Tatsächlich ... Vampir - Lynsay Sands - E-Book
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Tatsächlich ... Vampir E-Book

Lynsay Sands

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Beschreibung

Dem Unsterblichen Justin Bricker liegt die Damenwelt zu Füßen. Keine Frau hat es bisher geschafft, sich seinem Charisma zu entziehen, doch als er auf Holly Bosley trifft, ist alles anders: Denn anstatt sich ihm an den Hals zu werfen, rennt diese erst einmal davon, stürzt und wird lebensgefährlich verletzt. Um sie zu retten, muss er sie wandeln, nur um dann zu erfahren, dass sie bereits verheiratet ist. Doch Justin ist entschlossen, für seine Gefährtin zu kämpfen, auch wenn es bedeutet, alle Regeln zu brechen ...

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Inhalt

TitelZu diesem Buch12345678910111213141516171819Die AutorinLynsay Sands bei LYXImpressum

LYNSAY SANDS

Tatsächlich … Vampir

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

Zu diesem Buch

Dem Unsterblichen Justin Bricker liegt die Damenwelt zu Füßen. Keine Frau hat es bisher geschafft, sich seinem Charisma zu entziehen. Doch Holly Bosley ist alles andere als hingerissen von ihm – ihre erste Begegnung ist ein ausgemachtes Desaster. Denn als sie eines Nachts noch einmal in das Bestattungsinstitut geht, in dem sie arbeitet, um ein paar Unterlagen zu holen, überrascht Holly den Vampir, der dort die Überreste einiger Rogues beseitigen will. Entsetzt ergreift sie die Flucht, stürzt unglücklich und trägt eine tödliche Wunde davon. Justin sieht nur eine Chance – er muss Holly wandeln, um ihr das Leben zu retten. Zum Glück stellt sich dabei heraus, dass sie seine Seelengefährtin ist und er die eine Wandlung, die ihm gewährt ist, nicht vergeuden musste. Es gibt allerdings einen kleinen Haken: Holly ist bereits glücklich verheiratet und denkt gar nicht daran, einfach in Justins Arme zu sinken und die Ewigkeit mit ihm zu genießen. Und das Gesetz der Unsterblichen verbietet es Justin unter Androhung drakonischer Strafen, einen Bund fürs Leben zu sabotieren. Doch der Vampir ist entschlossen, für seine Gefährtin zu kämpfen, auch wenn es bedeutet, alle Regeln zu brechen …

1

»Mist«, murmelte Holly, als ihr Blick auf die Papiere fiel, auf denen sie stand. Die kleine Disk, die mit dem Hefter an der obersten Ecke befestigt worden war, verriet ihr, dass es sich um den Papierkram für einen ihrer Kunden handelte. Dazu gehörten die Bestattungserlaubnis, die Dokumente des Rechtsmediziners, der Antrag auf Einäscherung sowie das Deckblatt mit den persönlichen Angaben des Kunden. Und das alles hätte John Byron ausgehändigt bekommen sollen, als er um halb fünf am Nachmittag seine Schicht begonnen hatte. Offenbar war genau das nicht geschehen. Dieser Vorgang musste irgendwann im Lauf des Tages von ihrem Schreibtisch gerutscht und auf dem Boden gelandet sein.

Holly stand sekundenlang nur da und betrachtete die Papiere. Sie nahm nicht mal den Fuß weg, denn sobald sie das machte, würde sie etwas damit anfangen müssen … sie zum Beispiel zum Krematorium bringen … und dazu hatte sie nun wirklich keine Lust. Nicht um diese Uhrzeit. Tagsüber dort hinzugehen war eine andere Sache, aber jetzt war es bereits nach Mitternacht. Sie müsste dafür über den ganzen Friedhof laufen, um zu dem Gebäude zu gelangen, in dem sich die Kapelle befand, außerdem durch die Urnenhallen sowie das Krematorium selbst, wo die Leichen gelagert wurden und darauf warteten, dass sie an der Reihe waren.

Feuerstätte war der Begriff, den Max benutzt hatte, der Eigentümer des Sunnyside Cemetery, als er sie an ihrem ersten Arbeitstag über das Gelände geführt hatte. Er konnte sie nennen, wie er wollte, aber Feuerstätte war nichts anderes als ein beschönigendes Wort für die Öfen, in denen die Leichen verbrannt wurden.

Beim Gedanken an die Särge, die sich im Kühlraum stapelten, lief Holly ein Schauer über den Rücken, und sie musste für Sekunden die Augen zukneifen. Es schien hier ein beliebtes Spiel zu sein, neue Kollegen mit Geschichten über die »Öfen« in Angst und Schrecken zu versetzen. Ob Jerry von der Tagschicht oder John von der Nachtschicht, ob ihr Boss Max oder Sheila vom Empfang – jeder hatte irgendetwas Grausiges zu berichten. Vor allem war ihr im Gedächtnis geblieben, wie John ihr erzählt hatte, dass zuerst die Särge verbrannten und dass sich manchmal die Leichen im Ofen aufrecht hinsetzten, weil sich die Muskeln in der Hitze zusammenzogen. Dabei stand jedem von ihnen der Mund weit aufgerissen, so als würden sie voller Entsetzen über ihr Schicksal zu schreien beginnen. Dieses Bild war ihr im Kopf hängen geblieben, und es hatte Holly davon überzeugt, dass sie niemals eingeäschert werden wollte. Am besten wäre es sogar, sich um jeden Preis vor dem Tod zu drücken.

Seufzend machte sie die Augen wieder auf und sah weiter auf die Unterlagen vor ihr auf dem Boden. Sie wünschte, sie könnte so tun, als hätte sie diese Papiere nie entdeckt. Immerhin hätte sie sie unter normalen Umständen erst am nächsten Morgen gefunden, denn eigentlich sollte sie jetzt gar nicht mehr hier sein. Angefangen hatte alles damit, dass sie nach der Arbeit nach Hause gefahren war, um das Abendessen zu kochen. Als sie dann nach ihrem Blutzuckermessgerät gesucht hatte, um ihre Werte zu überprüfen, war sie nirgends fündig geworden. Da dieses vermutlich in ihrem Wagen lag und sie nicht wollte, dass deswegen ihr Essen kalt wurde, hatte sie beschlossen, sich anschließend um den Bluttest zu kümmern. Das war dann aber so sehr in Vergessenheit geraten, dass sie erst vor dem Zubettgehen wieder daran dachte, als sie sich die Zähne putzte und damit fast schon fertig war.

Sie zog den Trenchcoat über ihren Pyjama und lief in Schlappen zum Auto, um die Handtasche herauszuholen, doch die befand sich nicht im Wagen. Das verwirrte sie so sehr, dass sie eine Weile in der kalten Garage herumstand und sich zu erinnern versuchte, wann sie die Tasche zum letzten Mal in der Hand gehalten hatte. Das war im Büro gewesen, als sie Sheila Geld fürs Mittagessen gegeben hatte. Als sie sich daran zu erinnern versuchte, wie sie die Tasche über die Schulter gehängt hatte, während sie das Büro verließ, tauchte nicht dieses Bild vor ihrem geistigen Auge auf, sondern eines, das zeigte, wie sie mit beiden Händen einen Stapel Steuerformulare und Belege zum Wagen brachte … aber keine Handtasche. Es war ihr nicht aufgefallen, weil der Schlüssel für ihren Wagen in ihrer Manteltasche gesteckt hatte.

Sie vergeudete weitere Minuten mit der Überlegung, ob sie den Test heute Abend einfach ausfallen lassen sollte, aber letztlich ließ sie resigniert die Schultern sinken und stieg in ihren Wagen, um zurück zum Büro zu fahren. Hin und wieder einen Test zu überspringen war kein Problem, aber gleich zwei hintereinander ausfallen zu lassen, war alles andere als gut. Außerdem waren es bis zum Friedhof nur zehn Minuten, und unter diesen Umständen war es das Risiko, in ein Zuckerkoma zu fallen, nicht wert.

Hätte Holly allerdings gewusst, dass damit die Notwendigkeit verbunden sein würde, den Friedhof zu überqueren, noch dazu im Pyjama, hätte sie vielleicht das Risiko eines Komas in Kauf genommen.

Missmutig verzog sie den Mund, bückte sich und hob die Papiere auf. Es ließ sich nicht umgehen, sie musste die Unterlagen rüberbringen, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Ansonsten würde die Einäscherung erst morgen oder sogar übermorgen vorgenommen werden, und das konnte zu Problemen führen, je nachdem wann die Beisetzung stattfinden sollte.

Sie nahm die Papiere in die eine Hand, während sie mit der anderen den Riemen der Handtasche über ihre Schulter schob. Während sie das Büro verließ, fragte sie sich unwillkürlich, ob ihr Leben nicht viel leichter wäre, wenn sie kein ganz so gewissenhafter Mensch wäre. Verantwortungsbewusst zu sein konnte manchmal verdammt lästig sein, dachte sie auf ihrem Weg nach draußen und holte den Schlüsselbund aus der Manteltasche.

Der Schlüssel für das Beerdigungsinstitut war selbst mitten in der Nacht leicht zu finden, weil er am Bund noch einmal an einem eigenen Ring hing. Dass er noch ganz neu war und daher glänzte, half ihr bei diesen Lichtverhältnissen kaum weiter. Den Schlüssel hatte sie letzten Freitag bekommen, jetzt war Montag. Aber wieso wurde einer vorübergehend eingestellten Mitarbeiterin der Generalschlüssel für das ganze Geschäft überlassen? Die Antwort darauf war ziemlich einfach: weil ihre Kolleginnen nicht so gewissenhaft und so verantwortungsbewusst waren wie sie. Während ihrer ersten Woche war Max an keinem Tag auch nur ein paar Minuten vor zwölf ins Büro gekommen, und Empfangsdame Sheila, die zufällig auch noch die Tochter von Max war, hatte sich gleich an drei Tagen verspätet. Bei den beiden fiel der Apfel wirklich nicht weit vom Stamm.

Nachdem sie am Freitag zum dritten Mal in dieser Woche über eineinhalb Stunden auf dem Firmenparkplatz damit hatte zubringen müssen, auf Sheila zu warten, hatte sie sich ihre Verärgerung anmerken lassen. Und sie hatte vorgeschlagen, doch besser erst später am Tag anzufangen, damit sie nicht ihre Zeit und ihr Geld damit vergeuden musste, auf Sheilas Eintreffen zu warten. Sheila hatte dann eine aus ihrer Sicht bessere Lösung gefunden – sie hatte für Holly einen Schlüssel nachmachen lassen, damit sie ins Büro konnte, sobald sie da war.

Zu gern hätte Holly sich selbst weisgemacht, dass ihre verantwortungsvolle Art für Sheila ausschlaggebend gewesen war, ihr den Schlüssel zu überlassen. Doch sie wusste genau, dass es von Sheila nur Faulheit gepaart mit Bequemlichkeit war. Solange Holly den Schlüssel hatte und rechtzeitig im Büro war, konnte Sheila sich morgens so viel Zeit lassen, wie sie nur wollte. Den Beweis hatte sie gleich am heutigen Tag geliefert, als sie erst zur Mittagszeit im Büro auftauchte – und dann auch noch für sie beide etwas zu essen mitgebracht hatte, was Holly gar nicht gewollt, wofür sie aber dennoch bezahlt hatte.

Sie schloss die Tür ab und drehte sich zum Krematorium um, stutzte dann aber, als sie das Gebäude gar nicht sehen konnte. Es lag am Nebel, der schon diese nächtliche Fahrt zum Büro so unangenehm gemacht hatte. Im Gebäude selbst hatte sie den Nebel dann jedoch völlig vergessen, und nun sah sie sich wieder ringsum mit der trüben Dunkelheit konfrontiert. Ein ängstlicher Schauer kroch über ihre Wirbelsäule nach oben.

Sie hielt sich mitten in einer nebligen, mondlosen Nacht auf einem Friedhof auf, was sie viel zu sehr an eine Szene aus einem Horrorfilm erinnerte. Jeden Moment würden verwesende Leichen sich den Weg aus ihrem Grab freikämpfen, um sich in Hollys Richtung zu schleppen, weil der Geruch nach frischem Fleisch sie antrieb.

»Reiß dich endlich zusammen«, ermahnte sie sich.

Den Klang ihrer eigenen Stimme in der Nacht zu hören machte ihr ein wenig Mut, aber der genügte längst nicht, um sie in Richtung des Krematoriums gehen zu lassen.

Sie trat einen Moment lang unschlüssig auf der Stelle, seufzte und drehte sich wieder zur Tür um. Vielleicht lag ja im Büro ein Regenschirm oder etwas Ähnliches rum, das sie bei sich tragen konnte. Eine Waffe – auch wenn sie noch so nutzlos sein mochte – in der Hand zu haben würde ihr womöglich Mut machen, um den Weg in Richtung Krematorium in Angriff zu nehmen.

Als eine flüchtige Suche weder zu einem Regenschirm noch zu einem Spazierstock führte und sie auch keinen Flammenwerfer finden konnte, um diese eingebildeten Zombies abzuwehren, begnügte sich Holly schließlich mit einer großen Papierschere, die aus dem Stifthalter am Empfang herausragte. Sie nahm die Schere in die Hand, um ein Gefühl für die Größe zu bekommen, und kam zu dem Schluss, dass sie damit gut bedient war. Wahrscheinlich würde sie die Schere sowieso nicht benutzen müssen, aber weil sie so ein Feigling war, fühlte sie sich mit diesem Teil in der Hand gleich viel wohler, als sie wieder nach draußen ging.

Leider war in der Zwischenzeit kein Wind aufgekommen, der den Nebel hätte vertreiben können. Stattdessen kam es ihr so vor, als wäre der Nebel nur noch dichter geworden, doch das konnte sie sich auch einbilden, weil sie solche Angst hatte. Wenn sie wenigstens eine Taschenlampe hätte …

Der Gedanke ließ sie zum Parkplatz sehen. Im Handschuhfach ihres Wagens hatte sie für Notfälle eine Taschenlampe deponiert. Sie lief zum Auto, schloss auf und setzte sich auf den Beifahrersitz, dann durchsuchte sie das Handschuhfach, konnte aber keine Lampe finden. Seufzend ließ sie sich gegen die Rückenlehne sinken, nahm wieder die Papiere und die Schere an sich und stieg aus. Die Handtasche ließ sie allerdings im Wagen, um so das Risiko auszuschließen, dass sie die Tasche versehentlich im Krematorium vergaß.

Während sie versuchte, auf keinen Fall an Filme wie The Fog – Nebel des Grauens oder Die Nacht der lebenden Toten zu denken, ging sie entschlossenen Schrittes in Richtung Krematorium. Und zwar so schnell, wie es nur eben ging. Dabei strengte sie ihre Ohren an, um jedes Geräusch wahrzunehmen, das darauf hindeutete, dass sie nicht allein war. Nachdem sie sich dazu durchgerungen hatte, die Papiere rüberzubringen, zählte für sie nur noch, genau das zu erledigen und dann endlich nach Hause zu fahren. Es war immer am besten, unangenehme Aufgaben so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Ironischerweise hatte es jedoch oft den Anschein, als würden gerade diese unangenehmen Aufgaben übermäßig viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie wusste, es konnte nur mit ihrer Angst zu tun haben, dass ihr die Strecke zum Krematorium viel länger vorkam als üblich. Holly war in Sorge, dass sie in die falsche Richtung gegangen sein könnte und nun bis zum Morgen über den Friedhof irren würde, bis die Sonne stark genug war, um den Nebel aufzulösen.

Plötzlich sah sie vor sich einen schwachen Lichtschein, der von der Lampe über dem Eingang zum Gebäude stammen musste. Sofort ging sie zügig und zielstrebig weiter und atmete erleichtert auf, als sie nahe genug war, um die Tür zu erkennen.

Sie hatte es geschafft! Sie hatte das Krematorium lebend und unverletzt erreicht, und von verwesenden Zombies war sie auch nicht belästigt worden.

»Super«, sagte sie, als sie das Gebäude betrat, und verzog den Mund, als sie hörte, wie schwach ihre Stimme klang. Sie schüttelte sich einmal kurz, dann ging sie zügig an den Türen vorbei, die zu den beiden Kapellen führten, und durchquerte die Urnenhalle. Einige Urnen befanden sich gut erkennbar hinter Glas, andere hingegen waren hinter Messingtafeln verborgen, auf denen der jeweilige Name und alle wichtigen Daten standen. Bei vielen steckten gleich daneben Blumen und alle möglichen anderen Dinge in speziellen Halterungen. Holly hatte Blumen immer gemocht, doch nachdem sie zwei Wochen hier gearbeitet hatte, war es mit ihrer Vorliebe vorbei, und sie verband Blumen nur noch mit dem Tod.

Sie hätte viel entspannter sein sollen, als sie sich tief in ihrem Inneren fühlte. Immerhin enthielten die Urnen nur die Asche der Verstorbenen, und die konnte nicht spontan irgendwelche Formen annehmen, die in der Lage waren, sie zu verfolgen und ihr das Gehirn aus dem Schädel zu reißen. Trotzdem war Holly nervös und schreckhaft, aber der Grund dafür war allzu offensichtlich, denn sie war auf dem Weg ins Krematorium, wo die Särge mit den unlängst Verstorbenen darauf warteten, eingeäschert zu werden.

Während ihrer Führung durch das Unternehmen gleich an ihrem ersten Arbeitstag war ihr der Prozess der Einäscherung erklärt worden, und zwar viel detaillierter, als sie es eigentlich hatte wissen wollen. Trotz der Tatsache, dass sie nur als Aushilfe eingestellt worden war, die sich um die Buchhaltung zu kümmern hatte, ohne in Kontakt mit Kunden zu treten, schloss das offenbar nicht die Möglichkeit aus, genau in dieser Funktion einspringen zu müssen, wenn mal Not am Mann war. Holly betete inständig, dass es dazu niemals kommen möge, denn den Hinterbliebenen im Detail zu schildern, was den Verstorbenen hier alles erwartete, war das Letzte, was sie wollte. Das alles kam ihr sehr grausig vor.

Bis zu diesem Job hatte sich Holly nie allzu viel Gedanken über Einäscherungen gemacht, und wenn es doch einmal vorgekommen wäre, dann hätte sie angenommen, dass der Sarg in die Feuerstätte geschoben wurde, wo dann Flammen hochschossen und kurz darauf am anderen Ende eine hübsche Urne voll mit Asche herauskam. Weit gefehlt. Das alles dauerte sehr viel länger, als sie vermutet hatte. Obwohl Temperaturen von bis zu 1700 Grad Celsius erreicht wurden, konnte die Einäscherung zwei bis drei Stunden in Anspruch nehmen, und dabei kam am anderen Ende auch keine hübsche kleine, mit Asche gefüllte Urne heraus. Die Asche, die nicht nur aus Asche bestand, blieb in der Feuerstätte, um zunächst einmal abzukühlen. Dann kam ein Magnet zum Einsatz, der alles Metall herausholte, von Zahnfüllungen bis hin zu Stiften. War die Asche erst mal abgekühlt, wurde sie mit einem Besen auf ein Blech gefegt, so als wären die sterblichen Überreste nur ein Haufen Staub auf dem Boden, der zusammengefegt werden musste. Die Überreste ließ man dann noch weiter abkühlen, ehe sie in einen Aufbereiter gegeben wurden, der auf Holly mehr wie eine Art Müllschlucker gewirkt hatte. Dort wurde alles – auch Knochen, die die Verbrennung mehr oder weniger heil überstanden hatten – zu einem feinen Staub zermahlen, der dann in die Urne gefüllt wurde, sofern eine bereitstand. Andernfalls wurde sie in eine Tüte gefüllt und in einen Karton gepackt, den die Familie abholen konnte.

»Gruselig«, dachte Holly, während sie durch die nächste Tür in einen kurzen Flur gelangte. Anstelle von gedämpfter Beleuchtung sorgten hier grelle Neonröhren für gleißendes Licht, das von den blass cremefarben gestrichenen Wänden zurückgeworfen wurde. Durch das Fehlen anderer Farben wirkte der Gang fast schon steril.

Holly blieb stehen und hielt beim Blick auf die Tür vor ihr inne, während das Summen der Neonröhren in ihren Ohren dröhnte. John Byron hatte die Schicht von 16:30 Uhr bis 00:30 Uhr und sollte jetzt noch anwesend sein, überlegte sie, als sie auf die Armbanduhr sah. Sie war ihm schon ein paar Mal begegnet, und auch wenn er etwas von einem Zyniker hatte und sich gern auf sarkastische Weise über sich selbst lustig machte, kam er ihr dennoch wie ein ganz netter Kerl vor. Sie rechnete nicht damit, dass er sich zu sehr über sie lustig machen würde, dennoch würde er von ihr bestimmt eine Erklärung erwarten, was sie so spät am Abend noch hier zu suchen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn allein antraf und dass Rick Mexler nicht schon seine Schicht begonnen hatte, die erst um 00:30 Uhr anfing. Da er somit um halb neun am Morgen Feierabend machte und sie nicht vor neun ins Büro kam, hatte sie ihn bislang noch nicht kennengelernt. Ihr war allerdings zu Ohren gekommen, dass er angeblich ein mürrischer Zeitgenosse war, der andere Leute nicht leiden konnte. Mit so jemandem wollte sie sich jetzt nun wirklich nicht herumschlagen müssen, deshalb erschrak sie, als sie die Tür zum Krematorium öffnete und zwei Männerstimmen hörte.

Das Krematorium an sich war ein langer rechteckiger Raum, der jedoch eine L-Form aufwies, weil sich links von der Tür der Kühlraum befand, der eine Fläche von gut zehn mal zehn Metern einnahm. Die Feuerstätten entlang der linken Wand waren durch den Kühlraum verdeckt, sodass sie auch nicht sehen konnte, mit wem sich John unterhielt, da die Stimmen der beiden von den Feuerstätten kamen. Holly ging aber davon aus, dass es sich um Rick handelte.

Als sie weiterging, sah sie, dass das Rolltor zum Kühlraum offen stand, das in etwa so groß war wie ein Garagentor. Im Kühlraum standen verschiedene Särge in den breiten Regalen. Zwei Särge waren aus stabilem Karton, zwei weitere Särge waren aus billigem Holz, daneben fanden sich aber auch drei teure Eichensärge. Holly fiel auf, dass der kleine Gabelstapler vor dem offenen Tor stand, so als hätte John einen Sarg herausholen wollen, wäre dann aber durch Ricks Ankunft davon abgehalten worden.

Holly wandte den Blick vom Kühlraum ab und versuchte, nicht über die Menschen nachzudenken, die dort in ihren Särgen lagen … und auch nicht darüber, was mit jedem von ihnen geschehen würde. Sie hatte fast die Ecke erreicht, da fiel ihr auf, dass keine von beiden Stimmen nach der von John Byron klang. War er schon nach Hause gegangen? Und falls ja, mit wem unterhielt sich dann Rick Mexler? Sie ging langsamer und blieb so vor der Ecke stehen, dass sie die Unterhaltung belauschen konnte, ohne von den Männern gesehen zu werden.

Justin Bricker schob die Trage, auf der tote Abtrünnige gestapelt lagen, vor die Feuerstätte. Nachdem er die Räder blockiert hatte, um ein Wegrollen der Trage zu verhindern, sah er zu Anders, der heute Nacht sein Partner war.

Mit den dunklen Haaren, der dunklen Haut und der schwarzen Lederkleidung wirkte er in dem fast schneeweißen Raum wie ein Schatten. Er beugte sich gerade über den Krematoriumsmitarbeiter, der in einer Ecke stand. Der Sterbliche, der ihnen auf ihr Klopfen hin die Hintertür zum Gebäude geöffnet hatte, wirkte in diesem Augenblick wie ein ungezogener Schuljunge, der von seinem erzürnten Lehrer bestraft worden war. Es fehlte nur das trotzige Gesicht eines Kindes, stattdessen starrte der Mann völlig ausdruckslos vor sich hin, während Anders damit befasst war, ihm die Erinnerung an ihren Besuch zu nehmen und dafür zu sorgen, dass er in der Ecke blieb und ihnen nicht im Weg stand.

Als Anders sich entspannte und auf Justin zukam, zog der die Augenbrauen hoch. »Alles in Ordnung?«

Anders nickte. »Aber wir müssen uns beeilen. Seine Schicht endet in einer Viertelstunde, also dürfte seine Ablösung in Kürze hier auftauchen.«

»Kein Problem. Bis dahin sind wir längst wieder hier raus. So leicht entflammbar, wie wir es nun mal sind, werden diese Typen innerhalb von Minuten zu Staub zerfallen.« Justin öffnete die Tür zur Feuerstätte und stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als ihm ein Schwall heißer Luft entgegenkam. Er schaute zu Anders, der sich soeben zu ihm stellte. »Und? Womit hast du dir Lucians Zorn zugezogen?«

Anstatt zu antworten, fragte Anders: »Wie kommst du auf die Idee, ich könnte ihn verärgert haben?«

Justin grinste ihn breit an. »Weil ich das gemacht habe und zur Strafe jetzt den Müll hier wegschaffen darf. Also nehme ich an, dass wir beide im selben Boot sitzen.«

Anders brummte nur vage und zog den obersten Leichnam vom Stapel, um ihn in die Feuerstätte zu schieben.

»Na, komm schon«, hakte Justin nach, während die Flammen in der Feuerstätte den toten Abtrünnigen erfassten, der so schnell zu lodern begann, als wäre er aus trockenem Stroh. »Irgendwas musst du angestellt haben.«

Anders sah ihm zu, wie er den nächsten Toten folgen ließ. Schließlich gestand er. »Könnte sein, dass ich ihn damit aufgezogen habe, dass er zu Hause so viele Mahlzeiten verpasst, seit Leigh zur Vegetarierin geworden ist.«

»Darüber dürfte er sich eigentlich nicht aufregen«, meinte Justin verwundert. »Es sei denn … Leigh war dabei.«

Er verzog den Mund und griff nach dem nächsten Leichnam. »Dummerweise betrat Leigh gerade das Zimmer, als ich das zu ihm sagte. Ich fürchte, sie hat es mitbekommen.«

»Oh«, bemerkte Justin mitfühlend. Er wusste, Anders hätte so was nicht gesagt, um der Frau vorsätzlich wehzutun. Keiner der Jäger würde das tun, denn Leigh war eine gute Frau, die von allen gemocht wurde. »Ja, ich möchte wetten … Pass auf, der Kopf!«

Anders erstarrte mitten in der Bewegung und hielt den Toten fest, den er erst halb von der Bahre gezogen hatte, doch es war schon zu spät. Der Kopf hatte sich gelöst und rollte über die Kante. Justin versuchte noch, danach zu greifen, aber er war nicht schnell genug. Der Kopf landete mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Boden.

Beide Männer standen da und sahen sich die Bescherung an, schließlich deutete Anders mit einem Nicken auf den Angestellten und murmelte: »Ich schätze, wir können ihn wohl nicht dazu kriegen, das wegzumachen, wie?«

»Das schätzt du ganz richtig. Es wäre schwierig, das so aus seiner Erinnerung zu löschen, dass es auch gelöscht bleibt«, bestätigte Justin amüsiert und sah zu, wie Anders den Kopf an den langen Haaren packte und in die Feuerstätte schleuderte. Er rollte wie eine Bowlingkugel mit Schlagseite, bis er vom Feuer erfasst wurde und explosionsartig in Flammen aufging. »Trocken wie Zunder«, murmelte er.

»Ja, wir sind schon verdammt leicht entflammbar«, stimmte Anders ihm zu.

»Wahrscheinlich macht uns das zu so heißen Typen«, kommentierte Justin und lachte über seinen eigenen Witz. Er brachte sogar Anders zum Lachen, der den nächsten Toten in die Feuerstätte schob. Anders war nicht gerade als humorvoll verschrien, daher war ein Lächeln von ihm gleichzusetzen mit dem schallenden Gelächter, in das jeder andere ausgebrochen wäre.

Ein leises Rascheln und ein Stöhnen lenkte plötzlich Justins Aufmerksamkeit auf eine kleine, rundliche Frau, die an der Ecke des Kühlraums stand. Ihr pechschwarzes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrem beigefarbenen Trenchcoat. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand des Kühlraums ab, als müsse sie irgendwo Halt finden, um nicht zu Boden zu sinken. Ihr Gesicht wies einen deutlichen Grünton auf, während ihr Blick auf die Lache gerichtet war, die von dem runtergefallenen Kopf verursacht worden war. Justin war sich sicher, dass sie den ganzen Vorfall mit angesehen hatte – zweifelsohne ein erschreckender Anblick für jeden, der den Umgang mit Toten nicht gewöhnt war. Er selbst musste in unregelmäßigen Abständen diesen Job hier erledigen, und sogar er konnte das nicht völlig auf die leichte Schulter nehmen.

Langsam wanderte ihr Blick zu ihm und Anders weiter, und Justin fiel auf, dass die Frau wunderschöne, blassblaue Augen hatte, dazu sinnliche, volle Lippen, die förmlich danach schrien, geküsst zu werden, sowie eine absolut süße Stupsnase. Erst dann wurde ihm bewusst, dass sie ihn und Anders voller Entsetzen anstarrte.

»Ich muss den Boden wischen, also kümmer du dich um unsere Zuschauerin«, sagte Anders mürrisch.

»Herzlichen Dank«, gab Justin sarkastisch zurück, aber in Wahrheit hatte er nichts dagegen. Er mochte Frauen, er hatte sie schon immer gemocht, und die hier war ein besonders reizendes Exemplar. Nur schade, dass er mit ihr nicht mehr anfangen konnte, als ihr Gedächtnis zu löschen. Wenn er sie erst einmal kontrolliert und ihre Erinnerungen an den Vorfall hier ausradiert hatte, musste er jeden weiteren Kontakt mit ihr vermeiden, da sonst diese Erinnerungen wieder an die Oberfläche kommen konnten. Na ja, es gab noch genügend andere Frauen, sagte er sich und richtete den Blick auf ihre Stirn, um in ihre Gedanken einzudringen.

»Und?«, fragte Anders nach ein paar Sekunden. »Worauf wartest du? Nun kontrollier sie schon.«

Justin kniff die Augen zusammen. Verwirrung überkam ihn, und er antwortete leise: »Ich kann nicht.«

»Was?« Anders sah ihn verdutzt an.

»Ich kann sie nicht lesen«, erklärte er und konnte selbst kaum glauben, was er da sagte. Ihre Gedanken waren für ihn überhaupt nicht existent.

»Im Ernst?«

»Im Ernst«, versicherte Justin ihm und bemerkte, dass seine Stimme genauso benommen klang, wie er sich fühlte. Verdammt, er konnte sie nicht lesen. Das hieß …

»Tja, dann würde ich an deiner Stelle dafür sorgen, dass sie dir nicht entwischt«, schlug Anders vor. Als Bricker ihn nur entgeistert anstarrte, zeigte er auf die Stelle, an der die Frau gerade eben noch gestanden hatte. »Sie hat die Flucht angetreten«, machte er ihm klar.

Das Geräusch einer zufallenden Tür verriet ihm, dass Anders recht hatte, noch bevor er sich selbst davon überzeugen konnte, dass sie sich nicht länger in diesem Raum befand. Fluchend rannte Justin los. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er zuließ, dass die Frau ihm entwischte … und das nicht nur wegen der Dinge, die sie beobachtet hatte. Er konnte sie nicht lesen, also war sie möglicherweise seine Lebensgefährtin. In so jungen Jahren eine Lebensgefährtin zu finden kam extrem selten vor. Wenn er sie aus den Augen verlor, würde es wahrscheinlich einige Jahrhunderte dauern, ehe ihm die nächste mögliche Lebensgefährtin über den Weg lief. Vielleicht sogar Jahrtausende, und so lange wollte Justin nun wirklich nicht warten, um die Erfahrungen zu machen, die man nur mit einer Lebensgefährtin machen konnte.

Sie war schnell, wie er voller Bewunderung bemerkte, als er den Flur erreichte und sah, wie sie bereits durch die nächste Tür entwischte. Allerdings war Panik auch eine verdammt wirkungsvolle Motivation, und es gab keinen Zweifel daran, dass sie über das in Panik geraten war, was sie beobachtet hatte.

Diese Erkenntnis brachte ihn zum Grübeln, während er weiter hinter ihr herlief. Wenn er sie einholte, würde er vieles erklären müssen. Und er würde sie beruhigen müssen, ehe er ihr klarmachen konnte, dass er kein Mörder war, der hier seine Opfer entsorgte. Und das alles würde er tun müssen, ohne ihre Gedanken kontrollieren zu können. Das dürfte interessant werden, überlegte er missmutig. Diese Bedenken bewirkten, dass er nicht annähernd so schnell lief, wie es ihm eigentlich möglich gewesen wäre. Er wollte in dem Moment eine Erklärung liefern können, wenn er sie einholte. Er wollte es gleich beim ersten Anlauf richtig machen, sie schnell besänftigen und ihr Vertrauen gewinnen. Wenn sie vor ihm Angst hatte oder ihm misstraute, konnte er sie nicht davon überzeugen, dass sie seine Lebensgefährtin war. Die richtigen Worte waren hier von entscheidender Bedeutung.

Nur hatte Justin nicht die geringste Ahnung, welche Worte die richtigen waren. Gleichzeitig lief ihm die Zeit davon. Es erschien ihm ratsam, sie aufzuhalten, noch bevor sie das Gebäude verlassen konnte. Sie rannte bereits durch den letzten Korridor vor dem Ausgang, vorbei an den Kapellen und den Urnenhallen. Er gab es auf, sich weiter Gedanken zu machen, legte einen Sprint ein und bekam die Frau am Arm zu fassen, gerade als sie die letzte Tür erreichte. Als er sie zu sich umdrehte, holte sie mit der freien Hand aus. Justin rechnete mit schwächlicher, mädchenhafter Gegenwehr, deshalb reagierte er zuerst nicht. Die Schere, die sie in ihrer Hand hielt, bemerkte er dadurch erst in dem Augenblick, als sie dazu ansetzte, ihm die Kehle aufzuschlitzen.

Justin schnappte nach Luft und ließ den Arm der Frau los, als er einen stechenden Schmerz spürte. Blut spritzte auf ihren Trenchcoat und lief ihm über den Hals, doch die geringe Menge machte sofort deutlich, dass es keine tiefe Wunde war. Die Attacke hatte ihn genau genommen auch mehr überrascht als ernsthaft verletzt. Dennoch hielt seine Verwunderung lange genug an, um ihr Gelegenheit zu geben, die Tür aufzureißen und nach draußen zu laufen. Fluchend nahm er die Verfolgung auf und ignorierte das Brennen am Hals.

Die Frau – seine Frau – schaute über die Schulter, als sie hörte, wie hinter ihr die Tür aufging. Justin kniff die Lippen zusammen, als er ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah. So viel zu dem Thema, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ungewollt kam ihm ein Aufschrei über die Lippen, als er sie stolpern und das Gleichgewicht verlieren sah. Sie hatte nicht darauf geachtet, wohin sie lief, und dadurch hatte sie die Stufe übersehen, wodurch sie den Halt verlor und auf dem Gesicht landete. Es war kein schwerer Sturz, deshalb rechnete Justin damit, dass sie gleich wieder aufspringen und weiterrennen würde. Doch sie blieb reglos liegen und rührte sich auch dann noch nicht, als er neben ihr stand.

Besorgt darüber, dass sie keinerlei Regung zeigte, hockte er sich hin und drehte sie um. An der Stirn entdeckte er eine Platzwunde, also musste sie beim Hinfallen auf die Steinplatten aufgeschlagen sein. Es war keine ernsthafte Platzwunde, wie er erleichtert zur Kenntnis nahm. Aber gleich darauf verwandelte sich seine Erleichterung in Entsetzen, als er sah, dass sich die Schere in ihre Brust gebohrt hatte. Noch während er zu erkennen versuchte, wie tief die Schere eingedrungen war, schlug die Frau die Augen auf und sah ihn voller Schmerz und Angst an. Aber es war nicht länger Angst vor ihm, sondern eine andere Art von Angst: Angst um ihr Leben. Das Schlimmste daran war, dass Justin genauso um ihr Leben fürchtete wie sie selbst. Es sah gar nicht gut aus.

»Hat deine Mutter dir nie gesagt, dass man nicht mit einer Schere in der Hand durch die Gegend rennt?«, raunte er ihr zu und öffnete ihren Mantel, unter dem ein rosa Pyjama mit weißen Häschen darauf zum Vorschein kam. Dieser Anblick war so unerwartet, dass er sie einen Moment lang nur anstarrte. Dann aber fiel ihm auf, dass sich um die Einstichstelle herum immer mehr weiße Hasen blutrot verfärbten. So schnell, wie das Blut aus der Wunde austrat, war er sich sicher, dass allein die Schere verhinderte, dass eine regelrechte Fontäne aus ihr herausschoss. Es sah nach einer tödlichen Verletzung aus. Er würde seine Lebensgefährtin verlieren, noch bevor er auch nur ihren Namen erfahren hatte.

»Zum Teufel«, murmelte er, schob seinen Ärmel hoch und trieb die Fangzähne, die soeben zum Vorschein gekommen waren, in sein Handgelenk. Nein, er würde sie nicht verlieren.

2

Holly schmatzte ein-, zweimal und strich mit der Zunge durch ihre Mundhöhle. Dann verzog sie das Gesicht, als ihr klar wurde, dass das ihr übler Mundgeruch war, den sie da wahrnahm. Ein ganz übler Mundgeruch sogar, dachte sie angewidert und schlug die Augen auf. Aber sie sah nicht wie erwartet das Dach ihres Himmelbetts, sondern eine weiße Decke in einem Raum mit beigen Wänden. Das war nicht ihr Schlafzimmer.

Sie stützte sich auf die Ellbogen auf und sah sich verwundert um. Da standen ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Wandschrank mit einer Aussparung, in der ein Fernsehgerät untergebracht war. Sie sah pechschwarze Vorhänge, die kein Licht durchließen, dazu links vom Bett einen kleinen Couchtisch mit zwei Sesseln. Und an einer Wand hing ein absolut scheußlicher Kunstdruck. Das alles konnte nur an einem Ort zu finden sein …

»Ein Hotel?«, hauchte Holly überrascht. »Wieso zum Teufel bin ich in einem Hotel?«

Sie setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett, um aufzustehen. Mitten in der Bewegung jedoch erstarrte sie und griff hastig nach der zur Seite rutschenden Bettdecke, um sie sich schnell wieder vorzuhalten, weil … weil sie nackt war. Holly schlief niemals nackt. Sie hielt die Decke an sich gedrückt, während ihr Blick auf der Suche nach ihrer Kleidung durch das Zimmer schweifte. Fündig wurde sie dabei nicht. Das war beunruhigend, aber noch beunruhigender war die Tatsache, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie es dazu gekommen war, dass sie in einem Hotelzimmer nackt im Bett lag.

Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch und schnappte erschrocken nach Luft. Sieben Uhr! Lieber Gott, sie war die ganze Nacht weggewesen. James würde bald nach Hause kommen und sich fragen, wo sie war. Er würde sich Sorgen machen und wissen wollen, was geschehen war. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte, da sie selbst keine Antworten wusste.

Es war ratsam, sich auf den Heimweg zu machen und vielleicht noch vor ihm zu Hause anzukommen. Aber dafür musste sie erst mal das Bett verlassen und sich anziehen. Also stand sie auf und schleifte die Bettdecke hinter sich her, die sie weiter vor ihre Brust hielt. Irgendwie zog die Decke das Bettlaken ein Stück weit mit sich, ehe es sich löste und zu Boden sank. Holly ließ es einfach liegen und ging zum Kleiderschrank, um einen Blick hineinzuwerfen. Was sie sah, war ausnahmslos schwarz: Jeans, Lederhosen, eine Lederjacke und T-Shirts. Alles war ordentlich im Schrank untergebracht, und alles war schwarz.

DaistjemandinSachenModesehreinseitigausgerichtet,ging es ihr durch den Kopf, aber der Gedanke wich augenblicklich einem Anflug von Panik. Das war nicht ihre Kleidung, das war ja nicht mal Frauenkleidung. Es war eindeutig Männerkleidung, aber sie kannte keinen Mann, der sich so anzog. Holly konnte sich niemanden in ihrem gesamten Bekanntenkreis vorstellen, der sich ganz in Schwarz kleidete … und in dessen Bett sie nackt aufwachen könnte. Jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern, obwohl … aus irgendeinem unerfindlichen Grund flößte der Anblick dieser Kleidung ihr Angst ein.

Mit einem Mal wollte sie nur noch hier raus, also riss sie jede einzelne Schublade heraus, da sie hoffte, dort irgendwo etwas anderes zu finden als diese schwarzen Sachen. Aber sie fand nichts außer einem Hauch von Staub. Nicht mal Unterhosen oder Boxershorts. Anscheinend verzichtete der mysteriöse Schwarzträger komplett auf Unterwäsche. Sie versuchte, nicht daran zu denken, als sie zum Schrank zurückkehrte und eine Jeans und ein T-Shirt herausnahm.

Die Hose war ihr zu groß, aber das Problem löste sie, indem sie die Hosenbeine ein Stück weit umschlug und den Gürtel an sich nahm, den sie auf einem der Kleiderbügel entdeckt hatte. Nachdem sie den Gürtel um ein weiteres Loch ergänzt hatte, konnte sie ihn eng genug ziehen, damit die Hose auf ihren Hüften hielt. Das T-Shirt war ebenfalls viel zu groß und reichte ihr fast bis zu den Knien. Holly griff nach dem Saum und verknotete es seitlich, damit es mehr nach einem T-Shirt und weniger nach einem Kleid aussah. Dann griff sie nach der Lederjacke, um das Sammelsurium, das sie am Leib trug, zu verbergen.

Holly ging zur Tür, blieb aber gleich wieder stehen, als sie sich durch die offene Badezimmertür im Spiegel sehen konnte. Lieber Gott, dachte Holly bei ihrem Anblick erschrocken. Wenn sie das ganze Fett einsammelte, das ihre Haare zusammenkleben ließ, würde sie damit glatt noch etwas frittieren können. Ihre Frisur war ein einziges Durcheinander, die Haare standen in alle Richtungen ab, so als hätte sie die ganze Nacht hindurch völlig irren Sex gehabt und dabei den Kopf ständig hin und her geworfen.

Nicht, dass sie diesen völlig irren Sex tatsächlich gehabt hätte … denn daran würde sie sich erinnern, fügte sie im Geiste hinzu, während sie zum Bett schaute. Zumindest hatte ihre Mitbewohnerin am College morgens immer so ausgesehen, wenn ihr Freund zu Besuch gewesen war. Sie hatte jedes Mal behauptet, das sei alles nur die Schuld ihres Freundes, weil der so gut im Bett war.

Mit den Fingern versuchte sie ihr sonst so glattes schwarzes Haar zu bändigen. Als das nicht funktionierte, suchte sie das Badezimmer nach einer Bürste ab, aber natürlich fand sie keine. Warum sollte ausgerechnet dann eine Bürste für sie bereitliegen, wenn sie wirklich eine brauchte? Sie verdrehte die Augen und gab die Suche auf, stattdessen hielt sie nach etwas Ausschau, das sie als Kopftuch benutzen konnte, um ihre Haare darunter zu verstecken. Holly fürchtete, wenn irgendjemand sie so sah, würde er glauben, eine Verrückte vor sich zu haben. Auf jeden Fall würde sie die Aufmerksamkeit anderer Leute auf sich lenken. Solange sie aber nicht genau wusste, was geschehen war und wie sie in dieses Zimmer gekommen war, wollte sie lieber so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen.

Ein Kopftuch gab es nicht, auch keinen Hut oder eine Mütze. Anscheinend besaß der rätselhafte Mann in Schwarz nichts in dieser Art. Frustriert und ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen, bis ihr eine Idee kam. Sie zog noch ein T-Shirt vom Bügel und begann es zu zerreißen, bis ein quadratisches Stück Stoff von passabler Größe übrig war. Nachdem sie es auf den Kopf gelegt und zugeknotet hatte, ging sie wieder zur Tür.

Sie musste herausfinden, wo sie war und wie sie von hier nach Hause kommen konnte, und dann … na ja, wenn sie erst mal zurück in ihren eigenen vier Wänden und damit in Sicherheit war, konnte sie immer noch versuchen herauszufinden, was passiert war und was sie deswegen unternehmen sollte – sofern sie überhaupt etwas unternehmen konnte.

»Sie heißt Holly Bosley«, verkündete Lucian.

»Ja, das hat mir Anders bereits am ersten Abend gesagt, als er mit ihrer Handtasche zurückgekommen war«, erwiderte Justin ungeduldig. Er hielt sich nur in Lucians Zimmer auf, weil der Mann darauf bestanden hatte, mit ihm zu reden. Lucian war niemand, dem man eine Abfuhr erteilte. Aber Justin wollte eigentlich nicht hier sein, sondern in seinem eigenen Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, wo genau diese Frau gerade in seinem Bett lag. Zwei Tage und Nächte lang hatte sie so unruhig geschlafen, dass er bereits in Sorge um sie war. Jede Wandlung, die er bisher miterlebt hatte, war sehr schnell abgelaufen, wobei derjenige, der gewandelt wurde, sich schreiend hin und her wälzte und dabei um sich schlug und trat.

Justin war beunruhigt gewesen, weil Holly sich vergleichsweise ruhig verhalten hatte. Schließlich erfuhr er aber von Lucian, dass Stephano Nottes Wandlung genauso leise vonstattengegangen war und sich über mehrere Tage erstreckt hatte. Das Sonderbare daran war, dass seiner Wandlung auch ein Stich in die Brust vorangegangen war, was Lucian zu der Spekulation veranlasst hatte, ob die Art der Verletzung das Tempo der Wandlung beeinflusste.

Justin war das egal. Ihn interessierte nur, dass Holly überlebte und aufwachte. Er hatte keine Ahnung, wann das der Fall sein würde, aber er wollte dann auf jeden Fall an ihrer Seite sein.

In der Hoffnung, die Unterhaltung etwas schneller zu beenden, fügte Justin an: »Auf dem Friedhofsparkplatz stand ein Wagen, in dem eine Handtasche lag. Anders schlug die Seitenscheibe ein, nahm die Tasche an sich und fand darin den Führerschein. Holly Lynne Bosley. Wagenschlüssel waren nirgends zu finden, und sie trug auch keinen Schlüssel bei sich. Deshalb musste Anders den Wagen kurzschließen, damit er ihn hierher zum Hotel bringen konnte.«

»Gestern Abend hat er sich noch einmal auf dem Friedhof umgesehen und den Schlüssel in der Nähe der Stelle gefunden, wo sie gestürzt war«, ließ Lucian ihn wissen. »Ich habe den Schlüssel in ihre Handtasche getan.«

Justin sah auf die Tasche auf dem Tisch, als Lucian darauf zeigte, und musste unwillkürlich den Kopf schütteln. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass sie doch nicht schlafgewandelt war. Dabei war er fest davon überzeugt gewesen, als er gesehen hatte, dass sie unter dem Mantel einen Schlafanzug trug. Dass sie weder eine Tasche noch einen Schlüsselbund bei sich trug, war für ihn eine Bestätigung seiner Vermutung gewesen. Aber offenbar hatte sie beides mitgenommen, nur nicht bei sich getragen. Doch aus welchem Grund war sie mitten in der Nacht im Pyjama auf dem Friedhof unterwegs gewesen?

»Holly arbeitet als Aushilfe im Friedhofsbüro«, sagte Lucian, als wäre damit alles erklärt.

Für Justin war es das aber keinesfalls, also entgegnete er: »Doch sie würde wohl kaum im Schlafanzug zur Arbeit gehen.«

Lucian hob flüchtig die Schultern an. »Vermutlich hatte sie irgendwas vergessen und ist noch mal hingefahren, als sie eigentlich schon ins Bett gehen wollte.«

»Das ergibt Sinn«, warf Decker ein und lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich. Der Dunkelhaarige in der schwarzen Kleidung der Vollstrecker hatte es sich auf einem der beiden Betten im Zimmer bequem gemacht.

»Nach Mitternacht?«, fragte Justin zweifelnd. »Im Pyjama?«

»Vermutlich ging sie davon aus, dass sie niemandem über den Weg laufen würde«, meinte Lucian.

»Sie war im Krematorium, also genau da, wo sie um diese Uhrzeit garantiert jemandem über den Weg laufen würde«, hielt er dagegen.

»Das ist richtig«, stimmte Lucian ihm zu und fügte an: »Diese Fragen kann niemand außer ihr selbst beantworten.«

»Vielleicht wollte sie irgendwelchen Papierkram abgeben«, überlegte Anders, der durch die offene Verbindungstür aus dem Nebenzimmer hereinkam.

Gerade zog Lucian fragend eine Augenbraue hoch, da warf Justin ein: »Wir sind durch Papierrascheln und Stöhnen auf sie aufmerksam geworden. Als ich allerdings sah, dass sie einen Schlafanzug anhatte, bin ich davon ausgegangen, dass diese Unterlagen auf dem Boden herumgelegen haben und dass sie mit dem Fuß dagegen gekommen war.«

»Oder sie wollte die Papiere dem Typen bringen, der die Öfen bedient, und als sie uns gesehen hat, sind ihr die Unterlagen aus der Hand gefallen«, gab Anders zu bedenken.

Lucian überlegte kurz und nickte nachdenklich. »Das wäre möglich.«

»Aber sie hatte ihren Pyjama an«, beharrte Bricker, der über diese Tatsache einfach nicht hinweggehen konnte. Es war ein verdammter Flanellpyjama gewesen, und dazu hatte sie auch noch flauschige Slipper getragen. Die grässlichen Dinger hatte er sofort weggeschmissen, nachdem er Holly ins Hotel gebracht und sie für ihre Wandlung ausgezogen hatte. Keine Frau, mit der er zusammen sein wollte, sollte einen rosa Flanellschlafanzug und Plüschpantoffel tragen.

Ihr Erscheinungsbild ließ ihn noch jetzt den Kopf schütteln, während er zu Lucian sah und bemerkte, dass der für seine Verhältnisse ungewöhnlich schweigsam war und den Kopf ein wenig schräg hielt. »Was ist?«

»Sie ist aufgewacht«, erklärte er irritiert.

Bricker sprang sofort auf und lief zur Tür.

»Warte, Bricker! Es gibt noch mehr, was du wissen musst«, knurrte Lucian, doch diesmal hörte Justin nicht auf ihn. Seine Lebensgefährtin war wach. Er musste zu ihr, und davon würde ihn nicht mal Lucian Argeneau abhalten.

Holly machte die Zimmertür auf und lief in den Flur, blieb aber erschrocken stehen, als gegenüber ebenfalls eine Tür geöffnet wurde und ein Mann herauskam, der buchstäblich in der nächsten Sekunde vor ihr stand. Das ging so schnell, dass sie sich fragte, ob sie wohl einen kurzen Aussetzer gehabt hatte. Kein Mensch konnte sich so schnell bewegen.

»Oh, hallo. Du bist ja nicht nur wach, sondern auch schon auf.« Als sie ihn reden hörte, sah sie ihn mit großen Augen an. Er klang überrascht, aber was er sagte, überraschte sie noch viel mehr. Er benahm sich, als würden sie sich kennen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer er war.

War sie ihm vielleicht begegnet, als sie ins Hotel gekommen war? Falls ja, würde er ihr vielleicht sagen können, in welcher Verfassung sie sich da befunden hatte und von wem sie hergebracht worden war. Da der Gedanke jede andere Überlegung verdrängte, kam ihr nicht mehr über die Lippen als ein gemurmeltes: »Ich … ja.«

Dann sah Holly ihn nur wortlos an. Mit seinem dunklen Haar und dem Lachen in seinen Augen war er eindeutig attraktiv. Er trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Exakt das, was sie auch anhatte, wie ihr klar wurde, als sie an sich herabblickte.

»Meine Sachen passen dir nicht so ganz, nicht wahr?«, fragte er amüsiert.

»Deine Sachen?«, gab sie beunruhigt zurück. Ihm gehörte das Zimmer, in dem sie aufgewacht war? Und offenbar auch das Zimmer gegenüber, aus dem er eben gekommen war.

»Ja.« Er grinste sie an. »Aber keine Sorge. Ich werde dir nachher etwas Passenderes besorgen, nachdem wir uns unterhalten haben.«

»Oh! Nein, nein! Das ist nicht nötig!«, rief Holly und wich vor dem Mann zurück, als der näher kam. Dass das ein Fehler war, wurde ihr im gleichen Moment bewusst, denn durch ihre Aktion war sie nur wieder in das Zimmer zurückgegangen, aus dem sie eben gekommen war, und sie machte dem Mann auch noch Platz, um ihr nach drinnen zu folgen. Jetzt stand er zwischen ihr und dem Weg in die Freiheit. Noch schlimmer wurde es, als er die Tür hinter sich schloss. Irgendwie wirkte der Raum gleich viel kleiner, wenn er sich darin aufhielt.

Holly biss sich auf die Lippe und wich einen Schritt nach dem anderen zurück, bis sie gegen den Stuhl am Schreibtisch stieß. Sofort ließ sie sich darauf fallen, während ihr Blick kreuz und quer durch das Zimmer zuckte, ehe er zu dem Mann zurückkehrte. Er hatte gesagt, er würde ihr passendere Kleidung besorgen, wenn sie sich erst einmal unterhalten hatten. Die Kleidung interessierte sie nicht halb so sehr wie diese Unterhaltung. Die würde hoffentlich Antworten auf einige ihrer Fragen liefern, von denen ihr Tausende durch den Kopf schwirrten. Wer war er? Wie war sie hierhergekommen? Wer hatte sie ausgezogen? Warum hatte sie nackt im Bett gelegen? Hatte sie die ganze Zeit über allein im Bett gelegen? Wie lange hatte sie da gelegen? Wo war ihre Kleidung?

Es gab noch viel mehr, was sie wissen wollte, aber damit waren auf jeden Fall die wichtigsten Dinge abgedeckt. Sie musterte ihn skeptisch und fragte: »Wer bist du?«

»Oh.« Er lächelte verlegen. »Ich schätze, ich hätte mich erst mal vorstellen sollen. Mein Name ist Justin Bricker.«

»Justin Bricker«, wiederholte sie leise, doch der Name sagte ihr gar nichts. Sie war davon überzeugt, dass sie ihn noch nie gehört hatte. Außerdem kam ihr dieser Justin nicht bekannt vor.

»Wie fühlst du dich?«, wollte er wissen, blieb neben dem Schreibtisch stehen und sah sie voller Sorge an.

»Gut«, antwortete sie reflexartig, erst dann hielt sie inne und horchte auf ihren Körper, um festzustellen, ob das auch stimmte. Ja, es stimmte größtenteils. Sie fühlte sich wie ein völlig ausgetrockneter Schwamm, doch davon und von leichten Kopfschmerzen abgesehen ging es ihr gut. Gab es Grund zu der Annahme, dass es ihr nicht gut gehen könnte? Hatte man ihr vielleicht irgendeine Droge verabreicht, die ihre fehlende Erinnerung erklären würde? Mit diesem Gedanken im Hinterkopf fragte sie zögerlich: »Wie sollte ich mich denn fühlen?«

Aus einem ihr unerfindlichen Grund brachte ihre Frage ihn dazu, dass seine Lippen sich zu einem schwachen Lächeln verzogen. »Na ja, das ist bei jedem anders. Manche haben rasende Kopfschmerzen, vermutlich weil sie dehydriert sind. Andere haben bloß einen trockenen Mund und fühlen sich ansonsten besser als davor.«

»Als vor was?«, fragte Holly misstrauisch, da seine Worte sie hellhörig machten. Sie hatte leichte Kopfschmerzen und einen sehr trockenen Mund.

»Als vor der Wandlung«, erklärte er geduldig.

»Als vor der Wandlung?«, wiederholte sie verständnislos. »Was für eine Wandlung?«

Justin Bricker kniff leicht die Augen zusammen, schwieg einen Moment lang und fragte schließlich: »Woran erinnerst du dich?«

»In Bezug auf was?«, konterte sie, während ein ungutes Gefühl sie überkam. Dass dieser Mann mit einem Mal so ernst dreinschaute, machte sie nervös.

»Was ist deine letzte Erinnerung?«, wollte er wissen, ohne ihre Frage zu beantworten.

Holly durchforstete ihr Gedächtnis und erinnerte sich daran, dass sie sich vor dem Zubettgehen die Zähne geputzt hatte, als ihr auf einmal eingefallen war, dass sie ihren Blutzucker noch nicht überprüft hatte. Sie war zum Wagen gegangen, um das Messgerät aus ihrer Handtasche zu holen. Da sie es dort und auch nicht irgendwo anders im Wagen gefunden hatte, war sie ins Büro gefahren. Was danach bis zu dem Moment geschehen war, als sie im Hotelzimmer eines fremden Mannes nackt in dessen Bett aufgewacht war, daran fehlte ihr jegliche Erinnerung.

»Ich war auf dem Weg ins Büro, um meine Handtasche zu holen«, erklärte sie leise.

Als er die Augenbrauen hochzog, begann sie zu ahnen, dass ihr einiges an Erinnerungen abhandengekommen war. Vermutlich wichtige Dinge, weil sie die wichtigen Dinge immer irgendwie verpasste.

»Erinnerst du dich daran, dass du dein Büro betreten hast?«, hakte er nach.

Wieder durchforstete sie ihr Gedächtnis, musste aber den Kopf schütteln. »Habe ich es betreten?«

»Ja, das hast du«, versicherte Justin ihr, schürzte die Lippen und verlagerte sein Gewicht ein wenig, ehe er hinzufügte: »Wir glauben, du hattest Papiere dabei, als du ins Krematorium kamst. Kann es sein, dass du irgendwelche Unterlagen entdeckt hast, die du trotz der Uhrzeit noch rüberbringen wolltest?«

Holly dachte über die Frage nach. »War an den Unterlagen an einer Ecke eine Disk angeheftet?«

Justin zögerte kurz, dann verließ er das Zimmer und ging nach gegenüber, wo sie ihn fragen hörte: »War eine Disk an die Papiere angeheftet, die im Krematorium auf dem Boden gelegen haben?«

Eine Antwort konnte Holly nicht hören, aber gleich darauf kam Justin zurück, schloss die Tür hinter sich und nickte. »Ja, da war eine Disk mit dabei.«

»Dann waren es Papiere, die benötigt werden, um jemanden einzuäschern. Wenn ich die gefunden habe und sie hätten im Lauf des Tags schon ins Krematorium gebracht werden sollen, dann kann es sein, dass ich auch so spät am Abend noch rübergegangen bin«, bestätigte sie seufzend.

»Du hattest einen Pyjama an«, sagte er in einem irritierten oder vielleicht auch missbilligenden Tonfall, womöglich sogar in einem Tonfall, der beides zum Ausdruck brachte. Ehe sie dazu etwas sagen konnte, fuhr Justin fort: »Hat irgendwas davon eine Erinnerung wach werden lassen? Weißt du jetzt wieder, ob du mit den Papieren zum Krematorium gegangen bist?«

Holly biss sich auf die Lippe und bemühte ihr Gedächtnis, aber das war alles so vage, dass sie auf keine konkrete Erinnerung stieß.

»Es war nach Mitternacht, es herrschte dichter Nebel«, redete er weiter. »Du konntest wahrscheinlich nicht mal einen Meter weit sehen, aber trotzdem bist du zwischen Gräbern hindurch zum Krematorium gegangen … in einem rosa Flanellschlafanzug mit weißen Häschen und in Plüschpantoffeln, und darüber einen Trenchcoat.«

Die Art, wie er ihre Kleidung beschrieb, machte auf Holly den Eindruck, dass er das befremdlich fand. Zugegeben, das war schon ziemlich unorthodox gewesen, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, irgendjemandem zu begegnen. Genau das war jedoch anscheinend der Fall gewesen. Erinnern konnte sie sich daran allerdings nicht, also schüttelte sie den Kopf, räusperte sich und fragte: »Wo sind eigentlich meine Sachen?«

Justin zögerte. Anstelle einer Antwort kam eine weitere Frage: »Erinnerst du dich an das Krematorium? Daran, dass du von dort weggegangen bist? Dass du hingefallen bist?«

Holly hob abrupt den Kopf. Sie war hingefallen? Weil das eine Menge erklären konnte, fragte sie: »Habe ich mir dabei den Kopf gestoßen?«

»Ja.« Justin schien erleichtert, aber der Grund dafür wurde ihr klar, als er nachhakte: »Daran kannst du dich also erinnern?«

»Nein«, musste sie kleinlaut zugeben. »Ich nehme das nur an, weil es erklären würde, wieso mir der Kopf wehtut und wieso ich eine Gedächtnislücke habe.«

»Ah, ja. Verstehe«, sagte er seufzend. »Dann kommt dir also nichts davon bekannt vor?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht mal, wer du bist. Dein Name sagt mir nichts.« Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

»Dafür gibt es auch gar keinen Grund«, räumte er leise ein. »Wir sind uns nie zuvor begegnet.«

»Oh«, murmelte sie. Zumindest erklärte das diesen Punkt. Dann … dann musste er sie gefunden haben, nachdem sie hingefallen war, überlegte sie. Sie war zum Büro gefahren, hatte irgendwelche Papiere entdeckt, die sie ins Krematorium bringen wollte, und dann war sie auf dem Rückweg hingefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen. Das musste schon ein heftiger Sturz gewesen sein, wenn sie nicht nur das Bewusstsein, sondern auch einen Teil ihrer Erinnerung verloren hatte. Eine Kopfwunde war ihr noch gar nicht aufgefallen, allerdings hatte sie auch nicht danach gesucht.

»Dann hast du mich gefunden, nachdem ich hingefallen war?« Als sie sein Zögern bemerkte, fügte sie an: »Oder hast du mich hinfallen sehen?«

»Ja, ich habe dich hinfallen sehen«, bestätigte Justin und klang erleichtert.

»Und ich hatte keine Handtasche und keinen Ausweis dabei«, sagte sie betrübt, korrigierte sich aber sofort: »Meine Handtasche war in meinem Wagen, und ich hatte den Wagenschlüssel dabei.«

»Als ich bei dir ankam, war da kein Wagenschlüssel«, erklärte Justin. »Der muss dir aus der Hand gefallen sein, als du gestürzt bist. Als ich dich nach drinnen trug und uns klar wurde, dass du einen Schlafanzug anhattest, aber weder Handtasche noch Schlüssel noch irgendetwas anderes bei dir trugst, dachten wir, du wärst eine Schlafwandlerin.«

»Eine Schlafwandlerin?«, wiederholte sie verdutzt und musste lachen. »Mit einem Mantel an? Ziehen Schlafwandler erst noch den Mantel über?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand er ihr. »Ich habe noch nie jemanden gekannt, der schlafwandelt.«

»Oh.« Holly nickte bedächtig, dann versuchte sie die Zusammenhänge zu erfassen, indem sie ihre Gedanken laut aussprach. »Dann hast du mich hergebracht, weil ich keine Handtasche und keinen Ausweis bei mir hatte.« Ehe er darauf reagieren konnte, fragte sie: »Aber warum hast du mich nicht einfach ins Krankenhaus gebracht?« Als er schwieg, sagte sie: »Ohne meine Handtasche hatte ich auch keine Versichertenkarte bei mir, und das Krankenhaus hätte mich vielleicht nicht behandeln wollen, weil es keinen Beleg dafür gab, dass ich die Behandlung würde bezahlen können.«

Wieder schien Justin aus irgendeinem Grund zu zögern, schließlich setzte er sich seufzend am Fußende aufs Bett und sah sie lange ernst an. »Die Situation ist etwas komplizierter, als du denkst.«

Neugierig legte Holly den Kopf schräg. »So?«

»Ja, weißt du …« Justin unterbrach sich, sein Mienenspiel war wie ein rasend schnelles Wechselbad der Gefühle, ehe er endlich verdruckst sagte: »Ich muss dir ein paar Dinge erzählen, die sich ein wenig … na ja, ein wenig verrückt anhören werden.«

Holly zog nur die Augenbrauen hoch.

»Du musst wissen, dass du nicht nur eine Kopfverletzung davongetragen hast. Du hattest eine Schere in der Hand und …«

»Eine Schere?«, unterbrach sie ihn verwundert. »Warum sollte ich eine Schere zum Krematorium mitnehmen?«

»Wie gesagt, es war dunkel und neblig … du warst auf einem Friedhof unterwegs. Es war unheimlich. Vielleicht warst du nervös.«

Holly nickte nachdenklich. Ja, das sollte wohl genügen, um das Bedürfnis zu verspüren, irgendeine Art von Waffe zur Hand zu haben. Normalerweise war sie nicht nervös, aber sie war zuvor auch noch nie in einer nebligen Nacht auf einem Friedhof unterwegs gewesen.

»Jedenfalls bist du gerannt«, fuhr Justin fort, als sie weiter schwieg, »und bist hingefallen. Dabei hast du dir nicht nur den Kopf gestoßen, sondern …«

»Warum bin ich gerannt?«, fiel Holly ihm ins Wort.

Auf ihre Frage hin verzog er den Mund und ließ sich mit der Antwort viel Zeit. »Du hast etwas gesehen, das du falsch aufgefasst hast.«

»Und was habe ich gesehen?«

»Dazu komme ich noch«, versicherte er ihr. »Aber erst mal musst du verstehen, dass ich dir niemals etwas antun würde. Als du gefallen bist, da bist du in deine Schere gestürzt, die sich dabei in deine Brust gebohrt hat. Ich …«

»Was?«, unterbrach sie ihn abrupt. Ihr war beim Anziehen nichts aufgefallen, und als sie jetzt den Kragen des T-Shirts wegzog, damit sie ihren Oberkörper betrachten konnte, war ebenfalls nichts zu sehen. Sie warf Justin einen finsteren Blick zu, weil er ihr einen solchen Schreck eingejagt hatte. »Ich bin nicht verletzt.«

»Nein, bist du nicht. Weil ich dich geheilt habe«, erklärte er.

Holly zwinkerte ein paar Mal ungläubig, dann wiederholte sie betont langsam: »Du hast mich geheilt?«

Er nickte.

»Und wie?«, fragte sie, konnte aber den zweifelnden Tonfall nicht verhindern.

»Tja, das ist der Punkt, an dem es knifflig wird«, sagte Justin, dem sein Unbehagen deutlich anzumerken war.

»Ach ja?« Sie kniff die Augen ein wenig zusammen.

»Ja, weißt du …« Er unterbrach sich, rieb sich mit einer Hand übers Gesicht und verkündete dann entschieden: »Ich werde daraus nicht das gleiche Theater machen wie Bastian und die anderen.«

»Das ist gut«, erwiderte Holly, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was er da eigentlich redete.

»Ich meine, mal ehrlich. Wie dämlich ist das denn, mit der Frage anzufangen, ob du schon mal American Werewolf gesehen hast?«

»Ähm …« Holly verstummte verwirrt.

»Es war einfach nur dumm. Ich meine, wir sind schließlich keine Werwölfe, nicht wahr?«

»Nicht?«, fragte Holly. Dass er kein Werwolf war, das war doch eigentlich klar.

»Richtig«, sagte er zufrieden. »Warum also mit so was anfangen? Das verwirrt nur noch mehr, nicht wahr?«

»Kann sein …«, antwortete sie ausweichend.

Er nickte. »Okay, also …« Justin verstummte, zog die Augenbrauen zusammen und fing noch einmal von vorn an: »Wie gesagt, es ist egal, wie verrückt das klingen mag – ich bin nicht verrückt. Du bist bei mir in Sicherheit. Ich würde dir niemals etwas tun. Niemals. Das schwöre ich dir.«

»Okay«, murmelte Holly. Je öfter er das jedoch behauptete, umso größer wurde ihre Sorge. Je beharrlicher er ihr versicherte, er werde ihr nichts tun, umso mehr befürchtete sie, dass es genau dazu doch kommen würde.

»Gut … also, weißt du …« Und wieder unterbrach er sich, dann machte er ihr klar: »Ich werde es einfach ohne irgendwelche Umschweife sagen.«

»Okay«, stimmte Holly ihm zu.

»Gut.« Er nickte. »Es wird sich verrückt anhören.«

»Okay«, sagte sie, wunderte sich aber nicht mehr über diese Äußerungen. Sie glaubte jetzt längst, dass mit diesem Mann irgendwas nicht stimmte.

»Also«, setzte er ein weiteres Mal zum Reden an, dann platzte er heraus: »Ich bin ein Vampir.«

Holly starrte ihn an. Da hatte sie gerade eben noch geglaubt, auf alles gefasst zu sein, und dann … »Ein Vampir?«

»Ja, aber eigentlich sind wir keine Vampire«, versicherte er ihr. »Ich meine, wir haben zwar Fangzähne, und früher haben wir uns von Sterblichen genährt, und wir sind auch stärker und all so was, aber wir sind weder tot noch seelenlos.«

»Und das ist … ähm, gut?« Sie machte aus ihrer Erwiderung eine Frage, weil sie keine Ahnung hatte, was die richtige Antwort sein sollte. Der arme Mann war offenbar verrückt. Ein Vampir? Lieber Himmel. Da dachte sie, dass diese Vampirmanie schon wieder erledigt war, und dann kam Justin Bricker und zeigte Spätfolgen dieses kurzzeitigen Hypes. Der arme Kerl hielt sich für einen Vampir. Das war wirklich traurig. Dabei sah er so gut aus. Er war nett und machte einen intelligenten Eindruck, und dann hatte er solche Geistesstörungen.

Aber sie war ihm noch etwas schuldig. Immerhin hatte er sich um sie gekümmert, nachdem sie hingefallen und bewusstlos geworden war. Holly vermutete, dass der Teil der Geschichte zutraf. Es passte zu ihren Kopfschmerzen und dem Gedächtnisverlust.

Der Rest seiner Geschichte dagegen – dass sie in ihre Schere gefallen und sich schwer verletzt haben sollte, und dass er sie geheilt hatte mit … mit was genau er sie geheilt haben wollte, wusste sie überhaupt nicht. Vampire waren dafür bekannt, dass sie Leute bissen und deren Blut tranken. Aber dass sie Leute heilten, das war nichts, was Vampire machten. So was erledigte Jesus. Vielleicht, überlegte sie, brachte er seine Wahnvorstellungen ja mit Religion durcheinander. Soweit sie wusste, spielte Religion bei Verrückten oft eine wichtige Rolle.

»Oh ja, das ist gut«, versicherte Justin ihr. »Seit wir uns nicht mehr von Sterblichen nähren müssen, ist das Leben längst nicht mehr so kompliziert.«