Tatort Himmelsscheibe - Thomas Schöne - E-Book

Tatort Himmelsscheibe E-Book

Thomas Schöne

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Beschreibung

Der Fund der „Himmelsscheibe von Nebra“ hat die Archäologie aus ihrem Schattendasein hervorgeholt. Doch was genau ist die Himmelsscheibe? Ist sie überhaupt echt? Und wenn ja, ist sie tatsächlich der Schlüsselfund, der uns Menschen zwingt, die eigene Geschichte zu überdenken? Diese und andere Fragen beschäftigen die Öffentlichkeit weltweit und entsprechende Schlagzeilen sorgen ständig für Aufregung. Dieses Buch erzählt die spannende Geschichte vom Fund bis zur Rettung der „Himmelsscheibe von Nebra“ und schildert die Hintergründe und Auswirkungen der Himmelsscheibenforschung auf das moderne Geschichtsbild. Für die Nachauflage hat der Autor die neusten Fakten zusammengetragen und Landesarchäologe Harald Meller ein aktuelles Vorwort verfasst.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vorwort zur 6. Auflage

Prolog

I.   Sternstunde in Basel

II.  Drei Jahre zuvor

Raubgräber

Hehler und Gelehrte

Geschäft in drei Raten

III. Geheimoperation Scheibe

Ein Besuch mit Folgen

Phantombilder

Planspiele

Die Uhr läuft

Hinter den Kulissen

Die Kontaktperson

Eine Museumsgaststätte

In der Falle

Ein Keller am Niederrhein

IV. Zu Hause

Fundortsuche

Die Himmelsscheibe von Nebra

Name und Marke

Die Himmelsscheibe beschäftigt die Justiz

Der Code der Himmelsscheibe

Echt oder falsch?

Ein bizarrer Prozess

Das Urteil

Neue Möglichkeiten

V.  Die Geschichte geht weiter

Das Material der Himmelsscheibe

Rätsel und Auszeichnungen

Fürst der Himmelsscheibe

Neue Forschungsmethoden

Der Ursprung des Wissens auf der Himmelsscheibe

Neuer Streit der Forscher

Tourismus, Kultur, Kunst

Epilog

Danksagung

Bildnachweis

Vorwort

Die Himmelsscheibe von Nebra ist ein Jahrhundertfund und hält, seit sie 2002 in das Licht der Öffentlichkeit gerückt ist, die Menschen in Atem. Neben der kriminalistischen und juristischen Aufarbeitung der Entdeckungs- und Fundgeschichte ist die wissenschaftliche Enträtselung der Himmelsscheibe ein Prozess. Die Materialuntersuchungen der letzten Jahre bestätigten erneut die Echtheit des Fundes. Wir wissen jetzt, dass das Gold und das Zinn aus dem englischen Cornwall stammen und das Kupfer in der Legierung aus der Region Mitterberg bei Bischofshofen in Österreich kommt. Die Bedeutung des Artefakts ist international gewürdigt worden. Am Haupteingang des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle erinnert ein viereckiges Emailleschild daran, dass die Himmelsscheibe von Nebra seit 2013 im Unesco-Dokumentenerbe »Memory of the World« steht.

Die Himmelsscheibe fasziniert durch ihre einmalige Bildhaftigkeit und die Überlieferung des Weltbildes aus einer schriftlosen Zeit. Damit haben wir zum ersten Mal Einsicht in ein kosmisches Modell der vorgeschichtlichen Kulturen und zugleich einen komplexen Einblick in die geistige Welt Mitteleuropas. Die bronzezeitlichen Menschen haben sich bereits die Erde als flache Scheibe vorgestellt, die von einem Himmel kuppelförmig überwölbt wird. Dieses Modell von der Welt wird erst 1.000 Jahre später durch den griechischen Philosophen, Astronomen und Mathematiker Thales von Milet (ca. 624 – ca. 546/45 v. Chr.) beschrieben. Ähnliche Überlegungen von der Welt wurden auch im alten Ägypten, in Persien und in der Bibel verwendet.

Durch die in ihrem Bild mehrfach codierten Informationen erhalten wir schlaglichtartig Einblicke in die astronomischen Kenntnisse des bronzezeitlichen Menschen, die wir weder aus Kalenderbauwerken wie Stonehenge noch aus der Orientierung von Grabfunden oder anderen bisherigen Zeugnissen der Archäoastronomie erschließen konnten. Diese altbekannten Quellen müssen nach der Entdeckung von Nebra in einem völlig neuen Licht gesehen werden.

Dass wir die Himmelsscheibe von Nebra wissenschaftlich bewerten können, verdanken wir dem Happy End einer Kriminalgeschichte, die mit der Entdeckung im Sommer 1999 begann und mit der Sicherstellung der Himmelsscheibe im Februar 2002 sowie der Überstellung an das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle endete.

Es ist ein Glücksfall, dass die Himmelsscheibe nicht als kunstgeschichtlich interessanter, aber wissenschaftlich nicht zu bewertender Gegenstand in einer privaten Sammlung oder einem ausländischen Museum verblieb. Vielmehr kennen wir heute durch ausgezeichnete polizeiliche Ermittlungen sowie intensive Forschungsarbeit und das Sammeln von Indizien nicht nur den exakten Fundort, sondern auch die detaillierte Fundgeschichte und Hehlerkette. Darüber hinaus ist die Zusammengehörigkeit des Fundes als gesichert zu betrachten. All dies – die Konsistenz des Fundzusammenhanges, die Fundgeschichte sowie die Kenntnis des Fundortes – erschließt in seiner wissenschaftlichen Bewertung das ungeheure Aussagepotenzial dieses Schlüsselfundes.

Dem Autor ist es zu verdanken, die Geschichte zu einer Zeit recherchiert zu haben, als die Ereignisse noch frisch waren und die Protagonisten sie erzählen konnten. Hilfreich waren die Prozesse, in denen so manches Detail erwähnt wurde. Das erkannte Thomas Schöne wie kein anderer und absolvierte die zahllosen Prozesstage mit unendlicher Geduld. Das vorliegende Buch ist das bislang einzige Werk, welches die Fakten im Zusammenhang konkret wiedergibt.

Von der Leserschaft wurde dies honoriert. Das Buch liegt erfreulicherweise jetzt in vierter Auflage mit neuem Einband vor. Als ich damals noch in der Entstehungsphase des Buches um ein Vorwort gebeten wurde, habe ich selbstverständlich gerne die Zustimmung gegeben. Als ich dann jedoch bei der Durchsicht der ersten Fassung feststellen musste, dass in dem Manuskript meiner eigenen Person eine nicht unwichtige Rolle zukommt, erfassten mich gewisse Zweifel. Gab ich doch stets der Wissenschaft und der Betonung der Bedeutung des Fundes und nicht meiner Person den Vorrang in der Darstellung der Dinge. Da ich aber nun einmal durch die geschilderten Aktionen mit der Fundgeschichte verbunden bin und ein Versprechen nicht brechen wollte, mögen diese Zeilen das spannende Buch von Thomas Schöne einleiten.

Harald Meller

Halle (Saale), Juli 2015

Vorwort zu 6. Auflage

Als die Himmelsscheibe von Nebra im Februar 2002 für Sachsen-Anhalt gerettet wurde, begann ein nunmehr über 20 Jahre andauernder Forschungsprozess, der von großem internationalem Interesse in Wissenschaft und Öffentlichkeit begleitet wird. Die Faszination Himmelsscheibe ist bis heute ungebrochen. Der Journalist Thomas Schöne hat die Geschichte der Erforschung dieses Jahrhundertfundes von Beginn an begleitet. Mit der ihm eigenen Akribie verfolgte er den Fortschritt der Forschung und legt sein Buch zur Himmelsscheibe nun bereits in der 6. Auflage vor.

Schöne begreift das Thema als offene Geschichte und hat damit den Nerv der Leserschaft getroffen. Das Sachbuch ist mit der Neuauflage auf dem aktuellen Stand. Die Kriminalgeschichte um die Rettung des bedeutenden Funds bleibt im Mittelpunkt. Die Detailtreue stützt sich auf den enormen Rechercheaufwand, der die Stärke des gesamten Buches darstellt. Nüchterne Fakten werden in einer dramaturgisch gegliederten Erzählform präsentiert, die den Leser unmittelbar ins Geschehen zieht.

Nachdem die Untersuchungen der letzten Jahre die Echtheit des Fundes und seine Datierung in die Frühbronzezeit wiederholt bestätigt haben, konzentriert sich die Forschung auf die weitere Analyse. Die Himmelsscheibe fasziniert durch ihre einmalige Bildhaftigkeit und die Überlieferung eines Weltbildes einer schriftlosen Zeit. Sie gewährt überraschende Einblicke in das astronomische Wissen und die komplexe geistige Welt der Aunjetitzer Kultur – einmalig in der schriftlosen mitteleuropäischen Vorgeschichte.

Durch die intensive Forschung der vergangenen Jahrzehnte wissen wir heute viel über die Zeit, in der die Himmelsscheibe entstand. Hier gab es in der Bronzezeit mächtige Herrscher, deren Grablegen wir aus den Hügelgräbern von Leubingen und Helmsdorf und dem neu untersuchten Bornhöck kennen. Sie geben uns eine Vorstellung von den Herrscherpersönlichkeiten, die die Himmelsscheibe von Nebra herstellen ließen.

Gleiches gilt für die spektakulären Ergebnisse der Ausgrabungen in der Kreisgrabenanlage von Pömmelte bei Magdeburg, die überzeugende Parallelen zu Stonehenge aufweisen und uns, da älter als die Himmelsscheibe, die religiösen Rahmenbedingungen ihrer Herstellung besser verstehen lassen. Hier liegt auch die bisher größte bekannte Siedlung der Aunjetitzer Kultur.

Es ist ein Glücksfall, dass die Himmelsscheibe nicht als kunstgeschichtlich interessanter, aber wissenschaftlich nicht zu bewertender Gegenstand in einer privaten Sammlung oder einem ausländischen Museum verblieb. Vielmehr kennen wir heute durch ausgezeichnete polizeiliche Ermittlungen sowie intensive Forschungsarbeit den exakten Fundort, die Fundgeschichte und den Fundzusammenhang. All dies begründet das ungeheure wissenschaftliche Aussagepotenzial dieses Schlüsselfundes.

Die Himmelsscheibe mit ihrer einmaligen Verbindung von Astronomie und Archäologie wird auch zukünftig die Aufmerksamkeit der Menschen fesseln und ihre Fantasie anregen. Seit 2013 ist der Fund Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes »Memory of the World«. Ein viereckiges Emailleschild am Haupteingang des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle weist die Besucherinnen und Besucher darauf hin. Für das Land Sachsen-Anhalt ist die Himmelsscheibe ein Glücksfall, der die Kultur- und Tourismusbranche beflügelt.

Dem spannenden Buch von Thomas Schöne sei weiterhin Erfolg gewünscht.

Harald Meller

Halle (Saale), März 2024

Prolog

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fällt und Deutschland die Wiedervereinigung feiert, schlägt unbeachtet von der Öffentlichkeit auch die Stunde einer ganz besonderen Spezies: der Raubgräber und ihrer Hehler. Straff organisiert, ausgerüstet mit detaillierten Karten und modernster Technik, fallen sie in den Wirren der Wendezeit lautlos in Ostdeutschland ein.

Ihre High-Tech-Sonden orten das kleinste Stück Metall noch in mehreren Metern Tiefe. Mit Hacke und Spaten durchwühlen sie den geschichtsträchtigen Boden Mitteldeutschlands. Sie graben unzählige Löcher, bohren Hügelgräber auf, plündern bronzezeitliche Wallanlagen und verwüsten mittelalterliche Burgen. Wer sie überrascht, schwebt nicht selten in Lebensgefahr.

Die ostdeutschen Archäologen hatten den Raubgräbern, ohne es zu ahnen, umfangreiche Vorarbeit geleistet. Über 40 Jahre lang, abgeschottet hinter dem »Eisernen Vorhang«, wurde kartiert und Fundstellen akribisch beschrieben und in Fachbüchern veröffentlicht. Nach der Wende ist dieses Wissen frei zugänglich und heiß begehrt.

Innerhalb weniger Jahre sind alle bekannten Stellen geplündert. Mitte der 90er Jahre sind die archäologischen Jagdgründe erschöpft, die Tage des schnellen Geldes aus massenhaften Funden sind vorbei, die Suche wird immer zeitaufwendiger. Die meisten westdeutschen Raubgräber ziehen sich aus dem Osten zurück. Gleichzeitig denkt der harte Kern der Szene um, statt selber zu graben, beauftragen sie Ostdeutsche mit der mühsamen Arbeit vor Ort. Das Raubgräbergeschäft kennt keine Nachwuchssorgen. Es sind meist junge Männer, arbeitslos, ohne Perspektive, aber mit großen Hoffnungen. Anwerbungen laufen hauptsächlich über Mundpropaganda im Bekanntenkreis. Auf regelmäßig stattfindenden »Schatzgräbertreffen« wird diesen Leuten Abenteuer und das schnelle Geld versprochen.

Die Auftraggeber sagen: »Wir kaufen euch jeden Fund garantiert ab, es gibt kein Risiko.« Die Hintermänner verkaufen den angeworbenen Raubgräbern moderne Metallsuchgeräte. Diese Sonden orten nicht nur Metall, sondern können mittlerweile auch zwischen verschiedenen Metallen unterscheiden. Die Technik signalisiert dem Sucher durch die Art des Pfeiftones, ob es sich wirklich lohnt zu graben.

Die Ostdeutschen kennen ihre Heimatgegend genau und sind deshalb so erfolgreich. Fundstück um Fundstück holen sie aus dem Boden. Die Geschäfte laufen über geheime Handy-Nummern. Und die westdeutschen Händler kaufen ihnen tatsächlich jeden Fund ab – doch sie diktieren auch die Preise. Die Ausgräber erhalten nur einen Bruchteil des Wertes, den die Ware auf dem grauen Kunstmarkt erzielt. Das funktioniert nur, weil die westdeutsche Szene streng abgeschottet den Markt beherrscht. Die ostdeutschen Handlanger haben keinen Zugang zum illegalen Vertrieb und zu den über Jahrzehnte gewachsenen Beziehungen zu Gelehrten, Museen und reichen Sammlern. Die Raubgräber der ehemaligen DDR haben kaum eine Chance, ihre Ware direkt zu verkaufen. Wie einst die Azteken müssen sie ihre Schätze an die Aufkäufer zu deren Knebelkonditionen verschleudern.

Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass der Verlust in Mitteldeutschland im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung einige Zehntausend Pretiosen und Artefakte umfasst. Besonders im südlichen Sachsen-Anhalt, in den Wäldern um Nebra und Memleben, findet sich ein Raubgräberloch neben dem anderen, an manchen Stellen sieht die Gegend so löchrig aus wie ein Schweizer Käse.

Ihre Beute verschieben die westdeutschen Händler über ein engmaschiges Netz von sogenannten Absatzhelfern. Zudem werden wissenschaftliche Mitarbeiter, Archäologen und Professoren bezahlt, damit sie die Echtheit der Funde überprüfen, Expertisen schreiben und den finanziellen Wert der Ware beziffern. Beliebte Hauptumschlagplätze für die Hehlerware sind Frankfurt am Main und die Schweiz. Auf Auktionen wird die heiße ostdeutsche Ware verkauft und landet häufig in den Tresoren von reichen Sammlern in den USA und Japan.

Mit den materiellen Schäden einher geht ein Totalverlust an wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Archäologen in den neuen Bundesländern stehen den gut organisierten Raubgräberbanden machtlos gegenüber und müssen erleben, wie das Gedächtnis der Menschheit Stück für Stück ausgelöscht wird.

Niemand weiß heute genau, wie viele unschätzbare archäologische Funde, wie viel Gold und Bronze aus den ostdeutschen Gebieten stammen. Der Umfang der Plünderungen kann nur erahnt werden, die Stücke sind über die ganze Welt verstreut.

Die »Himmelsscheibe von Nebra« wurde glücklicherweise gerettet, aber sie lässt uns besonders schmerzlich erahnen, was wir verloren haben, möglicherweise eine zweite Himmelsscheibe, mit Sicherheit aber einen großen Teil unserer Vergangenheit und Identität.

Dieses Buch erzählt erstmals komplett die spannende Geschichte der Rettung der Himmelsscheibe. Quellen sind, neben persönlichen Gesprächen des Autors mit Archäologen, Physikern, Chemikern, Astronomen, Juristen und Kriminalbeamten, die Aussagen der Zeugen und Angeklagten vor dem Amtsgericht in Naumburg im Jahr 2003 und im Berufungsprozess vor dem Landgericht in Halle in den Jahren 2004 und 2005. Die Namen der Raubgräber, Hehler und deren Helfer sowie die Namen von Journalisten, Polizisten sowie Ermittlern und Beamten in den Ministerien wurden geändert und bei ihrer Ersterwähnung mit Sternchen versehen.

I. Sternstunde in Basel

Eigentlich hätte der Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, Dr. Harald Meller, vor Glück ganz außer sich sein müssen. Vor ihm liegt eine jahrtausendealte, grünlich schimmernde Bronzescheibe. Die Vorderseite ist grob gereinigt, die Rückseite mit einer hellen, knochenharten Substanz verbacken. Meller sitzt mit einer Frau und einem hageren, schweigsamen älteren Mann an einem Tisch in der Hotelbar des Hilton in Basel.

Meller sagt später: »Ich hatte dann die Scheibe in den Händen. Ihre bildnishafte Qualität überwältigte mich, ich war fasziniert. Ich bin ein rational denkender Wissenschaftler, aber dieser Moment war der größte in meinem bisherigen Leben. Das ist einer der wichtigsten archäologischen Funde überhaupt, weil er etwas darstellt, was wir nie erwartet hätten, nämlich die erste konkrete Himmelsabbildung der Welt. Das Bild auf der Scheibe gibt Einblick in die frühen astronomischen und religiösen Vorstellungen des Menschen. Über die Entstehungszeit der Scheibe wissen wir nichts, aber sie war nicht länger als 400 Jahre im Umlauf, bevor sie vor 3.600 Jahren vergraben wurde. Die Menschen, die solche Schätze vergraben, gibt es nur in Mitteldeutschland, es sind singuläre Menschengruppen, hier gibt es für sie Salz, gute Böden und im Harz Erzlagerstätten. Auf der Scheibe ist ein 3.000 Jahre älteres Wissen aus der Steinzeit verdichtet abgebildet, später kamen religiöse Umdeutungen hinzu.«

Der Landesarchäologe Meller ist zu diesem Zeitpunkt Teil einer verdeckt operierenden deutsch-schweizerischen Fahndungsgruppe. Ziel der Fahnder ist es, einen vor Jahren in Sachsen-Anhalt von Raubgräbern entdeckten sagenhaften Bronzeschatz mit einer einmaligen Scheibe vor dem illegalen Verkauf zu retten. Ein paar Tage zuvor hat sich der Landesarchäologe mit dieser Frau schon einmal in Deutschland getroffen, ihren Begleiter sieht er in der Schweiz zum ersten Mal. Der Mann hat eine Tasche bei sich, in die bequem eine Waffe passen würde.

»Ich machte mir Sorgen, ich sah die Tasche von Bernd Schmidt* und ich dachte an Mafia, die Polizei hatte mir ja Angst gemacht. Diese Angst hatte meine Begeisterung gedämpft. Ich versuchte die Scheibe so zu halten, dass es die Beamten sehen konnten. Ich dachte, wenn jetzt nicht etwas passiert, sind die beiden vielleicht mit der Scheibe weg.« Wenige Minuten später ist die monatelange, nervenaufreibende Jagd nach einem der weltweit wichtigsten Funde zu Ende. Die »Himmelsscheibe von Nebra« ist an diesem 23. Februar 2002 für die Menschheit gerettet. Das Hehlerpärchen wird abgeführt.

II. Drei Jahre zuvor

Raubgräber

Es ist der 4. Juli 1999, ein heißer Sonntag. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Tag einmal Geschichte schreiben wird. Horst Reuter* aus einem kleinen Dorf unweit von Halle erinnert sich vor Gericht: »Ich hatte an diesem Tag bis 11 Uhr früh geschlafen, weil ich am Abend zuvor bei uns in der Ortschaft beim Seefest war. Wenn man lange aufbleibt, dann trinkt man auch etwas und dann schläft man auch etwas länger.«

Der arbeitslose Straßenbauer will sich an diesem Tag mit seinem Bekannten Uwe Schleier* treffen. Die beiden kennen sich seit Langem und pirschen regelmäßig mit ihren Metallsuchgeräten durch die Wälder in ihrer näheren Umgebung. Natürlich hoffen sie jedes Mal auf den großen Fund und jedes Mal ist es ein Nervenkitzel. Die private Suche nach wertvollen Bodenfunden ist in Sachsen-Anhalt nicht erlaubt. Hier gilt das Schatzregal, ein Gesetz, das besagt, dass alle bedeutenden kulturhistorischen Funde automatisch dem Land gehören. Wer etwas findet, ist verpflichtet, es bei dem zuständigen Landesamt für Archäologie entschädigungslos abzugeben, andernfalls macht er sich der Fundunterschlagung strafbar.

Reuter erinnert sich: »An diesem Tag waren wir auf der Suche nach Militaria. Wir sind in Richtung Nebra gefahren, dort auf dem Mittelberg gibt es viele Schützenlöcher.« Militaria sind Waffenteile und Abzeichen. Bei den Händlern sind Stücke aus dem II. Weltkrieg begehrt. Das Waldstück auf dem 252 Meter hohen Mittelberg ist unberührte Natur und für Spaziergänger zu abgelegen.

Die Freunde haben eine Karte dabei, darin sind historische Wallanlagen eingezeichnet. Ein Bodendenkmalpfleger hatte bereits 1986 das Gelände vermessen. »Gegen 12 Uhr sind wir los. Wir sind mit meinem Auto, einem Trabant, etwa eine halbe Stunde gefahren. Jeder von uns hatte eine Metallsonde dabei«, sagt Reuter. Nach über zwei Stunden erfolglosem Umherstreifen durch das Waldgebiet brechen die beiden die Aktion frustriert ab. Auf dem Rückweg suchen sie weiter, um die Akkus ihrer Geräte vollständig zu entladen und einen späteren Leistungsverlust zu vermeiden. Dabei suchen sie mit ihren Detektoren auch das Gelände in der Nähe eines uralten Köhlermeilers ab. »Wir sind durch Zufall auf die Anlage gekommen«, sagt Horst. Sie wissen aus Erfahrung, dass es in der Nähe dieser Meiler immer etwas zu finden gibt.

Abb. 1: Der 252 Meter hohe Mittelberg liegt im Ziegelrodaer Forst. Das Gebiet ist in Europa archäologisch bedeutsam. In dem Waldgebiet liegen rund 1.000 prähistorische Hügelgräber.

Reuter steht jetzt an einer Böschung. Als erfahrener Sondengänger sieht er, dass sich auf diesem Hang eindeutig eine gerade Fläche leicht heraushebt. Das Plateau ist zwischen drei und fünf Metern groß. Vielleicht stand hier auch mal ein Haus? In der Nähe steht ein sogenanntes Dreibein, ein trigonometrischer Punkt. Plötzlich, gegen 15 Uhr, schlägt seine Metallsonde an.

Reuter erzählt: »Es war ein sehr starker, hoher Pfeifton im Kopfhörer. Bei einem starken Ton heißt das, etwas liegt dicht unter der Erdoberfläche oder es ist ein großes Teil. Ich habe etwas Laub mit dem Fuß weggemacht, an dieser Stelle war nicht viel, ein paar Blätter.« Reuter hat wie immer sein altes umgearbeitetes Feuerwehrbeil bei sich. Das Beil gehörte einst dem Vater seines Freundes. Er hat es geschenkt bekommen und speziell für die Schatzsuche umarbeiten lassen. An dem Beil wurde die Klinge entfernt, nur der Dorn ist geblieben.

Abb. 2: Mit dieser Sonde wurde am 4. Juli 1999 gegen 15 Uhr die »Himmelsscheibe von Nebra« gefunden. Die Sonde ist in der Arche Nebra zu sehen.

Abb. 3: Mit diesem umgearbeiteten Feuerwehrbeil wurde die Himmelsscheibe beim Ausgraben beschädigt. Das Beil ist in der Arche Nebra ausgestellt.

»Ich habe erstmal gehackt, damit ich das Erdreich auflockere. Der Boden war hart, trocken und oberhalb dunkel. Als ich auf das Metall schlug, war schon ein Geräusch zu hören. Ich habe nicht erkannt, an was ich da gestoßen bin. Uwe war zu diesem Zeitpunkt 20 bis 30 Meter weg von mir. Er kam dann zurück und sagte: ›Stopp, halt! Pass auf, du bist da auf etwas draufgekommen.‹ Da war es aber schon zu spät. Ein Stück Gold von der Sonne war abgegangen, ich hatte das nicht gesehen, weil ich nicht in der richtigen Position stand. Uwe stand genau vor der Scheibe. Das Goldstück hatte er dann einfach eingesteckt und später extra für 50 D-Mark an Manfred Winter* verkauft.«

Uwe zeichnet die Fundstelle in der Karte ein. Die Männer graben mit den bloßen Händen, zwischendurch lockern sie den harten Boden mit ihren Hacken auf.

»Die Scheibe lehnte senkrecht, die Sonne oben, der Zacken auf halb elf, an einem etwa 18 Zentimeter dicken Stein. Die Scheibe war dreckig und dick verbacken. Am Anfang konnte man sie für einen Mülleimerdeckel halten«, sagt Reuter. Die Männer werfen den großen Stein den Berghang hinunter. Jetzt sehen sie, dass die Scheibe zusammen mit anderen Stücken im Boden steckt. »Wir mussten zuerst die Beifunde freilegen«, erzählt Reuter. Unter zwei Beilen, einem Meißel und einem Armreif liegen im unteren Drittel vor der Scheibe noch zwei Schwerter gegeneinander und übereinander angeordnet.

»Als wir die Scheibe zu einem großen Teil freigelegt hatten, sahen wir auf ihr das Gold und hielten sie für ein Schild. Im Unterschied zur Scheibe waren die Beifunde nicht so dick verbacken. Alles war aus Bronze und die Griffe der Schwerter mit Goldklammern verziert. Für uns waren die Schwerter das Wichtigste«, sagt Reuter.

Das Loch ist nach den Angaben der Raubgräber etwa einen Meter mal 1,20 Meter groß. Sie geben später zu Protokoll, dass sie die Größe des Loches durch die Handarbeit relativ genau einschätzen können. »Eine Abdeckung des Fundes haben wir nicht beobachtet. Wir haben dann noch etwa sieben Zentimeter unter dem Fund gegraben, aber nichts mehr gefunden.«

Abb. 4: Das leere Raubgräberloch an der Fundstelle mit einer Kopie der Himmelsscheibe.

Dann verpacken sie die Fundstücke in Tüten. Reuter erzählt: »Die Scheibe kam in eine größere Einkaufstüte aus Plastik. Das Loch im Boden haben wir mit den Händen wieder zugemacht und eine Wasserflasche hineingelegt. Wir haben drei bis vier Stunden gegraben und waren an diesem Tag spät, so gegen 20 Uhr zu Hause.«

Die Raubgräber machen sich nicht viel Mühe. Sie legen die Fundstücke einfach in Reuters Wohnung auf dem Wohnzimmertisch ab. Keiner von beiden ahnt, was sie an diesem Tag tatsächlich gefunden haben. Reuter und Schleier glauben, dass sie wertvolle Schwerter ausgegraben haben und wollen ihr Schatzglück gehörig feiern. Schleier erinnert sich: »Wir sagten zueinander: ›Heute Abend wird was auf den Fund in der Kneipe gehoben‹, und Horst sagte nach dem fünften Bier zu mir, dass ich auch etwas Gutes davon haben soll. Dann überlegten wir, was wir damit machen.« Schleier ruft über sein Handy den gemeinsamen Verbindungsmann Winter in einem Ort bei Köln an.

Manfred Winter nennt sich selbstständiger Kaufmann. Aber das Geschäft scheint für ihn schlecht zu laufen. Er lebt nach eigenen Angaben offiziell von der Sozialhilfe. Er sagt: »Diesen Abend werde ich nie vergessen. Ich saß in der Gaststätte und war schon etwas angeheitert. Uwe rief mich an und sagte mir, dass Horst einen riesigen Fund gemacht hat, zwei Schwerter und eine runde Platte. Und er fragte mich, ob ich das kaufen möchte.«

Schleier erinnert sich: »Manfred sagte zu uns: ›Nun hört mal auf zu trinken, ich bin morgen da.‹«

»Manfred hatte Interesse und wollte persönlich vorbeikommen«, sagt Reuter. »Wir haben uns bei diesem Fund nur nach den Schwertern und nach den Beilen gerichtet. Wir verlangten von Manfred 40.000 D-Mark und hatten die Summe so hoch angesetzt, weil wir genau wussten, er würde uns sowieso noch drücken.«

Winter ist zu dieser Zeit mit Marlies Hollo* zusammen. Die Frau hat gerade eine größere Summe Geld geerbt. Es ist Montag, der 5. Juli 1999. Winter erzählt: »Ich fuhr an diesem Montagmorgen zunächst mit meiner damaligen Lebensgefährtin Marlies zur Bank, denn von ihr habe ich mir das Geld geliehen. Die Banker sagten uns, so viel Geld hätten sie nicht, das müsse man anmelden und gaben uns 24.000 D-Mark in bar und 16.000 D-Mark in Bankschecks.«

Abb. 5: Die Wasserflasche aus Glas wurde von den Raubgräbern in das Fundloch gelegt, um die Stelle zu markieren. Sie befindet sich heute in der Arche Nebra.

Winter hat keinen Führerschein. Also fährt seine Freundin den Wagen. Winter telefoniert während der Fahrt mehrmals mit den Raubgräbern. Er sagt, dass er am Nachmittag bei ihnen sein wird.

Für Reuter scheint die Zeit in dem Dorf bei Halle nicht zu vergehen. Er schaut sich die Stücke vom Vortag an. Zwei Beile, ein kleinerer Meißel, eine zerbrochene Armspirale – alles aus Bronze. Und dann die beiden Schwerter, Bronze mit Goldverzierungen. Aber diese merkwürdige Scheibe passt nicht dazu. Allerdings schimmert unter der dicken Dreckschicht Gold. Also, wertlos kann sie nicht sein. Horst breitet den Schatz auf seinem Wohnzimmertisch aus, stellt sich daneben in Position und lässt sich von seiner Freundin fotografieren. Er macht ein stolzes Gesicht, wie ein Angler, der gerade einen dicken Fisch an Land gezogen hat.

»Wir haben zehn Bilder gemacht. Das war ein ganz normaler Fotoapparat, kein Digitalapparat. Es war alles dort abgebildet. Die Scheibe, die Schwerter, der Meißel, die Beile und die Armringe, alles«, sagt Reuter, der selbst auch auf allen Schatzbildern immer zu sehen ist. Den Film bringt Reuters Freundin sofort zum Entwickeln.

Zunächst fahren Winter und seine Begleiterin zur Wohnung von Schleier. Der will ihm anfangs andere Funde anbieten, aber Winter will nur den Schatz sehen. Schließlich sagt Schleier, dass sich dieser bei Reuter befindet.

Beim Anblick der goldverzierten Schwerter in Reuters Wohnzimmer leuchten die Augen von Winter. Während das eine Schwert komplett wie aus einem Guss ist, wackelt bei der anderen Waffe der Griff, er ist locker, weil ein Befestigungsniet fehlt. Winter versucht seine Begeisterung vor den Raubgräbern zu verbergen. Er nimmt die Scheibe in die Hand und unterzieht sie seinen prüfenden Blicken. Nach einer Weile legt er sie wieder auf den Tisch zurück. Die beiden Raubgräber beobachten Winter, sie sehen sein ratloses Gesicht.

»Dass es sich um die Sternenscheibe handelt, war mir nicht bewusst. Aber die Schwerter waren schon etwas Außergewöhnliches, besonders die Griffe, das war schon selten«, sagt Winter.

Schleier und Reuter wollen unbedingt von Winter wissen, was er von der Scheibe hält. Statt einer Antwort telefoniert Winter hektisch. Er führt mehrere Telefongespräche. Die Raubgräber hören ein paar Gesprächsfetzen und vermuten, dass Winter den Bronzeschatz bei Händlern und Sammlern zum Kauf anbietet. Sie bekommen mit, dass es bei diesen Telefonaten immer nur um die beiden Schwerter geht. Die Scheibe, so hören sie, wird von Winter einmal als »Kuchenteller« bezeichnet.

Schließlich erklärt Winter den beiden, dass er weiß, worum es sich bei der Scheibe handelt, sagt es aber nicht. »Wir haben gesehen, dass er ratlos war und für uns war damit klar, Manfred weiß auch nichts«, sagt Reuter. Es geht jetzt um das Geschäft. Winter will den Ausgräbern den kompletten Schatz abkaufen.

Schleier erinnert sich: »Manfred hatte sich den Fund angeschaut und begann dann, den von uns verlangten Preis von 40.000 D-Mark zu drücken.« Schleier ist mit diesem Geschäftsgebaren nicht einverstanden. Er sagt: »Macht allein weiter!« Winter verhandelt dann mit Reuter tatsächlich auf dem Wohnungsflur unter vier Augen weiter.

Reuter sagt: »Manfred hat insgesamt 31.000 D-Mark bezahlt. Das heißt für die Scheibe und die Schwerter gab er 30.000 D-Mark. Die zwei Beile und den Meißel haben wir ihm extra für 1.000 D-Mark verkauft und dann hat Manfred 1.000 D-Mark extra für Uwe gezahlt, also insgesamt 32.000 D-Mark. Das Geld hatte er zu großen Teilen dabei, der Rest der Summe waren Verrechnungsschecks von der Bank.«

Winter legt die Scheibe zusammen mit den anderen Stücken in den Kofferraum des Wagens. Seine Freundin sitzt am Steuer und schüttelt nur mit dem Kopf über so viel alten Kram.

Winter kennt viele ähnliche Bronzefunde. Er weiß, diese Schwerter und Beile sind bei Sammlern heiß begehrt. »Über die Schwerter machte ich mir keine Sorgen, die hatten jeweils für sich einen Marktwert von je 20.000 D-Mark, also von daher hatte es sich schon gelohnt.« Was ihn irritiert ist diese Scheibe. Was ist das überhaupt? Hat diese Platte überhaupt einen Wert? »Ich habe mit glänzenden Augen über diesen Fund gestaunt und mir schon gedacht, dass es etwas sehr Wertvolles ist.« Winter sucht nach Vergleichsstücken für die Scheibe. »Zu Hause habe ich in einschlägigen Büchern nachgeschaut. Ich wollte wissen, ob es denn solche Scheiben gibt. Ich habe aber nichts gefunden.«

Die Scheibe ist rundum mit einer hellen Kruste überzogen. »Das Zeug war hart wie Beton, an einer Stelle waren Riefen drin, man konnte da auf die Bronze drunter schauen und an einer Stelle war ein Punkt zu sehen. Erst habe ich versucht, die Scheibe mit einer Zahnbürste abzubürsten, das funktionierte überhaupt nicht. Dann legte ich die Scheibe ins Wasser, ich habe sie in der Badewanne eingeweicht, vielleicht zwei, drei Tage und dann mit Pril versucht, den Dreck zu lösen, auch da ging gar nichts.« Schließlich kommt Winter eine Idee. »Ich habe dann Ako-Pads genommen. Damit ging der Dreck runter, bei den Goldteilen bin ich vorsichtig gewesen. Ich habe die Scheibe nicht komplett supersauber bekommen, es haftete noch Erde dran, wie heller bräunlicher Lehm, etwa zwei bis drei Millimeter dick, aber ich wollte die Scheibe verkaufen.«

Die Scheibe lässt Winter nicht los. Er bekommt immer mehr Rückrufe. Sammler und Händler fragen ihn nach dem »Teller«. Winter weicht aus, druckst herum und gibt ihnen keine Antworten. Zwei Tage später besucht er erneut die beiden Raubgräber. »Ich ahnte, dass sie die Stücke aus Sachsen-Anhalt haben, denn ich wusste, die beiden gehen immer nur in der Nähe ihres Heimatortes mit der Sonde auf Schatzsuche.«

Reuter und Schleier haben Bedenken. »Manfred wollte unbedingt wissen, woher der Fund stammt. Am Anfang haben wir es ihm nicht gesagt, sondern alles Mögliche erzählt«, sagt Reuter. Schließlich fahren sie doch zu dritt auf den Mittelberg. Winter sagt: »Für mich sah das frisch aus, so als wäre es erst neulich wieder verfüllt worden. Ich bin mit dem Detektor drüber und es piepte, und mit der Hand fand ich dann in der zugeschütteten Erde, in dieser Art ausgehobenen Kuhle, in etwa fünf Zentimeter Tiefe tatsächlich einen Niet. Zu Hause setzte ich das Teil in den Schwertgriff und es passte, es musste also der fehlende Niet gewesen sein. Außerdem war damit für mich persönlich klar, dass diese Kuhle nur das Loch gewesen sein kann, wo die Scheibe und der Schatz lagen.« Zugleich erfährt er, dass von dem Schatzfund Fotos existieren. Winter sagt: »Ich wusste, dass es in Sachsen-Anhalt ein Schatzregal gibt und dass es Ärger machen könnte.« Er will die Fotos unbedingt sehen.

Reuter erinnert sich: »Wir haben uns zunächst die Bilder angesehen, dann riet uns Manfred, die Bilder zu vernichten. Er sagte, es wäre besser so. Von so einem Hortfund macht man keine Bilder. Wir haben es damals auch so geglaubt und die Bilder zerrissen und verbrannt, alles, auch den Film, also auch die Negative.«

Aber zu Hause in seinem Heimatort fotografiert Winter selber den Schatz. Er benutzt dafür eine Sofortbildkamera und umgeht so möglicherweise Probleme mit den Entwicklungslabors, die in Stichproben nach unerlaubten Aufnahmen suchen könnten. Winter sagt: »Ich habe viele Fotos von der Scheibe und dem Fund gemacht.«

Hehler und Gelehrte

Winter plant mit diesem Schatz etwas ganz Großes. Für ihn steht fest, dass die beiden Schwerter selten und wertvoll sind, was ihn nach wie vor irritiert, ist diese Scheibe. Winter ruft am Dienstag, den 6. Juli 1999, den Kunsthändler Magnus Lenz* aus Frankfurt am Main an. Er hat ihn bei einem Raubgräbertreffen kennengelernt und weiß, dass Lenz sehr gute Beziehungen zu Archäologen, reichen Sammlern und Museen unterhält. Der Mann ist in den einschlägigen Kreisen bekannt und kümmert sich nur um die wertvollen Dinge. Sein Leitspruch ist: »Die Leute wollen Gold sehen.«

Winter erzählt: »Magnus ist zu mir nach Hause gekommen und schaute sich den Schatz an. ›Schön, schön‹, hat er gesagt, ›der Fund ist selten und außergewöhnlich.‹ Magnus hat die Echtheit der Scheibe nicht angezweifelt. Und dann sagte Magnus, ich solle Stillschweigen wahren, er würde mir einen Käufer vermitteln. Magnus wusste auch, dass der Schatz aus Sachsen-Anhalt war. Das war ja in der Schatzgräberszene rum wie ein Lauffeuer. Dennoch sagte Magnus: ›Das machen wir schon.‹ Wenn mich jemand nach dem Schatz fragen würde, sollte ich sagen, dass er schon verkauft ist.«

Der Kunsthändler Lenz erinnert sich: »Es handelte sich um den Komplettfund, also Scheibe zuzüglich Schwerter und kleinteilige Beile. Es war klar, dass dies ein sehr bedeutender Fund von großem wissenschaftlichen Interesse ist. Die Scheibe war schon eine eigene bedeutende Geschichte. Und auch die Schwerter waren eine bedeutende Sache, mit bronzezeitlichem Material eingelegt. Ich dachte, die sind vom Mittelmeer, aus Mykene, das war schon etwas Bedeutendes in Europa.«

Natürlich will Winter wissen, was der Kunsthändler für seinen Schatz zahlen will. Doch Lenz weicht aus. »Ich sagte zu Manfred, dass mir aus dem angebotenen Geschäft keine Nachteile entstehen dürfen.«

Winter erinnert sich: »Magnus sagte mir, die Vermittlung würde ein Jahr und länger dauern, er hatte mir einen Vermittlungsvertrag vorgelegt und wollte die Scheibe und den kompletten Schatz gleich mitnehmen.« Von so einem Angebot hält Winter nichts. Den Schatz aus der Hand geben und ein Jahr im Ungewissen leben? Auf keinen Fall! »Magnus wäre mit dem Schatz davongefahren und hätte mich vom nächsten Autobahnrastplatz angerufen und mir gesagt, sein Auto sei aufgebrochen worden und ihm wurde dabei der Schatz geklaut. Was wäre dann? Ich hätte doch nichts in der Hand gehabt.«

Am 24. August 1999 ruft der Kunsthändler noch mal bei Winter an und erklärt ihm eindringlich, dass er als Geschäftsführer seiner Kunsthandelsfirma den Kauf vermitteln will. Der Kunsthändler schickt Winter ein Fax, in dem er ihm ein scheinbar verlockendes Angebot macht: Lenz schreibt, dass der Schatz nicht unter 425.000 D-Mark verkauft werden soll. »Aber dann wollte Magnus noch 16 Prozent Vermittlungsgebühr, Fotokosten, Reisekosten und, und, und … Ich sagte ihm, unter diesen Umständen mache ich das nicht mit ihm, und das war’s dann mit Magnus.«

Nach dem gescheiterten Geschäft ändert Winter die Strategie. Er will den Schatz auf eigene Faust verkaufen. Aber ihm ist klar, ganz allein schafft er es nicht. Er ruft einen Freund an. »Ich hatte Fotos von dem Schatz meinem Bekannten Peter Müller* in München gezeigt. Der ging jede Woche zum Schatzgräberstammtisch mit den Archäologen von der Prähistorischen Sammlung in München. Dort wurde dann auch immer über die neuesten Funde und über Ankäufe geredet.«

Der Verantwortliche der Prähistorischen Staatssammlung in München trifft sich tatsächlich mit Müller, und der zeigt ihm vier Fotos von dem Schatz. Der Wissenschaftler ist sehr vorsichtig.

Winter: »Der Verantwortliche sagte zu Peter: ›Ich weiß, dass die Stücke aus Sachsen-Anhalt stammen.‹« Allerdings ist es dann nicht zu einem Kaufangebot an das Münchner Museum gekommen.

Doch Winter gibt nicht auf. »Ich erinnerte mich an den Professor Menghin in Berlin, der war mir aus dem Spiegel und aus dem Fernsehen bekannt und er hatte Bücher geschrieben. Dieser Mann also hatte damals auch den Goldhut für über 1 Million D-Mark gekauft. Die Kaufsumme für die Scheibe von 1 Million D-Mark hatte ich einfach so angesetzt, denn ich war überzeugt, dass die Scheibe ähnlich wertvoll wie der Goldhut war. Bevor ich die Scheibe dem Professor Menghin zum Kauf angeboten hatte, machte ich nochmals Polaroidfotos von der Scheibe, etwa zehn bis zwölf Fotos.«

Professor Wilfried Menghin ist Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Das Berliner Museum betreibt den Ankauf von wichtigen Funden seit Jahrzehnten und der Professor ist in der Szene der Kunsthändler und Anbieter von prähistorischer Ware als zuverlässiger und verschwiegener Partner bekannt.

Menghin erinnert sich: »Im Herbst 1999 hatte mich ein Mann angerufen und mich gefragt, ob ich Sachen ankaufen würde. Wir vereinbarten einen Termin. Auf keinen Fall sollte das Treffen in meinem Büro stattfinden. Ich habe mich dann mit zwei Herren am 23. November 1999 im Café Castello getroffen, das ist im selben Gebäude wie mein Büro. Das Treffen sollte 14 Uhr stattfinden, doch sie verspäteten sich. Die beiden Männer nannten sich Bender* und Hartmann*. Sie waren verängstigt und vorsichtig. Sie zeigten mir Farbfotos von dem Fund, ziemlich schlechte Polaroidfotos, und verlangten dafür 1 Million D-Mark. Auf meine Frage, woher denn der Fund stamme, sagten sie nicht, woher er ist. Die dachten, weil ich auch den Goldhut aufgekauft hatte, da hätte ich einen Haufen Geld. Aber ich habe ihnen gleich gesagt, das würde mindestens ein Jahr dauern.«

Rund drei Jahre zuvor war das Goldhut-Geschäft gelaufen. Menghin beschreibt diese Aktion in einem wissenschaftlichen Beitrag für die Acta Praehistorica et Archaeologica Nr. 32 aus dem Jahr 2000. »Am 21. Dezember 1995 nachmittags um 14.30 Uhr suchte mich ein Kunsthändler aus Frankfurt am Main in meinem Büro auf. Wie telefonisch angekündigt, hatte er eine Überraschung für mich parat.« Der Kunsthändler zeigte dem Professor die großformatige Farbfotografie eines Goldkegels. Menghin glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Er sah sofort, dass sich dieser Goldhut in einem unglaublich guten Erhaltungszustand befand. Im ersten Moment, so schreibt Menghin, dachte er, dass es sich dabei um den von ihm einst über 17 Jahre lang verwalteten »Goldkegel von Ezelsdorf-Buch« aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg handelt. Aber es gibt deutliche Unterschiede: Das unbekannte Stück hat beispielsweise eine Krempe und ähnelt dadurch eher einem Goldhut. Der Kunsthändler erzählt dem verblüfften Professor, dass das Stück aus Schweizer Privatbesitz stammt, es handele sich um eine »konglome-ratische Collection ererbter und erworbener erlesenster Einzelstücke«. Nach den Worten des Kunsthändlers ist der Kultkegel in den 60er Jahren erworben worden. Leider, so der Händler, seien die Fundgeschichte sowie der Fundort nicht bekannt. Menghin schreibt: »Achtung: unbedingt dran bleiben!«

Abb. 6: Der rund 3.000 Jahre alte Berliner Goldhut wurde 1996 aus dem Kunsthandel für das Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin erworben. Der Fundort ist unbekannt.

Nach langen und komplizierten Verhandlungen ist es endlich am 4. Februar 1996 so weit. Der Kunsthändler stellt den Goldhut bei einem Privattreffen in einem Konferenzraum eines Züricher Hotels Professor Menghin und seinem Chefrestaurator erstmals im Original vor. Das Stück ist 74,5 Zentimeter hoch, aus hauchdünnem Gold gefertigt und wiegt 490 Gramm. Die gesamte Oberfläche des Goldhutes ist mit regelmäßigen, merkwürdigen Mustern überzogen. Der Professor ist begeistert. Ob das Stück echt ist, weiß er immer noch nicht, er geht davon aus, denn dann wäre der Goldkegel nach den Goldhüten von Schifferstadt, Avanton (Frankreich) und Ezelsdorf der vierte Goldhut aus der Bronzezeit und etwa 3.000 Jahre alt.

Menghin fragt schriftlich und telefonisch bei den Landesdenkmalämtern und großen Museen in Deutschland und dem benachbarten Ausland an, ob sie einen Goldhut vermissen. Niemand vermisst einen Goldhut.

In seiner Sitzung am 12. Dezember 1996 beschließt der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, den Goldhut aus Haushaltsmitteln der Staatlichen Museen zu Berlin zu kaufen. Die Entscheidung beruht auch auf einem Gutachten des Archäologieprofessors und Bronzezeitexperten Peter Schauer sowie des Materialwissenschaftlers Professor Josef Riederer vom Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen zu Berlin.

Die in Vaduz in Liechtenstein ansässige Firma Artrade Kunst- und Verlagsanstalt verkauft die Ware schließlich für den Rekordpreis von 1,5 Millionen D-Mark an das Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin. Dort wird das Stück unter der Nummer IIc 6068 als »Berliner Goldhut« mit dem Zusatz »vermutlich Süddeutschland« inventarisiert.

Woher das Stück wirklich stammt, ist bis heute unklar. Für einige Archäologen steht mittlerweile fest, dass der Kunsthändler die Herkunft sehr wohl kennt. Es soll Indizien geben, wonach der Berliner Goldhut aus den neuen Bundesländern, möglicherweise aus Sachsen-Anhalt stammt. Doch der Kunsthändler schweigt eisern.

Professor Menghin sieht sich also die etwas unscharfen Fotos der Scheibe genau an. Obwohl der Gelehrte eine solche Scheibe mit Goldauflagen noch nie gesehen hat und die beiden Männer bei dem konspirativen Treffen nicht gerade einen vertrauensseligen Eindruck auf ihn machen, glaubt Menghin nicht an eine Fälschung.

»Die Idee einer Fälschung wäre kühn gewesen, es besteht kein Zweifel an der Originalität des Fundes«, sagt Menghin und erzählt, was der Fund für ihn bedeutet: »Das ist ein typischer Hortfund. Das sind Tempelstücke, die da in die Erde gelegt worden sind. In unseren Breiten wurde damals an bestimmten Plätzen geopfert. Die Stücke waren Schwerter, Nadeln oder Goldgefäße der Priesterschaft. Sie wurden an geheimen Orten vergraben, entweder um sie später wiederzufinden oder auch nicht. Drei Beile und Frauenschmuck oder Goldgefäße wie zufällig nebeneinandergelegt und vergraben kamen oft vor. Dazu gehört auch der Wagen von Trundholm in Dänemark. Der wurde absichtlich zerhackt, zerstört und ins Moor geworfen, das ist kultisch. Also diese Hortfunde sind ganz spezifische Teile, die zusammengehören, wie Beile und Schwerter. In der Bronzezeit sind speziell solche Ensembles nachgewiesen, da gibt es auch gewisse Kategorien.«

Der Professor will auch diesen merkwürdigen Schatz mit der Scheibe, genau wie den Goldhut, als einmaliges Kulturgut für sein Berliner Museum retten.

»Als ich den Fund sah, hat es mir die Augen ausgedrückt. Hoppla, dachte ich, das ist ja wirklich etwas ganz Besonderes. Für mich war klar, das ist ein originaler Fund, der in seiner Zusammensetzung stimmig ist und zusammenpasst, ein Jahrhundertfund. Die Scheibe war offensichtlich das Abbild des Himmels und ein wichtiges Bindeglied. Die Scheibe war vielleicht 500 bis 600 Jahre in Benutzung und in der Beurteilung der bronzezeitlichen Kulturen schließt die Scheibe genau die Lücke von 500 bis 600 Jahren zwischen Stonehenge und dem Goldhut, der ja ein Kalendarium ist.«

Der Professor denkt nach. Er weiß, derartige Transaktionen sind äußerst kompliziert und langwierig. Er erklärt den Männern, dass der Ankauf der Scheibe etwa ein Jahr dauern wird. Die beiden sind damit einverstanden.

»Aber eine Million D-Mark sind ein stolzer und gewaltiger Preis. Ich konnte nur bis zu einer Summe von 700.000 D-Mark frei entscheiden. Alles darüber hinaus konnte nur die Stiftung Preußischer Kulturbesitz entscheiden. Auf meine Bitte überließen sie mir die Fotos und ich machte davon Kopien. Nachdem die beiden Herren bei mir waren, sagte ich dem Präsidenten der Preußischen Kulturstiftung, dass wir den Fund auf jeden Fall kaufen sollten. Wir hatten natürlich Interesse und sahen schon auf den ersten Blick, dass es ein außergewöhnlicher Fund war.«

Zu diesem Zeitpunkt laufen im Berliner Museum bereits seit über zwei Jahren die Vorbereitungen zur Ausstellung »Menschen-Zeiten-Räume«. Die Schau soll im Dezember 2002 eröffnet werden und nur die absolut wichtigsten archäologischen Fundstücke der letzten 25 Jahre aus Deutschland zeigen. Die Scheibe ist mit Sicherheit eine Sensation und Menghin will sie haben.

Drei Tage nach dem Treffen im Café Castello ruft Professor Menghin bei Winters Komplizen Müller zurück und erklärt, dass die Verhandlungen mit der Stiftung angelaufen seien. Voraussetzung für einen Ankauf ist ein notariell beglaubigter Nachweis, dass der Fund frei von Rechten Dritter ist. Außerdem muss der Fund vor dem Kauf von Experten auf Echtheit überprüft werden.