Tatort Heidelberg - Frank Engehausen - E-Book

Tatort Heidelberg E-Book

Frank Engehausen

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Beschreibung

Die Frage, wie die nationalsozialistische Diktatur mehr als zwölf Jahre aufrechterhalten werden konnte – ob mit Mitteln eines repressiven Polizeistaats oder durch breite Zustimmung der Bevölkerung –, beschäftigt die Geschichtswissenschaft seit jeher. Frank Engehausen nähert sich in diesem Buch einer Antwort durch einen mikroskopischen Blick auf die Strafjustiz: Anhand von 52 Fällen und Einzelschicksalen, die sich zwischen 1933 und 1945 in Heidelberg ereigneten und vor dem Sondergericht Mannheim verhandelt wurden, entsteht in diesem Buch eine Alltagsgeschichte der NS-Gewaltherrschaft in der Universitätsstadt am Neckar. Deutlich wird, wie Menschen wegen abweichender politischer Meinungen oder weltanschaulicher Distanz zur Staatsideologie, in aller Regel durch Denunziation, in die Fänge des Geheimpolizei- und des Justizapparats gerieten. Zudem zeigt das Buch auf, welch großen Anteil die Selbstmobilisierung der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« an der Verfolgung von politischem Dissens sowie an der Bestrafung sozialer Devianz hatte.

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Über das Buch

Die Frage, wie die nationalsozialistische Diktatur mehr als zwölf Jahre aufrechterhalten werden konnte – ob mit Mitteln eines repressiven Polizeistaats oder durch breite Zustimmung der Bevölkerung –, beschäftigt die Geschichtswissenschaft seit jeher. Frank Engehausen nähert sich in diesem Buch einer Antwort durch einen mikroskopischen Blick auf die Strafjustiz: Anhand von 52 Fällen und Einzelschicksalen, die sich zwischen 1933 und 1945 in Heidelberg ereigneten und vor dem Sondergericht Mannheim verhandelt wurden, entsteht in diesem Buch eine Alltagsgeschichte der NS-Gewaltherrschaft in der Universitätsstadt am Neckar. Deutlich wird, wie Menschen wegen abweichender politischer Meinungen oder weltanschaulicher Distanz zur Staatsideologie, in aller Regel durch Denunziation, in die Fänge des Geheimpolizei- und des Justizapparats gerieten. Zudem zeigt das Buch auf, welch großen Anteil die Selbstmobilisierung der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« an der Verfolgung von politischem Dissens sowie an der Bestrafung sozialer Devianz hatte.

Vita

Frank Engehausen lehrt Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg.

Inhalt

Vorwort

Heidelberg im Nationalsozialismus

Die Einzelfälle

Hauptstraße 8, 24. Juni 1933

Im Hof der Wallstraße 5, Juli oder August 1933

Erlenweg 6, 19. September 1933

Rohrbacher Straße 20, Februar bis April 1934

Hauptstraße 67, 26. August 1934

Höllenstein, 9./10. November 1934

Polizeiwache Bergstraße, 1. Mai 1935

Bahnhofstraße 29, 18. Juni 1935

Steubenstraße, 28. Juli 1935

Obere Neckarstraße 2, 4. September 1935

Quinckestraße 39, 2. Dezember 1935

Ein Briefkasten irgendwo in Heidelberg, 1. Januar 1936

Happelstraße 17, März 1936

Rahmengasse 34, 6. März 1936

Aufenthaltsbude am Tiergarten, 16. März 1936

Ziegelhäuser Landstraße 31, 15. Dezember 1936

Schröderstraße 56, 4. März 1937

Klausenpfad, 1. Mai 1937

Oberer Fauler Pelz 1, Juni 1937

Hauptstraße 58, 6. Oktober 1937

Heidelberger Straße 26, Anfang Juni 1938

Odenwaldstraße 52, 2. Juli 1938

Schneidmühlstraße 4, 28. August 1938

Reichsautobahn bei Heidelberg, 13. November 1938

Bunsenstraße 18, seit 1. Januar 1939

Ziegelhäuser Landstraße 13, Januar 1939

Leopoldstraße 60, Februar 1939

Langemarckplatz, 16. März 1939

Am Heiligenhaus 14, April 1939

Dossenheimer Landstraße 66, 7. Dezember 1939

Friesenberg 6, Februar oder März 1940

Rottmannstraße 11, 26./27. Juni 1940

Oberer Fauler Pelz 1, November 1940

Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof, 18. Mai 1941

Hauptstraße 187, 12. Juni 1941

Bergheimer Straße 118, 12. August 1941

Goethestraße 10, Oktober 1941

Rathausstraße 61, Mai 1941 bis Januar 1942

Zähringer Straße 47, 26. März 1942

Fahrtgasse 22, 10. April 1942

Obere Neckarstraße 10, 18. April 1942

Schröderstraße 49 und Ladenburger Straße 1, 13. September 1942

Kleine Mantelgasse 27, 14. November 1942

Kaiserstraße 33, 27. Dezember 1942

Hauptstraße 42, 26./27. Januar 1943

Ziegelhäuser Landstraße 21, 16. und 17. März 1943

Schulplatz 7, 12. Mai 1943

Aue 18, 24. September 1943

Pfälzerstraße 16, Ende Februar/Anfang März 1944

Kaiserstraße 8, bis Juni 1944

Theaterstraße 1, Frühjahr bis Oktober 1944

Roonstraße 16, 21. Januar 1945

Nachwort: Ein Blick auf das Ganze

Dank

Anhang

Verordnungen und Gesetze

1.Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933 (Reichsgesetzblatt 1933, S. 136–138)

2.Verordnung der Reichsregierung über die Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. Dezember 1934 (Reichsgesetzblatt 1934, S. 1269)

3.Verordnung über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. November 1938 (Reichsgesetzblatt 1938, S. 1632)

4.Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940 (Reichsgesetzblatt 1940, S. 405–411)

5.Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (Reichsgesetzblatt 1933, S. 83)

6.Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 (Reichsgesetzblatt 1933, S. 135)

7.Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934 (Reichsgesetzblatt 1934, S. 1269–1271)

8.Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22. Juni 1938 (Reichsgesetzblatt 1938, S. 651)

9.Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939 (Reichsgesetzblatt 1939, S. 1683)

10.Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 (Reichsgesetzblatt 1939, S. 1609–1613)

11.Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 (Reichsgesetzblatt 1939, S. 1679)

12.Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. Dezember 1939 (Reichsgesetzblatt 1939, S. 2378)

Literatur

Frank Engehausen

Tatort Heidelberg

Alltagsgeschichten von Repression und Verfolgung 1933–1945

Campus Verlag Frankfurt / New York

Vorwort

Am 21. März 1933 ordnete die von Adolf Hitler geführte Reichsregierung die Bildung von Sondergerichten an, die in vereinfachten und beschleunigten, die rechtsstaatlichen Standards weit unterlaufenden Verfahren vermeintliche politische Kriminalität bestrafen sollten, namentlich Verstöße gegen die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar und gegen die Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung, die am gleichen Tag wie die Sondergerichtsverordnung in Kraft gesetzt wurde. Mit einer Verordnung vom 20. November 1938 wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte ins Beliebige erweitert, indem die Anklagebehörden Fälle vor diese bringen konnten, wenn sie der Auffassung waren, daß mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung geboten sei. Noch weiter wuchs die Bedeutung der Sondergerichte innerhalb des Justizsystems mit Beginn des Krieges, als neue Straftatbestände geschaffen wurden, die in ihre Zuständigkeit fielen: Plünderungen und Verbrechen bei Fliegergefahr, die nach der Verordnung gegen Volksschädlinge mit der Todesstrafe zu ahnden waren, das absichtliche Abhören ausländischer Sender, die Wehrkraftzersetzung, sofern die Täter Zivilpersonen waren, sowie kriegsschädliches Verhalten, zu dem die Kriegswirtschaftsverordnung in erster Linie das Beiseiteschaffen oder Zurückhalten von Rohstoffen oder Erzeugnissen zählte, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehörten – auch hier wurde der Strafrahmen bis zur Todesstrafe gedehnt.

Die Verordnung vom März 1933 sah die Einrichtung eines Sondergerichts in jedem der 26 Oberlandesgerichtsbezirke des Deutschen Reiches vor. Von 26 wuchs die Zahl bis 1942 auf 72 an durch die Einrichtung neuer Gerichte in Österreich und im Sudetenland sowie in den während des Krieges annektierten und besetzten Gebieten; auch wurden in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken seit 1940 zusätzliche Sondergerichte geschaffen, um der steigenden Zahl der Verfahren Herr zu werden. Wie viele Verfahren vor den Sondergerichten geführt wurden und wie viele Todesurteile (Schätzungen liegen bei etwas mehr als 10.000) sie verhängten, ist unklar, da die Aktenüberlieferung für viele Sondergerichte ungünstig ist. Dies gilt nicht für das Sondergericht Mannheim, das für den Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe und damit für das Land Baden zuständig war – alleinzuständig bis zum Jahresende 1940, als in Freiburg ein zweites badisches Sondergericht eingerichtet wurde. Zwar gibt es auch im Mannheimer Fall empfindliche Lücken, da zum Beispiel für die Jahre 1933 bis 1935 die Ermittlungsakten verloren sind und sich die Verfahren nur über die in den Handakten enthaltenen Dokumente (Anzeigen, Anklagen, Urteile, Gnadengesuche) rekonstruieren lassen; insgesamt ist die Überlieferung aber so gut, dass sich verlässliche Bilder von der Arbeit des Sondergerichts gewinnen lassen.

Das vorliegende Buch möchte ein detailreiches Bild von den vom Sondergericht Mannheim geführten Verfahren zeichnen, die Heidelberg als Tatort hatten. Ein lokaler Fokus erschien wünschenswert, da die Summe der Einzelfälle ein Panorama wenigstens des kleinräumigen Ganzen verspricht; allerdings erforderte auch die Beschränkung auf Heidelberg noch eine weitere Auswahl, da mehrere Hundert Fälle in Betracht kamen, deren ausführliche Schilderung die Ressourcen des Autors überlastet und den Rahmen einer monographischen Publikation überspannt hätte. Ohne die Angeklagten in Profilgruppen kategorisiert oder die Delikte und die Strafen quantifiziert, aber auch ohne das Wunschbild der Repräsentativität ganz aus den Augen verloren zu haben, wurden 52 Einzelfälle ausgewählt, die im Folgenden in chronologischer Reihung präsentiert werden. Sie sollen am Heidelberger Beispiel nachvollziehbar machen, wie die als Notstandswerkzeuge zur Abwehr eines drohenden Bürgerkriegs in der Machtübernahmephase deklarierten Sondergerichte bis zum Untergang des Dritten Reiches Dauerinstrumente der Repression blieben, die hunderttausende Deutsche mit scheinjuristischen Verfahren überzogen und noch weit mehr Menschen, hierin ganz ähnlich wirkend wie die Gestapo, durch Einschüchterung disziplinierten.

Das Material für die im Folgenden in chronologischer Reihung präsentierten Einzelfälle bieten die im Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe überlieferten Akten des Sondergerichts Mannheim. Hierdurch ist die Perspektive der Darstellung vorgezeichnet, nämlich der amtliche Blick von Polizei- und Justizangehörigen auf Menschen, die als politische Unruhestifter, Gemeinschaftsfremde oder als Volksschädlinge wahrgenommen wurden. Die eigene Perspektive dieser Menschen ist dagegen zumeist nur indirekt aus den Akten zu erschließen, in denen ihre Reaktionen auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe festgehalten sind. Nur selten enthalten sie in größerer Zahl Dokumente, die – wie bei Hausdurchsuchungen aufgefundene Schriftstücke oder von der Gefängniszensur einbehaltene Briefe – die Selbstwahrnehmung und Persönlichkeit der Betroffenen abseits von Verhör-, Begutachtungs- oder Bittstellkonstellationen erhellen. Der Autor jedenfalls hat sich bemüht, nicht die aktenprägenden Stereotypien zu reproduzieren, sondern, wo immer möglich, die Perspektiven der ins Räderwerk der Sondergerichtsbarkeit geratenen Frauen und Männer aufzuzeigen.

Der Zugriff auf das und der Umgang mit dem Material folgen geschichtswissenschaftlichen Prinzipien; die Darstellung allerdings sucht eine Form abseits der akademischen Gepflogenheiten. Dies bedeutet den Verzicht auf einen ausgewachsenen wissenschaftlichen Apparat – die Quellenverweise zu den einzelnen Fällen finden sich am Schluss der jeweiligen Kapitel, und die Anmerkungen beschränken sich auf ein Minimum des für ein historisch interessiertes Publikum Erklärungsbedürftigen –, und dies bedeutet auch den Verzicht auf explizite Analysen und Wertungen der Fälle sowohl im Einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit. Der Autor möchte – hierin dem literarischen Erzähler vielleicht nicht unähnlich – die Leserinnen und Leser einladen, in die Geschichten einzutauchen und in der Begegnung mit den unterschiedlichen historischen Strafrechtsfällen die Bilder, die sie von der Zeit des Nationalsozialismus haben, punktuell zu ergänzen und gegebenenfalls auch zu korrigieren.

Das Potential, Bilder zu verändern, haben die hier versammelten Geschichten in mehrfacher Hinsicht: Sie geben Einblicke in die Praxis der Strafjustiz im Nationalsozialismus, deren Unrechtscharakter in fast jedem einzelnen der im Folgenden geschilderten Fälle überdeutlich hervortritt – so deutlich, dass wohl unweigerlich die Frage aufkommen wird, wie es den in den Sondergerichten tätig gewesenen Juristen nach 1945 gelungen ist, den Eindruck zu erwecken, sie hätten bei politischen Delikten allenfalls überzogene Denkzettel zu Abschreckungszwecken verteilt und sich sonst mit Fällen befasst, die zum ganz überwiegenden Teil auch zu anderen Zeiten und in anderen politischen Systemen strafwürdig gewesen wären. Die lange Zeit verbreitete Annahme, dass die Justiz in der Doppelstruktur des Dritten Reiches dem Normen- und nicht dem Maßnahmenstaat zugehörig gewesen sei und weithin nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktioniert habe, lässt sich nicht nur durch den Spezialfall des Volksgerichtshofs in Berlin, sondern auch durch die omnipräsente Sondergerichtsbarkeit als Chimäre entlarven. Deshalb fallen die folgenden Erzählungen auch nicht in die Gattung der true crime stories: Sie handeln nicht davon, wie zwischen 1933 und 1945 Verbrechen aufgeklärt und bestraft wurden, sondern von einem verbrecherischen Rechtssystem.

Ebenso eröffnen sich beim Blick auf die Opfer der Sondergerichtsbarkeit Erkenntnispotentiale, da sie eine sehr heterogene Gruppe bilden, die sich nur teilweise mit den gängigen Opferbildern deckt. Die Juden als die mit Abstand größte Opfergruppe treten in den Sondergerichtsakten als Angeklagte vergleichsweise selten in Erscheinung: in der hier präsentierten Auswahl nur in fünf Fällen. Weil die Strafjustiz in der rassistisch motivierten Repression und Verfolgung nur eine untergeordnete Rolle spielte und es für die Verschleppung in Konzentrationslager nicht der Mitwirkung von Staatsanwälten und Richtern bedurfte, sind auch Sinti und Roma selten vor die Sondergerichte gebracht worden – in den Fällen, die Heidelberg als Tatort hatten, soweit der Autor es überblickt, gar nicht. Größer ist die Zahl der politischen Opfer aus den Reihen der Arbeiterbewegung, wenngleich sich das Augenmerk der Sondergerichte nicht auf die prominenten Mitglieder und Funktionsträger der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei richtete, die ohne Verfahren in Schutzhaft genommen oder als Hochverräter vor den Volksgerichtshof gebracht wurden, sondern auf einfache Mitglieder oder auch nur auf ehemalige Sympathisanten der Arbeiterparteien, die sich – recht häufig in Trunkenheitskonstellationen – zu vermeintlich staatsgefährdenden Aussagen provozieren ließen. Staatsanwälte und Richter nahmen solche Fälle mitunter nicht als politischen Widerstand, sondern als asoziales Verhalten wahr.

Auch als ab etwa 1935 die Fälle deutlich abnahmen, in denen eine kommunistische oder sozialdemokratische Gesinnung der Angeklagten eine Rolle spielte, blieb sozial unangepasstes Verhalten eine wichtige Kategorie der Sondergerichtstätigkeit. Ihre Bedeutung wuchs umso mehr, als in den letzten Vorkriegsjahren die Mechanismen der Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft verschärft und Menschen mit problematischen Erwerbsbiographien als arbeitsscheu sowie kleinkriminelle Wiederholungstäter als gefährliche Berufsverbrecher stigmatisiert wurden. Als Träger schwarzer und grüner Winkel in den Konzentrationslagern sind diese wegen fehlender Lobby lange Zeit vergessenen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungen seit einigen Jahren etwas stärker in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Dass die Orte ihres Leids nicht nur die Konzentrationslager waren, sondern sie auch von den Sondergerichten in den Tod gebracht wurden, zeigen zwei der ausgewählten Heidelberger Fälle.

Schließlich gewähren die Sondergerichtsfälle auch Einblicke in die Alltagsgeschichte des Dritten Reiches, die in zweierlei Hinsicht aufschlussreich sein können: Zum einen lüften sie jeweils ein wenig den Schleier der veröffentlichten Meinung der Diktatur und geben Eindrücke von den Meinungen einfacher Menschen zu brisanten politischen Themen, die als Mosaiksteine für die Rekonstruktion der vox populi unter der nationalsozialistischen Herrschaft dienen können. Zum anderen können die Fälle, wenn auch wiederum nur mit kleinen Indizien, zur Klärung der Frage beitragen, wie der Repressionsapparat der Diktatur funktionierte: durch die allgegenwärtige Überwachung durch eine krakenartige Gestapo, deren Zugriffs sich niemand erwehren konnte, wie es viele Zeitgenossen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und auch ältere Historikergenerationen meinten, oder durch eine Selbstmobilisierung der Volksgemeinschaft, die durch massenhafte Denunziationen die Gemeinschaftsfremden den Strafverfolgungsbehörden ans Messer lieferte, wie es zur Konsensmeinung der jüngeren historischen Forschung zu werden scheint? An große Forschungsfragen zu rühren, ist indes nicht das Hauptanliegen. Dieses ist vielmehr, mit den einzelnen Geschichten Schicksale von Unrecht und Verfolgung zu dokumentieren, bisher unbekannten Opfern einen Namen zu geben und damit Erinnerung zu ermöglichen.

Die umfangreichen Zitate aus den Akten, die die Fälle veranschaulichen sollen, sind kursiv gedruckt. Sie wurden ohne Korrekturen übernommen, da auch die Fehler eine illustrative Funktion haben: Sie erhellen häufig den Bildungshintergrund der Autorinnen und Autoren, geben mitunter Einblicke in das emotionale Befinden der Beschuldigten und Angeklagten, und nebenher offenbaren sie auch die orthographischen Defizite in den Dienstzimmern der Geheimen Staatspolizei.

Heidelberg im Nationalsozialismus

Anders als viele Städte ähnlicher Größe überstand Heidelberg die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur äußerlich weitgehend unbeschadet. Wer 1945 in die Stadt zurückkehrte, dürfte keine Schwierigkeiten gehabt haben, sich zu orientieren. Hieraus zu schließen, dass sich die Stadt nicht verändert hätte, hieße jedoch, die politischen und moralischen Verwüstungen, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, auszublenden. Der Anteil der Opfer politischer und rassistischer Verfolgung sowie der nationalsozialistischen Medizinverbrechen dürfte in Heidelberg ähnlich hoch gewesen sein wie andernorts in Deutschland, und auch die Zahl der getöteten, verwundeten und in Gefangenschaft geratenen Soldaten wird kaum weit vom Reichsdurchschnitt entfernt gewesen sein.

Der Nationalsozialismus war 1933 nicht von außen über die Stadt hereingebrochen, sondern hatte sich in Heidelberg bereits zuvor ausgebreitet. Dem schon damals gängigen Bild einer weltoffenen Stadt und exzellenten Bildungsstätte Hohn sprechend, war Heidelberg in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine Hochburg des völkisch-bornierten und statt an den Verstand an die Emotionen appellierenden Nationalsozialismus. Bei der Wahl zum badischen Landtag im Herbst 1929 erreichte die NSDAP mit 14,5 Prozent der Stimmen in der Stadt einen mehr als doppelt so hohen Anteil wie landesweit (7,0 Prozent) und einen vier Mal so hohen wie im benachbarten Mannheim (3,6 Prozent). Bei der Reichstagswahl im September 1930 lag sie in Heidelberg mit 30,1 Prozent der Stimmen deutlich über dem Reichsdurchschnitt (18,3 Prozent), und bei der Kommunalwahl im November 1930 wurde sie zur mit Abstand stärksten Partei im Heidelberger Rathaus: Bei der Wahl der Stadtverordneten (Bürgerausschuss) erreichte sie 35,7 Prozent der Stimmen, und im Stadtrat erhielt sie sieben von 18 Sitzen. Auch als sich die allgemeine Wirtschaftskrise und mit ihr die Polarisierung des Parteiensystems weiter verschärfte, blieb die NSDAP die stärkste politische Kraft in der Stadt, wie der Vergleich des Heidelberger Ergebnisses (41 Prozent) mit dem Reichsdurchschnitt der NSDAP (37,4 Prozent) bei der Reichstagswahl im Juli 1932 zeigt.1

Zu einer nationalsozialistischen Hochburg wurde Heidelberg nicht zufällig: Die Katholiken, die sich tendenziell als weniger anfällig für die rechtsextremistische Propaganda erwiesen, waren eine Minderheitskonfession in der Stadt, und auch die Industriearbeiterschaft, die längere Zeit eine gewisse Resistenz gegen den Nationalsozialismus bewahrte, war vergleichsweise schwach vertreten. Schließlich zeigte sich wie im Allgemeinen auch in Heidelberg eine deutliche Empfänglichkeit der jüngeren Generationen für den politischen Radikalismus: In der Universitätsstadt breitete sich der Nationalsozialismus vor allem unter den Studierenden aus, die schon bei den AStA-Wahlen im Januar 1931 18 von 39 Sitzen dem Nationalsozialistischen Studentenbund übertrugen, der gemeinsam mit dem Nationalen Block eine klare Mehrheit stellte. Die Radikalisierung der Studentenschaft führte zu mehreren politischen Skandalen an der Universität,2 aber auch die Konflikte, die in der Endphase der Weimarer Republik reichsweit alltäglich waren, hinterließen ihre Spuren in der Stadt: im Juni 1931 etwa ein Aufmarsch von mehreren Tausend SA-Männern in Heidelberg, von dem das lokale Parteiblatt der NSDAP nur mit Verspätung berichten konnten, weil es in jenem Monat wegen einer Verbotsanordnung des badischen Innenministeriums drei Wochen nicht erschienen war.3 Handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Anhängern der Arbeiterparteien gab es auch in Heidelberg. Wenn sie nicht wie in etlichen Großstädten regelmäßig eskalierten und Todesopfer forderten, so lag dies daran, dass die Gräben zwischen den sozialen und politischen Milieus in dem bürgerlich geprägten mittelstädtischen Umfeld weniger tief waren; auch fanden sich unter dem Führungspersonal der Heidelberger NSDAP einige Männer, die zu wohlanständigem Auftreten in der Lage waren, wie zum Beispiel der Stadtrat und Richter am Landgericht Heidelberg Roland Erb.4

Abb. 1:Starke Präsenz im Stadtbild zeigte die NSDAP mit ihrer bis 1931 am Marktplatz in Rathausnähe ansässigen Geschäftsstelle (STAHD BILDA 12924).

Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 war in Heidelberg ein Prozess, der sich über mehrere Monate hinzog. Die ersten direkten Auswirkungen vor Ort waren im Februar Presseverbote, die nicht nur linke Zeitungen trafen, sondern auch den Pfälzer Boten als das regionale Parteiblatt des politischen Katholizismus.5 Wie überall verschärfte sich die Lage auch in Heidelberg unmittelbar nach dem Reichstagsbrand mit der gezielten Verhaftung von Funktionären der Kommunistischen Partei, die als politische Kraft damit schon weitgehend ausgeschaltet wurde. Die nur noch halbfreien Reichstagswahlen am 5. März brachten der NSDAP in Heidelberg erneut ein überdurchschnittliches Ergebnis (45,9 Prozent gegenüber 43,9 Prozent im Reich), und am Folgetag ergriffen die Nationalsozialisten in der Stadt die Offensive, indem sie die bestehenden Autoritäten (Oberbürgermeister und Polizei) durch das Hissen der Hakenkreuzfahne an öffentlichen Gebäuden provozierten. Der entscheidende Wendepunkt war am Abend des 8. März die Ernennung des badischen NSDAP-Gauleiters Robert Wagner zum Reichskommissar durch das Innenministerium in Berlin: Er erhielt damit zunächst die Befehlsgewalt über die Sicherheitskräfte im Land Baden und nutzte dann die Gelegenheit zur Absetzung der demokratischen Regierung in Karlsruhe.6

In Heidelberg begann die personelle Gleichschaltung an den Schlüsselstellen der lokalen Macht am 9. März mit der Beurlaubung des Polizeidirektors und setzte sich in den folgenden Wochen Schritt für Schritt fort bis zur Neubildung von Bürgerausschuss und Stadtrat Ende April nach der Maßgabe des jüngsten Reichstagswahlergebnisses und mit Ausschluss der kommunistischen Mandatsträger. Eine Heidelberger Besonderheit bestand darin, dass sich der seit 1929 amtierende parteilose Oberbürgermeister Carl Neinhaus im Amt halten konnte: Er diente sich den Nationalsozialisten als unverzichtbarer Verwaltungsfachmann an und demonstrierte seine Anpassung an die neuen Verhältnisse durch den Eintritt in die NSDAP.7 Insgesamt handelte sich bei der Nazifizierung der Stadtverwaltung wie andernorts auch um eine Kombination von opportunistischer Selbstgleichschaltung und Zwangsmaßnahmen, die einige Dutzend politisch missliebige Beamte, Angestellte und Arbeiter betrafen.8 Etliche Sozialdemokraten und viele Kommunisten, vor allem die Parteifunktionäre, verloren nicht nur ihre Arbeitsplätze, sondern vorübergehend auch ihre persönliche Freiheit: Die willkürlichen Verhaftungen, verharmlosend Schutzhaft genannt, begannen im März und zogen sich bis in die zweite Jahreshälfte 1933 hin: Haftorte waren zunächst das Gefängnis im Faulen Pelz unterhalb des Schlosses, später das Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal, in das zum Beispiel im Juni die beiden sozialdemokratischen Stadträte Heinrich Kilger und Adolf Rausch verschleppt wurden, kurz nachdem die Arbeiterparteien in Baden verboten worden waren und sie ihre kommunalen Mandate verloren hatten.9

In ihrer eigentümlichen Mischung von willkürlichen Gewaltmaßnahmen und plumpen Inszenierungen einer neuen Volksgemeinschaft folgte die Machtübernahme in Heidelberg dem allgemeinen Takt: Am 1. April wurden die Läden jüdischer Geschäftsleute, die Praxen jüdischer Ärzte und die Kanzleien jüdischer Rechtsanwälte unter Regie der Heidelberger SA boykottiert,10 am 1. Mai, einen Tag vor der Auflösung der Gewerkschaften und der Beschlagnahme ihrer Vermögenswerte, zogen mehr als 10.000 Menschen durch die Stadt, um auf dem Universitätsplatz den Tag der nationalen Arbeit zu feiern,11 am 17. Mai wurde ebenda von den Studenten eine Bücherverbrennung durchgeführt, und am 23. Juni schieden nach einem Parteiverbot auch die sozialdemokratischen Stadträte aus ihren Ämtern aus.12 Etwas zeitversetzt wurde auch an der Universität Heidelberg die Selbstverwaltung ausgehöhlt und abgeschafft: Im August trat eine neue Hochschulverfassung in Kraft, nach der der Rektor nicht mehr gewählt, sondern politisch ernannt wurde und die Fakultäten und der Senat von Beschluss- zu Beratungsgremien degradiert wurden. Die personellen Säuberungen hatten an der Universität bereits zuvor begonnen mit der Entlassung etlicher nicht-arischer und politisch unerwünschter Professoren.13

Abb. 2:Seitenansicht des hakenkreuzfahnengeschmückten Rathauses von der Hauptstraße aus im Jahr 1935 (STAHD BILDA 1875)

Wann der Prozess der nationalsozialistischen Machtübernahme endete und die Diktatur in die Normalität überzugehen begann, ist Definitionssache. Einiges spräche dafür, den Herbst 1933 zu nennen: Die personellen Säuberungen im öffentlichen Dienst waren bis hierhin weitgehend abgeschlossen, die politischen Gremien von der NSDAP monopolisiert worden, und die Gleichschaltung von Vereinen und Verbänden war recht weit fortgeschritten, auch wenn es noch eine Weile dauern sollte, die Stadt flächendeckend mit einem Netz von Unter- und Nebenorganisationen der Staatspartei zu überziehen. Das Plebiszit vom 12. November 1933, das mit der Neuwahl des Reichstags nach einer Einheitsliste und der Abstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund die große Zustimmung zur nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik demonstrieren sollte, brachte auch in Heidelberg das gewünschte Ergebnis: Nur etwa acht Prozent der Wähler gaben einen ungültigen Wahlzettel ab und protestierten damit gegen diese Farce einer Wahl; die höchsten Anteile ungültiger Stimmen gab es in den Stadtteilen, die – wie der Pfaffengrund oder Kirchheim – Hochburgen der von der öffentlichen Bildfläche inzwischen ganz verschwundenen Kommunistischen Partei gewesen waren.14

Das äußere Erscheinungsbild Heidelbergs veränderte sich seit 1933 in kleinen Schritten zum Beispiel mit dem schon zuvor projektierten Neubau der Chirurgischen Klinik oder der Eröffnung des Tiergartens 1934. Die markantesten Veränderungen gab es jedoch nicht in der Stadt selbst, sondern auf den sie umgebenden Erhebungen. In einem 1937 vom Statistischen Amt im Auftrag des Oberbürgermeisters angestellten Rückblick auf Vier Jahre Nationalsozialistische Gemeindepolitik in Heidelberg hieß es dazu: Mit kühnem Griff wurden der Berglandschaft unserer Stadt nördlich und südlich des Neckars große, dem Volk gewidmete Baudenkmäler, der Ehrenfriedhof und die Feierstätte, einverleibt. Mit der Anlage des Ehrenfriedhofes für die gefallenen Helden des Weltkriegs bekundete die Stadt, daß sie der neuen deutschen Volkswerdung verhaftet und freudig verpflichtet ist.15 Das hier zu einer Feierstätte umbenannte Baudenkmal war 1935 als Thingstätte eröffnet worden: ein Weiheraum, der buchstäblich aus dem Sandsteinmassiv des Berges herausgesprengt werden mußte und für den der bei der Eröffnung anwesende Reichspropagandaminister Joseph Goebbels unter dem Eindruck dieser ganz neuen großartigen Form von Architektur, gewachsen aus der geistigen Notwendigkeit der Zeit, das Wort vom »steingewordenen Nationalsozialismus« prägte.16

Neben der Schaffung von Orten zur Inszenierung der nationalsozialistischen Ideologie dienten diese beiden Großbauten wie andere kleinere Projekte auch ganz profanen Zwecken, nämlich der Senkung der hohen Erwerbslosenzahlen, die man durch aus Gemeinde-, Landes- und Reichsmitteln finanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewerkstelligte, die sich weniger an der Effektivität der Arbeit als vielmehr daran orientierten, möglichst viele Personen kurzfristig und kurzzeitig in Lohn und Brot zu setzen. Dass man dabei überaus erfolgreich gewesen sei, demonstrierte die Bilanzschrift von 1937 mit einigen Zahlen: Waren in Heidelberg im Januar 1933 auf 1.000 Einwohner fast 115 Erwerbslose (im Reichsdurchschnitt 91) gekommen, so sank ihre Zahl bis September auf knapp 33 (im Reichsdurchschnitt 15); dies bedeutete einen Rückgang um 71 Prozent (im Reich 83).17 Ähnlich günstig las sich die Entwicklung der vom städtischen Fürsorgeamt betreuten Fälle: Sie sanken von etwa 7.400 am Jahresende 1933 auf 4.750 drei Jahre später. Besonders stark war der Rückgang bei den sogenannten Wohlfahrtserwerbslosen, das heißt, den Personen, die schon so lange erwerbslos waren, dass sie kein Arbeitslosengeld beziehen konnten und auf kommunale Unterstützung angewiesen waren: Ihre Zahl sank binnen dreier Jahre von 3.077 auf 367, was den städtischen Haushalt erheblich entlastete.18

Auch in den strategischen Plänen zur Stadtentwicklung spielten die Anlage des Ehrenfriedhofs und der Bau der Thingstätte eine Rolle, war es doch die Absicht der Stadtverwaltung, Heidelberg als eine Kulturstadt zu vermarkten und damit den Fremdenverkehr anzukurbeln. Diesem Zweck dienten der Ausbau des Kurpfälzischen Museums sowie der Umbau des Schlosses, wo jährlich Reichsfestspiele stattfanden, und auch das aufwendig gefeierte 550. Jubiläum der Universität im Jahr 1936 brachte zahlreiche auswärtige Besucherinnen und Besucher in die Stadt.19 Ohne dass der Tourismus zu einem Allheilmittel für die wirtschaftlichen Probleme der Stadt wurde, zeigte sich der Erfolg der Strategie doch daran, dass die Zahl der Übernachtungen in Heidelberg von 1933 bis 1937 um mehr als die Hälfte stieg; einen besonders hohen Anteil an diesem Zuwachs hatten ausländische Gäste.20 Dies war insofern paradox, als seit der Mitte der 1930er Jahre Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auch in Heidelberg immer stärker hervorbrachen, der allgemeine politische Trend also die städtischen Profilierungsbemühungen konterkarierte.

Während sich die Parteiorganisation der NSDAP mit dem früheren Pfaffengrunder Volksschullehrer Wilhelm Seiler als Kreisleiter an der Spitze21 immer weiter in der Stadt ausbreitete, wurden nach und nach weitere Personengruppen aus der politisch verordneten Volksgemeinschaft unter Verletzung ihrer Freiheitsrechte und teilweise auch ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgegrenzt. Die ersten Opfer waren Funktionäre und andere Exponenten der Kommunistischen und auch der Sozialdemokratischen Partei, die 1933 – häufig nur für einige Wochen oder Monate – in Schutzhaft genommen wurden, um sie und ihr Umfeld einzuschüchtern und von illegaler politischer Arbeit abzuschrecken. Diese Strategie brachte in der Breite die gewünschten Resultate, führte aber nicht zur vollständigen Ausschaltung der politischen Opposition aus den Reihen der Arbeiterbewegung: Am Jahresanfang 1934 wurde eine achtköpfige Gruppe von Heidelberger Kommunisten ausgehoben, die der Planung von Widerstandsaktionen verdächtigt wurden, tatsächlich aber wohl eher ein lockerer Kreis von Gesinnungsgenossen waren, die sich das Recht auf politischen Meinungsaustausch nicht nehmen lassen wollten. Im gleichen Jahr und auch noch 1935 wurden mehrere Heidelberger wegen der Verbreitung von Flugblättern verhaftet und des Hochverrats angeklagt, und damit scheint die kommunistische Widerstandstätigkeit in der Stadt weitgehend zum Erliegen gekommen zu sein.22

Pars pro toto für die Lebenswege kommunistischer Parteifunktionäre in der Diktatur sei das Schicksal des ehemaligen Stadtrats und Kirchheimer Kommunisten Fritz Rimmler skizziert: 1933 Schutzhaft in Heidelberg und Mannheim, 1934 bis 1937 erneute Inhaftierung wegen Vorbereitung zum Hochverrat, gescheiterte Emigration in die Tschechoslowakei, nach der Rückkehr bis 1939 Einweisung in das Konzentrationslager Dachau.23 Während des Krieges konnte eine Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat noch gravierendere Konsequenzen nach sich ziehen: Mit Käte und Alfred Seitz sowie Albert Fritz wurden 1942 und 1943 drei Heidelberger Mitglieder einer kommunistischen Widerstandsgruppe um den Mannheimer ehemaligen Landtagsabgeordneten Georg Lechleiter zum Tode verurteilt.24 Der Verfolgungsdruck auf die Sozialdemokraten war, wenngleich beträchtlich, nicht ganz so groß, und generell agierten sie vorsichtiger als die Kommunisten. Ihr Heidelberger Hauptprotagonist im Widerstand war der frühere Journalist und Unternehmer Emil Henk, der im Herbst 1934 als Führer einer konspirativen Gruppe verhaftet und zu einer 20-monatigen Haftstrafe verurteilt wurde. Henk ließ sich dadurch und durch die anschließende dauerhafte polizeiliche Überwachung nicht einschüchtern, pflegte weiter Kontakte zu politischen Gesinnungsgenossen und wurde Teil des Netzwerks, das die Verschwörer des 20. Juli in sozialdemokratische und gewerkschaftliche Kreise knüpften.25

Während den früheren parteipolitischen Gegnern der Nationalsozialisten die Möglichkeit offenstand, durch Rückzug ins Private und einer politischen Selbstverleugnung gleichkommenden äußerlichen Anpassung eine geduldete Existenz am Rande der Volksgemeinschaft zu fristen, war diese Option den Menschen nicht gegeben, die nach der bizarren Rassenideologie der Nationalsozialisten als nicht-arisch galten. Dies betraf in Heidelberg 1.100 Personen (Stand Juni 1933), die israelitischer Religionszugehörigkeit waren, und ungefähr weitere 400 Personen, die wegen jüdischer Abstammung, das heißt, wegen der Religionszugehörigkeit ihrer Vorfahren, ebenfalls unter die antisemitische Gesetzgebung fielen. Am Beginn des Weges von Diskriminierung und Verfolgung, der in Heidelberg den allgemeinen Trends folgte, standen für sie Einschränkungen der Berufstätigkeit: durch Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, durch drastische Beschneidung der Arbeitsmöglichkeiten für Ärzte, Rechtsanwälte und andere Angehörige der freien Berufe sowie durch Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Noch bevor zum Jahresende 1938 allgemeine Verbote ausgesprochen wurden, Handel und Gewerbe zu betreiben, ging die Zahl der in jüdischem Besitz befindlichen Unternehmen in Heidelberg von 113 auf 48, also um deutlich mehr als die Hälfte, zurück. In dieser Zahl spiegelt sich auch die jüdische Auswanderung aus Heidelberg wider, die unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 begann und durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Jüdinnen und Juden aus der Staatsbürgergesellschaft ausgeschlossen wurden, einen weiteren starken Impuls erhielt.26

Mit der Pogromnacht am 9./10. November 1938 spitzte sich auch für die Jüdinnen und Juden in Heidelberg die Situation weiter zu: Die Synagogen in der Altstadt und in Rohrbach wurden zerstört, und etliche Geschäftsräume und Wohnungen wurden geplündert. Eine größere Zahl jüdischer Männer wurde in das Konzentrationslager Dachau verschleppt, um ihre Bereitschaft zur Auswanderung zu erzwingen. Diese allerdings wurde zu einem immer schwierigeren Unterfangen, da die Zahl der Länder, die zur Aufnahme von Jüdinnen und Juden bereit waren, immer kleiner wurde und die Nationalsozialisten Ausreisegenehmigungen an schikanös hohe Abgaben knüpften. Unterstützung fanden manche Heidelberger Jüdinnen und Juden durch den Pfarrer der evangelischen Heiliggeistgemeinde Hermann Maas, der über ein Netzwerk der Bekennenden Kirche Hilfe bei der Organisation der Emigration leistete.27 Die Chancen, Deutschland noch zu verlassen, sanken mit dem Kriegsbeginn im September 1939 gegen Null. Mit dem Jahresanfang 1940 wurden die entrechteten und wirtschaftlich ausgeplünderten Jüdinnen und Juden in Heidelberg gettoisiert, indem sie nur noch in bestimmten Häusern in der Weststadt wohnen durften. Das Ende der jüdischen Gemeinde in Heidelberg kam mit der Deportation der badischen Jüdinnen und Juden ins südfranzösische Gurs im Oktober 1940. In Heidelberg waren 282 Personen betroffen, von denen zwei Drittel (Tod in Gurs oder in Konzentrationslagern, in die sie von dort transportiert worden waren) das Kriegsende nicht erlebten.28 Zurück blieben im Oktober 1940 in Heidelberg lediglich die wegen Krankheit nicht transportfähigen Jüdinnen und Juden sowie jene, die in einer privilegierten Mischehe lebten, das heißt, einen als arisch geltenden Ehepartner hatten. Einer von ihnen war der Rechtsanwalt Arthur Strauß, der zum Jahreswechsel 1940/41 die Beschlagnahme der Hinterlassenschaften der jüdischen Gemeinde mit den Behörden verhandelte und fortan für jene als Kontaktperson fungierte, wenn Anordnungen an die durch weitere Deportationen ständig verkleinerte Gruppe der verbliebenen Heidelberger Jüdinnen und Juden zu übermitteln waren.29

Während die Schicksale der Heidelberger Jüdinnen und Juden gut dokumentiert sind, ist über andere Opfergruppen vergleichsweise wenig bekannt. Dies betrifft zum einen Gruppen, die – wie die Zeugen Jehovas – die Erinnerung an ihre Opfer nicht offensiv nach außen trugen und tragen, und zum anderen solche, die – wie die Sinti und Roma30 und auch die Homosexuellen – nach 1945 über mehrere Jahrzehnte hinweg weiter stigmatisiert wurden. Einen Sonderfall stellen die Opfer der nationalsozialistischen Medizinverbrechen und Krankenmorde der Kriegsjahre dar: An einzelne Opfer der Euthanasie erinnern zwar seit kurzem Stolpersteine31; wie viele Heidelbergerinnen und Heidelberger in den Krankentötungsanstalten wie Grafeneck und Hadamar ermordet wurden, ist aber unklar – es dürften etliche Dutzend gewesen sein. Sicherlich in die Hunderte dürften die Heidelberger Opfer der Zwangssterilisationen zählen, die 1933 mit der Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses begannen und mehrheitlich nicht medizinischen Indikationen folgten, sondern unter dem Deckmantel der Diagnosen angeborener Schwachsinn und schwerer Alkoholismus Menschen mit prekären Bildungs- und Erwerbsbiographien betrafen, die als Asoziale aus der Volksgemeinschaft ausgegrenzt waren.

Abb. 3:Werbepostkarte der Heidelberger NSDAP-Parteizeitung Volksgemeinschaft (STAHD BILDA 6370)

Die Erkenntnis, dass diese Volksgemeinschaft nicht mehr als ein Trugbild war, verbreitete sich unter den Heidelbergerinnen und Heidelbergern erst allmählich unter den Eindrücken des Krieges, in dessen Verlauf sich nicht nur die persönlichen Schicksalsschläge durch Tod, Verwundung oder Kriegsgefangenschaft von Vätern, Ehemännern und Söhnen mehrten, sondern sich auch die Lebensverhältnisse in der Stadt deutlich verschlechterten. Seit 1942 gab es erhebliche Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln, die umso mehr ins Gewicht fielen, als etwa 8.000 Evakuierte aus besonders bombengeschädigten Gebieten in die Stadt aufgenommen werden mussten; dieser Bevölkerungszuwachs von ungefähr zehn Prozent führte auch zu einer erheblichen Wohnraumverknappung.32 Wie andernorts konnte auch in Heidelberg die Kriegswirtschaft nur durch den Einsatz ausländischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aufrechterhalten werden: Mehr als 10.000 von ihnen – zunächst französische Kriegsgefangene und Polen, später überwiegend Verschleppte aus der Ukraine und anderen Teilen der Sowjetunion – arbeiteten und lebten, vielfach in provisorischen Lagern, in der Stadt.33 In stärkerem Maße noch als die Einheimischen selbst waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wegen häufig fehlenden Zugangs zu Schutzräumen den Gefahren des Bombenkriegs ausgesetzt. Auch wenn Großangriffe, wie sie in etlichen deutschen Städten zu massiven Zerstörungen führten, auf Heidelberg ausblieben, war die Angst doch dauerpräsent: Erste Bomben fielen im Winter 1940/41 auf Heidelberg, und die Fliegerangriffe setzten sich bis in die letzten Kriegstage fort: Am 19. März 1945 zum Beispiel wurden zwei Häuser in Bergheim durch einen Bombenangriff zerstört und starben dort 17 Menschen.34

Einen Tag später, am 20. März 1945, zehn Tage vor der kampflosen Übergabe Heidelbergs an die auf die Stadt vorrückenden US-amerikanischen Truppen, wurde in einem Steinbruch in Bruchsal der Handwerker Wilhelm Fuchs erschossen, der am Vortag vom Sondergericht Mannheim wegen mehrerer Einbrüche in Luftschutzkeller in Heidelberg zum Tode verurteilt worden war. Der gegen ihn geführte Schnellprozesses steht am Ende der folgenden Reihe von 52 Geschichten, die mit einem Vorfall um den Studenten Heinz Stern beginnen, der sich im Juni 1933 ereignete, dreieinhalb Monate, nachdem am Heidelberger Rathaus erstmals die Hakenkreuzfahnen gehisst worden waren.

Die Einzelfälle

Hauptstraße 8, 24. Juni 1933

Am Samstag, den 24. Juni 1933, besuchte der 23-jährige Student der Germanistik Heinz Stern um die Mittagszeit die Buchhandlung Alfred Wolff nahe dem Bismarckplatz in der Hauptstraße 8. Stern war regelmäßiger Kunde in der Buchhandlung, wollte dieses Mal aber nichts kaufen, sondern nur die Auslagen betrachten und sich mit der Inhabertochter Wilhelmine Wolff unterhalten. Diese hatte das Schaufenster mit Blick auf die bevorstehenden Badischen Dichtertage mit nationaler Literatur bestückt. Was deren Absatz betraf, zeigte sich Stern skeptisch und berichtete, er habe von einem anderen Buchhändler erfahren, dass er eine grosse Sendung nationaler Literatur erhalten habe, dass ihm aber die ganze Sendung liegen geblieben sei. Über nationale und über undeutsche Literatur wurde dieser Tage in Heidelberg vermutlich häufig geredet, denn fünf Wochen zuvor hatte auf dem Universitätsplatz eine von der nationalsozialistischen Studentenschaft organisierte Bücherverbrennung stattgefunden, und eine Woche zuvor, am 17. Juni, hatte die Hitlerjugend ein zweites Mal Werke jüdischer und politisch unerwünschter Schriftsteller den Flammen übereignen wollen, was allerdings durch heftigen Dauerregen an diesem Tage verhindert worden war. Irgendwelche direkte Bezüge hierauf verkniff sich Heinz Stern im Gespräch mit Wilhelmine Wolff, nicht aber die scherzhaft intendierte Bemerkung: Das wäre allerhand, wenn Sie jetzt den Mut hätten, auch das kommunistische Manifest ins Schaufenster zu hängen.

Im Verlauf der Unterhaltung kam Heinz Stern auch auf die Entwicklung des Fremdenverkehrs im Allgemeinen und in Heidelberg im Besonderen zu sprechen und trug erneut weiter, was er von anderer Seite gehört hatte. Ein Kellner in einem Gasthaus habe ihm mitgeteilt, dass nämlich der Fremdenverkehr in Heidelberg um 100 % zurückgegangen sei. Ob diese Rechnung stimmen konnte, wurde im Gespräch zwischen Buchhändlerin und studentischem Gast offensichtlich nicht erörtert; unklar erschien im Nachhinein, ob Stern diesen eklatanten Rückgang damit erklärt hatte, dass die Fremden wegen der vielen nationalsozialistischen Umzüge aus Deutschland fernblieben – er meinte, nein, und Wilhelmine Wolff war sicher, dies aus seinem Mund gehört zu haben. Uneinigkeit ergab sich auch in der späteren Interpretation des Meinungsaustausches über ein drittes Thema, das Heinz Stern zur Sprache brachte. Hierbei ging es ganz aktuell um einen Vorfall in Berlin vom Vortag, über den die Zeitungen breit berichteten: den Abwurf von Flugblättern mit einem die Reichsregierung beschimpfenden Text aus Flugzeugen von einem in Deutschland unbekannten Typ, die sich von Osten unentdeckt der Reichshauptstadt genähert hatten und ebenso spurlos wieder verschwunden waren.35

Wilhelmine Wolff gab an, Heinz Stern habe dies wie folgt kommentiert: Na, ich bin gespannt, wie die Fliegergeschichte ausgeht; die wird bestimmt im Sande verlaufen, wie die andere Geschichte auch, von der man nichts mehr hört. Für die Buchhändlerin war dieser Kommentar nicht zu missverstehen: Stern habe gemeint, der Fliegerangriff sei ebenso wie der Reichstagsbrand von 27. Februar 1933 eine Inszenierung der Nationalsozialisten, aus der sie propagandistisches Kapital ziehen wollten. Heinz Stern selbst gab später an, dass seine Aussage keinerlei politische Implikationen gehabt habe. Er habe sich kurz vor dem Betreten der Buchhandlung mit einem Bekannten über den Vorfall unterhalten, ohne etwas genaues über die näheren Umstände des Erscheinens der Flieger, z. B. die Richtung, aus der sie kamen, ihre Höhe oder die Wetterlage am 23.6.1933 in Erfahrung zu bringen. Er habe von dem Bekannten nur gehört, dass die nächste Entfernung, aus der die Flieger über die Grenze nach Berlin gelangt sein könnten, 170 Km. betrage. Von dieser Tatsache ausgehend habe er der Zeugin Wilhelmine Wolff gegenüber seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, wie es bei einer derart großen Entfernung möglich gewesen sei, dass die Flieger unbemerkt nach Berlin gelangten. Weiter habe er sich über den Vorfall nicht geäußert, ihn insbesondere auch nicht mit einem »andern Fall« in Verbindung gebracht.

Wie die Äußerungen Heinz Sterns in der Buchhandlung zur Kenntnis der Heidelberger Polizei gelangten, erschließt sich aus der schmalen Sondergerichtsakte nicht. Vermutlich wurde der Germanistikstudent von Wilhelmine Wolff denunziert oder von ihrem Bruder Roland Wolff, der den Anfang des Gesprächs – über die liegengebliebene nationale Literatur – mitgehört, aber den Laden dann verlassen hatte, um nicht mit dem Angeklagten in Streit zu geraten. Für eine Denunziation des Bruders spräche, dass dieser gerade dabei war, als Anwärter der SA politische Konformität zur Schau zu tragen. Aus spontaner Empörung war die Denunziation offenkundig nicht erwachsen, sondern eher aus Kalkül: Er oder sie ließ jedenfalls noch das Wochenende verstreichen, denn Heinz Stern wurde erst vier Tage nach seinem Besuch in der Buchhandlung, am 28. Juni 1933, in Schutzhaft genommen und ins Landesgefängnis Mannheim verbracht.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim benötigte zwei Wochen, um Anklage gegen Heinz Stern zu erheben, dem vorgeworfen wurde, vorsätzlich eine unwahre Behauptung tatsächlicher Art aufgestellt und verbreitet zu haben, die geeignet ist das Wohl des Reiches und das Ansehen der Reichsregierung schwer zu schädigen – ein Straftatbestand, der durch die Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 geschaffen worden war. Hierüber verhandelte das Sondergericht Mannheim am 22. Juli 1933 unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Edmund Mickel. Neben dem Angeklagten, seinem Rechtsbeistand, dem Mannheimer Anwalt Joseph Gentil, den drei Richtern, dem Staatsanwalt und einem Justizsekretär als Urkundsbeamten war lediglich noch die Belastungszeugin Wilhelmine Wolff anwesend. Den Antrag Gentils, als Zeugen dafür, dass Heinz Stern ein durchaus wahrheitsliebender Mensch sei, zwei seiner ehemaligen Lehrer von der Heidelberger Oberrealschule vorzuladen, hatte das Gericht abgelehnt. Ein Bild seiner Persönlichkeit machte man sich also nach Aktenlage und den Eindrücken im Gerichtssaal.

Dabei ist anzunehmen, dass die Richter ihm nicht ohne Vorbehalte begegneten, entsprach doch der 23-jährige Student gleich in zwei wichtigen Punkten nicht den Idealen der nationalsozialistischen Regierungspartei, die gut eine Woche zuvor mit dem Inkrafttreten des Gesetzes gegen die Neubildung von Parteien zur Staatspartei geworden war: Der Angeklagte ist der Sohn des früheren Inhabers des Schuhgeschäftes Oskar Stern, Hauptstr. 24 in Heidelberg. Der Vater ist Jude, die Mutter arisch und evangelischen Bekenntnisses. Der Angeklagte besuchte zunächst die Oberrealschule, dann das Realgymnasium Heidelberg, machte 1929 das Abitur und wurde an Ostern 1929 an der Universität Heidelberg imatrikuliert. Er widmete sich dem Studium der Neuphilologie. Seit 1932 war er Mitglied der SPD. In der sozialdemokratischen Volkszeitung von Heidelberg brachte er Kino- und Theaterkritiken. In der sozialdemokratischen Studentengruppe der Universität Heidelberg will er sich nicht betätigt haben.

Aus seiner Biographie wollte das Gericht durchaus den mildernden Schluss ziehen, dass seine persönlichen Verhältnisse ihm die Umstellung aus marxistischen Gedankengängen zu den neuen Ideen besonders schwer gemacht haben mögen; andererseits machte man ihm seine Intelligenz und Wortgewandtheit zum Vorwurf: Seine Einlassungen vor Gericht machten den Eindruck des Gekünstelten und des Ausweichenden, und auch die Belastungszeugin wies auf die Tonart hin, in der der Angeklagte die Unterhaltung mit ihr führte. Sie sei nach seiner Gewohnheit bei früheren Besuchen »zynisch«, d. h. spöttisch-überlegen gewesen. Da letztlich Aussage gegen Aussage stand, weil Roland Wolff nur Bruchstücke des Gesprächs mitgehört hatte, musste das Gericht schließlich die Glaubwürdigkeit Wilhelmine Wolffs gegen die des Angeklagten abwiegen: Das Gericht hatte dabei keine Bedenken, der Urteilsfindung die Schilderung der Wilhelmine Wolff zugrunde zu legen. Die Zeugin trug in der heutigen Hauptverhandlung die Unterhaltung mit dem Angeklagten in bestimmter und sicherer Weise so vor, wie sie es von vornherein der Polizei mitgeteilt hatte.

Das Gericht ging so weit, sich auch die Schlussfolgerungen der Zeugin aus bloßen Andeutungen zu eigen zu machen, und fokussierte auf den – obwohl das Wort am 24. Juni in der Buchhandlung überhaupt nicht gefallen, sondern nur möglicherweise als die andere Sache umschrieben worden war – Reichstagsbrand: Der Angeklagte habe also zwei konkrete Vorgänge der nahen Vergangenheit miteinander in Verbindung gebracht und von ihnen behauptet, sie würden im Sand verlaufen. Der Angeklagte behauptet also in umschriebenen Worten, dass der Reichstagsbrand nicht weiter verfolgt werde, weil er nicht, wie man aufgrund amtlicher Auslassungen bisher angenommen habe, von Kommunisten gelegt sei, sondern von Anhängern der nationalen Regierung. Dies sei eine vorsätzlich aufgestellte unwahre Behauptung tatsächlicher Art, die geeignet ist, das Wohl des Reiches und das Ansehen der Reichsregierung schwer zu schädigen. Die Tat verdiene eine strenge Ahndung, weil seine Behauptung zu den übelsten Greuelnachrichten zu zählen ist, die über die nationale Regierung aufgestellt werden. Sein Verhalten war doppelt dreist, weil er an dem Widerspruch der Zeugin Wilhelmine Wolff merkte, dass sein Besuch oder wenigstens der Ton und der Inhalt seiner Ausführungen am 24.6.1933 unerwünscht war. In Abwägung dieser Umstände hielt das Gericht eine Gefängnisstrafe von einem Jahr für angemessen.

Begleitet wurde das Urteil gegen Heinz Stern von seiner Anprangerung in der nationalsozialistischen Presse, die den evangelisch Getauften zu einem Judenlümmel machte, der mit seiner Gefängnisstrafe einen längst verdienten Denkzettel erhalten habe: Er hat sein schnodderiges Mundwerk jetzt so lange spazieren geführt, bis er endlich zur Anzeige gebracht wurde. … Hier steht nun ein Student, ein Geistiger. Unter schwarz-rotem System hätte er wohl zum Führernachwuchs gegolten. Die Voraussetzungen sind ja vorhanden. Die Feigheit, mit der er alles leugnet, hätte ihn zum Dienst am Vaterland marxistischer Prägung nicht minder tauglich gemacht. Seit Februar 1932 ist er Mitglied der SPD. – aber ohne sein Wissen, sagt er und man soll es glauben. Der Staatsanwalt zog einen lehrreichen Vergleich. Ein Bauer, ein einfacher Mann, hatte sich vor dem Sondergericht wegen einer ähnlichen Sache zu verteidigen. Der hat ehrlich Farbe bekannt. Jener wird wenigstens Charakter gespürt haben. Dieser Vertreter des geistigen Standes sucht auf der Hintertreppe zu entschlüpfen. Die Verhandlung vor dem Sondergericht wurde um eine Nuance reicher, die Farbe dieses Angeklagten um viele Nuancen blasser. Wie das Bäuerlein erhält er ein Jahr Gefängnis. Der Staatsanwalt wollte einen Unterschied gewahrt wissen und hatte eine Strafe von einem Jahr und sechs Monaten beantragt.

Am 23. August 1933 wurde Heinz Stern aus Mannheim ins Landesgefängnis Freiburg zur Verbüßung seiner Haftstrafe überführt. Bald darauf richtete sein Anwalt an das Sondergericht das Gesuch, einen Monat der erlittenen Schutzhaft auf die Strafdauer anzurechnen. Der Mannheimer Oberstaatsanwalt war dazu bereit; allerdings intervenierte das badische Justizministerium mit dem Hinweis, dass ein Gnadenerweis erst in Betracht gezogen werden könne, wenn ein wesentlicher Teil der Strafe verbüßt worden sei. Im Dezember 1933 wurde auch ein zweites Gnadengesuch zurückgewiesen, und erst im Frühjahr 1934 war Rechtsanwalt Gentil erfolgreich: Für den noch zu verbüßenden Strafrest wurde unter der Voraussetzung weiterer guter Führung in der Strafhaft mit Wirkung vom 28. März 1934 Strafurlaub auf Wohlverhalten bis zum 1. März 1937 bewilligt. Eine Rückkehr an die Universität Heidelberg, um sein Studium abzuschließen, war für Heinz Stern nicht möglich, denn er wurde in einem Disziplinarstrafverfahren, das wegen des Sondergerichtsurteils aus dem Vorjahr geführt wurde, in absentia, aber mit der damalige Denunziantin Wilhelmine Wolf erneut im Zeugenstand von der Universität relegiert. Er habe durch die vom Sondergericht geahndete Straftat den Anspruch auf die Achtung verwirkt, die ein Studierender einer deutschen Hochschule geniessen muss, meinte das Disziplinargericht unter dem Vorsitz des Rektors Wilhelm Groh.

Einen Schlussstrich unter das Strafverfahren schließlich zog eine Mitteilung vom 6. April 1937, dass Heinz Stern die noch restlich zu verbüssende Gefängnisstrafe von 153 Tage, 5 Stunden, 30 Minuten gnadenweise erlassen wurde. Aufgehoben wurde das Urteil am 16. August 1954 vom Landgericht Mannheim auf Antrag der Heidelberger Rechtsanwälte Spitz und Spillner, die von dem in New York lebenden Heinz Stern dazu mandatiert worden waren.

GLA 507 11669a

Im Hof der Wallstraße 5, Juli oder August 1933

Am Montag, den 29. Januar 1934, verhandelte das Sondergericht Mannheim unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Edmund Mickel den Fall der 55-jährigen Katharina Herrlein, die sechs Wochen zuvor verhaftet und ins Bezirksgefängnis Heidelberg verbracht worden war. Verdächtig war Katharina Herrlein wegen ihrer politischen Vergangenheit: In ihrem Heimatdorf, dem Heidelberger Stadtteil Wieblingen, wurde sie, so heißt es in der Urteilsbegründung, als Rosa Luxemburg bezeichnet. Dass sie ihre kommunistischen Überzeugungen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht aufgegeben habe, legten die von ihr angeblich geäußerten Zweifel an der Täterschaft des Reichstagsbrandes nahe: Nicht der niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe habe im Auftrag einer Verschwörergruppe den Reichstag angezündet, wie es überall in der gleichgeschalteten Presse zu lesen und am 23. Dezember 1933 auch vom Reichsgericht in Leipzig festgestellt worden war, sondern die Nationalsozialisten selbst seien die Brandstifter gewesen. Hinzu kam der Vorwurf, ihr Haus in der Wallstraße 3 sei bis zu ihrer Verhaftung ein Treffpunkt ehemaliger Marxisten gewesen, wo man sich um das Radio versammelte.

Den Wahrheitsgehalt der beiden Anschuldigungen bestritt der Heidelberger Rechtsanwalt Friedrich August Schmidt, den Katharina Herrlein eigentlich in einer anderen Angelegenheit beauftragt hatte, der sie nun aber auch vor dem Sondergericht vertrat. In einem Schreiben vom 6. Januar hatte er dargelegt: Er habe die Angeschuldigte im Juni oder Juli 1933 kennengelernt, als sie in seiner Kanzlei wegen eines Nachbarschaftsstreits vorstellig geworden sei. Er habe bei dieser Gelegenheit mit ihr auch über politische Dinge gesprochen: Sie erklärte mir, sie seien früher Marxisten gewesen und hätten abwechselnd je nach politischer Lage Sozialdemokrat oder Kommunist gewählt. Seit dem 5. März 1933 aber habe sie sich mit ihrer Familie politisch umgestellt. Sie würde die Volksgemeinschaft36 lesen und im übrigen seien sie von der marxistischen Gesinnung völlig abgekommen. Rechtsanwalt Schmidt hatte hieran keinen Zweifel, wie sie ihm überhaupt einen überaus glaubwürdigen Eindruck vermittelte – auch in dem Nachbarschaftsstreit, der der Ausgangspunkt des jetzt am Sondergericht anhängigen Verfahrens sei.

Bei diesem Streit ging es um Baupläne der unmittelbaren Nachbarn in der Wallstraße 5, die auf ihrem Grundstück Umbauten vornehmen wollten, mit denen die Herrleins nicht einverstanden waren. Über das Baugesuch hatte am 27. September 1933 ein Termin beim Bezirksamt in Heidelberg stattgefunden, der, so Rechtsanwalt Schmidt, nicht nach den Vorstellungen der Bauherrin Susanna Merdes verlaufen sei: Hatte sie zuerst eine heuchlerische Miene aufgesetzt, um in süssen Tönen zu versuchen, auch bei dem Bezirksrat sich Geltung zu verschaffen, so hat sie sich unmittelbar danach als sie erfuhr, dass der Referent Reg. Rat Hassencamp und der Vorsitzende Herr Reg. Rat Henninger sich abweisend wegen des von der Anzeigerin Merdes beabsichtigten Aborteinbaus an der Küche der Beschuldigten verhielten, auf der Strasse trotz meiner Begleitung der Angeschuldigten und ihrer Tochter sich in hässlichster Weise aufgeführt. Hässlich war auch, so meinte Rechtsanwalt Schmidt, ohne dies in seinem Schreiben an das Sondergericht zu explizieren, dass Susanna Merdes Katharina Herrlein daraufhin wegen ihrer Aussagen über den Reichstagsbrand und als Gastgeberin marxistischer Zusammenkünfte angezeigt hatte.

Nun mochten die Motive der Denunziantin offenkundig sein, die beiden Vorwürfe standen gleichwohl im Raum. Für die inkriminierten Aussagen über den Reichstagsbrand gab es neben Mutter und Tochter Merdes, die nach menschlichem Ermessen als voreingenommen gelten mussten, nur eine weitere Zeugin, auf deren Aussage sich Rechtsanwalt Schmidt in seinem Schreiben konzentrierte. Es treffe zu, dass sich Katharina Herrlein mit Frau Lochert, einer früheren engeren Bekannten aus Wieblingen, über den Prozess gegen van der Lubbe unterhalten habe; diese habe aber ihre Aussagen der Polizei gegenüber unrichtig wiedergegeben. Vielmehr seien die Worte gefallen: »Wie der Prager Sender mitgeteilt hat, hat van der Lubben seine Tat eingestanden«. Die Beschuldigte machte noch den Zusatz: »Nach dem eigenartigen Verhalten des van der Lubben glaube ich, dass er bis zum Schlusse der Verhandlung noch etwas in sich behält«. Irgend eine Bemerkung, dass der Brand mit der Regierung oder mit der N.S.D.A.P. etwas zu tun hätte, fiel nicht. Vielmehr legte die Angeklagte nur eine psychologische Beurteilung des van der Lubben dar. Irgend welche weitere politischen Punkte wurden nicht besprochen.

Den Vorwurf, dass kommunistische Besprechungen oder überhaupt politische Versammlungen in dem Hause der Angeklagten abgehalten worden seien, bezeichnete Rechtsanwalt Schmidt als unwahr. Bei den Besuchern des Hauses handele es sich fast nur um Familienangehörige: Einen früheren Kommunisten namens Gerlach, der auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme seiner politischen Überzeugung treu geblieben sei, habe Katharina Herrlein bitten lassen, nicht mehr in ihr Haus zu kommen, und bei dem gelegentlich dort verkehrenden Herrn Schüssler handele es sich um einen Jugendfreund ihres Sohnes, mit dem dieser sich die Zeit mit Karten oder Schachspiel vertreibe; überdies sei Schüssler schon einige Zeit vor dem 5. März 33 einem bürgerlichen Turnverein als Mitglied beigetreten. Auch der Behauptung, im Hause der Angeschuldigten würden nachts politische Funktionäre marxistischer Gruppen, seien es Sozialdemokraten oder Kommunisten, tagen, trat Rechtsanwalt Schmidt entgegen: Bei dem gelegentlichen spätabendlichen Besucher handele es sich vielmehr bloß um den Kohlenhändler Eugen Ernst, einen Bekannten des Schwiegersohnes der Herrleins, Karl Hofer. Wenn er die letzte Straßenbahn von Wieblingen in die Altstadt verpasst habe, seien beide noch auf einen stärkenden Kaffee in der Wallstraße 3 eingekehrt, bevor Hofer Ernst mit dem Auto nach Hause brachte. Den Schwiegersohn hielt Rechtsanwalt Schmidt für über jeden politischen Zweifel erhaben, schließlich war er Vertrauensmann der Kriegsbeschädigten in H.-Wieblingen und stand früher im Verdacht, der grösste »Hitler« im Orte zu sein.

Rechtsanwalt Schmidt und Katharina Herrlein mochten in Anbetracht der Ausgangslage der Sitzung des Sondergerichts nicht ohne Hoffnungen entgegengesehen haben, dürften aber sehr enttäuscht, wenn nicht entsetzt darüber gewesen sein, wie das Gericht die dürftigen Belastungsindizien bewertete. Zwar wurde der Vorwurf, die Angeklagte habe in ihrem Hause marxistische Funktionärsversammlungen beherbergt, gar nicht mehr aufgegriffen, aber die inkriminierten Aussagen über den Reichstagsbrand nahm das Gericht als bewiesen an. Was Katharina Herrlein der Zeugin Lochert gegenüber geäußert haben wollte, hielt das Gericht in seiner verklausulierten Form für bedenklich, jedoch nicht für strafbar. Anders bewertete es die von Mutter und Tochter Merdes bezeugten Aussagen der Angeklagten: Trotzdem anzunehmen ist, dass die Zeugin Susanna Merdes wegen der nachbarrechtlichen Streitigkeiten auf die Angeklagte nicht gut zu sprechen ist, trug man … keine Bedenken, die nachfolgenden eidlichen Aussagen der Ehefrau Susanna Merdes für richtig zu halten. Darnach hat die Angeklagte im Juli oder August 1933, zu einer Zeit als die beiden Familien Herrlein und Merdes noch gut miteinander standen, der Frau Susanna Merdes gegenüber im Hof des Hauses Wallstraße 5 geäussert, sie soll auch auf Auslandssender einstellen, die Inlandsender würden doch nicht die Wahrheit sagen; das Volk sei dumm, rückständig und würde sklavisch behandelt werden; ob sie (die Frau Merdes) denn glauben würde, dass die Kommunisten den Reichstag angesteckt hätten; das hätten die Nationalsozialisten gemacht und zwar nur gemacht, um die kommunistische Partei zu vernichten.

Dies bewertete das Sondergericht als eine unwahre Behauptung tatsächlicher Art, die geeignet ist, das Wohl des Reiches und der hinter der Regierung stehenden N.S.D.A.P. schwer zu schädigen. Das Aufstellen dieser unwahren Behauptung geschah vorsätzlich, was sich schon daraus ergibt, dass die Angeklagte in diesem Zusammenhang bemerkte, die Ehefrau Merdes soll aber ja nichts sagen, sonst käme sie (die Angeklagte) nach Kislau37. Das Vergehen sei nach § 3 Abs. 1 der Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 zu bestrafen. Bei der Strafbemessung berücksichtigte das Gericht mildernd, dass Katharina Herrlein nicht vorbestraft war und die Tat vor dem Urteil im Leipziger Reichstagsbrandprozess geschehen war, also bevor justizamtlich wurde, dass die Nationalsozialisten überhaupt nichts mit der Brandstiftung zu tun hatten. Als straferschwerend fielen allerdings ins Gewicht die Staatsgefährlichkeit der Äusserung an sich und der Umstand, dass die Angeklagte die Äusserung als Ausfluss ihrer marxistischen Einstellung tat, also nicht etwa aus politischer Unwissenheit. In Hinblick auf ähnlich gelagerte, bereits abgeurteilte Fälle hielt das Sondergericht eine Gefängnisstrafe von zehn Monaten für angemessen.

Abb. 4:Zwei Wochen nach dem Urteilsspruch des Sondergerichts Mannheim wurde Katharina Herrlein mit diesem Schubbefehl in die Frauenhaftanstalt Bruchsal überführt, wo sie ihre Strafe verbüßte (GLA 507 11869a).

Die Haftstrafe verbüßte Katharina Herrlein in der Frauenhaftanstalt Bruchsal. 1945 erstattete ihr Schwiegersohn Karl Hofer bei der amerikanischen Militärregierung wegen dieses Falles Anzeige gegen verschiedene Denunzianten in Wieblingen.

GLA 507 11869a und 465c 4020a

Erlenweg 6, 19. September 1933

Für die vierköpfige Familie Gärtner, wohnhaft im Stadtteil Kirchheim im Erlenweg 6, hatte die nationalsozialistische Machtübernahme unmittelbare schwerwiegende Konsequenzen. Der 31-jährige Vater Hans, der seinen Lebensunterhalt als Gasthofdiener bestritt, gehörte als kommunistischer Funktionär zur Gruppe der Personen, die im März 1933 zu den ersten Opfern politischer Repression und Verfolgung wurden. Hans Gärtner wurde in Schutzhaft genommen – so die zynische Formulierung, die offenließ, ob dies dem Schutz der Nationalsozialisten vor potentiellen Widerstandskämpfern diente oder dem Schutz der willkürlich Inhaftierten vor dem Volkszorn, der sich nach dem Reichstagsbrand angeblich gegen die Kommunisten und alle anderen Marxisten richtete. Hans Gärtner wurde nach einigen Wochen auf freien Fuß gesetzt, aber im August 1933 erneut ins Gefängnis gebracht – dieses Mal in Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Betätigung für die verbotene Kommunistische Partei.

Im Bezirksgefängnis Heidelberg konnte ihn seine Ehefrau, die 34-jährige Katharina Gärtner, erstmals am Freitag, den 15. September 1933, besuchen. Bei dieser Gelegenheit führte sie auch ein kurzes Gespräch mit dem zuständigen Staatsanwalt. Sie fragte ihn, so hielt sie vier Tage später in einem Brief an ihre in Baden-Baden lebende Schwester fest: Warum hat man denn meinen Mann in’s Gefängnis gesteckt? Da sagte er: Wegen illegaler Betätigung an der K.P.D., und das, liebe Lene, ist so verlogen wie der Reichstagsbrand. Dass sie das Schicksal ihres Ehemannes nicht für einen einzelnen Justizirrtum hielt, sondern für den Ausdruck eines Systemversagens, machte Katharina Gärtner weiterhin deutlich: Liebe Lene, es kommt der Tag der Freiheit und der Rache, dann werden wir die Richter sein. Die Justiz ist eine Hure und die Richter sind ihre Zuhälter. … Ich bin so böse auf die regierende Saubande.

Abb. 5:Den 27. Dezember 1933 verbrachte Katharina Gärtner im Gefängnis Heidelberg. Von dort wandte sie sich an die Mannheimer Staatsanwaltschaft unter Verweis auf ihr einen Monat zuvor gestelltes Gnadengesuch mit der Bitte, sie wieder auf freien Fuß zu setzen (GLA 507 11787a).

Diese offenen Worte zu Papier zu bringen, erwies sich als ein schwerer Fehler, denn nach mehreren Hausdurchsuchungen bei den Gärtners in Zusammenhang mit der vermeintlichen illegalen politischen Arbeit des Ehemannes wurde nun auch die Post der Ehefrau überwacht. Statt bei der Schwester in Baden-Baden landete der Brief in den Händen des Heidelberger Hauptwachtmeisters Hermann Bender, der einen Haftbefehl erwirkte. Am 26. September wurde Katharina Gärtner in das Bezirksgefängnis Heidelberg gebracht, in das auch ihr Ehemann als Untersuchungshäftling eingewiesen worden war, und sah dort einem Strafverfahren wegen Beleidigung entgegen – diesen Tatbestand sah Oberstaatsanwalt Heinrich Bammesberger durch die Aussage in ihrem Brief, die Vorwürfe des Staatsanwaltes gegen ihren Mann seien verlogen, als erfüllt an.

Den Fall Katharina Gärtner verhandelte das Sondergericht Mannheim am 28. Oktober 1933 unter dem Vorsitz des Landgerichtspräsidenten Alfred Hanemann, der das Vergehen etwas anders bewertete als der Oberstaatsanwalt, und zwar in erster Linie als eine strafbare Handlung nach § 3 der Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung. Das Gericht sah es erwiesen an, dass die Angeklagte durch den Satz in ihrem Brief: »Und das, liebe Lene, ist so verlogen wie der Reichstagsbrand«, die Behauptung aufgestellt hat, und zwar zwecks Weiterverbreitung an ihre Schwester, dass der Reichstagsbrand durch die Nationalsozialisten erfolgt sei; die Beamtenbeleidigung sei in Tateinheit damit erfolgt und ohne Zweifel absichtlich, wie sich aus dem weiteren Zusammenhang des Briefinhalts ergebe, insbesondere der Passage über die generelle Unsittlichkeit der Justiz.

Zu leugnen gab es angesichts des beschlagnahmten Briefes nichts, so dass sich Katharina Gärtner darauf beschränken musste, die Motive ihres Handelns in ein möglichst wenig ungünstiges Licht zu rücken. Sie tat dies mit dem Verweis, sie sei durch die Inhaftierung ihres Mannes in grosser Erregung gewesen, ihre Nerven hätten sie verlassen, sie glaube persönlich gar nicht, was sie in dem Brief geschrieben habe, es sei richtiger Quatsch von ihr gewesen, so zu schreiben; sie habe kurz zuvor ein Buch von Max Hölz gelesen und so sei es gekommen, dass einige Stellen aus diesem Buch38 in dem Brief an ihre Schwester Verwendung gefunden hätten. Die Angeklagte gibt zu, dass sie in dem Brief zum Ausdruck gebracht habe, dass der Reichstagsbrand nicht von der KPD gelegt worden sei, und dass sie dem Staatsanwalt in Heidelberg »Verlogenheit« vorgeworfen habe. Sie erklärt, dass sie diese Behauptungen bereue.

Das Sondergericht wertete den Umstand, dass der Brief in großer Erregung geschrieben worden sei, als strafmindernd und stellte zugunsten Katharina Gärtners in Rechnung, dass sie bisher nicht vorbestraft ist, dass sie politisch im antinationalen Sinne nicht belastet ist … und dass im übrigen ein besonders schwerer Fall nicht vorliegt, weil der Brief lediglich für ihre Schwester, bezw. ihren Schwager bestimmt war. Man hielt darnach eine Gefängnisstrafe von 4 Monaten für eine angemessene Sühne. Die Untersuchungshaft hat man der Verurteilten mit 1 Monat angerechnet.

Katharina Gärtner musste die Strafe schließlich nicht verbüßen, da ein von ihr am 22. November 1933 gestelltes Gnadengesuch auf Umwegen Erfolg hatte: Während der Beschluss des Sondergerichts, dem Gesuch nachzukommen, im Justizministerium in Karlsruhe geprüft wurde, hatte die Staatsanwaltschaft Mannheim vier Tage vor Weihnachten einen Vorführungsbefehl erlassen, um die Verurteilte ins Bezirksgefängnis Heidelberg einzuliefern. Vollstreckt wurde dieser Befehl am 27. Dezember, und aus dem Gefängnis wandte sich Katharina Gärtner an die Staatsanwaltschaft mit einem Schreiben, in dem sie nicht nur auf ihr noch in Bearbeitung befindliches Gnadengesuch verwies, von dem sie sich Strafaufschub versprochen hatte, sondern auch dessen Argumente nochmals vortrug. Sie bat ein weiteres Mal höflichst darum, mir doch meine Strafe auf Wohlverhalten zu erlassen, da meine beiden Kinder kränklich sind. Ihr inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassener Ehemann sei schwer leidend und der Pflege der Kinder nicht gewachsen. Wenn der Straferlass nicht möglich sei, bitte sie, mir noch einmal 5 Tage Aufschub zu geben, dass ich meinen Haushalt auf meine Abwesenheit vorbereiten kann.

Oberstaatsanwalt Bammesberger wollte diese Bitte um Aufschub ablehnen, da sie genug Zeit gehabt habe, die für ihre Abwesenheit notwendigen Vorbereitungen zu treffen; allerdings kassierte Landgerichtspräsident Hanemann am gleichen Tag diese Entscheidung, da sich das Justizministerium zwischenzeitlich mit der Erteilung von Strafaufschub auf Wohlverhalten einverstanden erklärt hatte. Die Verurteilte wolle daher unverzüglich aus dem Strafvollzug entlassen werden. Der Strafaufschub auf Wohlverhalten wurde mit Frist zum 1. Januar 1937 bewilligt; der bedingungslose Erlass der Reststrafe erfolgte jedoch schon im August 1934, als Katharina Gärtner in den Genuss der Bestimmungen des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit kam, das in Kraft gesetzt wurde, als Reichskanzler Adolf Hitler nach dem Tode Paul von Hindenburgs auch noch das Amt des Reichspräsidenten zugeschlagen wurde.

GLA 507 11787a und 480 4159

Rohrbacher Straße 20, Februar bis April 1934

Karl Platz, wohnhaft Rohrbacherstrasse darhier wurde durch rechtskräftiges Urteil des Sondergerichts Mannheim vom 26. Mai wegen Betätigung für die Ziele der verbotenen K.P.D., Aufstellung und Verbreitung unwahrer Behauptungen, die geeignet sind, das Wohl des Reiches, das Ansehen der Reichsregierung und der hinter dieser Regierung stehenden N.S.D.A.P. schwer zu schädigen, zu einer Gefängnisstrafe von 8 Monaten verurteilt, so lautete eine Pressemitteilung der Heidelberger Polizeidirektion, die am 1. Juni 1934 an die Redaktionen der hiesigen Tageszeitungen verschickt und von diesen auch so verbreitet wurde. Wer dies las, mochte den Eindruck gewinnen, der Polizei sei ein empfindlicher Schlag gegen die Netzwerke kommunistischer Propaganda in Heidelberg gelungen. Ein Blick in das Urteil des Sondergerichts Mannheim im Fall Karl Platz zeigt, dass dies mitnichten so war.

Vielmehr war der 49-jährige Uhrmacher Karl Platz verurteilt worden, weil er gegenüber seinen Untermietern in der Rohrbacher Straße 20, dem Ehepaar Auguste und Jonas Weil, von Mitte Februar bis zum 14. April 1934 bei verschiedenen Gelegenheiten politische Äußerungen gemacht hatte: Sie sollten den Schwindel, der in der Zeitung stehe, nicht glauben. Was diese Lumpen sich zu schreiben erlauben: die gehören alle aufgehängt. Wenn sie – die Kommunisten – drankämen, und sie kämen dran, dann müsse als erster Hitlers Kopf rollen, dann spielten sie mit dem Kopf Fussball. Die ganzen Nazis seien alle grosse Lumpen und Faulenzer und nützten das dritte Reich nur aus. Die S.A.-Führer seien alle ehemalige Unteroffiziere, Feldwebel und Offiziere, die gehörten alle kastriert wie die Katzen.