Werkstatt der Demokratie - Frank Engehausen - E-Book

Werkstatt der Demokratie E-Book

Frank Engehausen

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Beschreibung

Für den Verlauf der Revolution von 1848/49 hatte die Deutsche Nationalversammlung, die ab dem 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche tagte, eine herausragende Bedeutung. Doch wie funktionierte das erste deutsche Nationalparlament, das eine konstitutionell-monarchische Verfassungsordnung errichten wollte und in der die Demokraten die Minderheit bildeten? Wer waren die Abgeordneten? Wie verlief deren Arbeit? Wie etablierte die Nationalversammlung demokratische Prozesse? Welche Diskussionen und Beschlüsse gab es zu Themen wie Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität und Nationalstaatlichkeit? Wie kam die Paulskirchenverfassung zu ihren epochalen Errungenschaften, dem demokratischen Männerwahlrecht, der Gewaltenteilung und dem Grundrechtskatalog? Zum 175. Jubiläum der Ereignisse wirft Frank Engehausen einen neuen Blick auf die »Werkstatt der Demokratie« und beschreibt, welche Folgen ihre Entscheidungen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte hatten.

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Frank Engehausen

Werkstatt der Demokratie

Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Für den Verlauf der Revolution von 1848/49 hatte die Deutsche Nationalversammlung, die ab dem 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche tagte, eine herausragende Bedeutung. Doch wie funktionierte das erste deutsche Nationalparlament, das eine konstitutionell-monarchische Verfassungsordnung errichten wollte und in der die Demokraten die Minderheit bildeten? Wer waren die Abgeordneten? Wie verlief deren Arbeit? Wie etablierte die Nationalversammlung demokratische Prozesse? Welche Diskussionen und Beschlüsse gab es zu Themen wie Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität und Nationalstaatlichkeit? Wie kam die Paulskirchenverfassung zu ihren epochalen Errungenschaften, dem demokratischen Männerwahlrecht, der Gewaltenteilung und dem Grundrechtskatalog? Zum 175. Jubiläum der Ereignisse wirft Frank Engehausen einen neuen Blick auf die »Werkstatt der Demokratie« und beschreibt, welche Folgen ihre Entscheidungen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte hatten.

Vita

Frank Engehausen lehrt Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und dort besonders auf der Revolution von 1848/49 und der Zeit des Nationalsozialismus.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

I.

Die Nationalversammlung als Ort demokratischer Praxis

1.

Die Paulskirche als Sitz des Nationalparlaments

Das Vorparlament in der Paulskirche

Der 50er-Ausschuss

Die Eröffnung der Nationalversammlung

Die Raumaufteilung

Die Modernisierung der Paulskirche

Im Ausweichquartier

Hauptstadtoptionen

Der Weggang aus Frankfurt

Frankfurt als möglicher Bundessitz 1948/49

2.

Die Abgeordneten

Delegieren oder wählen?

Wahlrechtsdebatten im Vorparlament

Streit über die Leitung der Wahlen

50er-Ausschuss und Wahlen

Der Verlauf der Wahlen

Politische Vorerfahrungen

Alte und neue Prominenz

Anfänge der Fraktionsbildung

Konservative und Liberale

Demokratische Linke

Kräfteverteilung und Fraktionslosigkeit

Karikaturen und Satiren

3.

Die Abläufe der Parlamentsarbeit

Die Geschäftsordnung

Heinrich von Gagern als Präsident

Die Zusammensetzung des Präsidiums

Spätere Personalwechsel

Kritik an der Sitzungsleitung

Das Büro der Nationalversammlung

Die Stenographen

Abteilungen und Ausschüsse

Die Fraktionen in der Parlamentsarbeit

Die Rede- und Abstimmungsordnungen

Sitzungen und Geselligkeit

Der Umgang der Abgeordneten miteinander

Piepmeyer in der parlamentarischen Arbeit

Arbeitsbelastung und Prioritäten

4.

Das Parlament und seine Regierungen

Der Verfassungsentwurf des 17er-Ausschusses

Die Nationalbewegung und die Bundesversammlung

Der 50er-Ausschuss und die Bundesversammlung

Die Nationalversammlung und der Deutsche Bund

Antrag Raveaux

Modelle einer Übergangsregierung

Der kühne Griff

Die Einsetzung der Provisorischen Zentralgewalt

Die Regierung Leiningen

Bemühungen um völkerrechtliche Anerkennung

Der Huldigungserlass

Provisorische Zentralgewalt und Einzelstaaten

Krise um Schleswig-Holstein

Der Waffenstillstand von Malmö

Der Rücktritt der Regierung Leiningen

Die Regierung Schmerling

Die Österreichfrage und der Rücktritt Schmerlings

Die Regierung Gagern

Das konservative Provokationskabinett

5.

Nationalversammlung und Öffentlichkeit

Publikum in der Paulskirche

Zutritt zu den Sitzungen

Der Ausschluss der Zuschauer am 8. August 1848

Die Teilsperrung der Galerien

Septemberunruhen

Das Verfassungsschutzgesetz

Berichterstattung aus dem Parlament

Die Parlamentskorrespondenzen

Politische Meinungs- und Parteiblätter

Flugblätter

Petitionen

Politische Vereine

Der Zentralmärzverein

Liberale Vereine

Piepmeyer strebt nach Popularität

II.

Die Nationalversammlung und die Herausforderungen der Demokratie

1.

Freiheit

Freiheitsforderungen im Vorparlament

Priorität der Grundrechte

Reichsbürgerschaft und Niederlassungsfreiheit

Schutz vor Polizei- und Justizwillkür

Diskussionen über die Todesstrafe …

… und ihre späte Abschaffung

Freiheits- gegen Ordnungsvorstellungen

Pressefreiheit

Versammlungsfreiheit

Vereinsfreiheit

Religionsfreiheit

Schule und Kirche

Kritik an den Grundrechtsberatungen

Streit um das Einführungsgesetz

Die Bedeutung der Grundrechte

2.

Gleichheit

Gleichheit vor dem Gesetz

Die Adelsfrage

Streit um Titel und Namen

Die Folgen des Adelsbeschlusses

Die Judenemanzipation

Politische Gleichheit

Frühe Wahlrechtsdebatten

Der Wahlrechtsantrag des Verfassungsausschusses

Die Wahlrechtsfrage im Plenum der Nationalversammlung

Das demokratische Wahlrecht als Kompromiss

Die Folgen der Wahlrechtsentscheidung

3.

Nationalstaat

Perspektiven am Anfang der Revolution

Die Schleswig-Holstein-Frage im Vorparlament

Deutsches und polnisches Posen

Territorialbeschlüsse des Vorparlaments

Wahlen in Posen und Schleswig

Die böhmische Frage

Welschtirol

Posen, Deutschland und Polen in der Nationalversammlung

Die Welschtirolfrage in der Nationalversammlung

Reaktionen auf den Prager Aufstand

Minderheitenschutz

Kampf um Schleswig

Deutschland und Österreich

Engerer und weiterer Bund

En-bloc-Annahme der Verfassung

Die Kompetenzen des Reichs gegenüber den Ländern

Das Staatenhaus

4.

Volkssouveränität

Revolution oder Reform?

Die Anfänge der Nationalversammlung

Volkssouveränität und Übergangsregierung

Demokratische Kritik

Volkssouveränität in den Fraktionsprogrammen

Legitimationsfragen im September 1848

Das Reichsoberhaupt

Suspensives oder absolutes Veto?

Der Verfassungskompromiss

Die Ablehnung der Kaiserkrone

Nationalversammlung und Reichsverfassungskampagne

Kräfteverschiebung nach links

Die Verlegung der Nationalversammlung

Das Ende des Rumpfparlaments

Was fehlte und was blieb

Anhang

Anmerkungen

Die Grundrechte in der Reichsverfassung von 1849

Abschnitt VI. der Reichsverfassung: Die Grundrechte des deutschen Volkes

Artikel I.

Artikel II.

Artikel III.

Artikel IV.

Artikel V.

Artikel VI.

Artikel VII.

Artikel VIII.

Artikel IX.

Artikel X.

Artikel XI.

Artikel XII.

Artikel XIII.

Artikel XIV.

Abbildungsnachweise

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Quellen und Literatur

Einleitung

Am 18. März 1898, dem 50. Jahrestag der Barrikadenkämpfe in Berlin, mit denen die Revolution in Preußen begonnen hatte, nutzte der sozialdemokratische Parteiführer August Bebel eine Reichstagsdebatte über die Reform des Militärstrafrechts dazu, die Errungenschaften der Revolution von 1848 in Erinnerung zu rufen und zugleich den Liberalen Geschichtsvergessenheit vorzuwerfen. Nachdrücklich würdigte er die Berliner Märzrevolutionäre, bei denen es sich weder um Gesindel noch um von Ausländern Aufgewiegelte gehandelt habe, sondern um Vorkämpfer der bürgerlichen Freiheit. Eigentlich, so Bebel, habe die Sozialdemokratie keinen besonderen Grund, den Verherrlicher einer bürgerlichen Revolution zu spielen; aber es gehe doch nicht an, dass die Parteien, die jahrzehntelang auf dem Boden der Errungenschaften dieser Revolution standen, die Männer des Nationalvereins, die als ihr Hauptziel in den sechziger Jahren betrachteten, die Reichsverfassung von 1849 in das deutsche Reich zu übertragen, vollständig schweigen zu all den Beschimpfungen, die heute gegen das deutsche Bürgerthum von 1848 und die Revolutionäre jener Zeit geschleudert wurden, und sie nicht in Schutz zu nehmen wagen.1

Rudolf von Bennigsen, nationalliberaler Parlamentsveteran und Protagonist des liberalen Schulterschlusses mit Reichskanzler Otto von Bismarck, wollte dies nicht unwidersprochen lassen und belehrte Bebel, dass es zwischen der sozialdemokratischen und der liberalen Revolutionserinnerung praktisch keine Berührungspunkte gebe: Wenn Sie von mir und meinen Freunden verlangen, daß wir stolz uns erinnern sollten an diese Berliner Straßenkämpfe und alles, was damit in Zusammenhang stand, dann sage ich: nein, die Erinnerung für uns, auf die wir fortgebaut hatten, war das Parlament in Frankfurt, welches, zusammengesetzt aus den besten Kräften der ganzen Nation, den ersten ernsthaften Versuch gemacht hat, die Umgestaltung von Deutschland herbeizuführen.2

Das Wortgefecht zwischen Bebel und Bennigsen wirft ein Schlaglicht auf die parlamentarischen Konflikte der wilhelminischen Epoche, ist aber zugleich symptomatisch für die Probleme der Erinnerung an die Revolution von 1848/49 über die politischen Zäsuren des 19. und des 20. Jahrhunderts hinweg: Welches sind die Bezugsorte und die Bezugspersonen der Revolutionserinnerung, und welche Lehren für die jeweilige Gegenwart lassen sich aus der Revolutionserinnerung ziehen? Gilt das Augenmerk den radikalen Revolutionären, die ihre demokratischen Leitideen auch mit gewaltsamen Mitteln – sei es in den Barrikadenkämpfen in Berlin, Wien und Frankfurt, sei es bei den badischen Freischarenzügen im Frühjahr und Herbst 1848, sei es in der sogenannten Reichsverfassungskampagne im Mai und Juni 1849 – durchzusetzen versuchten? Oder richtet sich die Erinnerung auf die gemäßigten Freiheitsfreunde, die in den Parlamenten auf dem Weg der gesetzlichen Reform einen Nationalstaat schaffen und die monarchischen Ordnungen liberal ausgestalten wollten? Offenkundige Makel haben beide: Die Radikalen wollten – so stellt es sich in der Rückschau dar – das Richtige, lagen in der Wahl ihrer Mittel, insbesondere indem sie den Willen des Volkes unter Missachtung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse für sich reklamierten – mitunter falsch, während die Gemäßigten mit den richtigen Mitteln ein falsches Ziel – denn für ein solches wird man die konstitutionelle Monarchie aus der Perspektive der Nachgeborenen betrachten dürfen – anstrebten. Sowohl die Barrikaden in Berlin, verbunden mit dem Datum des 18. März 1848, als auch die Frankfurter Paulskirche, in der die deutsche Nationalversammlung am 18. Mai 1848 ihre Arbeit aufnahm, sind also problematische Erinnerungsorte. Zudem erscheinen sie nicht als zwei Seiten einer Medaille, sondern stehen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander.

Dies spiegelt sich auch in der weiteren Geschichte der Revolutionserinnerung wider: Zum 75. Jubiläum der Revolution im Jahr 1923 stellte der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, ganz seinem überparteilichen Amtsverständnis entsprechend, die sozialistische Revolutionsinterpretation zurück, wählte statt der Barrikaden die Paulskirche als Erinnerungsort und versuchte, aus den Revolutionszielen des gemäßigten Bürgertums politisches Kapital für die Gegenwart zu schlagen. Einheit, Freiheit und Vaterland! Diese drei Worte, jedes gleich betont und gleich wichtig, waren der Leitstern, unter dem die Paulskirche wirkte,3 so Eberts historisch zutreffender, aber für die aktuellen Zwecke des Krisenjahres 1923 nur bedingt tauglicher Erinnerungsslogan, der indirekt auch erkennen ließ, woran es dem liberalen Reformprojekt von 1848/49 gemangelt hatte: der Gleichheit und der Demokratie.

Mit dem Untergang der Weimarer Republik brachen die Ansätze einer positiven Neuwertung des Paulskirchenliberalismus ab, und auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die Revolutionserinnerung ein schwieriges Pflaster. Das 100. Revolutionsjubiläum 1948 fand in Anbetracht der Gegenwartsnöte wenig Beachtung, wenngleich einige namhafte Historiker es zum Anlass nahmen, den Stellenwert der Revolution im Gesamtkontext der neueren deutschen Geschichte unter dem Eindruck der Katastrophenjahre von 1933 bis 1945 neu zu vermessen.4 Auch waren die besatzungspolitischen Erinnerungshemmnisse groß: Die für Frankfurt geplanten Feierlichkeiten wurden von den Franzosen boykottiert, weil sie die Paulskirchenpolitik von 1848/49 für ein Symbol deutscher Großmannssucht hielten, und in Berlin gerieten die Jubiläumsveranstaltungen in das Räderwerk des beginnenden Kalten Krieges.5

Der deutsch-deutsche Systemkonflikt prägte in den folgenden Jahrzehnten die Revolutionserinnerung: In der DDR nahm man sich des radikalen Flügels der Revolution an und inkorporierte ihn in die sozialistische »Tradition« der deutschen Geschichte, während in der Bundesrepublik das Augenmerk weit mehr den gemäßigten Kräften galt; sichtbar war dies beim 125. Revolutionsjubiläum im Jahr 1973 darin, dass sich die Feierlichkeiten erneut auf Frankfurt konzentrierten. Diese entsprangen im Wesentlichen städtischer Initiative, da sich die sozialliberale Bundesregierung nicht dazu durchringen konnte, einen großen Gedenkakt zu feiern. Lediglich zu Beginn einer regulären Plenarsitzung in Bonn erinnerte Bundestagspräsidentin Annemarie Renger am 18. Mai an den Zusammentritt der Nationalversammlung, deren Platz in der Kontinuität des deutschen Parlamentarismus und der demokratischen Tradition sie allerdings nicht näher beschrieb. Statt der demokratischen Teilhabe rückte sie die beiden Aspekte in den Vordergrund, auf die in der alten Bundesrepublik üblicherweise verwiesen wurde, wenn die Verdienste der Paulskirchenversammlung hervorgehoben wurden: die Versuche, die Einheit der Nation zu erringen, was vor dem Hintergrund der deutschen Teilung aktuelle Relevanz hatte, und die Formulierung der Grund- und Freiheitsrechte, mit der sich der Liberalismus der Paulskirche ein bleibendes Denkmal gesetzt habe6 – auch hier ergaben sich die Gegenwartsbezüge beim Blick auf die politischen Zustände in der DDR.

Nach dem Ende der deutschen Teilung verlor die Revolution von 1848/49 als Einheitsverheißung ihre aktuelle Leitbildrelevanz, aber als Symbol für das Freiheitsstreben konnte sie weiter benutzt werden. Bei den Feierlichkeiten zum 150. Revolutionsjubiläum 1998 war Frankfurt erneut einer der Hauptveranstaltungsorte, und wiederum wurde der große Festakt der Stadt am Jahrestag der Eröffnung der Nationalversammlung begangen. Die Festrede in der Paulskirche hielt Bundespräsident Roman Herzog, der in dem Jahr 1848 – allerdings ohne explizite Bezüge zum genius loci – eine entscheidende Wendemarke auf dem Weg zum modernen, demokratischen Europa erblickte7 und darauf verzichtete, die Dichotomie von gemäßigter und radikaler Revolutionserinnerung in neuer Form aufleben zu lassen. Dies geschah allerdings in regionaler Perspektive in Karlsruhe, wo im Schloss eine vom Land Baden-Württemberg geförderte Ausstellung die »Revolution der deutschen Demokraten in Baden« zeigte und die radikalen als die primär erinnerungswürdigen Revolutionäre gegen die gemäßigten, in der Paulskirche dominierenden Kräfte ausspielte.8 Auch in den zahlreichen Sach- und Fachpublikationen, die durch das 150. Revolutionsjubiläum veranlasst wurden, stand die Nationalversammlung eher am Rand des Interesses; die Revolution auf der Straße, ihre lokalen und regionalen ebenso wie ihre internationalen Perspektiven sowie die Revolutionswahrnehmungen von Bevölkerungsgruppen, die zuvor weit weniger im Fokus des Interesses der Wissenschaft gestanden hatten, prägten die Revolutionsbilder der Jahre 1998/99.

Dass die deutsche Nationalversammlung innerhalb der Geschichte der Revolution von 1849/49 noch weiter marginalisiert werden wird, ist nicht zu erwarten – allein schon deshalb nicht, weil die Handlungen derjenigen Revolutionäre, die wie die Barrikadenkämpfer oder die radikalen Demokraten einer erinnernden Aneignung leicht zugänglich sind, sich maßgeblich auf die Aktionen und auch auf die Unterlassungen des Parlaments in der Paulskirche bezogen. Für ein Gesamtverständnis der Revolution von 1848/49 ist und bleibt die Kenntnis der Geschichte ihrer wichtigsten Institution unabdingbar, und aus diesem Grund, so meint der Verfasser dieser Zeilen, ist der Versuch zu rechtfertigen, sie zum Gegenstand einer erneuten Betrachtung zu machen. Dieser Versuch zielt nicht auf eine Gesamt- oder Überblicksdarstellung und soll auch keine Verlaufsgeschichte ihrer Debatten und Beschlüsse bieten; vielmehr sollen in Anknüpfung an die grob skizzierten, mittlerweile historischen Kontroversen um den Stellenwert der Nationalversammlung in der Revolution und im weiteren Kontext der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts Ambivalenzen ausgeleuchtet und diskutiert werden: Welche Impulse gingen für die Etablierung einer demokratischen Praxis von einem Parlament aus, in dem die Demokraten eine Minderheit bildeten und das statt einer republikanischen eine konstitutionell-monarchische Verfassungsordnung errichten wollte?

Dies soll in zwei Schritten geschehen: Zunächst soll in der Nahperspektive der Jahre 1848/49 aufgezeigt werden, wie sich die Nationalversammlung in der parlamentarischen Praxis zu einer »Werkstatt der Demokratie« entwickelte, das heißt, selbst nach demokratischen Prinzipien arbeitete, und anschließend ist in weiterer Perspektive das Augenmerk darauf zu richten, wie sich die in den demokratischen Prozessen getroffenen Entscheidungen der Nationalversammlung auf die Durchsetzung demokratischer Prinzipien im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte auswirkten. Bei diesem Blick auf die in der »Werkstatt der Demokratie« entstandenen »Produkte« – Musterexemplare ebenso wie Fehlstücke – sollen die epochalen Errungenschaften der Paulskirchenverfassung wie das demokratische Männerwahlrecht, die Gewaltenteilung als Mittel zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Grundrechtskatalog gewürdigt, aber auch die Herausforderungen wie etwa die Kombination von Macht- und Kulturstaatskonzepten oder der Umgang mit nationalen Minderheiten, für die die Nationalversammlung keine wegweisenden Lösungen fand, kritisch beleuchtet werden.

Der Fokus wird so eng wie möglich auf die Nationalversammlung in Frankfurt gerichtet. Zentrale Ereignisse an anderen Schauplätzen – die Märzrevolution in Wien und Berlin, der Heckerzug im April 1848, die preußische und die österreichische Gegenrevolution und auch die sogenannte Reichsverfassungskampagne im Mai und Juni 1849 – werden nicht systematisch behandelt, sondern nur in ihren Rückwirkungen auf die Arbeit in der Paulskirche skizziert. Die nationalparlamentarische Perspektive bedingt auch, dass einige politische Zentralaspekte, die – wie etwa die massiven sozialen Probleme der Epoche – in der Paulskirche mit Rücksicht auf die Verfassungsarbeiten zurückgestellt wurden, ausgeblendet bleiben. Da statt der Geschichte der Revolution die Geschichte der Nationalversammlung geschildert wird, fehlen auch die Wahrnehmungen der Revolution durch Gruppen, die dort nicht repräsentiert waren: sehr große Gruppen wie die Frauen oder die Arbeiterschaft und sehr kleine wie die regierenden Fürsten. Die Hauptakteure sind Angehörige des Bürgertums: An welchen Leitbildern sie sich in der Arbeit der Nationalversammlung orientierten und welche politischen Ziele sie verfolgten, wird im Folgenden auch anhand zahlreicher Zeugnisse der Zeitgenossen nachvollzogen. Dabei kommen Gemäßigte und Radikale nicht entsprechend der politischen Kräfteverteilung in der Paulskirche, sondern ungefähr gleichgewichtig zu Wort. Die Quellenzitate, die häufig aus den Stenographischen Berichten der Nationalversammlung stammen, sind kursiv gedruckt. Sie nehmen in der Darstellung breiten Raum ein, um eine möglichst große Annäherung an die politischen Anschauungswelten der Akteure und zugleich Einblicke in die Debattenkultur in der Frühphase des deutschen Parlamentarismus zu ermöglichen.

I.Die Nationalversammlung als Ort demokratischer Praxis

1.Die Paulskirche als Sitz des Nationalparlaments

Der Weg zur deutschen Nationalversammlung, die ihre erste Sitzung am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche abhielt, begann zehneinhalb Wochen zuvor in Heidelberg. Am 5. März hatten sich im dortigen Hotel Badischer Hof 49 oppositionelle Politiker hauptsächlich aus Süddeutschland getroffen, um zu besprechen, welche Konsequenzen aus dem Beginn der Revolution in Frankreich wenige Tage zuvor zu ziehen seien, nachdem ihre ersten Wirkungen in Deutschland bereits deutlich zu erkennen waren: Volksversammlungen, auf denen die elementaren Freiheitsforderungen in Petitionen an die Fürsten und an die Landtage zusammengestellt wurden, Agrarunruhen in einigen Regionen Süddeutschlands, die sich gegen den Fortbestand von Resten der alten Feudalordnung richteten, und auch Panikreaktionen einiger Fürsten und ihrer gemeinsamen Vertretung, der Bundesversammlung, die darum wetteiferten, die Aufhebung der Pressezensur zu verkünden, um der Protestbewegung gleich in ihrer Entstehung möglichst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Noch beschränkte sich die revolutionäre Unruhe auf den Süden und den Westen Deutschlands, aber auch andernorts bahnten sich Eskalationen an, die in den Hauptstädten der beiden weiterhin absolutistisch regierten Großstaaten bald besonders heftig ausfallen sollten: in Wien mit den gewaltsamen Unruhen am 13. und 14. März, die zur Flucht des Fürsten Metternich, der zentralen Symbolfigur des Restaurationsregimes, führten und in Berlin mit den Barrikadenkämpfen des 18. März.

Zwar war am 5. März noch nicht abzusehen, dass binnen zweier Wochen die Throne der beiden mächtigsten deutschen Fürsten wackeln würden; gleichwohl waren sich die Teilnehmer der Heidelberger Versammmlung bewusst, dass sie eine politische Zeitenwende erlebten. Die Radikalen unter ihnen, die badischen Demokraten Friedrich Hecker und Gustav Struve mit einer nur kleinen Gruppe von Unterstützern, wollten diese beschleunigen und ad hoc eine Revolutionsregierung einsetzen; die gemäßigten Teilnehmer, unter ihnen der am gleichen Tag zum hessischen Ministerpräsidenten avancierende Heinrich von Gagern und der Heidelberger Historiker Georg Gottfried Gervinus, plädierten dafür, der Bundesversammlung, dem in Frankfurt ansässigen höchsten Organ des Deutschen Bundes, liberale Vertrauensmänner zur Seite zu stellen, um möglichst rasch eine Modernisierung des Bundesverfassung im liberalen Sinne zu erwirken. Um den Konflikt nicht austragen zu müssen und auch in der Erkenntnis, dass vier Dutzend wegen vergangener politische Verdienste und kurzfristiger Verfügbarkeit, also nicht ohne Zufälligkeiten, nach Heidelberg eingeladene Männer keine Beschlüsse fassen sollten, die unumkehrbare politische Auswirkungen auf ganz Deutschland haben konnten, beschloss die Mehrheit, eine größere Versammlung anzuberaumen. Aufgabe dieser vollständigeren Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Volksstämme sollte es sein, über die Einrichtung einer in allen deutschen Landen nach der Volkszahl gewählten Nationalvertretung zu beraten und dem Vaterlande wie den Regierungen ihre Mitwirkung anzubieten.9

Das Vorparlament in der Paulskirche

Zur Vorbereitung dieser vollständigeren Versammlung, die als Vorparlament in die Geschichtsbücher eingehen sollte, setzten die Heidelberger einen Siebener-Ausschuss ein, der nicht nur über die Teilnehmer, sondern auch über den Tagungsort entschieden musste. Welche Diskussionen die Sieben hierüber führten, ist unbekannt, so dass nur Mutmaßungen darüber angestellt werden können, warum sie Frankfurt am Main als Sitz des Vorparlaments auswählten. Verkehrstechnische Argumente dürften wegen der ungefähren Mittellage der Stadt im 1815 auf dem Wiener Kongress gegründeten Deutschen Bund eine gewisse Rolle gespielt haben; allerdings war Frankfurt nur von Süden aus (Mannheim, Heidelberg, Freiburg) mit dem neuen Reisemittel Eisenbahn gut zu erreichen; vom Nordwesten kommend mussten Reisende von Bonn aus ein anderes Verkehrsmittel wählen, vom Nordosten von Kassel oder Erfurt aus und vom Osten von Bamberg oder Nürnberg aus. Politische Argumente dürften also wichtiger gewesen sein: In der Freien Stadt Frankfurt würde die Versammlung auf das Wohlwollen einer bürgerlichen Obrigkeit zählen können, während man andernorts von der Gunst eines möglicherweise bald wieder missgünstigen Monarchen abhängig gewesen wäre. Auch dürften symbolpolitische Überlegungen eine Rolle gespielt haben: Frankfurt hatte eine lange Tradition als Wahl- und Krönungsort der römisch-deutschen Könige im Alten Reich, und die Stadt beherbergte seit 1815 die Bundesversammlung, die als ständiger Gesandtenkongress im Palais Thurn und Taxis tagte.

Sich in die direkte Nachbarschaft der Bundesversammlung zu begeben, war eine Kampfansage an das oberste Gremium des Deutschen Bundes, das seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 die Repressionspolitik gegen die deutsche National- und Freiheitsbewegung zu verantworten hatte. Das Risiko, das man durch die unmittelbare Nähe zur Bundesversammlung einging – schließlich waren in der Festung Mainz Bundestruppen stationiert –, war überschaubar, da der Deutsche Bund in den ersten Märztagen unter dem Eindruck der Nachrichten aus Frankreich und von ersten Unruhen auch in Deutschland politisch kapituliert zu haben schien: Er hatte die Einzelstaaten ermächtigt, die seit 30 Jahren währende Pressezensur aufzuheben, hatte die Farben Schwarz-Rot-Gold der verbotenen Burschenschaften zu Bundesfarben erklärt und selbst einen Ausschuss eingesetzt, der Vorschläge für eine Reform der Bundesverfassung ausarbeiten sollte. Hinzu kam, dass sich die Bundesversammlung in ihrer personellen Zusammensetzung peu à peu veränderte: Bevollmächtigte, die als Protagonisten der Repressionspolitik galten, wurden von den einzelstaatlichen Regierungen aus Frankfurt abberufen und teilweise durch prominente Liberale ersetzt.10

Der Aufforderung der Heidelberger Versammlung, Männer des Vertrauens aller deutschen Volksstämme zum Vorparlament einzuladen, kam der Siebener-Ausschuss in großem Umfang nach. Sobald klar wurde, dass mehrere Hundert Männer nach Frankfurt kommen würden, stellte sich die Frage, wo das Vorparlament untergebracht werden könne. Die Wahl fiel auf die 15 Jahre zuvor im Neubau fertiggestellte Paulskirche als den größten Versammlungsraum in Frankfurt. Georg Christoph Binding, Rechtsanwalt, Mitglied der Frankfurter Ständigen Bürgerrepräsentation und Mitglied des Siebener-Ausschusses, wandte sich Mitte März 1848 gemeinsam mit Friedrich Siegmund Jucho, ebenfalls Frankfurter Rechtsanwalt und Teilnehmer der Heidelberger Versammlung, an den Vorstand der Evangelischen Gemeinde mit der Bitte, die Paulskirche für die Beratungen des Vorparlaments nutzen zu dürfen, und erhielt eine Zusage. Von kontroversen Diskussionen über die Frage, ob ein Gotteshaus für solche Zwecke genutzt werden solle, sind keine Quellen überliefert, und eine De-Sakralisierung des Innenraumes wurde binnen weniger Tage durch Umbauten vor allem dekorativer Art vorgenommen: Es wurden Altar, Kanzel und Orgel verhängt und schwarz-rot-goldener Flaggenschmuck angebracht.11

Seitenansicht des Vorplatzes der Paulskirche (links) beim feierlichen Einzug der Teilnehmer des Vorparlaments, die von einem Ehrengeleit Frankfurter Bürger angeführt wurden. Angeblich beobachteten 100.000 Zuschauer das Ereignis.

Zur ersten parlamentarischen Nutzung kam es am 31. März 1848, als die 574 Teilnehmer des Vorparlaments, nachdem sie im Kaisersaal des Römers einen Versammlungspräsidenten gewählt hatten, unter dem Geläute aller Glocken und dem Donner der Geschütze in die Paulskirche einzogen. Der Leipziger Journalist Heinrich Laube beschrieb die Wirkung des nun politisch belebten Kirchenraumes wie folgt: Diese Paulskirche welche so leicht zu haben war, scheint einem ungeschilderten Gotte der Zukunft gewidmet worden zu sein. Möge man ihn bald schildern können, diesen Gott. Sie ist ein runder Tempel, dessen Mittelgrund ringsum durch Säulen abgegrenzt wird. In diesem Mittelgrund saßen auf Kirchenbänken, die ersten deutschen Volksvertreter, gegen Mittag schauend auf eine Rednertribüne in Gestalt einer Kanzel, auf eine Präsidentenestrade hinter dieser Kanzel, auf rothe Vorhänge mit Schwarz und Gold gesäumt und mit dem zweiköpfigen Reichsadler geschmückt hinter dieser Estrade, und auf ein romantisches Bild der Germania, hoch, hoch über dem Präsidenten, ein Bild voll strenger Unschuld aber geringer Kraft. Hinter diesem Kern und Mittelgrunde, also hinter jenen Säulen steigt amphitheatralisch noch eine vierfache Reihe von Bänken aufwärts zu den Fenstern […]. Jetzt strotzen diese Bergbänke von Zuschauern, welche den dicht unter ihnen sitzenden Parlamentsmitgliedern über die Köpfe, in die Karten und Taschen sahen und in die Ohren raunten wie Gefangenen des Volkes. […] Hoch oben um den Scheitel des Tempels, in gleicher Höhe mit jener Germania, läuft die Hauptgalerie, welche fünfzehnhundert bis zweitausend Zuschauer, Zuhörer, Zusprecher trug. Es war ein gebieterischer Anblick der Volkssouveränität.12

Die Beratungen des Vorparlaments, die Laube in den nächsten Tagen beobachtete, waren überaus turbulent, inklusive eines zeitweiligen Auszugs der äußersten Linken aus der Paulskirche, in der der zum Versammlungspräsidenten gewählte Heidelberger Rechtswissenschaftler und profilierte Liberale Karl Joseph Anton Mittermaier sich mit der Leitung der Beratungen überfordert zeigte.13 Über ihre Aufgaben waren sich die Versammelten keineswegs einig: Sowohl die Liberalen, die gerne ein vom Siebener-Ausschuss aufgestelltes gemäßigtes Reformprogramm ad hoc durchgesetzt hätten, als auch die Radikalen, für die Gustav Struve in einem 15-Punkte-Katalog für unmittelbare revolutionäre Umwälzungen plädierte, mussten ihre Pläne zurückstellen, sogleich selbst die politischen Weichen zu stellen, und beschränkten sich auf das Kerngeschäft der Vorbereitungen der Wahlen für eine deutsche Nationalversammlung. Auch über deren Modalitäten (Wahlkreisgröße, allgemeines Wahlrecht oder Wahlrechtsbeschränkungen, direkte oder indirekte Wahl) gab es heftigen Streit; allein in der Frage, wo die Nationalversammlung zusammentreten solle, war man einmütig: Mit fast einstimmigem Ruf, so hielt das Protokoll fest, wird von der Versammlung Frankfurt als dieser Ort bezeichnet.14 Wer nicht zustimmte, ist nicht überliefert, ebenso wenig, ob überhaupt über andere Orte gesprochen wurde.

Der 50er-Ausschuss

Zu den zahlreichen Streitfragen, die in den ersten Apriltagen in der Paulskirche die Gemüter erhitzten, gehörte das weitere Schicksal des Vorparlaments. Sollte es, wie es die Linken forderten, bis zur Eröffnung der Nationalversammlung zusammenbleiben, um zu verhindern, dass die Bundesversammlung das Heft des politischen Handelns in der Zwischenzeit wieder an sich riss, oder sich auflösen, nachdem alle wesentlichen Beschlüsse über die Wahlen gefasst worden waren? Die Kompromisslösung war die Wahl eines 50er-Ausschusses, der in der Übergangsphase in Frankfurt bleiben, die Durchführung der Beschlüsse überwachen und bei Gefahr das Vorparlament zurückrufen sollte. Dieser 50er-Ausschuss konstituierte sich am 4. April, einen Tag nach dem Ende der Vorparlamentsberatungen, und bezog seinen Sitz im Kaisersaal des Römers, also nicht im Bundespalast, sondern in dem Saale der Frankfurter gesetzgebenden Versammlung.15 Offenkundig sollte dies ein Signal sein, dass man fürstlicher Gastfreundschaft nicht bedurfte. Dass für Freiheitsrechte in Schlössern nur schwer zu kämpfen war, hatten die Anfänge des deutschen einzelstaatlichen Parlamentarismus in den späten 1810er und 1820er Jahren gezeigt und auch der preußische Vereinigte Landtag, zu dem König Friedrich Wilhelm IV. ziemlich genau ein Jahr zuvor Delegierte der Provinzen ins Berliner Schloss eingeladen hatte.

Seine Unabhängigkeit zu bewahren, hatte der 50er-Ausschuss in den folgenden Wochen alle Mühe: Er versuchte, dafür Sorge zu tragen, dass die Wahlen zur Nationalversammlung in den Einzelstaaten auch tatsächlich nach den Beschlüssen des Vorparlaments durchgeführt wurden, beobachtete misstrauisch die Aktivitäten der in Frankfurt benachbarten Bundesversammlung, die in ihren Bemühungen, sich selbst als Träger einer Reformpolitik zu profilieren, nicht nachließ, und er schlüpfte – freilich ohne nennenswerte Erfolge – auch noch in eine Vermittlerrolle, als Mitte April im Großherzogtum Baden die Spannungen zwischen den Gemäßigten und den Radikalen eskalierten und letztere um Friedrich Hecker einen bewaffneten Aufstand wagten, zu dessen Niederschlagung auch Bundestruppen mobilisiert wurden. Wie neben diesen großen Fragen die kleinen lokalen logistischen Probleme bei der Vorbereitung der Arbeit der Nationalversammlung gelöst wurden, verraten die Protokolle des 50er-Ausschusses nicht.16 Vermutlich lagen die Arbeiten zur weiteren Ertüchtigung der Paulskirche zum Parlamentssitz in der Verantwortung der evangelischen Kirchengemeinde – Kirchendiener Meyer ließ sich dem Vernehmen nach einen Schnurrbart wachsen,17 um sich für das neue politische Aufgabenfeld zu präparieren – und den ortsansässigen Liberalen um Binding und Jucho.

Friedrich Siegmund Jucho (1805–1884), Rechtsanwalt und Notar in Frankfurt, Teilnehmer der Heidelberger Versammlung und des Vorparlaments, Abgeordneter der Deutschen Nationalversammlung und von Juni 1848 bis Mai 1849 deren Schriftführer

Die Nationalversammlung sollte am 1. Mai 1848 eröffnet werden; allerdings konnte dieser Termin nicht eingehalten werden, da sich die Wahlen in einigen Staaten, unter anderem in Baden wegen des Aufstandes der radikalen Demokraten, verzögerten. Am 17. Mai war die Zahl der nach und nach in Frankfurt eingetroffenen Abgeordneten auf mehr als 300 angewachsen und somit nach Auffassung der Versammelten groß genug, um die Nationalversammlung zu konstituieren. Dies geschah am Folgetag mit der Wahl eines Alterspräsidenten im Kaisersaal des Römers. Das Amt fiel, nachdem die beiden noch etwas älteren Anwesenden abgesagt hatten, an den 70-jährigen Bremer Stadtsyndicus Friedrich Lang; sein Stellvertreter wurde der frühere sächsische Minister und Rittersgutbesitzer Bernhard von Lindenau. Ohne Wahl wurden die acht jüngsten Anwesenden zu Alterssekretären bestimmt.

Die Eröffnung der Nationalversammlung

Nachdem dies geschehen war, setzte sich die Versammlung in Bewegung, um im feierlichen Zuge mit entblößtem Haupte sich in die Paulskirche zu begeben. Der Austritt aus dem Römer erfolgte aus dem östlichen Portale um 4 Uhr Nachmittags, und der Zug bewegte sich unter dem Geläute aller Glocken der Stadt und dem Donner der Kanonen über den Römerberg, durch die neue Kräme, an der Börse vorbei nach dem westlichen Eingange der Paulskirche. Den Zug eröffneten Mitglieder des Frankfurter Festkomité’s unter Vortragung von zwei deutschen Fahnen; ihnen folgten die beiden Alterspräsidenten mit den Alterssekretären, denen sich die übrigen Abgeordneten zu vieren anschlossen. Von der Treppe des Römers bildete die Frankfurter Stadtwehr Spalier bis zur Kirche und empfing den Zug mit den üblichen militärischen Ehrenbezeugungen. Der Vivatruf des Volks mischte sich mit dem der Stadtwehr, und schwarz-roth-goldene Fahnen wehten zur Feier des Tages von den Häusern und Thürmen.18

Diejenigen Abgeordneten, die bereits am Vorparlament teilgenommen hatten, fanden die Paulskirche im Wesentlichen unverändert vor. Die Abgeordneten nahmen ihre Plätze in dem von einer hohen Säulenreihe eingefassten runden Schiff ein. Die Berichterstatter der Zeitungen setzte man zwischen die Säulen, die Zuhörer auf die ungeheure Emporkirche, welche auf der Säulenreihe ruht. Außerdem blieb ein beträchtlicher Raum zur Vertheilung übrig. Das sind die amphitheatralisch hinter den Säulen emporsteigenden Bankreihen. Nur in so weit sie gerade vor dem Auge des Vorsitzenden, das heißt hinter dem rechten und linken Centrum liegen, sind auch diese Bankreihen von den Abgeordneten besessen. Was dagegen auf beiden Seiten unmittelbar an die erhöhte Tribüne des Präsidiums stößt, ist zur Linken eine den Damen vorbehaltene Loge, zur Rechten bildet es eine bevorzugte Abtheilung der mit Einlaßkarten versehenen Herren und der Diplomaten.19 Die hier von dem Journalisten Robert Heller beschriebene Aufteilung findet sich auch in einem von einem Frankfurter Verlag vertriebenen Faltplan, der die Platzaufteilung im Inneren der Paulskirche zeigt: vor dem Präsidentenpodium die Rednertribüne, zu seiner direkten Rechten und Linken die Plätze der Sekretäre, vor der Rednertribüne die Arbeitsplätze der Stenographen und zu beiden Seiten dieses Parlamentsherzstücks zwischen den Säulen die Sitzplätze für die Journalisten.20

Die Säkularisierung des Kirchengebäudes war durch die moderaten Umbauten geglückt, meinte jedenfalls die Schriftstellerin Fanny Lewald, als sie im Oktober 1848 die Paulskirche besuchte: Das Gebäude ist gar nicht kirchlich, sondern eigens wie für eine Nationalversammlung errichtet. Eine schöne stattliche Rotunde, mit einem von Säulen getragenen Chor, dem eine Estrade am Fuße der Säulen entspricht. An der Stelle der Kanzel und des Altares ist die Präsidententribüne aufgerichtet. Mir fielen immerfort Herweghs vielgescholtene Worte ein: »Reißt die Kreuze aus der Erde!« – Hier ist es zum Besten eines volkstümlichen Zweckes geschehen, und die deutschen Fahnen flattern, wo sonst das Bild des Gekreuzigten hing.21

Die Raumaufteilung

Ein wesentlicher Anreiz, den Paulskirchenfaltplan zu kaufen, dürfte gewesen sein, dass er platzgenau verzeichnete, wo die einzelnen Abgeordneten in der Nationalversammlung saßen – ein unverzichtbares Hilfsmittel also für die täglich mehreren Hundert Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen. In der Paulskirche adaptierte man das in der Französischen Revolution herausgebildete Links-Rechts-Schema: links in Blickrichtung vom Präsidium aus saßen die Demokraten, rechts die Konservativen und der Mitte die Liberalen unterschiedlicher Couleur. Allerdings konnte man sich nur im Groben so orientieren, denn ein Großteil der Abgeordneten legte Wert auf Unabhängigkeit und schloss sich keiner der Fraktionen an, die sich rasch in der Nationalversammlung herausbildeten. Manche gaben auch der Bequemlichkeit den Vorzug vor der politischen Gesinnungsnachbarschaft: Der Dichter Ernst Moritz Arndt, früheres Opfer der Demagogenverfolgungen in Preußen und im Alter konservativ geworden, zum Beispiel saß zufällig vor der Linken auf einem Platz, der mir gleich anfangs sehr bequem däuchte, weil der Rednertribüne nahe, und den ich, ohne des praejudicii er judicii [Vorurteils und Urteils] zu gedenken, behalten habe, obgleich er mir nun wegen des Getobes und Gebrülls der Linken doch zuweilen lästig wird, habe einen Arzt aus Olmütz neben mir und den berühmten Robert Blum, den Kölner, hinter mir.22

Mit seinem Vergleich der Grundrechtsberatungen mit einer Grönlandfahrt inspirierte Parlamentssekretär Karl Möring diese Karikatur. Er ist links im Vordergrund abgebildet, hinter ihm stehen Parlamentspräsident Heinrich von Gagern und sein Sekretärskollege Jucho. Im Mittelpunkt der ihnen rechts gegenüberstehenden Gruppe blickt Robert Blum die Betrachter direkt an.

Unter den Abgeordneten und auch bei den Besuchern der Sitzungen scheint die Zufriedenheit mit den räumlichen Gegebenheiten groß gewesen zu sein, auch wenn sich bald bemerkbar machte, dass die Paulskirche kein parlamentarischer Zweckbau war: insbesondere im Fehlen größerer Nebenräume, das zum Beispiel die Fraktionen dazu nötigte, ihre Beratungen in nahegelegenen Gastwirtschaften abzuhalten, die rasch zu wichtigen Nebenorten des parlamentarischen Geschehens in Frankfurt wurden. Klagen hierüber, die ja auch ganz müßig gewesen wären, sind in den Protokollen der Nationalversammlung nicht zu finden. Allerdings kamen im Spätsommer 1848 Bedenken auf, ob die Paulskirche auch in der kalten Jahreszeit ein geeigneter Tagungsort sein würde, da die Kirche nicht beheizbar war – dies mochte bei Gottesdiensten kein gravierendes Problem sein, sehr wohl aber bei ganztätigen Parlamentssitzungen. Wie hier Abhilfe zu schaffen sei, hatte das Büreau des Parlaments zeitig überlegt. Am 20. September trug Sekretär Karl Möring nach der launigen Einleitung, dass man, Grönlandfahrern gleich, etwas im Eise der Grundrechte stecken geblieben sei, einen Bericht über verschiedene Angebote vor, die für einen Heizungseinbau eingegangen waren. Eine unmittelbare Beratung darüber wollte das Plenum indes nicht führen, was Mörings Co-Sekretär Jucho zu dem Einwurf veranlasste: Meine Herren! Wir können doch nicht im Kalten berathen, und in vier Wochen ist Heizung nothwendig. Wenn Sie diese Frage nicht für dringlich erklären, können wir in vier Wochen nach Hause gehen.23

Die Modernisierung der Paulskirche

Die Abgeordneten nahmen sich diesen Appell zu Herzen und berieten die Angelegenheit am 22. September. Ohne längere Aussprache folgten sie der Empfehlung des Berichterstatters Möring, dem Angebot des Baurathes Biercher aus Cöln den Vorzug zu geben. Es basierte auf dem Princip des Niederdruckes, das heißt, das Wasser wird nie über die Siedhitze erwärmt, durch ein ihm zu ertheilendes Bewegungsmoment in Circulation versetzt, dadurch die Röhren erwärmend, und so die Beheizung des ganzen Raumes vom Fußboden aufwärts erzielend. Die Kosten für die 3 getheilten Apparate berechnet Herr Biercher auf 11065 fl. rheinisch, worin eine Vergütung für den die Aufsicht beim Bau führenden Techniker mitbegriffen ist. Gleichzeitig sollte das Büreau mit dem Offerenten auch über die Verbesserung der Beleuchtung in der Paulskirche verhandeln.24

Am 9. Oktober berichtete Jucho im Plenum, dass die vorbereitenden Arbeiten für den Heizungseinbau in den Stiegenhäusern begonnen hatten; es würden allerdings noch einige Wochen erfordert, um die Arbeiten im Innern der Kirche selbst anfangen zu können; bis dahin hat es keinen Anstand, daß wir unsere Sitzungen hier in diesem Locale fortsetzen, vorausgesetzt, daß uns unvorhergesehene rauhe Witterung nicht vertreibt. Spätestens mit Beginn der Arbeiten im Saal selbst werde man aber in ein anderes Quartier umziehen müssen. Die Suche nach einem Ausweichquartier habe sich, so Jucho, sehr schwierig gestaltet: Die deutsch-reformierte Kirche wäre als nächstgroßer Versammlungsort am besten geeignet, sei aber ebenfalls nicht beheizbar. Die Nicolaikirche, der jüdische Andachtssaal und die französisch-reformierte Kirche seien zwar beheizbar, aber nicht ausreichend groß. Nach Ermessen des Büreaus blieb nun keine andere Wahl als der Saal des Hotels Weidenbusch, in dem schon mehrfach Versammlungen der Fraktionen und gemeinsame Mittagessen der Abgeordneten stattgefunden hatten. Eine genaue Vermessung des Saales habe ergeben, dass sich dort nach Abzug des Raumes für den Präsidentenstuhl und das Büreau, der Tische für die Stenographen und Secretäre 486 Abgeordnete unterbringen ließen. Allerdings werde der Raum für die Zuhörerinnen und Zuhörer äußerst beschränkt sein, denn der Saal hat, wie sie wissen, nur zwei Galerieen, und auf jeder derselben können nur 50, 60, höchstens 70 Personen Platz finden.25

Juchos Auftritte auf der Rednertribüne, die den eigenen Belangen der Nationalversammlung gewidmet waren, wurden von manchen als Wichtigtuerei wahrgenommen – so auch vom Zeichner und Texter dieser Karikatur, die ihn beim Empfang von Glückwünschen zu seiner Rede über die Heizung durch seine Familie zeigt.

Energischen Widerspruch erhielt Jucho durch Jacob Venedey, der die deutsch-reformierte Kirche für einen viel würdigeren Versammlungsort hielt als den Wirthshaussaal im Weidenbusch. Den Einwand, dass der Einbau einer Heizung in der deutsch-reformierten Kirche, auch wenn er dort einfacher zu bewerkstelligen sei als in der Paulskirche, mit Kosten verbunden sei, wollte Venedey nicht gelten lassen: Meine Herren! Ich weiß nicht, ob Sie Das so tief fühlen, wie die Sache liegt, daß wir eigentlich nicht in das Wirthshaus hineingehören, und wenn auch die Heizung ein paar Tausend Gulden mehr kostet; so kann dieß hier nicht in Anschlag kommen. Dem widersprach Maximilian Grävell: Dem Reinen ist Alles rein, und Saal ist Saal; ich denke, wir würdigen den Saal, nicht der Saal uns.26 Ob hinter dieser Meinungsverschiedenheit über die Würde des Parlaments auch politische Strategien steckten – die Sorge des Linken Venedey um den Zugang der Öffentlichkeit zum Parlament und die Hoffnung des Rechten Grävell auf ruhige Sitzungsverläufe ohne Störungen von den Tribünen –, lässt sich aus dem Protokoll nicht erschließen. Die Mehrheit der Nationalversammlung jedenfalls sah am 9. Oktober keinen Anlass, einen Grundsatzbeschluss über das Ausweichquartier zu fassen und überließ die weiteren Schritte dem Büreau. Was dieses letztlich dazu bewog, den Plan mit dem Hotel Weidenbusch fallen zu lassen und doch den Umzug in die deutsch-reformierte Kirche vorzubereiten, lässt sich anhand der Stenographischen Berichte nicht nachvollziehen. Jedenfalls ging man mit dieser Entscheidung Kontroversen aus dem Weg, die eine starke Verkleinerung der Zuschauerzahl wohl zwangsläufig innerhalb und außerhalb der Paulskirche verursacht hätte.

Im Ausweichquartier

Ihre erste Sitzung in der deutsch-reformierten Kirche hielt die Nationalversammlung am 6. November 1848 ab. Acht Tage später besuchte der Journalist Friedrich Hart eine Sitzung und zeigte sich vom Ersatzquartier wenig angetan: Das ist kein schon von außen imponierendes, mächtiges Gebäude, wie St. Pauli Dom, sondern ein unschicklich häßliches Haus, das so zwischen seine Nachbarn eingeklemmt ist, als müsse ihm, trotz seiner wunderbaren Fenstermenge, in jedem Moment der Athem ausgehen. Auch auf der Journalistentribüne angekommen, hielt die Enttäuschung an. Das Innere des provisorischen Versammlungsortes hält keinen Vergleich mit dem der Paulskirche aus. Ein hoher, viereckiger Saal mit schlechter Akustik, oben eine Galerie, unten dunkle Seitenlogen, an der Stelle der Kanzel die dreifarbig verzierte Tribüne des Präsidiums, die mächtige Orgel durch grüne Vorhänge dem Blick der Profanen entzogen – kurz eine protestantische Kirche in aller ihrer unästhetischen Nüchternheit. Man fühlt sich unwohl in einem solchen Gebäude, es mag benutzt werden, wie es wolle; welch‘ eine schaudervolle Lage muß es sein, hier den stundenlangen Sermon eines Frankfurter Pastors mit anhören zu müssen!27

40 Sitzungstage galt es in der deutsch-reformierten Kirche auszuhalten, denn die Prognose des Bauunternehmers, die Heizungsinstallation binnen vier Wochen durchführen zu können, erwies sich als zu optimistisch. Als die Abgeordneten am 28. Dezember 1848 nach einer kurzen Weihnachtspause in das Ausweichquartier der Nationalversammlung zurückkehrten, teilte ihnen der Präsident mit, dass zwar sämtliche Arbeiten in der Paulskirche bis zum 4. Januar abgeschlossen sein würden, dass zum Austrocknen der Canäle jedoch, ohne welches kein Resultat erzielt werden könne, sowie zum Putzen der Paulskirche wenigstens noch anderweite acht Tage erforderlich sein dürften; daher die Übergabe der Kirche zu den Sitzungen der hohen Versammlung erst am 12. Januar kommenden Jahres stattfinden könne.28 Immerhin dieser Termin konnte gehalten werden, und vermutlich erging es vielen Abgeordneten wie dem Breslauer Theodor Paur, den der großartige, in einfacher Pracht imponierende und nun auch in herrlicher Beleuchtung strahlende Raum, von mächtigen Säulen getragen nach der Rückkehr in leisem Erstaunen verstummen ließ.29

Lithografie nach einer Zeichnung von Jean Nicolas Ventadour: Seitenblick auf Rednertribüne und Plenum der Nationalversammlung von den Zuschauerbänken aus. Da die neue Beleuchtungsanlage zu sehen ist, muss das Bild nach Anfang Januar 1849 entstanden sein.

Eine anders geartete Erleichterung der Arbeit der Nationalversammlung als durch den Einbau der Zentralheizung und die Verbesserung der Beleuchtung ergab sich mit dem Aufbau einer Bibliothek, die ebenfalls am Jahresanfang 1849 Gestalt annahm. Sie ging zurück auf das Angebot eines Hannoveraner Buchhändlers vom Juli 1848, der der Nationalversammlung unentgeltlichen Zugriff auf sein Verlagsprogramm ermöglichte und damit weitere Verlage ermunterte, ihre Publikationen kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Was damit beabsichtigt wurde – die Schaffung des Grundstocks einer deutschen Nationalbibliothek oder nur die Anlage eines Handapparats für die Arbeitszwecke der Parlamentarier –, blieb in der Schwebe; immerhin stellte die Nationalversammlung im Oktober 1848 einen Bibliothekar ein, der die Verlagsangebote sichten, die eingehenden Buchexemplare verzeichnen und eine Bibliotheksgliederung entwerfen sollte. Mit der Rückkehr in die Paulskirche im Januar 1849 nahm auch eine dreiköpfige, den Bibliothekar unterstützende Bibliothekskommission ihre Arbeit auf, und für die Unterbringung der Bücher, deren Zahl bis Mai 1849 auf 2.000 anwuchs, wurden mehrere Schränke auf der Empore der Paulskirche aufgestellt. Die Bibliothek geriet nach dem Ende der Revolution zunächst in Vergessenheit, ist aber erhalten geblieben: 1855 wurde sie von Frankfurt in das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg verbracht und 1938 von dort nach Leipzig in die Deutsche Bibliothek.30

Hauptstadtoptionen

Auch wenn die Arbeit der Nationalversammlung seit dem Jahresanfang 1849 – zumindest den äußeren Umständen nach – bequemer wurde, war doch den allermeisten Beteiligten klar, dass der Aufenthalt in der Paulskirche weiterhin ein Provisorium war. Im März 1849 steuerten die Verfassungsberatungen, von denen wohl die Wenigsten erwartet haben dürften, dass sie fast ein ganzes Jahr in Anspruch nehmen würden, ihrem Ende entgegen. Eine offene Diskussion darüber, welches denn die künftige Reichshauptstadt und damit auch der Sitz des deutschen Nationalparlaments sein würde, hatte es bis dahin nicht gegeben, und es wäre auch sinnlos gewesen, sie zu führen, solange unklar war, wer denn das künftige Reichsoberhaupt werden würde.

Bei ganz freien Wahlmöglichkeiten hätte sicherlich Vieles für Frankfurt gesprochen: die günstige geographische Lage, die Größe von etwa 60.000 Einwohnern, mit denen die Stadt hinter den größeren Residenzen München und Dresden nur um ein Drittel zurückstand, die wirtschaftliche Potenz des Handels- und Bankenstandorts und nicht zuletzt die Tradition als ein Zentralort in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Königs- und Kaisergeschichte. Allerdings hatte sich schon früh auch die Konkurrenz in Stellung gebracht: Regensburg zum Beispiel, wo man sich erhoffte, zum Mittelpunkt eines geeinten Vaterlandes zu werden, als dort im Juli 1848 der von der Nationalversammlung zum Reichsverweser gewählte Erzherzog Johann auf dem Weg nach Frankfurt Station machte und den festlichen Empfang mit freundlichen Worten über die historische Bedeutung der Stadt quittierte. Der oberpfälzische Abgeordnete in der Paulskirche, Adolf von Zerzog, warnte die Stadtväter davor, hieraus voreilige Schlüsse zu ziehen: Was der Erzherzog zu den Regensburgern gesagt hat, haette er in dubio zu jeder Stadt gesagt. – Ich bin auch überzeugt, daß er persönlich lieber in Regensburg waere als hier, aber jetzt im Provisorium eine Verlegung zu beantragen würde geradezu für einen Narrenstreich erklaert u. verdürbe die Sache sicher.31 Allerdings konnte Zerzog damit nicht verhindern, dass Bürgerschaft und Einwohnerschaft Regensburg – die Eingabe trug mehr als 600 Unterschriften – der Nationalversammlung Ende September 1848 anboten, in die frühere Reichs- und Bischofsstadt an der Donau umzuziehen, sollte die Hohe Versammlung sich veranlaßt finden, ihren Sitz zu verändern. Wir sind gewiß, daß die Hohe Versammlung nirgends freundlicher und herzlicher aufgenommen sei, und bitten die Hohe Versammlung wolle auch ihrerseits hievon überzeugt sein.32

Eine freie Wahl des Sitzes der künftigen Nationalvertretung nach historischer Bedeutung, geographischer Lage oder Verkehrsanbindung und anderen infrastrukturellen Aspekten gab es nicht, da die Hauptstadtfrage aufs Engste mit dem Problem verknüpft war, wer an der Spitze des neu zu schaffenden Reiches stehen sollte. Als Mitte März 1849 eine knappe Mehrheit in der Paulskirche einer kleindeutsch-erbkaiserlichen Lösung zuneigte, also den preußischen König zum deutschen Kaiser erheben wollte, lag der Gedanke nahe, als Reichshauptstadt Berlin in Betracht zu ziehen, wenngleich der rüde Umgang Friedrich Wilhelms IV. mit der preußischen Nationalversammlung – sie war im November 1848 nach Brandenburg verlegt und schließlich aufgelöst worden – nicht unbedingt dazu ermuntern mochte, Berlin zum Sitz des künftigen Nationalparlaments zu machen. Ebenso erschien es problematisch, einen anderen Ort, zum Beispiel Frankfurt, als Hauptstadt und Sitz des Nationalparlaments zu bestimmen, was den prospektiven Kaiser dazu nötigen würde, außerhalb Preußens zu residieren. Da der im März 1849 von der Nationalversammlung als Kompromisspaket geschnürte Verfassungsentwurf ohnehin schon einige Fußangeln barg, die Friedrich Wilhelm IV. die Annahme der Kaiserkrone zu erschweren drohten, wich man der Hauptstadtfrage aus. Dies war auch deshalb leicht möglich, weil in der am 28. März 1849 in der Paulskirche verabschiedeten Verfassung des Deutschen Reiches gar nicht gesagt wurde, wer Kaiser werden sollte. In dem Abschnitt über das Reichsoberhaupt hieße es folglich: Die Residenz des Kaisers ist am Sitze der Reichsregierung. Wenigstens während der Dauer des Reichstags wird der König dort bleibend residieren. So oft sich der Kaiser nicht am Sitze der Reichsregierung befindet, muß einer der Reichsminister in seiner unmittelbaren Umgebung sein. Die Bestimmungen über den Sitz der Reichsregierung bleiben einem Reichsgesetz vorbehalten.33

Mit der Weigerung des preußischen Königs, auf der Grundlage der in der Paulskirche beschlossenen Verfassung deutscher Kaiser zu werden, verlor die Hauptstadtfrage zunächst ihre Bedeutung. Allerdings wurde sie schon bald wieder virulent, als die Nationalversammlung einen Alternativ- oder besser: einen Notplan entwarf, wie die Reichsverfassung doch noch in Wirksamkeit treten können. Da mehr als zwei Dutzend deutsche Staaten – freilich fast nur die kleinen – die Reichsverfassung inzwischen anerkannt hatten und es nicht ausgeschlossen schien, dass sich auch wenigstens einige der größeren noch dazu durchringen könnten, forderte sie am 4. Mai 1849 die Regierungen, die gesetzgebenden Körper, die Gemeinden der Einzelstaaten, das gesamte deutsche Volk auf, die Verfassung des deutschen Reichs vom 28. März d. J. zur Anerkennung und Geltung zu bringen. Ein wesentliches Mittel dazu war die Anberaumung von Wahlen zum ersten deutschen Reichstag, der am 22. August 1849 zusammentreten sollte, und zwar in Frankfurt a. M.,34 das damit zwar nicht noch nicht zur deutschen Reichshauptstadt werden, aber derjenige Ort bleiben sollte, von dem aus die National- und Freiheitsbewegung die Geschicke der Nation lenken wollte.

Der Beschluss, trotz des Desinteresses des preußischen Königs an der greifbar nahen Reichsgründung den Zusammentritt des Reichstags in Frankfurt zu bewirken, war in der Paulskirche nur mit ganz knapper Mehrheit gefasst worden. Die Liberalen störten sich daran, dass der Aufruf nicht nur an die verschiedenen Obrigkeiten, sondern auch an das gesamte Volk gerichtet war, was als eine Aufforderung verstanden werden konnte, der Reichsverfassung auch mit revolutionären Mitteln zur Geltung zu verhelfen. Etliche von ihnen legten in den Folgetagen ihre Mandate nieder und verließen Frankfurt; damit beschleunigte sich der Erosionsprozess der Nationalversammlung, an dem auch die gegenrevolutionären Regierungen in Berlin und Wien ihren Anteil hatten, indem sie die preußischen und die österreichischen Abgeordneten zum Austritt aufforderten. Durch die massenhaften Mandatsniederlegungen verschob sich die Mehrheit in der Paulskirche nach links, und mit jedem von den nun tonangebenden Demokraten gefassten weiteren Beschluss zur Durchsetzung der Reichsverfassung wuchs die Gefahr, dass die Nationalversammlung ihre Tätigkeit einstellen musste – auf Anordnung der Frankfurter städtischen Behörden, die unter zunehmenden Druck der preußischen Regierung gerieten, oder durch gewaltsame Vertreibung durch Bundes – oder preußische Truppen, die auf dem Weg waren, revolutionäre Aufstände in der Pfalz und in Baden niederzuschlagen.

Der Weggang aus Frankfurt

In dieser Situation beschloss die allmählich zu einem Rumpfparlament zusammenschmelzende Nationalversammlung, Frankfurt zu verlassen und ihre Arbeit andernorts fortzusetzen. Am 25. Mai verlas der demokratische Abgeordnete Karl Hagen ein Einladungsschreiben des Heidelberger Gemeinderats, der der Nationalversammlung anbot, falls sie Frankfurt zu verlassen gezwungen werde, in der Aula der dortigen Universität Quartier zu beziehen, und versicherte, dass im ganzen Lande Baden überall Ruhe und gesetzliche Ordnung ungestört erhalten ist und werde. Hagen selbst, Geschichtsprofessor an ebenjener Universität, warb damit, dass Heidelberg einem Lande angehört, welches von jeher das Banner der Freiheit vorangetragen hat.35 Brief und Hagens Erläuterungen fanden zwar ein lebhaftes Bravo in der Nationalversammlung, zur näheren Beratung kam die Einladung aber nicht, da allen die Brisanz eines Umzugs nach Baden, wo der Großherzog knapp zwei Wochen zuvor vor seinen Untertanen geflohen war und wo eine bewaffnete Konfrontation mit preußischen Truppen absehbar war, deutlich vor Augen stand.

Karl Hagen (1810–1868), Privatdozent für Geschichte an der Universität Heidelberg und politischer Publizist, Abgeordneter der Nationalversammlung für den Wahlkreis Heidelberg

Größere Plausibilität hatte ein Umzug der Nationalversammlung nach Stuttgart, wo tatsächlich noch ungestörte Ruhe herrschte und wo man sich in die Obhut eines Königs und seiner liberalen Regierung begeben würde, die die Reichsverfassung anerkannt hatten – Württemberg war das einzige Königreich, das dies getan hatte. Ein entsprechender dringlicher Antrag wurde der Nationalversammlung am 26. Mai von dem Demokraten Hugo Wesendonck vorgelegt. Er wurde an einen Ausschuss überwiesen, der am 30. Mai Bericht erstattete und die Verlegung nach Stuttgart empfahl; bereits die nächste Sitzung sollte dort stattfinden. Hiergegen wurden verschiedene Bedenken laut: Noch sei die Nationalversammlung nicht unmittelbar bedroht, und sie solle nicht vorzeitig die Flucht ergreifen, was ihrem Ansehen schaden würde, meinten die einen, und andere beschworen die Gefahr einer unwiderruflichen Spaltung der Nationalversammlung in rechts und links, wenn sie sich in den Südwesten, der ganz in revolutionärem Aufruhr zu versinken drohe, begebe. Aber auch die enge Bindung der Nationalversammlung an Frankfurt wurde betont, am nachdrücklichsten von dem aus Württemberg stammenden, aber seit kurzem als Professor in Freiburg tätigen fraktionslosen Abgeordneten August Gfrörer: Meine Herren! Der Vorschlag, die Nationalversammlung von hier nach Stuttgart zu verlegen, scheint mir gefährlich, ja er scheint mir ein Vergehen am Reichstage selbst und am deutschen Vaterlande. Meine Herren! Diese Versammlung hat bis auf den heutigen Tag den Charakter einer deutschen durchaus bewährt, nun, meine Herren, seien Sie überzeugt, daß dieser deutsche Charakter wesentlich mitbedingt ist durch den Ort, an dem wir uns befinden. Frankfurt ist eine alte Kaiserstadt und tief in die Farben unserer Nationalerinnerungen getaucht. (Heiterkeit.) Lachen Sie nicht, meine Herren, die Erinnerungen sind eine große Macht und dieselben haben vielmehr auf unsere Verfassungsarbeiten eingewirkt, als Vielen von Ihnen lieb war. (Stimmen: Sehr wahr!) Weiter liegt Frankfurt an der Markscheide des Südens, Nordens, Ostens und Westens, und Sie wissen, meine Herren, daß der Süden und Norden nicht zum Besten gegen einander steht. Man muß dem einen Theile den Ort der Reichsversammlung so nahe rücken als dem andern. Endlich hat die Stadt Frankfurt Vieles von ihren alten Freiheiten bewahrt, hier gibt es keinen Hof, der auf die Beschlüsse des Reichstags einwirkt, hier gibt es nicht einmal eine Bevölkerung, die in einem schadlosen Sinne bearbeitet werden könnte. Diese Stadt ist so glücklich organisirt, so wohlhabend und reich, daß allhier sich selbst nach größter Aufregung in kurzer Zeit Alles ins Gleichgewicht setzt. – Gehen Sie weg von diesem Orte, so wird sich, so muß sich der Charakter unserer Versammlung bedeutend ändern.36

Ganz ähnlich argumentierte der Tübinger Ludwig Uhland, der ebenfalls die günstige Lage Frankfurts an der Linie, wo Süd und Nord des deutschen Vaterlandes sich berühren, betonte und die neutrale Stellung der Freien Stadt. Für Uhland kam noch hinzu, dass die Nationalversammlung weitere Autoritätseinbußen erleiden werde, wenn sie sich, was bei dem Umzug nach Stuttgart zwangsläufig geschehen werde, weiter verkleinere. Bereits jetzt habe man das Quorum für die Beschlussfähigkeit auf ein gerade noch erträgliches Maß abgesenkt. Die Vertretung einer großen Nation müsse auch einen Körper haben, sie kann nicht als bloße Idee lebendig und wirksam sein. Ich wünsche nun nicht, meine Herren, daß wir einen weiteren Theil der Versammlung durch den vorgeschlagenen Beschluß austreiben, einen achtbaren Theil, der hiergeblieben ist und hierbleiben will, unerachtet er sich in beträchtlicher Minderzahl befindet. Vom Nachrücken von Stellvertretern für die Ausgeschiedenen oder von Ersatzwahlen versprach sich Uhland wenig. Die Nationalversammlung würde in Stuttgart geschwächt auftreten und, statt die süddeutsche Bewegung zu lenken, sich in einen von ihr beherrschten und bewältigten Winkelconvent verwandeln.37

Gfrörer und Uhland drangen mit ihren Plädoyers, die Nationalversammlung solle in Frankfurt bleiben, bei der Mehrheit nicht durch. In der Abstimmung setzten sich die Verlegungsbefürworter mit 71 gegen 64 Stimmen bei vier Enthaltungen durch. Zu den Unterlegenen zählte auch der Parlamentspräsident Theodor Reh, der unmittelbar nach der Abstimmung von diesem Amt zurücktrat, da er selbst nicht mit nach Stuttgart gehen wollte. Als er diese Entscheidung motivieren wollte, kam es zu erheblicher Unruhe im Plenum und auch zu der Forderung, ihm das Wort zu entziehen.38 In dem Durcheinander und in der vergifteten Atmosphäre schaffte es sein Stellvertreter Wilhelm Loewe nicht, ein würdiges Fazit der etwas mehr als ein Jahr währenden Arbeit der Nationalversammlung in Frankfurt zu ziehen. Auch der Dank an die Stadt für ihre politische Gastfreundschaft blieb an diesem Tag unausgesprochen.

Frankfurt als möglicher Bundessitz 1948/49

Seit dem 1. Juni 1849 war die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt ein Thema der politischen Erinnerung, auch wenn der Umgang mit ihren sachlichen Hinterlassenschaften inklusive Archiv und Bibliothek, um deren Sicherung sich der frühere, nicht nach Stuttgart übergesiedelte Sekretär Friedrich Siegmund Jucho als parlamentarischer Nachlassverwalter kümmerte,39 noch bis Anfang der 1850er Jahre städtische Obrigkeit und Deutschen Bund beschäftigte. Bis die Option wiederauflebte, dass Frankfurt zu einem politischen Zentralort in Deutschland werden könne, sollten fast 100 Jahre vergehen. In den Diskussionen des Parlamentarischen Rats 1948/49 über den künftigen Bundessitz – der Begriff Hauptstadt wurde mit Blick auf die deutsch-deutsche Teilung vermieden – kristallisierten sich bald Bonn und Frankfurt als Rivalen heraus. Für Bonn optierte die Mehrheit der CDU, für Frankfurt die Mehrheit der SPD. Als in der Sitzung des Ältestenrates am 5. November 1948 der Frankfurt Stadtrat Wilhelm Fay für die Mainmetropole warb, argumentierte er ganz nüchtern mit der Zahl der D-Zug-Verbindungen und Bürokapazitäten, kam aber auch auf die politischen Traditionen zu sprechen. Er ging dabei auch auf die gelegentlich diskutierte Idee ein, die Paulskirche wieder als Parlament zu nutzen, verfocht sie aber weniger als halbherzig: Sie wissen, daß Frankfurt, vor allem in Erinnerung an das Jahr 1848, die zerstörte Paulskirche als ein Denkmal, als ein Symbol der deutschen Demokratie wiedererrichtet hat. Es mag vielleicht einmal der Gedanke gewesen sein, in der Frankfurter Paulskirche auch die künftige deutsche Volksvertretung versammelt zu sehen. Gegen den Plan sprechen, so sehr er uns am Herzen liegt, praktische und politische Erwägungen. Ich habe deshalb nur die Ehre, Ihnen zu sagen, wenn Sie das Gebäude der Paulskirche für das Parlament wünschen, steht es Ihnen zur Verfügung. Was dem Gebäude fehlt, sind die büromäßigen Einrichtungen. Sie sind herstellbar, weil nur 50 Schritte von der Paulskirche entfernt das große, wenn auch zurzeit nur teilweise benutzbare Gebäude des Rathauses-Nordbau steht, das in zwei, drei Monaten völlig hergerichtet, als das Arbeitsgebäude des Parlaments benutzt und gegebenenfalls sogar durch eine Brücke mit der Paulskirche verbunden werden könnte. Wenn Sie den Wunsch haben, stehen diese beiden Gebäude zu ihrer Verfügung.40

In der Aussprache fand der offenkundig nur pro forma vorgetragene Vorschlag der Nutzung der Paulskirche keine Sympathien. Theodor Heuss plädierte dafür, dass sowohl in der Presse als auch in diesem Kreis hier die Idee der Paulskirche totgeschlagen werden müsse. Diese Idee ist eine vollkommene Unmöglichkeit. Ich habe gerade zufällig in der vorigen Woche in der Paulskirche zu sprechen gehabt. Das ist für ein modernes Parlament überhaupt nicht zu diskutieren. Es ist ein großer kalter Versammlungsraum. Es ist gar nicht denkbar, daß dort ein parlamentarisches Leben stattfindet. Bei vielen Kollegen ist die Idee vorhanden, die Paulskirche sei eine greifbare Sache. Diese Idee muß vernichtet werden. Dem stimmte Konrad Adenauer, der ohnehin jede Frankfurter Lösung verwarf, voll und ganz zu: Nachdem Frankfurt – von dort aus wurde der Gedanke propagiert – von dem Gedanken abrückt, wird wohl in diesem Hause keiner mehr sein, der den Gedanken aufgreift. Wer die Paulskirche kennt, teilt vollkommen Ihre Meinung.41 Damit war ein Comeback der Paulskirche als parlamentarischer Ort ausgeschlossen, und ein halbes Jahr später, am 10. Mai 1949, wurde auch klar, dass Frankfurt – mit einem anderen Parlamentssitz – den nationalen Hauptstadtstatus, den es 1848/49 für ein Jahr faktisch und interimistisch innegehabt hatte, nicht erreichen würde. Bei der Abstimmung im Plenum des Parlamentarischen Rats über den künftigen Bundessitz unterlag Frankfurt Bonn mit 29 gegen 33 Stimmen.42

2.Die Abgeordneten

Das Kollektiv der Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung ist schon von Zeitgenossen und auch in der historischen Forschung immer wieder kritisch betrachtet worden. Der radikale Demokrat Georg Herwegh dichtete im Spätsommer 1848 im Exil: Zu Frankfurt an dem Main – / Die Wäsche wird nicht rein; / Sie bürsten und sie bürsten, / Die Fürsten bleiben Fürsten, / Die Mohren bleiben Mohren / Trotz aller Professoren – / Im Parla- Parla- Parlament / Das Reden nimmt kein End‘!43 und trug mit seinen Versen dazu bei, dass sich das Bild der Paulskirche als eines »Professorenparlaments« verfestigte – einer Versammlung weltfremder oder doch wenigstens zu praktischen Dingen untauglicher Laienpolitiker, die ihrer Stubengelehrsamkeit freien Lauf ließen, um eine Papierverfassung bis in die letzten Unterparagraphen auszubuchstabieren. Das Etikett ist nicht ganz falsch, denn mit ungefähr 90 stellten die Professoren einen beachtlichen Anteil unter den 809 Abgeordneten44 (inklusive nachgerückten Stellvertretern und Nachgewählten), die an Sitzungen in der Paulskirche bzw. im Rumpfparlament in Stuttgart teilnahmen. Allerdings waren nur knapp 50 von ihnen – da auch etliche Gymnasiallehrer einen Professorentitel führten – Universitätsprofessoren. Dass die Professoren über die Zahl hinaus das Bild der Nationalversammlung prägten, erklärt sich durch den Vertrauensvorschuss, den sie im Parlament genossen und der ihnen den Zugang zu wichtigen Positionen zum Beispiel in den Ausschüssen und den Fraktionen ermöglichte, aber auch durch ihre rhetorischen Erfahrungen, die ihnen in einem Parlament, in dem das gesprochene Wort das wichtigste Machtmittel war, einen Startvorteil verschafften.45

Aussagekräftiger als der Begriff »Professorenparlament« sind andere: »Akademikerparlament«, denn mehr als drei Viertel der Abgeordneten hatten eine Universitätsausbildung, »Juristenparlament«, denn der bei weitem größte Teil der Studierten unter ihnen hatte Rechtswissenschaften belegt, oder »Beamtenparlament«, denn mehr als die Hälfte der Abgeordneten waren Staatsdiener. Die Konsequenzen hieraus hat der Historiker Wolfram Siemann überspitzt, aber zutreffend formuliert. Die studierten Juristen in der Paulskirche verdankten ihre Grundbegriffe und Wertungen über den Staat ihrerseits dem Staat, und mit Blick auf die hohe Beamtenquote: Ob Professor, Richter oder Diplomat: im Dienst des Staates zu stehen bedeutete, abhängig zu sein, hieß, für zu laute Opposition das Amt einzubüßen.46 Ermittelt man aus Ausbildung, Beruf und Wohnort die soziale Stellung, so ist die Nationalversammlung als ein fast rein bürgerliches Parlament zu klassifizieren und noch genauer als ein weit überwiegend bildungsbürgerliches. Knapp 150 Freiberuflern, darunter der mit Abstand größte Teil Rechtsanwälte, standen nur gut 50 Angehörige des Wirtschaftsbürgertums (Fabrikanten, Kaufleute, Verleger) gegenüber. Die Landwirte – die allermeisten größere Grundbesitzer und keine einfachen Bauern – zählten weniger als 50, und die Zahl der Handwerker belief sich auf vier. Das Kleinbürgertum war in der Paulskirche nur schwach vertreten, und die Unterschichten gar nicht. In der Diktion der DDR-Geschichtswissenschaft, deren jüngste einschlägige Publikation 1985 veröffentlicht wurde, lautete die Analyse der sozialen Zusammensetzung: Zwar waren mehr als 90 Prozent der Abgeordneten Vertreter des antifeudalen Lagers, aber nur 20 Prozent waren Interessenvertreter des Volkes.47 Ein Abbild der Gesamtbevölkerung stellten die Abgeordneten am ehesten mit ihrer Konfessionszugehörigkeit dar. Protestanten und Katholiken waren ungefähr nach der Gesamtverteilung vertreten, und auch die religiösen Minderheiten und Reformbewegungen in den Großkirchen fanden ihren Platz: Juden, Mennoniten, Griechisch-Orthodoxe, Deutschkatholiken und protestantische Lichtfreunde.

Delegieren oder wählen?

Um die Besonderheiten der Zusammensetzung der Nationalversammlung zu erklären, sind die Umstände ihrer Entstehung näher zu betrachten: Wie eingangs erwähnt, erfolgte der erste Schritt auf dem Weg zur Paulskirche in Heidelberg, wo am 5. März 1848 49 Oppositionelle unterschiedlicher politischer Couleur quasi in privater Initiative berieten, was nun zu tun sei, als sich die Nachrichten von der Revolution in Paris in ganz Deutschland verbreitet hatten. Radikale und gemäßigte Versammlungsteilnehmer waren sich einig, dass eine Nationalvertretung möglichst bald zustande kommen müsse – damit waren die Grenzen der Einigkeit aber auch schon erreicht. Ja, selbst in der Frage, ob diese Nationalvertretung gewählt werden solle, gab es unterschiedliche Auffassungen.

Georg Gottfried Gervinus, bekannt als einer der Göttinger Sieben, die dem reaktionären König Ernst August von Hannover die Stirn geboten und ihre Professuren verloren hatten, schlug vor, dass jede deutsche Ständeversammlung den zehnten Teil ihrer Mitglieder zu einer Gesamtvertretung abordnen solle, der dann in drei Wochen ein Verfassungsentwurf vorgelegt werden solle.48 Einen ähnlichen Plan trug Heinrich von Gagern vor: Das kürzeste sei, wenn die Kammern wählen und zwar einen Abgeordneten auf 100 000 Seelen. Außerdem sollten die größeren Städte noch besonders vertreten sein.49 Welche Bedenken hiergegen vorgebracht wurden, geht aus den wenigen Quellen, die von den Heidelberger Beratungen überliefert sind, nicht hervor; sie liegen aber auf der Hand: Die Landtage der Einzelstaaten, die entweder aus ihren eigenen Reihen oder ganz frei die Nationalvertreter auswählen sollten, verdankten ihre Existenz Wahlrechtsbeschränkungen unterschiedlicher Form und nicht selten auch Wahlmanipulationen, außerdem beherbergten sie in großer Zahl Adelige und andere Privilegierte, die selbst von niemandem gewählt worden waren. Die Legitimation der Landtage, die Nationalvertreter auszuwählen, war also fadenscheinig.

Die in Heidelberg Versammelten legten sich in der Frage, von wem die Nationalvertretung gewählt werden solle, nicht fest und überließen die Entscheidung dem einzuberufenden Vorparlament. Diesem sollte der in Heidelberg eingesetzte Siebener-Ausschuss allerdings hinsichtlich der Wahl Vorschläge unterbreiten. Als das Vorparlament am 31. März 1848 seine Beratungen in der Paulskirche aufnahm, lag den 574 versammelten Männern, die ihrerseits die Nation sehr ungleichmäßig repräsentierten – der Südwesten war stark, Preußen vergleichsweise schwach und Österreich praktisch gar nicht vertreten –, tatsächlich ein knappes Programm des Siebener-Ausschusses vor, das allerdings wiederum eine klare Vorgabe vermied: Zwar skizzierte es die Grundzüge der Verfassung des künftigen Nationalstaats, der ein Haus des Volks haben sollte,