5,99 €
Tanzen ist Ruth Bannions große Leidenschaft und ihr ganzes Leben. Die junge Frau hat vor sechs Jahren ihre Eltern verloren. Das New Yorker Ballett ist ihre neue Heimat geworden. Unter dem künstlerischen Leiter Nick hat sie sich zur Primaballerina entwickelt. Das nächste Stück soll sie ausgerechnet mit ihm tanzen. Der charismatische Mann verwirrt sie mit einer Mischung aus perfekter Harmonie und unbedingtem Perfektionswillen, dem er alles andere unterordnet. Auch Ruth hat ihren Dickkopf. Können ihre Gefühle die gemeinsame Arbeit überstehen und umgekehrt?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 282
Nora Roberts
Tanz ins große Glück
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Sonja Sajlo-Lucich
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
1. KAPITEL
Der Kater lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen und die Vorderpfoten über der weißen Brust gekreuzt. Das orangefarbene Fell schimmerte in den letzten Strahlen der Abendsonne. Der Schlüssel in der Wohnungstür ließ ihn zwar aufhorchen, aber das Geräusch brachte ihn nicht aus der Ruhe. Er öffnete nur träge die Lider, als er die Stimme seines Frauchens vernahm, schloss sie aber gleich wieder, als er feststellte, dass sie nicht allein war. Sie hatte wieder diesen Mann mitgebracht, für den er keine sonderlich große Sympathie hegte. Also döste er lieber weiter.
»Aber Ruth! Es ist noch nicht mal acht Uhr. Draußen ist es sogar noch hell.«
Ruth legte den Schlüssel auf das zierliche Queen-Anne-Tischchen neben der Eingangstür und drehte sich lächelnd um. »Donald, ich sagte doch schon, dass ich heute früh zu Bett gehen will. Das Dinner war wirklich nett. Ich bin dir auch dankbar, dass du mich überredet hast, doch noch auszugehen.«
»Nun, in diesem Fall …« Mit einer geschickten Bewegung zog er sie in seine Arme. »Lass mich dich auch dazu überreden, den Abend noch ein wenig zu verlängern.«
Ruth ließ sich den Kuss gefallen. Sie genoss auch die leichte Wärme, die prickelnd über ihre Haut lief, doch als er sie enger an sich drücken wollte, entzog sie sich ihm. »Donald.« Ihr Lächeln war unverändert heiter und leicht, wie vor dem Kuss. »Du solltest jetzt wirklich gehen.«
»Nur noch ein letzter Drink vor dem Schlafengehen«, murmelte er und küsste sie erneut, leicht, lockend.
»Nicht heute Abend.« Entschieden machte sie sich aus seinen Armen frei. »Ich muss morgen früh zum Training, Donald. Und den ganzen Tag habe ich Proben, und dann findet morgen auch noch die Anprobe statt.«
Er drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Stirn. »Weißt du, es wäre einfacher für mich, wenn es da einen anderen gäbe, aber diese Leidenschaft fürs Tanzen …« Er zuckte resigniert die Schultern, bevor er sich zur Tür wandte. Verlor er etwa sein Charisma?
Ruth Bannion war die erste Frau seit über zehn Jahren, die ihn so konstant und vor allem so erfolgreich auf Abstand hielt. Er fragte sich, warum er dennoch immer wieder zu ihr zurückkam. Jetzt öffnete sie ihm die Tür und komplimentierte ihn mehr oder weniger hinaus, wenn auch mit einem Lächeln. Doch ein letzter Blick, bevor die Tür ins Schloss fiel, beantwortete seine Frage: Sie war mehr als nur schön. Sie war einzigartig.
Noch immer ein kleines Lächeln auf den Lippen, verschloss Ruth die Tür und legte die Sicherheitskette vor. Sie genoss die Gesellschaft von Donald Keyser. Er war ein gut aussehender Mann, groß und dunkel. Sein Witz war geistreich, sein Humor trocken, und zudem besaß er einen erlesenen Geschmack. Sie bewunderte ihn für sein Talent als Designer, trug sogar einige seiner Kreationen, und sie konnte sich in seiner Gegenwart entspannen – wenn sie die Zeit dafür fand. Natürlich war ihr klar, dass Donald eine intimere Beziehung mit ihr vorgezogen hätte.
Die Entscheidung dagegen war Ruth leichtgefallen. Sicher, sie mochte Donald. Aber mehr auch nicht. Er hatte schon bewiesen, dass er sie oft zum Lachen bringen konnte, aber sie bezweifelte ernsthaft, dass er sie auch zum Weinen bringen könnte.
Sie drehte sich um; ihre Wohnung lag in der Dämmerung vor ihr. Plötzlich verspürte Ruth einen Stich des Bedauerns. Und dann überkam sie ein Gefühl von Einsamkeit, jäh und völlig unerwartet.
Sie warf einen Blick in den goldgerahmten viereckigen Spiegel, der in der Diele hing. Er war eines der ersten Stücke, die sie für diese Wohnung gekauft hatte. Das Spiegelglas war alt, und sie hatte einen lächerlich hohen Preis bezahlt, obwohl die obere rechte Ecke schwarz angelaufen war. Es hatte ihr sehr viel bedeutet, den Spiegel dort an die Wand zu hängen – in der eigenen Wohnung, in ihrem eigenen Zuhause. Nachdenklich betrachtete sie sich im schwindenden Licht.
Heute Abend hatte sie ihr Haar offen gelassen, es floss ihr über die Schultern und hing bis über ihre Ellbogen hinunter. Mit einem ungeduldigen Kopfrucken schüttelte sie es zurück. Dicht und seidig schwarz fiel es auf ihren Rücken. Ihr Gesicht war schmal und grazil wie ihre Figur, aber es war durchaus nicht ebenmäßig. Dazu war ihr Mund zu voll, ihre Nase zu klein und ihr Kinn ein wenig spitz. Die braunen Augen unter den dunklen Brauen erinnerten an Katzenaugen. Ein exotisches Gesicht, so hatte man es ihr schon oft gesagt. Doch sie selbst sah keine Schönheit darin. Sicher, mit dem richtigen Make-up und im entsprechenden Licht sah sie faszinierend aus, das wusste sie. Aber das war etwas anderes – eine Illusion, eine Rolle, die mit Ruth Bannion nichts zu tun hatte.
Mit einem Seufzer wandte Ruth sich vom Spiegel ab und ging zu dem mit Plüsch bezogenen viktorianischen Sofa. Jetzt, da sie allein war, hüpfte Nijinsky von der Fensterbank, reckte sich, gähnte ausgiebig und kam dann auf leisen Pfoten angetappt, um sich auf Ruths Schoß zusammenzurollen. Und während sie ihrem Kater abwesend die Ohren kraulte, fragte sie sich im Stillen, wer Ruth Bannion wirklich war.
Vor fünf Jahren war sie eine sehr unerfahrene, aber sehr ehrgeizige Studentin gewesen, die eine neue Phase ihres Lebens in New York begonnen hatte. Dank Lindsay, dachte sie mit einem Lächeln. Lindsay Dunne, Lehrerin, Vertraute, Idol – die beste klassische Ballerina, die Ruth je gesehen hatte. Lindsay hatte Onkel Seth überredet, Ruth nach New York kommen zu lassen. Wenn Ruth jetzt an die beiden dachte, erfüllte sie ein warmes Gefühl. Inzwischen waren sie verheiratet und lebten mit ihren Kindern in Connecticut. Jedes Mal, wenn Ruth sie dort besuchte, fühlte sie die Liebe und das Glück noch wochenlang danach. Nie hatte sie zwei Menschen gesehen, die besser zueinander passten oder verliebter ineinander waren. Nun, außer vielleicht ihre Eltern.
Selbst nach sechs Jahren schlug eine Welle der Trauer über ihr zusammen. Den tragischen Verlust dieser intelligenten, lebenslustigen und herzlichen Menschen hatte sie nie wirklich verwunden. Ihr Tod war der Auslöser gewesen, der sie dahin gebracht hatte, wo sie heute war.
Seth Bannion war ihr Vormund geworden. Der Umzug in die kleine Küstenstadt in Connecticut hatte sie beide mit Lindsay zusammengeführt. Lindsay war es gewesen, die Seth klargemacht hatte, dass Ruth besseres und intensiveres Training brauchte. Ruth wusste, wie schwer es für Seth gewesen war, sie nach New York gehen zu lassen; sie war schließlich erst siebzehn gewesen. Seth hatte Bedenken gehabt, Ruth in ein Leben ziehen zu lassen, von dem er wusste, welche Härten und Anforderungen es bereithalten würde. Doch die Liebe für seine Nichte, die ihn zunächst hatte zögern lassen, war es dann auch gewesen, die ihn schließlich hatte zustimmen lassen. Das war der Wendepunkt gewesen. Er hatte Ruths Leben für immer verändert.
Oder vielleicht, überlegte sie jetzt, war es auch der Tag gewesen, an dem sie zum ersten Mal Lindsays Ballettschule betreten hatte. An jenem Tag hatte sie Davidov vorgetanzt.
Wie schrecklich aufgeregt sie damals gewesen war! Sie stand vor einem Mann, der als der beste Tänzer der letzten zehn Jahre gefeiert wurde. Ein unerreichter Meister, eine lebende Legende! Nikolai Davidov. Er tanzte nur mit den besten Ballerinas, einschließlich Lindsay Dunne. Eigentlich war er nach Connecticut gekommen, um Lindsay zu überzeugen, wieder nach New York zurückzukehren. Sie sollte die Hauptrolle in dem Ballett tanzen, das er geschrieben hatte. Ruth war allein von seiner Anwesenheit völlig eingeschüchtert gewesen; die Ehrfurcht hatte sie fast erstarren lassen. Und dann hatte er sie auch noch aufgefordert, für ihn zu tanzen. Aber er war charmant gewesen. Und wer könnte charmanter sein als Nick, wenn er es darauf anlegte, dachte sie und legte lächelnd den Kopf zurück. Also hatte sie angefangen zu tanzen und sich in der Musik und der Bewegung verloren. Und dann hatte er diese simplen und doch weltbewegenden Worte ausgesprochen.
Wenn du nach New York kommst, dann komm zu mir.
Ruth war damals sehr jung gewesen. Der Name Nikolai Davidov kam nur als ehrerbietiges Flüstern über ihre Lippen. Hätte er von ihr verlangt, barfuß den Broadway hinunterzutanzen, sie hätte es anstandslos getan.
Sie arbeitete hart an sich, um seinen Ansprüchen zu genügen. Ihr grauste vor seinem aufbrausenden Temperament; unter der eisigen Distanz, die seine Missbilligung nach sich zog, krümmte sie sich jedes Mal. Doch Nick trieb sie an, unablässig, erbarmungslos. In mancher Nacht lag sie zusammengerollt im Bett und war noch zu müde für Tränen. Aber dann lächelte er sie an oder warf ihr ein lässiges Lob hin, und der Schmerz verschwand.
Ruth hatte mit ihm getanzt, mit ihm gestritten, mit ihm gelacht. Und noch immer war da etwas an ihm, an seinem Wesen, aus dem sie nicht klug wurde.
Vielleicht ist es das, was Frauen so fasziniert, dachte sie. Diese geheimnisvolle Aura. Sein fremdländischer Akzent. Seine Verschlossenheit, sobald es um seine Vergangenheit ging. Die Schwärmerei für ihn hatte sie schon vor Jahren überwunden. Wenn sie heute daran dachte, wie verliebt sie in ihn gewesen war, musste sie lächeln. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Sie war gerade achtzehn gewesen, er fast dreißig. Ständig waren schöne Frauen um ihn herumgeschwirrt. Das tun sie heute noch, berichtigte sie sich in Gedanken.
Mit einem leicht schiefen Lächeln stand sie auf und reckte sich. Der Kater, verjagt von ihrem Schoß, stolzierte eingeschnappt davon.
Mein Herz ist ungebrochen und sicher, beschied Ruth. Donald fiel ihr ein. Nun, daran ließ sich nichts ändern. Mit einem Gähnen reckte sie sich noch einmal. Und schließlich stand ihr der morgige Tag bevor. Es würde anstrengend werden.
Ruth war nass geschwitzt. Die Choreografie von Nikolais Ballett »The Red Rose« war kompliziert und kräftezehrend. An der Stange gönnte Ruth sich die wahrhaft nötige Atempause. Der Rest der Truppe stand an den jeweiligen Positionen im Ballettsaal. Entweder übten sie die Tanzschritte nach Nicks antreibenden Anweisungen, oder sie warteten auf ihren nächsten Aufruf, so wie Ruth.
Es war erst elf Uhr, doch Ruth hatte bereits zwei Stunden Training hinter sich. Das T-Shirt, das sie zu der Gymnastikhose trug, war überall schweißnass, und aus dem festen Knoten im Nacken hatten sich einige Strähnen gelöst. Doch sobald sie Nick beobachtete, wenn er den anderen eine Drehung vorführte, schwand jeglicher Gedanke an Müdigkeit. Er ist absolut fantastisch, dachte sie bei sich. Wie jedes Mal, wenn sie ihm zuschaute.
Als künstlerischer Leiter der Company und renommierter Ballettkomponist hatte er es nicht mehr nötig, zu tanzen, um im Rampenlicht zu stehen. Er tanzte, weil er zum Tanzen geboren war. Knapp ein Meter achtzig groß, ließ seine muskulöse, drahtige Gestalt ihn größer wirken. Sein blondes Haar legte sich in weichen Wellen um ein Gesicht, das den jungenhaften Charme nie wirklich verloren hatte. Sein Mund war schlichtweg schön, voll und fein geschwungen. Und wenn er lächelte …
Wenn er lächelte, war er einfach unwiderstehlich. Dann bildeten sich feine Linien um seine Augen, und sie begannen in einem unglaublich Blau zu strahlen und zu funkeln.
Während sie zusah, wie er eine Pirouette drehte, empfand Ruth so etwas wie Dankbarkeit, dass er noch immer tanzte – obwohl er dreiunddreißig Jahre alt war und trotz all seiner anderen professionellen Verpflichtungen.
Eine knappe Geste ließ den Pianisten sofort sein Spiel abbrechen. »Na schön, Kinder, es könnte schlimmer sein«, sagte er mit seinem melodischen russischen Akzent.
Das von Davidov, dachte Ruth amüsiert, das kam praktisch einem Ritterschlag gleich.
»Ruth, den Pas de deux aus dem ersten Akt.«
Prompt setzte sie sich in Bewegung und ging auf ihn zu. Dabei strich sie sich das feuchte Haar aus der Stirn. Nick erinnerte vom Wesen her an Quecksilber: schwankend, aufbrausend und unkalkulierbar. Heute gab er sich gänzlich geschäftsmäßig. Ruth passte sich dem an. Sie stellten sich einander gegenüber, Gesicht zu Gesicht, die Handflächen aneinandergelegt.
Es war eine der ersten Liebesszenen, eher ein ungestümer Schlagabtausch denn eine Darstellung von Romantik. Dieses Mal hatte Nick kein Märchenballett geschrieben, sondern eines, das Leidenschaft und Feuer in sich barg. Hauptpersonen waren ein Prinz und eine Zigeunerin, beide heißblütig und stürmisch. Um die Charaktere darzustellen, waren die Tänze schnell und lebhaft und verlangten Kraft. Sie forderten einander heraus, er zog sie zu sich heran, sie widersetzte sich ihm. Ein stolzes Zurückwerfen des Kopfes, eine ruckartige Handbewegung unterstrichen die aufgeladene Atmosphäre.
Die Spätsommersonne schien durch die Scheiben, malte Muster auf den Boden. Schweißtropfen liefen unbeachtet an Ruths Rücken hinunter, während sie sich als Carlotta in Nicks Arme drehte, sich wieder von ihm löste. Die Zigeunerin war eine einzige Verlockung. Sie forderte den Prinzen während des gesamten Balletts heraus, reizte ihn. Die Energie des Duells der Herzen wurde mit der ersten Begegnung festgesetzt.
In solchen Momenten, wenn Ruth mit Nick tanzte, wurde ihr klar, dass sie ihn immer verehren würde – ihn, den Tänzer, die lebende Legende. Seine Partnerin zu sein war das Größte, das ihr in ihrem Leben passiert war. Er trieb sie über sich selbst hinaus, brachte sie an einen Ort, den zu erreichen sie nie gehofft hatte. Auf dem Weg von der Ballettschülerin zum Mitglied des Corps de Ballet bis hin zur Ballerina hatte Ruth mit vielen Partnern getanzt. Aber keiner von ihnen konnte sich mit Nick Davidovs Brillanz und Präzision messen. Und Ausdauer, dachte sie leicht zerknirscht, als er eine Wiederholung anordnete.
Ruth nutzte die kleine Pause, die der Pianist brauchte, um seine Partitur zurückzublättern, um Atem zu schöpfen. Nick kam zu ihr zurück.
»Wo ist heute deine Leidenschaft geblieben, Kleines?«, wollte er wissen.
Eine Koseform, die sie verabscheute, und Nick wusste das auch. Er grinste breit, als sie ihn böse anfunkelte. Wortlos legte sie ihre Handflächen an seine.
»Und jetzt, meine Zigeunerin, sag mir auch mit deinem Körper, dass ich mich zum Teufel scheren soll, nicht nur mit deinen Augen. Also, noch mal.«
Die Musik setzte ein. Dieses Mal dachte Ruth nicht daran, wie viel Freude sie beim Tanzen mit Nick empfand, dieses Mal konkurrierte sie mit ihm. Schritt für Schritt, Sprung für Sprung. Ihr Ärger gab Nick genau das, was er von ihr wollte: Sie forderte ihn heraus. Mit blitzenden Augen drehte sie sich in seine Arme, doch sie verharrte nur eine Sekunde. Dann entwand sie sich ihm mit einer Pirouette, lockte ihn aber mit einem hoch aufsteigenden Sprung, einem Grand jeté, ihr zu folgen.
Sie endeten in der gleichen Figur, wie sie begonnen hatten – den Kopf zurückgeworfen, Handfläche an Handfläche. Lachend zog Nick sie an sich und küsste sie begeistert auf beide Wangen.
»Na also, es geht doch! Du warst großartig! Mit einer Hand kratzt du mir die Augen aus, während du mir die andere huldvoll zum galanten Kuss darbietest.«
Ruths Atem rasselte nach der Anstrengung. Ihre Augen, noch immer glühend vor Ärger, hafteten auf Nicks Gesicht. Ein seltsamer Schauer rann ihr über den Rücken, kurz nur, aber er lenkte sie ab. Nick schien es ebenso zu ergehen. Sie sah es in seinem Blick, fühlte es an dem Druck, mit dem er seine Hand auf ihren Rücken presste. Dann verflog der Moment, und Nick zog sie mit sich.
»Pause!«, verkündete er laut. Ein allgemeines Stöhnen der Erleichterung ging durch den Saal, der sich prompt in Windeseile leerte. »Ruth.« Nick fasste nach ihrer Hand, als sie mit den anderen gehen wollte. »Ich möchte mit dir reden.«
»Sicher. Nach dem Lunch.«
»Jetzt. Hier.«
Sie runzelte die Stirn. »Nick, ich habe nicht einmal gefrühstückt. Ich …«
»Unten im Kühlschrank stehen Joghurt und Mineralwasser.« Er ließ ihre Hand los und ging zum Klavier, setzte sich und begann zu improvisieren. »Bring mir auch etwas mit.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, beobachtete sie, wie er die Finger über die Klaviatur gleiten ließ. Ihm würde nie in den Sinn kommen, dass ich Nein sagen könnte. Er käme auch nie auf die Idee, mich zu fragen, ob ich vielleicht etwas anderes vorhabe. Er erwartet, dass ich wie ein folgsames kleines Mädchen losrenne und genau das tue, was er mir sagt, ohne zu murren.
»Unerträglich«, war das einzige Wort, das ihr entfuhr.
Nick sah auf und zu ihr hin, ohne sein Spiel zu unterbrechen. »Sagtest du etwas?«
»Allerdings«, erwiderte sie schneidend. »Ich sagte, du bist unerträglich.«
»Ich weiß.« Nick lächelte sie unbeschwert an.
Wider Willen musste Ruth lachen. »Welche Sorte?« Es verschaffte ihr ein wenig Genugtuung, dass er offensichtlich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Joghurt. Welche Sorte, Davidov?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern kehrte kurz darauf mit einer ganzen Palette in allen Geschmacksrichtungen auf dem Arm wieder zurück. Löffel hatte sie ebenfalls mitgebracht sowie Gläser und eine große Flasche Perrier. Aus der Kantine drangen Lachen und Gesprächsfetzen zu ihr und vermischten sich mit den Klaviertönen, die aus dem Probensaal oben herunterschallten. Ruth stieg die Treppe empor, unterhielt sich auf dem Weg noch mit zwei Mitgliedern des Ensembles und wechselte ein paar Worte mit einem der männlichen Solotänzer. Nick spielte eine langsame Nummer, einen Blues. Am Stil erkannte sie eine seiner eigenen Kompositionen. Nein, keine Komposition, korrigierte sie sich in Gedanken, während sie in der Tür stehen blieb und lauschte. Eine Komposition schrieb man nieder, um sie zu verewigen. Das hier war Musik, die direkt aus dem Herzen kam.
Sonnenstrahlen fielen auf sein Haar und seine Hände – schlanke, elegante Hände mit langen Fingern. Sie vermochten mit einer einzigen Geste mehr auszudrücken als normale Menschen mit einer ganzen Ansprache.
Er sieht so einsam und verloren aus!
Der Gedanke schoss aus dem Nichts in ihren Kopf und erschütterte sie. Das ist die Musik, beschloss sie. Sie ist so melancholisch. Ruth ging zu ihm hinüber, ohne dass ihre Spitzenschuhe einen Laut auf dem Holzboden gemacht hätten.
»Du wirkst einsam, Nick.«
Sein Kopf ruckte hoch, und Ruth wusste, dass sie ihn aus einer tiefen Versunkenheit gerissen hatte. Einen Moment lang sah er sie nachdenklich an, die Finger regungslos auf den Tasten. »Das war ich auch«, sagte er. »Aber das ist es nicht, worüber ich mit dir reden wollte.«
Ruth zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wird das etwa ein Business-Lunch?« Sie stellte den Karton mit Joghurtbechern auf dem Piano ab.
»Nein.« Er nahm die Flasche Perrier und drehte den Verschluss auf. »Dann würden wir uns nämlich nur streiten, und das ist schlecht für die Verdauung, nicht wahr? Komm, setz dich zu mir.«
Ruth ließ sich neben ihm auf der Klavierbank nieder und wappnete sich automatisch für den Stromstoß. In Nikolais Nähe zu sein hieß auch immer, im Zentrum der Spannung zu sein. Selbst jetzt, bei ihrem schlichten Essen, vibrierte er geradezu vor Energie.
»Gibt es ein Problem?« Sie griff nach einem Joghurtbecher und nahm sich einen Löffel.
»Das würde ich gerne von dir wissen.«
Sie stutzte verwirrt, drehte ihm das Gesicht zu und fand seinen Blick durchdringend auf sich liegen. Er hatte die unglaublichsten blauen Augen, klar wie Kristall, und er besaß die typische Fähigkeit des Tänzers zur absoluten Reglosigkeit. »Was meinst du damit?«
»Lindsay hat mich angerufen.« Seine Augen lagen unverwandt auf ihr. Seine Wimpern hatte die Farbe der dunkleren Strähnen in seinem Haar.
Jetzt noch verwirrter, runzelte Ruth die Stirn. »So?«
»Sie glaubt, dass du nicht glücklich bist.« Unter seiner durchdringenden Musterung merkte Ruth, wie sich ihr Nacken zu verspannen begann. Sie drehte den Kopf weg, und sofort ließ der Druck nach. Sie kannte niemanden sonst, der sie allein mit einem Blick derart aus der Ruhe bringen konnte.
»Lindsay macht sich zu viele Gedanken«, meinte sie leichthin und tauchte den Löffel in den Joghurt.
»Bist du es, Ruth?« Nick legte die Hand auf ihren Arm, sodass sie ihn wieder ansah. »Bist du unglücklich?«
»Nein«, antwortete sie sofort und meinte es auch so. Ein leises Lächeln, das so typisch für sie war, zog auf ihre Lippen. »Nein, ich bin nicht unglücklich«, bekräftigte sie noch einmal.
Er musterte weiter ihr Gesicht und ließ seine Finger zu ihrem Handgelenk gleiten. »Bist du glücklich?«
Sie öffnete den Mund, wollte antworten, doch frustriert schloss sie ihn wieder. Wenn er sie so ansah, mit diesen Augen, die absolute Ehrlichkeit forderten … Er würde keine Plattitüden akzeptieren. »Warum sollte ich das nicht sein?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. Sie wollte aufstehen, doch sein Griff an ihrem Handgelenk wurde fester.
»Ruth.« Ihr blieb nichts anderes, als sich wieder zu ihm umzudrehen. »Wir sind doch Freunde, oder?«
Was sollte sie darauf antworten? Ein schlichtes Ja wurde weder ihren komplexen Gefühlen für ihn noch der Ungleichheit in ihrer Beziehung gerecht. »Manchmal«, sagte sie schließlich vorsichtig. »Manchmal sind wir Freunde.«
Nick akzeptierte ihre Antwort, auch wenn seine Augen amüsiert auffunkelten. Völlig überraschend nahm er ihre beiden Hände und führte sie an seine Lippen. Flüchtig strich er mit dem Mund über ihre Haut. Ruth entzog ihm ihre Hände nicht, aber sie versteifte sich, überrascht und argwöhnisch. Über ihren Fingern schaute er ruhig zu ihr auf, so als hätte er nicht bemerkt, dass sie sich impulsiv hatte zurückziehen wollen. »Sagst du mir, warum du nicht glücklich bist?«
Sorgsam darauf achtend, gelassen zu bleiben, zog Ruth ihre Hände zurück. Es war schwierig, Haltung zu wahren, wenn er sie berührte. Nick war ein sehr körperbetonter Mann, der körperliche Reaktionen herausforderte. Ruth ging zum Fenster hinüber und sah hinaus. Unten auf den Straßen herrschte reger Trubel. Typisch Manhattan.
»Um ehrlich zu sein«, begann sie langsam, »ich habe noch nie viel Zeit darauf verwandt, darüber nachzudenken, ob ich glücklich bin oder nicht. Oh nein«, lachend schüttelte sie den Kopf. »Das hört sich schrecklich überheblich an.« Sie drehte sich zu ihm um, doch er lächelte nicht. »Ich meinte damit nur, dass ich bisher nie gedacht habe, ich könnte unglücklich sein, bis du mich jetzt gefragt hast.« Mit einem Achselzucken lehnte sie sich an die Scheibe zurück.
Nick goss ein Glas Mineralwasser ein und kam damit zu ihr. »Lindsay macht sich Sorgen um dich.«
»Lindsay hat genug damit zu tun, sich um Onkel Seth und die Kinder und ihre Schule zu sorgen.«
»Sie liebt dich«, sagte Nick schlicht.
Ein Lächeln zog langsam auf ihr Gesicht, und ihre dunklen Augen strahlten warm. »Ja, ich weiß«, entgegnete sie mit leicht verwunderter Freude.
»Überrascht dich das?« Gedankenverloren wickelte Nick sich eine Strähne ihres Haars um den Finger. Es war weich und seidig und noch ein wenig feucht.
»Ihre Großzügigkeit überrascht mich. Das wird sich wohl auch nie ändern.« Ruth hielt einen Moment inne, fuhr dann rasch fort, bevor der Mut sie verließ: »Warst du jemals in sie verliebt?«
»Ja.« Er antwortete prompt, ohne Verlegenheit oder Bedauern. »Vor Jahren einmal und nur kurz.« Mit einem Lächeln schob er eine gelockerte Haarnadel in ihren Knoten zurück. »Aber es gelang mir nie, an sie heranzukommen. Und dann, bevor ich mich’s versah, waren wir Freunde.«
»Seltsam«, sagte sie nach einem nachdenklichen Augenblick. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du irgendjemanden oder irgendetwas als unerreichbar betrachtest.«
Das Lächeln blieb. »Ich war damals sehr jung, im gleichen Alter wie du jetzt. Und wir reden hier doch auch über dich, nicht über Lindsay. Sie glaubt, ich würde zu viel von dir verlangen.«
»Zu viel verlangen?« Ruth schlug die Augen zur Decke auf. »Du, Nikolai?«
Er bedachte sie mit einem selbstsicheren, überheblich-amüsierten Blick. »Ja, ich war auch erstaunt.«
Ruth schüttelte den Kopf. Sie ging zum Klavier zurück, tauschte das Wasserglas gegen einen Joghurtbecher. »Mir geht es gut, Nick. Das hast du ihr hoffentlich gesagt?« Als er nichts erwiderte, hakte sie nach, den Löffel noch immer im Mund. »Nick?«
»Ich dachte, du hast vielleicht eine … unglückliche Beziehung.«
Sie riss die Augenbrauen hoch. »Du meinst, ich könnte Liebeskummer haben?«
Man sah ihm an, dass ihm ihre Wortwahl missfiel. »Du bist ziemlich direkt, Kleines.«
»Ich bin kein Kind«, konterte sie schnippisch und stellte den Becher ab. »Und ich mag es nicht, wenn …«
»Triffst du dich noch mit diesem Designer?«, fiel Nick ihr kühl ins Wort.
»›Dieser Designer‹ hat einen Namen«, sagte sie schneidend. »Er heißt Donald Keyser. Bei dir hört sich das an, als wäre er nicht mehr als ein Etikett in einem Kleid.«
»Tatsächlich?« Sein Lächeln war keineswegs reuig. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Nein, habe ich nicht.« Sie trank von dem Wasser. Ihre Haltung wirkte ruhig und beherrscht, aber in ihren Augen blitzte Ärger auf.
»Ruth, triffst du dich noch mit ihm?«
»Das geht dich nichts an.« Sie sagt die Worte leicht dahin, doch ihr Unterton war eisig.
»Du bist Mitglied der Company.« Nick sah ihr direkt in die Augen. »Und ich bin der künstlerische Leiter.«
»Stimmt. Was dich aber nicht automatisch zum Beichtvater macht.« Sie gab sich keine Mühe mehr, ihren Ärger zurückzuhalten. »Brauchen deine Tänzer etwa deinen Segen für ihre Lover?«
»Vorsicht, Ruth! Provozier mich nicht!«, warnte er.
»Ich muss mein Privatleben nicht vor dir rechtfertigen, Nick«, schoss sie zurück. »Ich komme pünktlich zu den Proben und zum Training, und ich arbeite hart.«
»Habe ich etwa eine Rechtfertigung von dir verlangt?«
»Nein. Aber ich bin es leid, dass du hier die Rolle des strengen Aufpassers übernehmen willst.« Eine tiefe Falte stand auf ihrer Stirn, als sie vor ihn trat. »Ich habe nämlich schon einen Onkel. Ich brauche nicht auch noch dich.«
»Bist du sicher?« Er zog eine lose Haarnadel aus ihrem Knoten und drehte sie zwischen den Fingern, ohne Ruth aus den Augen zu lassen.
Sein ungerührter Ton rieb sie auf. »Absolut!« Sie warf den Kopf zurück. »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln.«
Nick fasste sie bei den Schultern und überrumpelte sie mit der abrupten Geste. Sie fühlte sich mit einem Ruck an ihn gezogen, an seinen Körper, den sie so gut kannte. Doch das hier war anders. Weder spielte Musik, noch gab es eine Schrittfolge einzuhalten. Sein Ärger war fast greifbar, und sie konnte noch etwas anderes fühlen, etwas, das ebenso unbeherrscht war. Ruth kannte Nick, kannte sein aufbrausendes Temperament und wusste damit umzugehen. Doch jetzt …
Die Reaktion ihres Körpers überraschte und verwirrte sie. Ihre Herzen lagen aneinander, sie schienen im gleichen Rhythmus zu schlagen. Sie spürte, wie sich seine Finger in ihre Haut gruben, aber keinen Schmerz. Sie wollte ihn wegstoßen, doch sie erstarrte regungslos, atemlos.
Nick senkte den Blick auf ihre Lippen. Ein sehnsüchtiger Stich durchfuhr sie, intensiver und süßer als alles, was sie bisher erfahren hatte. Sie blickte benommen und verlangend zu ihm auf.
Das, wonach sie sich sehnte, war nur ein Hauch von ihr entfernt. Ruth schwankte leicht, lehnte sich vor, schloss die Lider und machte sich bereit für Nicks Kuss. Sein Atem strich warm über ihre Lippen, die sich unwillkürlich öffneten. Sie hauchte seinen Namen.
Und dann, einen russischen Fluch zischend, stieß Nick sie von sich weg. »Du solltest es besser wissen«, murmelte er gepresst, »als mich absichtlich wütend zu machen.«
Seine Zurückweisung schmerzte. »Das war es also, was du gefühlt hast? Wut?«
»Treib’s nicht zu weit.« Der Ärger stand in seinen Augen, er rollte die Schultern. »Halte dich an deinen Designer«, murmelte er schließlich und kehrte ans Klavier zurück. »Der passt besser zu dir.«
Er setzte sich und begann zu spielen und gab Ruth mit seinem Schweigen zu verstehen, dass sie aus seiner Gesellschaft entlassen war.
2. KAPITEL
Sie musste sich das alles nur eingebildet haben. Noch einmal durchlebte Ruth die Welle der intensiven Leidenschaft, die sie in Nicks Armen empfunden hatte. Nein, ich muss mich geirrt haben!, sagte sie sich immer wieder. Ich habe unzählige Male mit ihm getanzt und nie, absolut niemals etwas Ähnliches verspürt. Sie stand unter der Dusche und wusch den Trainingstag von sich ab. Nach dieser Szene hatte sie während der Proben noch mindestens ein Dutzend Mal in seinen Armen gelegen.
Dennoch musste sie sich unwillig eingestehen, dass da etwas gewesen war. Die Spannung war nicht zu ignorieren gewesen, als sie den Part immer und immer wieder getanzt hatten. Aber es war eher Ärger gewesen. Unmut, Gereiztheit.
Ruth ließ den Wasserstrahl auf sich niederprasseln. Das lange Haar lag ihr nass auf dem Rücken. Jetzt, da sie allein war, versuchte sie, ihre Reaktion auf Nicks Kuss zu analysieren.
Es war eine rein physische Reaktion gewesen, noch dazu eine schockierend heftige. Sie dachte an die milde Wärme, die Donalds Küsse in ihr auslösten. Weich und lockend, doch eine Verlockung, der leicht zu widerstehen war. Donald nutzte leise Worte und sanfte Überredungskunst. Er verließ sich auf all die Dinge, die man üblicherweise für eine Verführung einsetzte – Blumen, Kerzenlicht, romantische Dinner zu zweit. In seiner Gegenwart fühlte sie sich … Ruth suchte nach dem passenden Wort … wohl. Sie verdrehte die Augen. Sich wohlfühlen. Eine Beschreibung, die keinem Mann schmeicheln würde. Immerhin fühlte sie sich in Donalds Gesellschaft wohler als bei jedem anderen Mann, den sie kannte. Und dann löste jemand, den sie seit Jahren kannte und der sie mit einem einzigen Wort wütend machen oder mit einem Tanz zu Tränen rühren konnte, von einem Moment auf den anderen so etwas in ihr aus! Mit »wohlfühlen« hatte das nichts zu tun.
Er hat mich noch nie geküsst, dachte sie und erlaubte es sich für einen Moment, in der Erinnerung zu versinken. Auch nicht gehalten, so wie ein Liebhaber es tat. Aber vorhin …
Ein Unfall, mehr nicht, sagte sie sich und drehte energisch das Wasser ab. Eine flüchtige Unbesonnenheit, sozusagen eine Art Nachwirkung des leidenschaftlichen Tanzes, vermischt mit der Gereiztheit durch den Wortwechsel.
Ruth griff nach dem Handtuch, um sich abzutrocknen. Sie war klein, ihre Gestalt zierlich. Sie kannte ihren Körper und war mit ihm vertraut, wie nur Tänzer es sein konnten. Ihre Glieder waren lang und schlank und geschmeidig. Es waren dieses klassische Aussehen einer Ballerina und die schicksalhaften Ereignisse in ihrem Leben gewesen, die sie mit Lindsay zusammengeführt hatten.
Lindsay. Lächelnd erinnerte sich Ruth an Lindsays mitreißende Vorstellung in »Don Quichotte«. Damals hatten sie sich noch nicht gekannt. Ihr Lächeln wurde leicht zerknirscht, als sie sich des ersten persönlichen Treffens mit der älteren Primaballerina entsann. Das war Jahre später gewesen, in Lindsays kleiner Ballettschule. Ruth war vor Ehrfurcht und Verlegenheit halb umgekommen, hatte sie doch nichts Besseres zu tun gehabt, als laut herauszuposaunen, dass auch sie eines Tages in »Don Quichotte« tanzen würde!
Und ja, sie hatte in dem Ballett getanzt, erinnerte sie sich jetzt, während sie das Handtuch um sich schlang. Onkel Seth und Lindsay waren zu der Vorstellung gekommen, obwohl Lindsay damals schon im achten Monat schwanger gewesen war. Lindsay hatte Tränen der Rührung vergossen, und Nick hatte sie gutmütig damit aufgezogen.
Mit einem leisen Seufzer ließ Ruth das Handtuch achtlos zu Boden fallen und schlüpfte in ihren Bademantel. Lindsay war die Einzige, der aufgefallen war, dass etwas nicht so recht stimmte. Ruth verknotete den Gürtel des fuchsienroten Seidenmantels und griff nach dem Kamm. Sie rief sich das letzte Gespräch mit Lindsay in Erinnerung. Am Telefon hatte sie von Donald erzählt, hatte begeistert die kleine Truhe beschrieben, die sie auf dem Trödelmarkt gefunden hatte. Sie hatten sich über die Kinder unterhalten und dass Onkel Seth ihren Besuch erwartete, sobald sie ein Wochenende frei hatte.
Und irgendwie, während sie angeregt über Familie und die neuesten Ereignisse plauderten, hatte Lindsay etwas gespürt, dessen Ruth sich selbst nicht einmal bewusst gewesen war. Mit gerunzelter Stirn zog sie den Kamm durch ihr nasses Haar. Sie war nicht glücklich. Sie war aber auch nicht wirklich unglücklich, nur … irgendwie unzufrieden. Albern, entschied sie, verärgert über sich selbst. Sie hatte doch alles, was sie wollte. Sie war Erste Solotänzerin der Company; in der Ballettwelt hatte sie sich längst einen Namen gemacht. Sie würde die Hauptrolle in Davidovs neuestem Ballett tanzen. Sicher, die Anforderungen waren hoch, das Training hart, aber es war alles, war Ruth je gewollt hatte. Es war das Leben, für das sie geboren worden war.
Manchmal jedoch … manchmal würde sie gern die Regeln brechen. Würde gern die Zeit zurückdrehen zu der unbeschwerten Kindheit. So viel Freiheit, so viel Abenteuer. Ihre Augen begannen zu leuchten, als sie daran zurückdachte: Ski fahren in der Schweiz, wo die Luft so klar und kalt war, dass das Atmen schmerzte. Die leuchtenden Farben und würzigen Aromen in Istanbul. Die Kinder mit den großen dunklen Augen in den Straßen auf Kreta. Das komische kleine Zimmer in Bonn mit den gläsernen Türknäufen – all die Jahre, die sie mit ihren Eltern auf Reisen verbracht hatte. Sie waren Journalisten gewesen. Waren sie eigentlich je länger als drei Monate an einem Ort geblieben? Unmöglich, überhaupt eine tiefere Bindung einzugehen – außer zum Tanz. Das Ballett war ihr ständiger Begleiter gewesen, war mit ihr gezogen, von einem Ort zum nächsten. Die Lehrer hatten in verschiedenen Sprachen gesprochen, mit verschiedenen Akzenten. Aber der Tanz, der war immer für sie da gewesen.