noch größere Frage gefunden. Jetzt musste er schnell nach Hause zu seiner Frau, bevor die Nacht ihr Leben auslöschte.

Der Hirsch

Einmal im Leben tun, wofür man bestimmt ist.

Das blaue Licht

Er hatte den Weg zurück unterschätzt. Obwohl er lief, so schnell er konnte, geriet er in die Dunkelheit. Bald waren nur der Rhythmus der knirschenden Schritte und die feuchten Wölkchen seines Atems die letzten geduldigen Begleiter. Arme und Beine fühlte er nicht mehr. Das schwache Kerzenlicht im Küchenfenster seines Hauses führte ihn wie eine Laterne, die schwankend näher kam.

Mit zitternden Händen holte er den Schlüssel aus der steif gefrorenen Jackentasche und drehte ihn im Schloss. Die Wärme umhüllte ihn wie ein alter Handschuh. Er sah nach oben, als hätte er sie erwartet, an der Treppe. Früher, als sie noch gesund gewesen war, hatte sie dort immer auf ihn gewartet. Eine Gewohnheit. Als hätte sie ihn kontrollieren wollen. Er schlüpfte aus den Schneeschuhen und stieg leise die Stufen empor.

Sie schlief. Ein Rosenkranz hing zwischen ihren Fingern, und das Mondlicht malte mit blasser Schrift eine verblühte Jugend auf ihr knöchernes Gesicht. Wie sehr er sie doch liebte. Der Gedanke, dass sie von ihm gehen würde, war schwerer zu ertragen als jener, dass er selbst eines Tages gehen musste. Er hatte auf dem Heimweg über seinen Plan nachgedacht. Jetzt hatte er sich entschieden. Er tastete in der Hosentasche nach dem blauen Leben. Es schenkte ihm Hoffnung.

»Du warst lange weg«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Im Zimmer roch es nach Johanniskraut, getrockneter Minze und bitterem Öl.

»Es tut mir leid …« Er wollte von seiner Entdeckung erzählen, von den Spuren und seinem Verdacht. Aber er hielt inne und strich in der Hosentasche mit den Fingerspitzen über die Blätter der blauen Blume.

»Warum lachst du?«, fragte sie.

»Ich lache nicht.«

Ein Hustenreiz riss sie in die Höhe und verwandelte sie in eine Bestie, die brüllend um ihr Leben kämpfte und mit letzter Kraft den Tod, der an ihr zerrte, anschrie. Erschöpft sank sie zurück in das feuchte Kissen.

Er umschloss das Geheimnis in seiner Tasche mit schützender Faust. Es war sein Schatz, die letzte Hoffnung, sein Wunder. »Ich mache einen Tee. Dann kannst du gut schlafen.«

Adrenalin schoss durch den alten Körper, als er den Herd einschaltete und das Wasser aufstellte. Er nahm das blaue Leben aus der Tasche und betrachtete es in der offenen Hand. Es war wunderschön. Genau so, wie es die Legenden beschrieben. Er zupfte die Blätter ab und mischte es in die Kräutermischung, die seine Frau gewohnt war. Natürlich, sie konnte daran sterben. Die Nähe zum giftigen Schierling und zum Sumpfporst deutete darauf hin, dass das blaue Leben selbst tödlich war. Aber: Das Leben, die Unsterblichkeit, die Hoffnung – sollte er diese Chance nicht nutzen? Diese letzte Chance? Womit sonst wollte er sich dem nahen Gevatter entgegenstellen? Er hatte sonst nichts. Er zog den Kopf ein, verdrängte die Stimme seines Gewissens und bekreuzigte sich, während er an den Kräutern roch, als wären sie eine Waffe. Damit wollte er das Tier besiegen, das an seiner großen Liebe zerrte.

»Hast du erfahren, wie es zu dem Unfall gekommen ist?«, fragte seine Frau mit schwacher Stimme. Sie wollte ein Stück des Lebens außerhalb dieses Hauses wahrnehmen. Natürlich wusste sie, dass das Tal, in dem sie lebten, ausgestorben war und nach Konrads Tod außer ihnen beiden niemand mehr hier lebte.

Ein Hirsch hatte ihn getötet. Ein weißer Riesenhirsch. Seine Schultern überragten den Kopf eines Menschen, und das Geweih würde hier im Schlafzimmer nicht Platz finden. Er hatte Jagd auf Konrad gemacht, hatte sich mit voller Wucht gegen den Zweibaum geworfen. Konrad hatte das Gleichgewicht verloren und sich durch den Kopf geschossen. Sein Blut war auf das leere Tal geregnet. Aber sie musste sich keine Sorgen machen. Er würde seine Waffe nehmen und die Bestie jagen. Endlich! Er würde sie beschützen und ihren Freund, ihren gemeinsamen Freund, rächen. Er würde alles daransetzen, dass die Kinder und Alten in diesem Tal wieder schlafen konnten. Friedlich. Ruhig.

Er war ein Jäger. Er war immer ein Jäger gewesen, auch wenn das Schicksal etwas anderes mit ihm vorgehabt hatte. Jetzt aber war seine Zeit gekommen. Sie musste keine Angst mehr haben. Jetzt nicht mehr.

»Vermutlich ausgerutscht«, sagte er schließlich und verschluckte seine Aufregung bei dieser Lüge.

Er wirbelte den Löffel im heißen Tee und sah zu, wie die Wirkstoffe der blauen Blume in das dunkle Wasser schwebten.

»Dein Tee ist bald fertig.«

»Du bist so gut zu mir. Jeden Tag … so gut …«, sagte sie kraftlos wieder und wieder aus dem Schlafzimmer. »Du bist ein guter Mann.«

Er klopfte mit dem Teelöffel an die Tasse, als wollte er ihr damit sagen, dass er jetzt aus der Küche zu ihr komme.

»Du hast auf so viel verzichtet, immer warst du hier bei mir, und dabei vergisst du dich selbst. Du musst etwas für dich machen, hörst du? Sonst hörst du auf, du selbst zu sein.«

»Rede nicht so einen Unsinn«, sagte er und setzte sich mit dem Tee an die Bettkante. »Du brauchst mich doch.«

»Dafür bin ich dir auch so dankbar …« Die Tränen kehrten in ihr Gesicht zurück, und ihre Hand strich über seinen Unterarm. »Du bist so kalt. Trink du den Tee, du darfst dich nicht erkälten. Du musst gesund bleiben, hörst du?«

»Du bist alles in meinem Leben. Bist du gesund, bin ich gesund«, sagte er und küsste sie auf den müden, alten Mund, der zitternd in seinem Faltennest lag.

Schweigend gab er ihr den Tee. Dabei sah er sie mit leuchtenden Augen an wie ein Junge, der nur darauf wartete, das Geschenkpapier von den Weihnachtsgaben zu reißen.

Sie roch am Tee und nahm einen großen Schluck. Der Mond holte sein Licht aus der Schlafkammer und übergab es der Dunkelheit. Nachdem sie den Tee bis zur Gänze ausgetrunken hatte, drehte sie den Kopf und fiel in einen tiefen, langen Schlaf. Und mit einem Mal war ihm, als sank zugleich ein süßer Duft auf sie hernieder.

Er wachte an ihrer Seite und verließ kein einziges Mal das Zimmer. Der Morgen lugte durch das Fenster, vor dem sich grauer Schnee türmte und langsam an das Tageslicht gewöhnte. Was würde der Tag wohl bringen? Ihren Tod? Den hätte dann er herbeigeführt.

Sein Blick fiel auf die Wand. Das Bild von der Wolfsjagd auf den Hirsch hing schief. Er war zu müde, es erneut zurechtzurücken. Stattdessen sah er den ängstlichen Hund an, der hinter dunklen Tannen das blutrünstige Treiben der Wölfe beobachtete.

Einmal im Leben tun, wofür man bestimmt ist. Konrads Worte kamen ihm in den Sinn. Wie viele Menschen sterben, ohne den Mut dafür zu haben?

Draußen lag blaues Licht. Es war ihm noch nie aufgefallen. Genau an dieser Stelle traf die Nacht den Tag. Eine einzige blaue Minute lang, nicht mehr. Er bekreuzigte sich, kniete nieder und betete zu Gott, dass dieser Weg der richtige war.

Der Duft von Freiheit

Er wusste nicht, wann er eingeschlafen war. Er erinnerte sich an das Rascheln und Fauchen der Igel, die meist gegen fünf Uhr morgens an der Rückseite des Hauses vorbeiliefen. Seine Frau hatte sie täglich gefüttert, als sie noch die Kraft dazu gehabt hatte.

Wie spät war es? Er tastete mit der Hand die warme Höhle neben sich ab. Er schreckte hoch. Wo war sie? Sein trüber Blick huschte durch das schattige Zimmer. Und dann: Er traute seinen Augen nicht, als er diese zarte, aber stolze Frau vor dem Spiegel stehen sah.

Seine Frau, seine wunderschöne Frau.

Ihr graues Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. Die Krankheit und das Alter hatten tiefe Furchen in ihre Haut gezogen. Und doch hatte sie nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Ihre Züge wirkten entschlossen, während ihre grünen Augen in Tränen versunken ihr Äußeres prüften: die braune Strickweste, die klein karierte blaue, bis oben hin zugeknöpfte Bluse, die dunkle Schürze. Sie zog alles zurecht, kontrollierte, strich durch ihr Haar, über ihre Wangen, suchte im Spiegel ihr Gesicht. Der Duft nach geschnittenem Heu, scharf, würzig, aber dennoch süß und modrig, lag im Raum, ein Geruch, der sie traurig zu machen schien und ihr stolzes Wesen in eine tiefe Bitterkeit tauchte.

Seine Frau, seine wunderschöne Frau.

Sein Herz begann wie wild zu schlagen. Die Hände zitterten. Hatte er es wirklich geschafft? Hatte er ihr das Leben wiedergeschenkt? Er war fassungslos und stieg aus dem Bett. Schweigend trat er hinter sie und sah über den Spiegel in ihre Augen. Eine Träne lief über seine Wange. »Wie geht es dir?«, fragte er vorsichtig und wagte nicht, sie zu umarmen. Sie war ihm fremd geworden in den letzten Jahren. Er überwand sein Zögern und schmiegte sich dicht an ihren Rücken. Sie schloss die Augen und legte den Kopf nach hinten. Er spürte ihren Herzschlag.

»Wir zwei, hm?«

»Du wirst wieder gesund. Ich wusste es immer.«

»Wie oft haben wir hier gestanden und uns die Zukunft herbeigewünscht. Jetzt ist sie da, und wir warten immer noch«, sagte sie und löste sich von ihm.

»Wie meinst du das?«

»Lass uns hinausgehen, lass uns an unseren Platz fahren und über das Tal sehen. Lass uns nach Tannenfall fahren …«

Sie sah aus wie ein Mädchen, das aufgeregt ihrer ersten Verabredung entgegenfieberte. Er genoss dieses Leben, diese Freude in ihr so sehr. Er hatte es geschafft, er hatte sie gerettet, seine wunderschöne Frau.

Er sah durch das Fenster nach draußen, wo ein Stück Himmel hinter einer hohen Schneewand auf die Wintersonne wartete.

»Du musst dich schonen. Du warst seit Jahren nicht mehr draußen. Die Welt hat sich verändert.«

Er blickte zu Boden. Ihre Krankheit hatte an ihr gerissen wie ein tollwütiges Tier. Die Spuren der Armut, die nun bei ihnen wohnte, würde sie nicht ertragen. Sie war immer eine stolze Frau gewesen, die sich mit aller Kraft gegen jede Form des sozialen Absturzes gestemmt hatte. Wenn sie das Haus so sehen müsste, es würde ihr das Herz brechen. Die leeren Schränke, die Kälte in den anderen Räumen, um Energie zu sparen, die leere Speisekammer, der klebrige Schmutz, der klamme Schlund des Elends. Nein, hier in ihrem Zimmer hätte sie warm sterben können, ihr Leben wäre in einer Illusion zu Ende gegangen. Draußen würde sie auf all seine Lügen stoßen. Natürlich, sie würde ihn umarmen und stolz auf seinen Kampf und seine Entbehrungen sein. Aber was, wenn nicht? War es denn wirklich ein glorreicher Sieg? Es war ein gestohlener, ein geborgter Sieg! Er musste das Stück Leben, das jetzt in ihr wohnte, beschützen vor der Fratze der Vergangenheit. Vielleicht war es besser, das Haus zu verlassen und an den Platz zu gehen, wo all ihre Träume zur Welt gekommen waren. Er schämte sich.

Schon als Kinder hatten sie Tannenfall gefunden. »Sieh doch«, hatte sie gesagt, »sieh doch, hier sehen wir alles. Hier sehen wir in die ganze Welt bis in den Himmel hinein. Sieh doch!«

Sie war so aufgeregt gewesen an jenem Tag. Er konnte sich nicht erinnern, sie je noch einmal so erlebt zu haben. Aber sie hatte auch recht: Dieser Ort schien eine Art Magie zu besitzen, eine Art geheimes Zentrum, an dem man sich wohl und stark fühlte. Der erfrischende Wind, der satte Duft der Blumen, die Unendlichkeit der Weite, die Heimat für alle Träume war: All das war dort so unbeschreiblich schön. Wann waren sie das letzte Mal dort gewesen? Mit einem Mal erinnerte er sich, und sogleich verfinsterte sich seine Miene.

»Du musst dich schonen«, wiederholte er und sah zur Tür. Konnte man von hier in die leeren Räume blicken?

»Ich hülle mich auch ein, und wir fahren mit dem Auto. Ein letztes Mal. Bitte.«

Der Wagen.

Er überlegte, griff nach ihrer Hand und küsste ihre zerknitterte Haut. »Erst trinkst du noch Tee. Ich bereite inzwischen alles vor, ja?«

Sie schmunzelte, und ihre Augen leuchteten, während er sie zurück ins Bett brachte und sie bis zum Hals zudeckte. Dann ging er in die Küche.

Er hatte Zeit gewonnen, mehr aber nicht. Was sollte er nur tun? Seine Frau würde sterben. Und dieser Ausflug war ihr letzter Wunsch.

Er nahm das blaue Leben und drehte es zwischen den Fingern. Auf den Blättern glitzerte eine Farbe, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er kannte alle Pflanzen in den Alpen und ihre farbigen Spiele. Aber dieses Wunder in seinen Händen kannte er nicht! War es am Ende möglich, dass …?

Er verdrängte den Gedanken an Unsterblichkeit. Der war töricht, kindlich, eine Illusion, nichts weiter. Wollte der Mensch sich selbst begreifen, musste er danach trachten, die Welt um sich herum zu verstehen, hatte sein Vater gesagt.

Hatte er einen Teil übersehen?

Die Blätter leuchteten in einer Art Indigoblau, und doch schien ihm, als ändere sich ständig der Farbton. Er goss heißes Wasser über die Blüten und rührte einen Löffel Honig in das Glas. Während er den Tee ziehen ließ, schnitt er den beiden Butterbroten die Rinde ab und würzte sie mit getrockneten Gänseblümchen.

Seine Frau lebte.

Sie lebte.

Er konnte es nicht fassen. Aber warum machte er keine Luftsprünge vor Glück? War es die Angst, bloßgestellt zu werden, jetzt, in der Stunde des Todes? Nein, er musste ihr diese letzte Bitte erfüllen. Das war seine Pflicht. Schließlich liebte er sie über alles. Wie konnte er auch nur einen Moment etwas anderes erwägen, als ihr jeden Wunsch zu erfüllen.

Er sah aus dem Fenster, hinauf zur Kammalm. Er dachte an Konrad. Den Hirsch. Ein warmes Prickeln stieg von seinem Bauch hoch, umschloss seine Lungen und schmiegte sich von innen an ihn.

Der Tee hatte nun die richtige Temperatur. Er siebte die Kräuter aus dem Wasser. All das Streben und Warten, all die Träume und Sehnsüchte, sie alle konnten noch in Erfüllung gehen. Noch waren sie beide am Leben.

Er schüttelte den Kopf und riss seinen Blick zurück auf die Teetasse. Was machte es, seinen Traum vom Jagen nie gelebt zu haben? Dieses Schicksal war ihm nicht bestimmt. Seine Aufgabe war, für andere zu sorgen. Er konnte sich später noch um sich kümmern. Dann, wenn sie gestorben war. Und ohnehin: Er hatte nicht einmal mehr eine Waffe, was also sollte der Unsinn?

Kaum hatte er sich diese Frage gestellt, war er wieder da: der Schmutz der eigenen Sehnsucht, der jedes Leben verunreinigte und jedem Moment die reine Luft raubte, sei er noch so wertvoll und heilig wie in diesen Stunden. Wäre er zur Jagd gegangen wie sein Vater, wie Konrad, seine Frau wäre jetzt tot. Niemand hätte sie gepflegt, ihre Hand gehalten und gewartet, bis der letzte Atem aus ihr wich. Er hätte auf Gämsen oder Rehe geschossen, hätte tagelang darauf gewartet, dass die Auerhähne aus dem Dickicht kamen oder ein Steinbock, ganz oben am Kamm. Er aber hatte sich damit begnügt, die Tiere zu füttern, ihnen im strengen Frost Heu und gestampfte Äpfel zu bringen oder salzige Steine in gespaltenes Holz zu stecken. Er hatte sich damit begnügt, dass das Wild genug Mineralien bekam, wenn der Winter sich unbarmherzig und geizig zeigte.

Nie hatte er einen Hirsch oder Steinbock erlegt oder einen Rehbock, einen Hasen, eine Krähe. Konrads Geste, ihm bei der Fütterung und beim Bau der Hochstände zu helfen, hatte ihm das Gefühl gegeben, im Wald ein zweites Zuhause gefunden zu haben. Konrad hatte aus ihm einen Jäger im Schatten gemacht. Jetzt, da Konrad tot war, war auch der Schatten tot.

Er verließ die Küche, in der Hand den Teller mit zwei Scheiben Brot. Der Tee dampfte in der anderen. Was sollte er ihr sagen? Die Kälte hätte dem Auto zugesetzt. Das war es! Er hätte es zur Reparatur bringen müssen. Ja! Die Marder hätten es lahmgelegt. Und obendrein drohte ein Sturm das schöne Wetter zu verscheuchen. Ein Sturm, ja, ein Sturm komme auf. Er dachte an 1937. Fast achtzig Jahre war das jetzt her. Auch damals waren sie von einem Sturm überrascht worden. Sie hatten sich in den Höhlen versteckt, weil es ihnen vorgekommen war, als regnete es Steine.

Er hatte sie mit einem knallroten Fahrrad von ihren Eltern abgeholt und gesagt, dass er mit ihr nach Paris fahren wolle und dann weiter in den Westen, bis ans Meer. Und dann noch weiter bis nach Amerika. Aber sie waren nur bis zu den Höhlen gekommen und hatten dem Sturm zugesehen. Für einen Heiratsantrag war es zu früh gewesen. Er hatte warten wollen.

Das rote Rad war sein großer Stolz gewesen. Meist saß er damals hinten, da seine Frau es genoss, auf den Pedalen zu stehen und über die flachen Wiesen der Alm zu jagen. Aus ganzer Kehle hatte sie immer wieder die Schlager der Zeit gesungen: »Ene mene mink mank.« Sie liebte das Leben, und er liebte sie. Jetzt lag sie im Sterben, und ihm war elend zumute. Ein Sturm komme auf, würde er sagen. Und sie würde es verstehen.

»Fahren wir?«

Seine Frau stand plötzlich in der Tür. Er erschrak so sehr, dass ihm beinahe der Teller aus der Hand rutschte. »Geh sofort ins Bett«, herrschte er sie in viel zu strengem Ton an. Und sah verzweifelt in ihre zitternden Augen, die sich wohl nichts sehnlicher wünschten, als noch einmal die Lichter der Welt zu spüren.

Beim Anblick der geflochtenen Zöpfe, der adrett zurechtgemachten Kleidung und des erwartungsvollen Ausdrucks war es ihm unmöglich, ihr den letzten Wunsch ihres Lebens abzuschlagen. Er war innerlich zerrissen. Eine Qual, was für ein Elend, wie nur konnte er das seiner Liebe antun.

In diesem Moment spürte er, wie ein Gedanke seine starre Verzweiflung durchdrang und neue Hoffnung brachte.

»Gib mir eine Stunde, dann fahren wir los«, sagte er und schob mit einem Ruck die schweren Vorhänge zur Seite. Dann öffnete er das Fenster. »Trink den Tee und genieße die frische Luft.« Er hatte einen Plan.

»Ich freue mich so«, rief sie, während er hastig und mit unbeholfenen Schritten die Stufen nach unten stieg.

»Dass du mir aber ja in der Kammer bleibst, hörst du?«

Sie schwieg, drehte den Kopf zum Fenster und starrte in den Himmel, der draußen auf sie zu warten schien. Er sah, wie eine kalte Brise ihr Gesicht berührte, als würde heißer Atem auf gefrorenes Glas treffen. Die beiden Brote schob sie auf die Seite und trank vom Tee. Die Müdigkeit der letzten Jahre kehrte in ihre Augen zurück.

Dämonen

Zwei Wege führten zum Paradies. Der eine, steil ansteigend, zwischen zwei schroffen Bergbacken hindurch, mit einem fabelhaften Blick auf den Nachbarort Edden. Der andere, deutlich leichter, vorbei an verfallenen Villen, über die Rehkrippe gemächlich den Berg emporschlängelnd.

Die Prunkbauten des leichten Weges standen leer und verfielen, nachdem die Menschen gestorben waren. Es ging das Gerücht um, dass nach Ende des Ersten Weltkriegs ein Bastard des Kaisers hierher geflüchtet war. Revolutionäre Kräfte sollten ihm nachgestellt haben. Sie hätten ihn gejagt, getrieben wie Wild, hieß es an den rauchigen Stammtischen der Dörfer. Er wusste nicht, ob die Geschichten stimmten und ob, wie man erzählte, in den Villen tatsächlich konspirative Sitzungen stattgefunden hatten. Er hatte nie darüber nachgedacht. Und doch blieb ein dunkles Gefühl, wenn er an die leeren Höfe dachte.

Nicht anders war es beim schweren Weg. Sein Vater war dort oben zur Welt gekommen und hatte mit seiner Frau ein hartes Leben als Bergbauer geführt. Über die Herrschaftshäuser sprach sein alter Herr nie. Erst recht nicht, seit sein eigener Hof vor langer Zeit verfallen war. Er wollte nie Bauer sein wie sein Vater. Die Stelle als Gemeindebediensteter hatte ihm erlaubt, ins Tal zu ziehen und dank eines großzügigen Darlehens ein neues Haus zu bauen, sein Haus. Eine Heimat für seine Frau, ein neuer Anfang nach dem Krieg. Nie wieder wollte er den Weg zwischen den beiden Bergbacken gehen.

Er beobachtete zwei Raben, die über den strahlend blauen Winterhimmel flogen. Schweren Herzens entschied er sich für den Pfad durch die alten Herrenhäuser. Ein mulmiges Gefühl befiel ihn. Er drehte das Gesicht zur Sonne, als wollte er Kraft sammeln für eine unbekannte Jagd.

Dass eines Tages das ganze Dorf, das er so liebte, nur noch aus verlassenen, kalten Häusern, verwilderten Gärten und verrosteten Kinderspielplätzen bestehen würde, hätte er nie für möglich gehalten. Die tote Vergangenheit ängstigte ihn. Ob es in Edden anders war, wusste er nicht. Er kannte das Nachbardorf nur aus der Ferne. Wegziehen, das wollte er nicht. Hier war er geboren, hier wollte er sterben. Und wer hieß ihn in der Fremde schon willkommen? Er war hier, gefangen inmitten seiner Dämonen.

Er schüttelte den Schnee von dem alten, klapprigen Fahrrad. Es hatte all die Jahre an einem Holzstoß gelehnt und das leuchtende Rot längst verloren. Traurig warf er einen Blick auf das wertvolle Holz, das nach dem Unfall nicht mehr zu gebrauchen war. Er beugte sich über den Stapel und roch an der oberen Reihe der Scheite. Der Geruch war verschwunden. Verdampft. Erfroren. Nein, es war zu gefährlich. Nein. Diese letzten Tage musste er ohne die verlockende Wärme auskommen. Er zog die Nase hoch, schüttelte das Rad erneut, als fasste er neuen Mut.

Es dauerte zwei Stunden, bis er das Rad auf Vordermann gebracht hatte. Die Schläuche in den Reifen waren geklebt und aufgepumpt, die Bremsen eingestellt und die morsche Kette geölt. Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Er war zufrieden. Es hatte länger gedauert als erwartet, aber für ihre letzte Reise sollte es reichen. Sein schmutziger Daumen schlug an die Fahrradklingel, deren Klang eher einem hohlen Klopfen an der Tür des Heizraumes ähnelte als einem warnenden hellen Signal. Stolz strich er über den alten Fahrradsattel.

Den Anhänger hatte er gekauft, als seine Tochter zur Welt gekommen war. Um die beiden Kinder dort hineinzupacken und mit ihnen zu dem Ort zu fahren, den ihre Mutter so liebte. Er hatte es nie geschafft. Jetzt befreite er das Gefährt vom Staub der letzten Jahrzehnte. Sofort fiel ihm das weinrote Emblem des Herstellers ins Auge. Er erinnerte sich an das Unternehmen und dessen Sitz in der Stadt. Ob es noch existierte? Für die Gerichtsvollzieher war der Beiwagen wertlos.

Er zog den Anhänger zum Fahrrad und band ihn mit einem Seil an die Sattelstange. Aus dem Keller holte er das restliche, von Schimmel befallene Heu und legte den Wagen damit aus. Ein paar Kissen, dicke Decken, feste Kleidung – das konnte wirklich funktionieren. Er stellte das Gefährt vor die leere Garage und schloss das Tor, damit seine Frau nicht nach dem fehlenden Auto fragte.

Bevor er sie holen ging, sah er sich noch einmal um. Verriet irgendetwas seine Notlage? Oder wäre sie so aufgeregt, dass sie es nicht sehen würde? Dass die Sträucher umgeknickt waren, die Tannen verwildert jedes Sonnenlicht raubten, die Fenster keine Vorhänge mehr trugen und Teile des Dachs unter dem Schnee hervorlugten wie Geröll.

Er erschrak, als er die Gestalt hinter der schmutzigen Scheibe sah. Die tief liegenden Augen, die hauchdünne weiße Haut, die grauen Fäden, die wie totes Gras aus dem Kopf wuchsen und sich in zwei Zöpfen verloren, und dieses bittere letzte Lächeln. Sie schien nicht von dieser Welt, wie sie dort oben stand und zu ihm herunterblickte. Aber irgendetwas an ihr entzündete in ihm wieder diese tiefe Liebe, die er nur ihr gegenüber empfand. Wie schnell würde er wohl sterben, wenn dieses Gefühl ihn nicht mehr wärmte? Sie war sein Leben, seine Existenz.

»Wir können los!«, rief er nach oben und klatschte in die Hände. Hatte sie die Armut bemerkt? Hatte sie ihn ertappt? »Bleib dort, ich habe eine Überraschung für dich, du sollst sie erst hier draußen sehen, bleib dort und mach die Augen zu. Mach sie zu!« Sein Herz schlug bis zum Hals, und er lief humpelnd zurück ins Haus.

Es war ein großartiges Gefühl und ein Anblick, wie ihn das Dorf nie wieder zu sehen bekam: Er stand vorne auf dem Fahrrad und legte sein ganzes Gewicht abwechselnd in die Pedale, die hysterisch und laut quietschten. Die Kette rasselte und grollte, und der Wagen hinter ihm sprang wie wild im Schnee. Sie hatte Mühe, nicht herauszufallen, aber sie schien jeden einzelnen Augenblick zu genießen. Der Wind, der ihre Lungen füllte, die Sonne, die sie wie ein Irrlicht in eine andere Welt führte, die Kälte, die sich an ihrem warmen Körper erfreute, als wäre er ein willkommener Fremder: Alles war so wunderbar!

»Ich liebe dich!«, schrie sie aus ihrem zahnlosen Mund. »Ich liebe dich!«

Der Weg war anstrengender, als er gedacht hatte. Seine Brust brannte, und seine Glieder konnten die Kraft mit jedem Tritt weniger aufbringen. Er ärgerte sich über die Schwäche, die an ihm fraß wie Ratten. Er schlug vor, bei der Biegung vor den Villen Rast zu machen. Womöglich würde auch er einen Schluck von dem Tee nehmen, der ihr so viel Mut gab.

»Ich bin dir so unendlich dankbar, mein …«, sagte sie mit heller, glucksender Stimme.

Ein heftiger Ruck brachte den Wagen zum Stillstand. Ihr Satz erstarb, als er wie angewurzelt vor dem Rad stehen blieb. Am Ende des weißen Pfades, den hohe, spröde Tannen säumten, kam ein Wind auf. Mit strenger Hand bewegte er die Äste und wirbelte hektisch den Schnee in die Luft, als wäre er gewarnt vor etwas Bösem.

Der Hirsch war noch größer, als er ihn sich ausgemalt hatte. Ihm stockte der Atem. Seine Frau griff wortlos zu der Decke und zog sie vor den Mund. Noch nie in ihrem Leben hatten sie so etwas Schönes und gleichzeitig Schreckliches gesehen.

Der Hirsch sah die beiden an. Keine Faser seines Körpers bewegte sich. Wie ein Monument der Ewigkeit versperrte er den Weg.

»Was ist das?«, flüsterte seine Frau von hinten. »Ein Hirsch?«

Er schwieg.

Seine Frau begann zu weinen. Dieses grausame Geschöpf sollte nicht ihr letztes Glück zerstören. Sie flehte ihren Mann an, etwas zu unternehmen. Sie wolle so nicht sterben.

Er ging einen langsamen Schritt auf das Ungetüm zu. Er hatte nichts, was er dem Hirsch entgegensetzen konnte. Wenn das Tier sie angreifen wollte, wären sie machtlos. Er war alt, halb erfroren und erschöpft. Er hatte keine Waffe, noch wusste er, ob er aus dieser Entfernung überhaupt einen tödlichen Schuss abgeben könnte. Es war auch nirgendwo ein Unterschlupf zu sehen. Er war dem Hirsch ausgeliefert. Mann gegen Tier. Mensch gegen Natur. Da war nichts anderes. Wäre er allein, er hätte sich geschlagen gegeben. Aber wollte er seiner Frau dieses Schicksal zumuten? Wäre dann nicht sein ganzes Leben, das er ihr geschenkt hatte, mit einem Mal nichtig und wertlos? Ein ganzes mutiges Leben verschenken für einen schwachen Augenblick?

Nein. Er musste etwas unternehmen.

»Was machst du? Lass mich hier nicht allein.«

Er gab ihr mit einer langsamen Handbewegung zu verstehen, dass sie leise sein sollte. Vorsichtig ging er auf den Hirsch zu. Aber mit jedem Schritt sank sein Mut. Er dachte an die vielen früheren Gelegenheiten, bei denen er Entschlossenheit gebraucht hätte. Immer wieder war er losgegangen, um sich aus seinem selbst gebauten Gefängnis zu befreien. Das eine Mal etwa, als er vollen Mutes vor der Tür des Bürgermeisters gestanden hatte mit seiner Kündigung in den Händen. Oder als er die Feuerwehrleute verprügeln wollte, weil sie die verkohlten Leichen seiner Kinder von dem Holz kratzten, ohne den geringsten Anstand und einen Hauch von Mitgefühl. Oder als er Konrad vor den Herrenhäusern zur Rede stellen wollte, nachdem ihm seine Frau gestanden hatte, von ihm geküsst worden zu sein, damals vor dem Krieg.

Diesmal würde er nicht stehen bleiben. Dieses eine Mal nicht. Der Hirsch stieß den heißen Inhalt seiner Lungen mit einem drohenden Fauchen aus. Die Muskeln der vorderen Läufe spannten sich.

Er sah dem Hirsch direkt in die Augen. Er hatte von Konrad gehört, dass man wütende Hunde unterwirft, indem man ihnen in die Augen sieht. Auge in Auge.

Er blieb stehen. Warum zögerte er? Er musste weitergehen. Musste dem Tier ins Auge blicken. Wovor hatte er Angst? Vor dem Tod, der doch längst in seinen Knochen saß? Wovor in Gottes Namen hatte er Angst? Wovor? Was lähmte ihn?

Eine tiefe Leere machte sich in ihm breit. Jetzt war es an der Zeit, den Hirsch mit bloßen Händen zu zerreißen. Damit seine Frau stolz auf ihn sein konnte. Er musste sie ins Paradies führen wie ein Held seine Angebetete. Aber es war nicht der Hirsch, der zerbrach, es war er selbst. Er schrumpfte und verschwand in der Gegenwart vollendeter Größe und Schönheit, ausgelöscht durch seinen eigenen Dämon. Und genau in diesem Moment lief der Hirsch los.

Der gefrorene Boden erzitterte unter seinem Gewicht. Er senkte das Geweih und rannte direkt auf ihn zu. Und da wusste er: Er würde wieder verlieren. Bevor ihn die Wucht des Tieres niederriss, begriff er, dass er sein ganzes Leben lang keinen einzigen Tag lebendig gewesen war.

Der dritte Weg

Die Nacht fiel. Er schmeckte Blut. Zwischen einer Pyramide aus verschneiten Tannen drehte sich der Sternenhimmel. Der Mond senkte sein Leichenlicht auf ihn herab.

Er schrak hoch. Wo war sie? Langsam kroch er aus dem Schnee, der auf ihm wie Beton lag. Wo war sie? Wo?

Das Fahrrad und der Anhänger lagen in einem zugefrorenen Bachbett. Das Heu war verstreut. Es hatte hier einen Kampf gegeben. Der Wagen schwer beschädigt. Etwas hatte auf ihn eingeschlagen. Mit aller Wucht. Das Rad war in der Mitte gebrochen. Ihm stockte der Atem.

Er rief den Namen seiner Frau. Sein Herz, sein Herz. Es schlug wild. Wo war sie? Blut, fand er Blut? Ihr Blut? Er stand auf, torkelte, suchte, wankte. Nichts. Nur die Spuren des Hirsches. Waren das ihre? Nein. Er fiel, stemmte sich hoch, stolperte erneut, kroch verzweifelt auf allen vieren, um der diebischen Finsternis irgendeinen Hinweis zu entlocken. Nichts. Er schrie aus voller Kehle! Dann heulte er und grub die alten Finger in das harte Eis, bis die Nägel nachgaben und brachen. »Warum nur? Warum? Was habe ich getan? Was? Warum hast du mich verlassen? Warum?«

Er heulte und schrie die ganze Nacht und rief immer wieder ihren Namen, bis seine Stimme versagte und er das Heu zusammenraffte, um sich ein wenig zu wärmen. Wie ein Kind rollte er sich zusammen und wimmerte unter der Totendecke, hier, mitten im tiefen, dunklen Wald, erfroren, verdurstet, verhungert, allein.

Als der Mond hinter schwarzen sturmbringenden Wolken verschwand, beschloss er, zu sterben. Wofür sollte er denn noch leben? Wie sollte er seine geliebte Frau je finden? Ihm fehlte es an allem. Er hatte keine Kraft, die ihn vorantrieb, keine Waffe, die er schwingen konnte, kein Herz, das ihn liebte, und nun auch kein Licht, das ihn führte. Nein. Nein. Er wollte aufstehen, er konnte sie nicht einfach so aufgeben, seine Liebe, nein, er musste weiter, weitergehen, sie suchen, auch im Dunkel, in der Kälte. Er musste. Er konnte nicht mehr.