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Der Thesenanschlag fand tatsächlich statt! Beweise dafür haben die Historiker Mirko Gutjahr und Benjamin Hasselhorn zusammengetragen. Herausgekommen ist ein kleines, aber umso bemerkenswerteres Buch, das mit einigen Mythen aufräumt, die im Reformationsjahr 2017 besonders kontrovers diskutiert wurden: Da geisterte Martin Luthers Thesenanschlag als "Legende", als "fragwürdige Überlieferung" oder gar als "Märchen" durch die Öffentlichkeit. Plötzlich stellten selbst Experten Luthers Thesenanschlag vor 500 Jahren wieder infrage, obwohl die Forschung längst weiter ist. 2007 nämlich war eine Notiz von Luthers Privatsekretär Georg Rörer als früheste Quelle über die Geschehnisse des 31. Oktober 1517 wiederentdeckt worden. Damit sollte die Debatte eigentlich beendet sein. Oder doch nicht? Was genau wissen wir über Luthers Thesenanschlag? Wieso kam es zu der Überzeugung, er habe nicht stattgefunden? Und warum ist die Frage nach dem Thesenanschlag überhaupt wichtig? Schließlich wurde nie bestritten, dass Luther seine Thesen am 31. Oktober 1517 verschickt hat. Diesen Fragen gehen die beiden Autoren nach – und finden überraschende Antworten. [It is a Fact! The Truth about Luther's Nailing the 95 Theses] The 95 Theses actually were nailed to the door of the Castle Church. Proofs for this event have been compiled by the historians Mirko Gutjahr and Benjamin Hasselhorn. They result in a small, but remarkable book, that puts an end to several myths controversially discussed during the Reformation Anniversary 2017.
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Seitenzahl: 138
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Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr
Tatsache!
Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Thomas Puschmann, Leipzig
Coverillustration: © Klaas Neumann
Satz und Gestaltung: Steffi Glauche, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-374-05640-8
www.eva-leipzig.de
Im großen Jubiläumsjahr 2017 war die Presse erstaunlich vorsichtig: »Der Überlieferung nach soll Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen die Missstände der Kirche seiner Zeit an die Tür der Schlosskirche geschlagen haben«1, berichtete die Tagesschau. »Soll angeschlagen haben«, »der Überlieferung nach« – besonders sicher schien man sich über den Faktengehalt der Nachricht nicht zu sein. Andere Presseorgane hatten ähnliche Skrupel, Luthers Thesenanschlag als Tatsache hinzunehmen. Im Neuen Deutschland sprach man vom »vermeintlichen Thesenanschlag«2, bei n-tv vom »angeblichen Thesenanschlag«3, in der Zeit lief der Thesenanschlag als »Legende«4, in der Rheinischen Post als »Mythos«5. Die Welt wusste zu berichten, dass, wenn überhaupt, dann nicht Luther, sondern der Universitätshausmeister die Thesen angeschlagen habe6, und bei Deutschlandfunk Kultur war man sich sicher, dass dabei gar kein Hammer zum Einsatz kam, sondern Siegelwachs7.
So viel öffentlicher Zweifel, obwohl es in der Reformationsforschung nur noch wenige gibt, die den Thesenanschlag bestreiten! Selbst der heute vehementeste Gegner des Thesenanschlags, Volker Leppin, hat gemeinsam mit Timothy Wengert die Auffassung geäußert, dass die Argumente, die für den Thesenanschlag sprechen, genauso gut seien wie die Argumente dagegen.8 Die meisten anderen Forscher halten Luthers Thesenanschlag für »nicht bezeugt, aber doch wahrscheinlich«9, durch »jüngere Quellenfunde«10 plausibel geworden, so dass man »die Möglichkeit eines Thesenanschlags einräumen«11 müsse. Nahezu alle sind sich aber in einem Punkt einig: nämlich dass die Frage, ob der Thesenanschlag nun tatsächlich stattfand oder nicht, in Wirklichkeit »nicht besonders wichtig«12 sei, dass es sich beim Thesenanschlag, wenn, dann um einen ganz regulären universitären Vorgang gehandelt habe und dass der Mythos vom Thesenanschlag als dem heroischen Beginn der Reformation nichts mit der historischen Realität zu tun habe. Die meisten neueren Lutherbiographien haben für die Frage des Thesenanschlags nicht viel mehr als ein paar Sätze übrig. Der schottische Historiker Niall Ferguson fasst die Mehrheitsauffassung der Forscher in einem Satz zusammen, wenn er über die 95 Thesen schreibt: »It is not wholly clear if Luther also nailed a copy of them to the door of All Saints’ Church in Wittenberg, but it scarcely matters.«13 Es scheint, als ob das Ereignis, dessen 500. Jahrestag als das größte historische Jubiläum der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland begangen wurde, in der Reformationsforschung kaum noch mehr auslöst als ein müdes Achselzucken.
Haben wir 2017 also ein Jubiläum ohne Anlass gefeiert? Handelt es sich bei der Erzählung vom Thesenanschlag um letztlich nicht viel mehr als um jubelprotestantische Fake News? Die Zurückhaltung von Öffentlichkeit und Reformationsforschung in Bezug auf den Thesenanschlag versteht nur, wer ins 19. Jahrhundert zurückblickt. Dieses war die Geburtsstunde vieler Luthermythen, darunter als wohl wichtigstem der Mythos vom Thesenanschlag als dem Beginn von Luthers Kampf gegen Rom, als angriffslustigem Auftakt der Reformation und Ursprung der europäischen Moderne. Von diesem Bild will man sich in der Geschichtswissenschaft aus verschiedenen Gründen möglichst scharf abgrenzen, und daher rührt die verbreitete Neigung, vom Thesenanschlag insgesamt lieber nichts mehr wissen zu wollen.
Und stimmt das nicht auch? War es nicht wirklich falsch, dem Thesenanschlag eine so große Bedeutung zuzumessen, dass er zum historischen, ja zum mythischen Ereignis wurde? Ist es nicht letztlich vollkommen egal, wer da was an welche Tür gehämmert haben mag? Denn ohne Zweifel hat Martin Luther seine 95 Thesen über den Ablass am 31. Oktober 1517 per Brief verschickt. Er hat sie geschrieben und versendet, unabhängig von der Frage, ob er sie auch angeschlagen hat. Sie haben ihre Wirkung entfaltet und jene welthistorische Umwälzung in Gang gesetzt, die wir Reformation nennen. Ist es daher nicht viel wichtiger, über die Thesen und ihren Inhalt zu reden als über den Thesenanschlag?
Dieses Buch widerspricht! Die Frage nach dem Thesenanschlag ist und bleibt wichtig. Sie betrifft weit mehr als nur eine ereignisgeschichtliche Fußnote, denn in ihr bündeln sich Fragen der konfessionellen Identität, des kulturellen Erbes, der Geschichts- und Wissenschaftspolitik sowie des Selbstverständnisses historischer Fachdisziplinen. Wenn das nicht so wäre, wenn also die Frage einfach unwichtig wäre, dann wäre auch niemand jemals auf die Idee gekommen, den Thesenanschlag als historische Tatsache in Zweifel zu ziehen.14 Doch genau das ist der Thesenanschlag zunächst einmal, man drehe und wende es, wie man will: eine historische Tatsache.
Mit diesem Buch wollen wir deutlich machen, warum die Frage nach dem Thesenanschlag nach wie vor nicht nur interessant, sondern auch wichtig ist. Wir zeigen darin, warum es keine überzeugenden Gründe mehr gibt, den Thesenanschlag zu bezweifeln. Wir erklären, warum man eine Weile trotzdem auf die Idee kommen konnte, der Thesenanschlag hätte gar nicht stattgefunden. Und natürlich stellen wir uns auch der Frage, ob Luther wirklich selbst den Hammer schwang – und ob überhaupt ein Hammer im Spiel war?
Cover
Titel
Impressum
1Warum ist der Thesenanschlag überhaupt wichtig?
Mythos Luther
Ein Anschlag macht Epoche
Die Kultur der Entmythologisierung und ihr Ende
2Was steht eigentlich in den Thesen?
Martin der Befreite
Angriff auf den Ablass
Wo ist das Reformatorische in den Thesen?
Luthers Papstkritik
Luther wusste, was er tat
3Wer zweifelt hier am Thesenanschlag?
Fake News in guter Absicht
Der unzuverlässige Melanchthon
Augenzeuge gesucht
Niemand will disputieren
Wo ist der Wittenberger Druck?
Der lügende Luther?
Eine Monumentalisierung Luthers?
4Tatsache Thesenanschlag!
Ein neuer Quellenfund
Hat Melanchthon sich doch nicht geirrt?
Hinweise, wohin man schaut
Monumentalisierung: na und?
Luther lügt nicht, sondern taktiert
Disputieren in Wittenberg
Der erste Thesendruck: gefunden!
Was wirklich geschah
5Und was ist mit dem Hammer?
Neuere Literatur zum Thesenanschlag
Anmerkungen
Bildnachweis
Zu den Autoren
1Warum ist der Thesenanschlag überhaupt wichtig?
Der Thesenanschlag ist ein Mythos. Mit dieser Feststellung wird mancher die Frage, ob der Thesenanschlag tatsächlich stattfand oder nicht, wohl als erledigt betrachten. Allerdings wäre das ein Fehler. Denn ob etwas ein Mythos ist, sagt noch nichts darüber aus, ob es auch einen Realitätsgehalt hat, und wenn ja welchen.15 Religionswissenschaftlich betrachtet, ist ein Mythos eine »heilige Geschichte«16, die in illo tempore stattfindet, jener »Zeit vor der Zeit«, in der die Götter die entscheidenden Dinge vollbrachten, den Kosmos schufen, den Menschen, die Ordnung der Welt. Es gibt aber auch historische oder politische Mythen, die nicht über die Götter, sondern über die Vorfahren berichten, über Taten der Vergangenheit, die das Gemeinwesen geprägt haben und die uns Aufschluss darüber geben, wer wir sind und woher wir kommen. Normalerweise ist ein Mythos, egal ob religiös, politisch oder historisch, eine Ursprungserzählung; er erklärt, warum etwas so ist, wie es ist. Für manche sind Mythen Verzerrungen oder gar bewusste Manipulationen der Wirklichkeit, andere sehen in ihnen eine bildhafte, erzählerische Verdichtung der Realität. In jedem Fall aber ist klar: Historische Mythen haben – wie lose, wie verzerrt auch immer – mit der historischen Realität zu tun. Wenn also etwas ein Mythos ist, heißt das noch nicht, dass dahinter keine Realität steht.
Im Falle Martin Luthers sind Mythos und historische Realität besonders eng miteinander verwoben. Denn die Mythisierung Luthers begann schon zu seinen Lebzeiten und wurde von ihm selbst vorangetrieben. Am 1. November 1527, einen Tag nach dem zehnjährigen Jubiläum des Thesenanschlags, schrieb Luther in einem Brief an den reformatorischen Theologen Nikolaus von Amsdorf, er trinke in Erinnerung daran, dass zehn Jahre zuvor die Ablässe »vernichtet« beziehungsweise »zu Boden getreten«17 worden seien – Luther trank übrigens nicht etwa einen Tag zu spät, denn der 31. Oktober galt ab zwölf Uhr mittags als »Vorabend« des Festes Allerheiligen und damit als liturgisch zu diesem Tag gehörend. 1537 bekam Luther mit Georg Rörer einen Privatsekretär zur Seite, der helfen sollte, die wichtigen biografischen Daten und Zusammenhänge für die Nachwelt zu überliefern.18 Manche Forscher sehen in den entsprechenden Bemühungen der 1540er Jahre das Streben nach einer »Monumentalisierung« Luthers, zu deren Ergebnissen auch die Erzählung vom Thesenanschlag gehöre.19 Ob das stimmt oder nicht – in der Folge bildete sich ein Kanon »mythischer« Szenen aus Luthers Leben heraus, die bis heute den erzählerischen Rahmen für jede Luthergeschichte ausmachen.
Von Luthers Gewittererlebnis bei Stotternheim, das ihn 1505 ins Kloster trieb, über das »Turmerlebnis«, bei dem er seine reformatorische Entdeckung vom gnädigen Gott machte, bis zum Thesenanschlag 1517, dann weiter von der Verbrennung der Bannandrohungsbulle 1520 als endgültigem Bruch mit dem Papst über Luthers Auftritt beim Reichstag in Worms 1521 als Akt des Widerstands aus Gewissensgründen und dem Aufenthalt auf der Wartburg mit der Übersetzung des Neuen Testaments bis zu Luthers Hochzeit 1525 – Luthers Leben, jedenfalls in den stürmischen Anfangsjahren der reformatorischen Bewegung, lässt sich anhand solcher Szenen erzählen, die die entscheidenden Lebensereignisse des werdenden Reformators bildhaft verdichten, narrativ eingängig machen und für aktualisierende Deutungen öffnen: Protestantische Ernsthaftigkeit kann man anhand des Stotternheim-Ereignisses veranschaulichen, welches einen jungen Mann zeigt, der sich bis in die letzte Konsequenz an sein in einer Notlage gegebenes Versprechen hält; protestantische Innerlichkeit wird an der einsamen Lektüre und der daraus gewonnenen »reformatorischen Erkenntnis« im »Turmerlebnis« deutlich; der Thesenanschlag wird – allerdings erst im 19. Jahrhundert – zu dem Bild für Luthers Reformstreben und Aufbegehren gegen die römische Kirche; vor dem 19. Jahrhundert wird die Konfrontation mit Rom in einer anderen Szene verdichtet, nämlich der Verbrennung der päpstlichen Bulle; Luthers Auftritt in Worms setzt die protestantische »Gewissensreligion«20 ins Bild; der Wartburgaufenthalt zeigt Luther als genialen Sprachschöpfer; und Luthers Hochzeit schließlich symbolisiert das neue Verhältnis, welches die Reformation dem Einzelnen gegenüber der Welt ermöglicht, zeigt Luther als Stifter des evangelischen Pfarrhauses und als Familienvater.
Abb. 1: Luther als Gewissensheld: Hermann Freihold Plüddemann, Luther vor dem Reichstag zu Worms, Öl auf Leinwand, 1864.
Die mythischen, geschichtspolitischen Deutungen, mit denen Luther im Laufe von fast 500 Jahren öffentlich präsentiert wurde, schließen direkt an diese Szenen an: »Luther, der Freiheitsheld«, das ist der Luther, der die Thesen gegen den unterdrückerischen Ablasshandel veröffentlicht, das ist der Luther, der in Worms vor Kaiser und Reich standhält und sich von keiner Macht der Welt einschüchtern lässt. »Luther, der deutsche Nationalheld«, das ist der Luther, der auf der Wartburg die Bibel in verständliches Deutsch übersetzt und der mit einer einheitlichen Sprache auch ein Bewusstsein für die nationale Zusammengehörigkeit der Deutschen schafft; das ist außerdem der Luther, der 1517 gegen den römischen Papst und 1521 gegen den spanischen Kaiser im Namen nicht nur seines Gewissens, sondern auch seiner »lieben Deutschen«21 auftritt und der schließlich mit seiner ganz auf die persönliche Gottesbeziehung ausgerichteten Theologie die »deutsche Innerlichkeit«22 nachhaltig prägt – um nur zwei der zahlreichen historisch-politischen Lutherdeutungen zu nennen.
Abb. 2: Luther als Streiter gegen Rom: Manasse Unger, Luther verbrennt die Bannandrohungsbulle, Öl auf Leinwand, um 1834.
Die Eingängigkeit der Luthergeschichte und die Vieldeutigkeit von Luthers reformatorischen Leistungen führten dazu, dass seit dem 19. Jahrhundert kein deutscher Staat darauf verzichtete, sich des historischen und politischen Mythos Luther zu bedienen: nicht das 1871 gegründete Kaiserreich, das den Nationalhelden Luther in den Vordergrund rückte, nicht die Weimarer Republik, die Luther als Befreier aus Unterdrückung feierte, nicht die Nationalsozialisten, die den »deutschen« Luther propagierten, ohne allerdings dessen christlich-theologische Bezüge allzu stark zu machen, nicht die Deutsche Demokratische Republik, die in einem allmählichen Prozess bis 1983 dazu kam, Luther zum Vorkämpfer des Fortschritts und einem »der größten Söhne unseres Volkes«23 zu erklären, und auch nicht die Bundesrepublik Deutschland, die bei Luther wie bei den meisten historischen Traditionen der deutschen Nationalgeschichte große Zurückhaltung an den Tag legte, 1983 aber der DDR eine eigene Lutherwürdigung entgegensetzen wollte.
Heute ist der Thesenanschlag als Beginn der Reformation der wichtigste und bekannteste Bestandteil des Luthermythos. Allerdings wird immer wieder infrage gestellt, dass die Reformation wirklich mit dem 31. Oktober 1517 beginnt. Manche Reformationsforscher messen Luthers 95 Thesen gegen den Ablass gar keine große inhaltliche Bedeutung zu: Die Thesen enthielten noch gar nichts von dem, was später zur reformatorischen Botschaft Luthers wurde; sie seien vielmehr ihrem Inhalt nach ganz und gar römisch und papsttreu. Seit über hundert Jahren herrscht Streit in der Forschung darüber, wann Luther eigentlich zum Reformator geworden ist, und nicht wenige schlagen ein Datum nach dem Thesenanschlag vor. Andere wiederum verweisen darauf, dass die Reformation gar nicht mit Luther beginnt, sondern Luthers Wirken eine sehr lange Vorgeschichte habe. Tatsächlich entstanden Luthers Ideen keineswegs im luftleeren Raum, und er war bei weitem nicht der Erste, der sie entwickelte und äußerte. Luther selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er nichts Neues lehre, sondern dass er lediglich dieselbe Wahrheit verkünde, die auch schon Paulus im Neuen Testament und nach ihm der Kirchenvater Augustinus verkündeten. Auch der Ruf nach grundsätzlichen Kirchenreformen war 1517 schon lange nicht mehr neu. Auf dem Konzil in Konstanz 1415 wurde Jan Hus als Ketzer verbrannt; als Luther sich näher mit Hus beschäftigte, meinte er, dass Hus auch nichts anderes gelehrt habe als er selbst. Jan Hus, dessen Nachname das tschechische Wort für »Gans« ist, soll auf dem Scheiterhaufen gerufen haben: »Heute bratet ihr eine Gans, aber in hundert Jahren wird ein Schwan aufstehen!« Luther wurde oft auf Bildern mit einem Schwan dargestellt, weil er sein Auftreten als die Erfüllung dieser Prophezeiung und sich selbst als den Vollender von Hus’ Gedanken verstand.24 Luthers 95 Thesen waren aus dieser Perspektive nicht viel mehr als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, oder der Funke, der das längst schon Bereitliegende in Brand setzte.
Abb. 3: Luther mit dem Schwan: Kupferstich, um 1620, aus: Biblia … Goslar: Johann Vogt, 1620.
Ein solcher Funke zu sein, reicht aber manchmal aus, um zu einem epochalen weltgeschichtlichen Ereignis zu werden. Für die Zeitgenossen Luthers war jedenfalls sehr bald klar, dass das Jahr 1517 den Beginn der Reformation markierte. Luther selbst hat, wie gesagt, bereits mit nur zehn Jahren Abstand den 31. Oktober 1517 als die entscheidende Wegmarke gefeiert. Auch danach hat Luther immer wieder auf den Ablassstreit von 1517 als dem Auslöser der Reformation Bezug genommen. Dasselbe gilt für Luthers wichtigsten Mitstreiter Philipp Melanchthon. In dieser Frage herrschte im 16. Jahrhundert sogar seltene überkonfessionelle Einigkeit. 1550 nennt der reformatorische Wittenberger Theologe Johannes Stoltz 1517 das »Annus restauratae religionis«25, das »Jahr der Erneuerung des Glaubens«. Und schon 1535 schreibt ein unbekannter katholischer Autor in einem Bericht über die Anfänge der Reformation: »Von der Zwispaltung so sich des Glaubens und Religion halben im 1517. jar in Teutscher Nacion hat angefangen.«26
Die Auffassung, dass die Reformation 1517 begann, stand somit seit dem 16. Jahrhundert nahezu unerschütterlich fest. Seit dem 18. Jahrhundert kam die Überzeugung hinzu, dass 1517 nicht nur die Reformation, sondern mit ihr im Grunde die ganze Neuzeit beginne, dass 1517 ein echtes Epochenjahr sei, das Jahr nämlich, mit dem das Mittelalter endet und die Moderne anfängt. Diese Auffassung gab es in mehreren Varianten: einer lutherischen, tendenziell antikatholischen, nach der Europa erst in der Reformation geistig zu sich selbst gekommen sei; einer katholischen, tendenziell antiprotestantischen, nach der Europa durch die Reformation seine Seele verloren habe; und einer aufklärerischen, tendenziell antikirchlichen, nach der erst die Reformation dem Kontinent Freiheit und Vernunft gebracht habe. Auch Kombinationen dieser Varianten waren denkbar, etwa wenn im 19. Jahrhundert Johann Wolfgang von Goethe in einer Mischung aus Luthertum und Aufklärung schrieb: »Wir wissen gar nicht, (…) was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten (…) und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will – über die Hoheit und die sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.«27 Und der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel meinte: »Erst mit Luther begann die Freiheit des Geistes.«28
In der Folge solcher Deutungen entwickelte sich der Thesenanschlag zu der mythischen Szene der Reformation. Eine durch Preußen geprägte nationale Erinnerungskultur der Reformation kam in Gang, die historischen Stätten wurden zu Museen und Pilgerorten, unter den entstehenden Lutherdenkmälern war auch die Thesentür der Wittenberger Schlosskirche, und auf Grafiken und Gemälden wurde der Thesenanschlag zu einem äußerst beliebten Bildmotiv. Selbst bei denjenigen mit Luther verbundenen Jubiläumsfeiern, die nicht den Thesenanschlag