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Claudia Szczesny-Friedmann analysiert in diesem Buch evolutionspsychologisch die grundlegenden Strategien im Umgang mit anderen: Kooperation und Konkurrenz. «Tauben» sind kooperativ eingestellt und neigen zu Vorsicht und Rücksicht. «Falken» sind auf Kampf eingestellt und darauf, die überlegene Position zu erringen. Die Kenntnis der unterschiedlichen Verhaltensweisen hilft uns, unser eigenes Repertoire zu erweitern, um flexibel und den Umständen angemessen reagieren zu können. «Tauben» können lernen, dem Impuls zu widerstehen, im Konfliktfall zu fliehen oder sich zu unterwerfen, während «Falken» bei der Durchsetzung ihrer Interessen die Rücksicht auf andere im Blick haben sollten. Die Autorin zeigt, wie wir unser eigenes Verhaltensrepertoire erweitern und so zu einem fairen Umgang mit uns selbst gelangen können.
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Seitenzahl: 277
Claudia Szczesny-Friedmann
Taube oder Falke
Warum wir sind, wie wir sind - und was wir daran ändern können
Rowohlt Digitalbuch
Dass sie dem jugendlichen Menschen verheimlicht, welche Rolle die Sexualität in seinem Leben spielen wird, ist nicht der einzige Vorwurf, den man gegen die Erziehung erheben muss. Sie sündigt außerdem darin, dass sie ihn nicht auf die Aggression vorbereitet, deren Objekt er zu werden bestimmt ist. Indem sie die Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben entlässt, benimmt sich die Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und Karten der oberitalienischen Seen ausrüsten würde.
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930
Warum gehen manche Menschen voller Zuversicht durchs Leben, während andere unter den gleichen Umständen ängstlich und verzagt sind? Warum scheint den einen alles zuzufliegen, während andere sich noch so große Mühe geben können, ohne ihre Ziele je zu erreichen? Warum haben die einen ein geradezu unerschütterliches Selbstvertrauen, während andere beständig an ihrem eigenen Wert zweifeln? Kurz: Warum gibt es Gewinner und Verlierer?
Die evolutionäre Psychologie, welche die Erkenntnisse von Charles Darwin konsequent weiterentwickelt und auf den Menschen anwendet, gibt neue Antworten auf diese Fragen. Menschliches Verhalten, Denken und Fühlen sind aus dieser Perspektive ebenso ein Produkt der Evolution wie unsere Hände, Lungen und Augen. Wenn wir uns verlieben, mit dem Kollegen streiten, bei einem Wettbewerb unser Bestes zu geben versuchen, uns ängstigen oder vor Scham in den Boden versinken wollen, dann sind Verhaltensprogramme aktiviert, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben. Die evolutionäre Psychologie sieht die menschliche Seele als eine Kollektion von Problemlösungsstrategien, die unseren Vorfahren einen Anpassungsvorteil erbracht haben. Das menschliche Gehirn beherbergt also einen Geist aus dem Steinzeitalter. Die mentalen Strukturen, über die wir immer noch verfügen, weil sie in der Vergangenheit Probleme effizient lösten, erzeugen deshalb nicht unbedingt adaptives Verhalten in der Gegenwart. In einer wesentlichen Hinsicht sind wir also noch nicht in der Moderne angekommen. Auch laufen diese Programme oft unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab, was ein Grund dafür ist, dass wir bisweilen nicht wissen, was wir tun. Dabei dreht sich alles um zwischenmenschliche Beziehungen. Eines der wichtigsten Probleme, welches unsere Vorfahren zu lösen hatten, bestand nämlich darin, sich in der sozialen Welt zurechtzufinden. Unser psychischer Apparat ist deswegen weitgehend sozialer Natur. Er hat sich herausgebildet, um uns dabei zu helfen, das Leben zu bestehen – miteinander und gegeneinander.
Sie werden feststellen, dass manche Hypothesen und Forschungsergebnisse der evolutionären Psychologie unbequem sind, wenn nicht gar unmoralisch erscheinen, weil sie sich nicht mit unseren Idealvorstellungen und ethischen Maximen decken. Ich jedenfalls war bei meinen Streifzügen durch das Gebiet der evolutionären Psychologie mehr als einmal regelrecht schockiert. Zwar sind wir eine Spezies mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Kooperation, was die technischen und kulturellen Errungenschaften erst ermöglicht hat, über die allein der Mensch verfügt. Aber wir sind auch das aggressivste Tier auf diesem Planeten, und überdies Meister in der Kunst des Täuschens, Lügens und Betrügens. Da ist Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung. Wozu soll es führen, wenn wir beharrlich nur an das Gute im Menschen glauben wollen und jedes Mal verstört sind, wenn wir einen Beweis für das Gegenteil erhalten? Man kann eine Blinddarmentzündung schließlich auch nicht behandeln, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass es so etwas eigentlich nicht geben dürfte.
Erfolg ist aus evolutionärer Perspektive immer sozialer Erfolg. Ob wir die Ziele, die wir uns setzen, erreichen oder nicht, hängt nämlich ganz wesentlich von unseren sozialen Beziehungen ab. Unsere Mitmenschen können uns unterstützen und fördern, aber auch nachhaltig behindern, einschränken und ausbeuten. Wenn der Nutzen, den wir aus Beziehungen ziehen, größer ist als die Kosten, die uns entstehen, so zählen wir zu den Gewinnern. Wenn wir es jedoch sind, welche stets die Rechnung bezahlen, dann gehören wir zu den Verlierern.
Menschen wie auch alle sozial lebenden Tiere verfolgen zwei grundlegende, einander diametral entgegengesetzte Strategien im Umgang mit ihren Artgenossen: Konkurrenz, Streben nach Vormachtstellung auf der einen Seite, und Kooperation auf der anderen Seite. Veranlagung und Erziehung scheinen jeweils eine Ausrichtung zu begünstigen, sodass wir es in der Regel mit Menschen zu tun haben, die entweder stärker der Konkurrenz oder der Kooperation zuneigen. Ich werde die einen Falken, die anderen Tauben nennen.
Tauben zählen Friedfertigkeit, Verlässlichkeit, Fairness und Vertrauenswürdigkeit zu ihren Vorzügen; groß ist jedoch das Risiko, dass sie von anderen ausgenutzt, überfahren und übervorteilt werden. Auch sind sie eher zurückhaltend und vorsichtig, was dazu führt, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten unterschätzen. Falken haben einige Trümpfe in der Hand: Sie verstehen es, ihre Interessen durchzusetzen und sich durch geschicktes Taktieren Vorteile zu verschaffen. Es besteht für sie jedoch die Gefahr, als unfaire Mitspieler entlarvt zu werden oder auf jemanden zu treffen, der ihnen überlegen ist und mit dem sie deshalb besser gemeinsame Sache gemacht hätten. Auch ihre große Risikobereitschaft kann Falken zum Verhängnis werden.
Nicht nur beim Menschen, auch bei Tieren lassen sich diese zwei Persönlichkeitstypen deutlich voneinander unterscheiden. Je nach Perspektive und Untersuchungskontext wird dabei für Tauben und Falken eine ganze Reihe weiterer Bezeichnungen verwendet, wie sensibel/robust, high reactors/low reactors, scheu/kühn, friedfertig/aggressiv oder ängstlich/furchtlos. Innerhalb der Arten ist die Zahl derer, die dem Spektrum der Tauben zuzuordnen sind, fast immer gleich hoch: 15–20 Prozent. Deshalb ist anzunehmen, dass es sich für in Gruppen lebende Tiere als vorteilhaft erwiesen hat, wenn einige von ihnen besonders zu Vorsicht und Rücksicht neigen. Selbstverständlich ist es ebenso gut, auch einige in der Gruppe zu haben, die nicht in jeder Situation eine Gefahr oder verhängnisvolle Folgen wittern. Falken sind bereit, Risiken einzugehen, alles Neue zu erforschen oder für die Gruppe und ihr Gebiet zu kämpfen. Wenn man jedoch einseitig auf Falken setzt, also auf die durchsetzungsfähigeren, aggressiveren Mitglieder einer Gruppe, dann steigt das Konfliktpotenzial in einem Maße, dass auch die Lebens- und Überlebenschancen der Falken davon beeinträchtigt werden.
Tauben wie Falken müssen sich in drei Formen sozialen Miteinanders bewähren: im kooperativen Modus, im Kampfmodus und im Prestigemodus.
Kooperation ist die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, deren Grundlage ein wechselseitiges Geben und Nehmen ist. Hilfst du mir, so helfe ich dir – und umgekehrt. Es ist ein System, von dem theoretisch gesehen alle gleichermaßen profitieren. In der Praxis hat jedoch derjenige den größeren Erfolg, der etwas mehr bekommt, als ihm zusteht oder er zu geben bereit ist. Deshalb haben Menschen (aber auch Tiere) die Fähigkeit entwickelt, andere zu belügen, zu betrügen und zu täuschen. Parallel dazu hat sich die Fähigkeit entwickelt, die Manipulationsversuche anderer zu durchschauen. Das Nachsehen im kooperativen Modus haben jene, die unter allen Umständen fair bleiben (Folgen einer Erziehung, die vom moralischen Standpunkt aus als gelungen bezeichnet wird) oder die Ausbeutungstaktiken der anderen nicht erkennen.
Eine andere Strategie, das zu bekommen, was man haben möchte, besteht darin, mit anderen, die das Gleiche wollen, zu kämpfen. In der Frühzeit der Menschheit nahm die Konkurrenz um die verfügbaren Ressourcen die Form von physischen Auseinandersetzungen und Drohgebärden an, die den Rivalen einschüchtern sollten. Als zivilisierte Menschen haben wir es heute im Kampfmodus eher mit psychologischen Methoden der Kriegsführung zu tun. In beiden Fällen ist die Situation des Unterlegenen prekär: Da ihm der Zugang zu dem, was er haben möchte, größtenteils verwehrt wird und er stets mit Angriffen ‹von oben› rechnen muss, lebt er in einem Zustand permanenter Anspannung. Er läuft deshalb Gefahr, körperlich oder seelisch zu erkranken, während dem Überlegenen nicht nur Erfolg, sondern auch ein langes Leben beschieden sind.
Erfreulicherweise haben Menschen noch eine weitere Strategie entwickelt, um sich an die Spitze zu setzen. Statt Rivalen einzuschüchtern, versucht der Einzelne, sie durch seine besonderen Qualitäten zu beeindrucken. Es geht im Prestigemodus darum, (positive) Aufmerksamkeit zu erringen und sich auf diese Weise Status und Privilegien zu sichern. Schönheit, Charme, die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen oder das Talent, Gedichte zu verfassen, eine besondere Begabung zu singen oder zu tanzen oder mathematische Probleme zu lösen: Dies alles und vieles mehr kann im Prestigemodus Voraussetzung dafür sein, Erfolg zu haben. Das Nachsehen haben jene, die zu schüchtern sind, um auf sich aufmerksam zu machen, oder die nicht geübt in der Kunst der Selbstdarstellung sind.
Kooperativer Modus, Kampfmodus und Prestigemodus werden hier zum besseren Verständnis deutlich voneinander abgegrenzt. Im wirklichen Leben kommen sie jedoch selten in Reinkultur vor. Ebenso verfolgen nur wenige Menschen eine reine Tauben- oder Falkenstrategie. Wenn es für die Gruppe oder Gemeinschaft von Vorteil ist, sowohl Tauben als auch Falken zu ihren Mitgliedern zu zählen, so ist es für den Einzelnen am aussichtsreichsten, wenn er beide Strategien beherrscht und sie an die jeweiligen Umstände angepasst einsetzt. Dies ist die Voraussetzung für Gesundheit und Erfolg. Aber auch wer bislang sehr einseitig gewesen ist, kann größere Flexibilität erlangen. Wie inzwischen erwiesen ist, sind Gene und Kindheit kein Schicksal. Das neuronale Netzwerk unseres Gehirns besitzt lebenslang eine hohe Plastizität. Wir können uns deshalb auch als Erwachsene noch verändern. Das notwendige Rüstzeug dafür besteht aber in der Kenntnis der Verhaltensmöglichkeiten, welche eine Tauben- oder eine Falkenstrategie im jeweiligen Modus bereitstellt. Die Gegenüberstellung der Extrempositionen – Falke versus Taube – soll dabei der Verdeutlichung dienen.
Jedes Kapitel ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgestellt, welche die Grundlage dieses Buches bilden. Diese werden im zweiten Abschnitt dann ergänzt durch Alltagsbeobachtungen, in denen Sie sich und andere wiedererkennen können. Schließlich werden im dritten Abschnitt die Schlussfolgerungen dargestellt, die man nun ziehen kann – in Form ganz konkreter Ratschläge.
Vielleicht haben Sie ja alles schon gewusst, was ich Ihnen in diesem Buch sagen will. Vielleicht geht es Ihnen aber auch wie mir und Sie finden bei der evolutionären Psychologie wertvolle Navigationshilfen auf Ihrem Weg durchs Leben.
Beziehungen zu haben ist ein Schlüssel zum Erfolg. Mehr noch: Wir sind existenziell auf andere Menschen angewiesen, um das Leben zu bestehen. Ob es um Liebe geht oder um Krieg, um die Herstellung von Kühlschränken oder die Veröffentlichung von Gedichten, Menschen müssen zusammenarbeiten, um diese Aufgaben zu bewältigen. Unsere Mitmenschen können uns zudem Rat und Hilfe geben, uns unterstützen, wenn wir in Not sind, wichtige Informationen oder lebensnotwendige Ressourcen mit uns teilen. Das soziale Netzwerk, in dessen Mittelpunkt wir leben, schützt uns vor Isolation und Vereinsamung, fördert unser berufliches und soziales Fortkommen und erfüllt überdies eine Pufferfunktion in Stresssituationen: Je tragfähiger unsere sozialen Beziehungen sind, desto höher ist unsere Lebenserwartung, desto besser ist unser Gesundheitszustand, desto eher erholen wir uns von Krankheiten und Krisen, und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, seelisch zu erkranken.
Verbindliche Beziehungen werden geknüpft, indem man einander Dienste und Gefälligkeiten erweist. Durch wechselseitiges Geben und Nehmen entstehen Bindungen, auf die der Einzelne im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Dabei erfordert jede Leistung eine Gegenleistung. Wer nimmt, der geht damit die Verpflichtung ein, bei nächster Gelegenheit zu geben – wobei der Wert der einen Leistung in etwa dem Wert der anderen entsprechen soll. Eine Einladung beispielsweise erfordert eine Gegeneinladung, und wenn ihnen jemand dabei behilflich gewesen ist, einen Job zu finden, so hat er ein Anrecht darauf, dass Sie ihm auch seinen Weg ebnen, falls dies einmal nötig sein sollte. Nicht immer erfolgt die Rückzahlung in derselben Währung: Ein Kochrezept kann gegen Petersilie aus dem Gemüsegarten getauscht werden, die Vermittlung eines zuverlässigen Handwerkers gegen die Adresse eines guten Tierarztes, die Bereitschaft, zuzuhören, kann mit der Bereitschaft abgegolten werden, als Babysitter einzuspringen. Der kooperative Modus funktioniert also nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit, und Menschen sind mit der Fähigkeit ausgestattet, Schuld- und Verdienstkonten für jede einzelne ihrer sozialen Beziehungen zu führen und auf eine ausgeglichene Bilanz zu achten: unser Sinn für Fairness und Gerechtigkeit.
Kooperation oder reziproker Altruismus sind auch im Tierreich bekannt. Da sind zum Beispiel die Vampirfledermäuse. Sie tragen ihren Namen, weil sie vom Blut anderer Tiere leben. Tagsüber verstecken sie sich und nachts saugen sie das Blut von Rindern und Pferden. Nicht immer sind sie dabei erfolgreich. Vor allem die jüngeren, unerfahrenen Fledermäuse gehen bisweilen leer aus. Das ist deshalb dramatisch, weil Vampirfledermäuse nur drei Tage ohne Nahrung überleben können. Dennoch kommt es selten zum Tod durch Verhungern, weil die Vampirfledermäuse sich gegenseitig helfen. Der Biologe G. S. Wilkinson entdeckte, dass die Fledermäuse regelmäßig einen Teil des Blutes, das sie gesaugt haben, wieder von sich geben und an die erfolglosen Jäger ihrer Kolonie abtreten. Dies geschieht aber nicht willkürlich. Die Fledermäuse spenden Blut nur denjenigen, mit denen sie in der Vergangenheit viel zusammen gewesen waren und die ihnen ebenfalls Blut abgaben, wenn es erforderlich war.
Kooperatives Verhalten zahlt sich nämlich nur aus, wenn auch der andere kooperativ ist. Wenn jemand sich Vorteile verschafft, die Gegenleistung aber schuldig bleibt, dann hat der Geber das Nachsehen. Da der wechselseitige Austausch in den meisten Fällen nicht gleichzeitig stattfindet, ist Kooperation anfällig für Betrug. Wenn ich Ihnen heute einen Gefallen erweise, muss ich darauf vertrauen, dass Sie mir diesen Gefallen irgendwann in Zukunft erwidern. Helfe ich Ihnen in Zeiten der Not, muss ich darauf vertrauen, dass Sie mir später ebenfalls helfen. Falls Sie mir dann jedoch Ihre Hilfeleistung verweigern, war meine Hilfsbereitschaft umsonst oder hat unter Umständen sogar meine eigenen Lebenschancen beeinträchtigt. Es gehört deshalb zur mentalen Ausstattung des Menschen (wie auch beispielsweise der Vampirfledermäuse), das Betrugsrisiko abzuschätzen: die Wahrscheinlichkeit, etwas zurückzubekommen, ist umso größer, je länger man sich kennt und je weiter in die Zukunft hinein eine Beziehung angelegt ist. Einem Freund Geld zu leihen, mit dem man vermutlich auch viele Jahre später noch Kontakt haben wird, ist weitaus weniger riskant als einem Fremden, dem man vielleicht nie wieder begegnen wird.
Wahre Nächstenliebe, so haben wir gelernt, erwartet keine Gegenleistung. Doch wer wahrhaft selbstlos ist, macht sich zum Objekt der Ausbeutung durch andere. Um dies zu verhindern, hat uns die Natur nach Ansicht des Evolutionsbiologen Robert Trivers mit der Fähigkeit ausgestattet, bei mangelnder Gegenseitigkeit moralische Entrüstung zu empfinden. Der Ärger über eine ausgebliebene Gegenleistung hindert einen kooperativen Menschen daran, einem Empfänger, der sich als unwürdig erwiesen hat, weiterhin entgegenzukommen. Gleichzeitig dient der Ärger dazu, den anderen zu größerer Kooperationsbereitschaft zu ‹erziehen›. Wir leben in einer sozialen Welt, in der unser Ruf darüber entscheidet, ob andere sich mit uns befreunden oder ob sie uns meiden. Wer als jemand gilt, der andere ausnützt, riskiert, seine Reputation als guter Kooperationspartner zu verlieren und beim nächsten Mal übergangen oder sogar ausgeschlossen zu werden.
Auch Tiere können sich moralisch entrüsten. Vor allem unter Menschenaffen und ganz besonders unter Schimpansen und Bonobos gehört wechselseitiges Geben und Nehmen zu den herausragenden Kennzeichen ihres Soziallebens. Dabei müssen die ausgetauschten Güter nicht unbedingt die gleichen sein: Nahrung kann gegen Nahrung, aber auch gegen Dienstleistungen wie Fußpflege oder gegen Sex getauscht werden. Wenn eine Gruppe von Schimpansen sich Nahrung teilt, dann geht es in der Regel friedlich zu. Nur gelegentlich kommt es zu einem aggressiven Schlagabtausch. Opfer der Aggression sind jene Schimpansen, die in der Vergangenheit wenig von ihrem Futter abzugeben bereit waren. Wenn die offensichtlich erwartete Gegenleistung für großzügiges Teilen ausbleibt, dann neigen Schimpansen zu Strafmaßnahmen – häufig erst nach langen persönlichen Erfahrungen mit einem Mitglied ihrer Gruppe. Auch wir kennen alle den Schnorrer, der, immer wenn es ans Bezahlen der gemeinsamen Mahlzeit geht, gerade kein Geld dabeihat. Einmal lassen wir es ihm durchgehen. Vielleicht sind wir sogar noch ein zweites Mal spendabel – aber dann machen wir unserem Ärger Luft oder verzichten auf die Gesellschaft des Schnorrers.
Das Problem des reziproken Altruismus ist von dem Mathematiker Robert Axelrod und dem Evolutionsbiologen William D. Hamilton spieltheoretisch analysiert worden. Spieltheorie ist eine abstrakte Form, strategisches Denken im stark vereinfachten Rahmen eines Spiels darzustellen. Eines der bekanntesten dieser Spiele heißt das «Gefangenen-Dilemma». Es ist ein Spiel mit zwei Spielern, von denen jeder zwei Entscheidungsmöglichkeiten hat, nämlich zu kooperieren oder nicht zu kooperieren. Jeder muss seine Wahl treffen, ohne zu wissen, wie der andere sich verhalten wird. Das Dilemma liegt darin, dass es für jeden Spieler vorteilhafter ist, eine egoistische Strategie zu verfolgen, also nicht zu kooperieren, dass es jedoch für jeden Spieler ungünstiger ist, wenn beide sich egoistisch statt kooperativ verhalten. Die Situation wird folgendermaßen verdeutlicht: Zwei Gefangene werden verdächtigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Die Höchststrafe für das Verbrechen beträgt fünf Jahre. Der Richter macht jedem der beiden Gefangenen das Angebot, straffrei davonzukommen, falls er gesteht und damit den anderen belastet. Falls beide schweigen, erhalten beide aufgrund von Indizienbeweisen eine Strafe von zwei Jahren, falls beide gestehen, eine Strafe von fünf Jahren. Die beiden Gefangenen sind voneinander isoliert und können sich deshalb nicht über ihr Vorgehen abstimmen. Jeder von ihnen hat zwei Möglichkeiten: zu schweigen oder zu gestehen, also (aus der Sicht des jeweils anderen Gefangenen) zu kooperieren und sich damit eine Haftstrafe von zwei Jahren einzuhandeln, oder den anderen zu verraten und damit im besten Fall ohne Strafe davonzukommen. Wenn die Gefangenen sich gegenseitig verraten, so ist der Ausgang denkbar ungünstig: Beide müssen fünf Jahre lang im Gefängnis sitzen.
Wenn dieses Spiel über wenige Runden gespielt wird, so erweist sich die egoistische Strategie, also Verrat, als vorteilhaft, vor allem dann, wenn der Gegenspieler kooperiert. Rücksichtslosigkeit führt zum Erfolg. Das Gegenstück zur Strategie der bedingungslosen Durchsetzung eigener Interessen ist die unbedingte Kooperation. Falls der Mitspieler ebenfalls kooperationsbereit ist, ist diese Strategie durchaus erwägenswert, weil sie das Risiko herabsetzt, fünf Jahre eingesperrt zu werden, und moralisch gesehen Pluspunkte bringt. Es besteht jedoch die Gefahr der Ausbeutung, falls der Partner die aggressive Strategie anwendet.
Nehmen Sie, übertragen auf eine Alltagssituation, beispielsweise eine Wohngemeinschaft. Da haben sich zwei, drei oder mehr Menschen in einer Wohnung zusammengetan, was ein gewisses Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft erfordert. Im Gegensatz zur Familie, die hierarchisch strukturiert ist, sind Rechte und Pflichten auf die Mitglieder einer Wohngemeinschaft theoretisch gleich verteilt. In der Praxis kommt es jedoch immer wieder vor, dass einer sich davor drückt, seinen Anteil an Arbeit – die gemeinsame Küche aufzuräumen, den Mülleimer hinunterzutragen – zu leisten. Diesen Anteil müssen dann die anderen Mitglieder übernehmen, und wenn sie gutwillig sind, wird daraus bald eine feste Gewohnheit. Sie tragen die Kosten (eine höhere Arbeitsbelastung), der Drückeberger (der gerade jetzt keine Zeit hat oder einfach nicht so pingelig ist wie die anderen) erzielt den Gewinn.
Eine aggressive, auf Ausbeutung zielende Strategie ist jedoch nur kurzfristig von Vorteil. Robert Axelrod und William D. Hamilton konnten zeigen, dass der Schlüssel zur Entwicklung der Kooperation darin liegt, das Spiel so oft zu wiederholen, dass keiner der Spieler weiß, wann das Spiel endet – wie es im Leben meist der Fall ist. Nun erweist sich die Strategie als überlegen, die man tit-for-tat genannt hat, frei übersetzt: wie du mir, so ich dir. Dabei ist folgendermaßen vorzugehen: Man kooperiert im ersten Zug, in jedem weiteren Zug spielt man dann jedoch den Zug, den der Gegenspieler beim letzten Mal benutzt hat. Freundlichkeit wird mit Freundlichkeit beantwortet, jede Form der Grenzüberschreitung mit Gegenaggression. Diese Strategie ist kooperationsbereit, wehrt sich aber auch gegen Ausbeutungsversuche. Gleichzeitig ist sie nicht nachtragend, sondern beantwortet erneute Kooperationsbereitschaft mit Kooperation. Tit-for-tat gewinnt nicht, indem es den anderen besiegt. Es ermuntert den Mitspieler vielmehr zu einem Verhalten, das beiden zum Vorteil gereicht.
Die Psychologen Robert Kurzban und Daniel Houser haben entdeckt, dass in einer beliebigen Gruppe etwa 60 Prozent der Menschen die Tit-for-tat-Strategie anwenden – sie sind kooperativ, aber nur, wenn ihr Gegenüber es auch ist. 20 Prozent sind sogenannte free rider, Trittbrettfahrer, die nur auf ihren eigenen Vorteil achten, und weitere 20 Prozent sind bedingungslos kooperativ – unabhängig davon, was ihr Partner tut. Es liegt auf der Hand, dass sie sich von Trittbrettfahrern leicht ausbeuten lassen.
Kooperation ist ein System, von dem theoretisch gesehen alle gleichermaßen profitieren. In der Praxis hat jedoch derjenige den größeren Erfolg, der etwas mehr bekommt, als ihm zusteht oder er zu geben bereit ist. Wer andere jedoch ganz offensichtlich auszubeuten versucht, der muss damit rechnen, bestraft oder aus dem sozialen Verkehr ganz ausgeschlossen zu werden. Deshalb haben Menschen (aber auch Tiere) die Fähigkeit entwickelt, andere zu belügen, zu betrügen und zu täuschen.
Wer die Bilanz zwischen Geben und Nehmen zu seinen Gunsten frisieren will, der kann beispielsweise den Wert der eigenen Leistung höher ausgeben, als er tatsächlich ist – auf diese Weise bleibt der andere, der die ‹geringere› Leistung erbracht hat, etwas schuldig. Möglich ist das, weil der Aufwand, der hinter einer bestimmten Leistung steht, nicht immer offensichtlich ist. Man kann also maßlos übertreiben und so eine Gegenleistung einfordern, die weit kostspieliger ist als der ursprünglich geleistete Einsatz. Auch hinsichtlich der Fähigkeiten, die erforderlich sind, um eine bestimmte Leistung zu erbringen, kann man bluffen: Man kann versuchen, so zu tun, als ob die Anforderungen weit höher wären, als sie es tatsächlich sind. Auf diese Weise werden die Kosten niedrig gehalten, der Nutzen maximiert.
Was ist mehr wert: dass ich für Sie eingekauft habe oder dass Sie mein Auto in die Waschanlage gefahren haben? Wenn ich Sie überzeugen kann, dass mein Einkauf weitaus größere Kosten und Mühen verursacht hat als Ihre Autofahrt, die Sie überdies dazu benutzt haben, noch ein paar Erledigungen auf eigene Faust zu tätigen, dann bleiben Sie in der Rolle des Schuldners – auch wenn mein Aufwand in Wirklichkeit geringer war als Ihrer. Der Empfänger einer Gefälligkeit kann auch so tun, als hätte er eigentlich gar nichts Wertvolles bekommen, woraus folgt, dass er auch nichts zurückzugeben braucht. Man kann auch die Motive des Wohltäters so umdeuten, dass aus einem Geber ein eigennütziger Mensch wird: Damit, dass er mich in seinem Auto nach Hause gebracht hat, wollte er sich eigentlich nur wichtig machen – mit seinem neuen Auto protzen – mich einwickeln, damit ich ihn zu meiner Geburtstagsparty einlade. Alle diese Unterstellungen entbinden den Schuldner von seiner Pflicht, Gegenleistungen zu erbringen.
Menschen haben also die Fähigkeit entwickelt, andere zu belügen und zu betrügen, um sich Vorteile zu verschaffen. Parallel dazu hat sich aber auch die Fähigkeit entwickelt, die Manipulationsversuche anderer zu durchschauen. In dem Wechselspiel zwischen Täuschung und Verdacht, Betrug und Entlarvung liegt nach Meinung moderner Evolutionstheoretiker sogar der Ursprung der spezifischen mentalen Ausstattung des Homo sapiens und seiner nächsten Verwandten. Das, was im Allgemeinen als soziale Intelligenz bezeichnet wird, wird von ihnen deshalb Machiavellistische Intelligenz genannt, nach dem berüchtigten Machtexperten Niccolò Machiavelli. Dieser schrieb im 15. Jahrhundert: «Zwischen dem Leben, wie es ist und wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass, wer das, was man tut, aufgibt für das, was man tun sollte, eher seinen Untergang als seine Erhaltung bewirkt. Ein Mensch, der immer nur das Gute tun wollte, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind.» (Niccolò Machiavelli. Discorsi, S. 93)
Im Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta, Georgia, wurde eine Gruppe von sechs heranwachsenden Schimpansen beobachtet. Nur einem von ihnen – dem Weibchen Belle – wurde gezeigt, wo im Gehege das Futter verscharrt worden war. Belle leitete die fünf anderen Schimpansen in der ersten Zeit zielstrebig zum Versteck, und die Schimpansen teilten sich das Futter redlich. Dann begann Rock – das dominante Männchen der Gruppe –, Belle zu treten und zu beißen, sobald sie das Versteck verraten hatte, denn Rock wollte alles Futter für sich allein haben. Zwischen Belle und ihm entwickelten sich in der Folge immer raffiniertere Formen der Täuschung und Gegentäuschung. Zunächst verriet Belle das Futterversteck nicht, solange Rock in der Nähe war. Meistens setzte sie sich direkt darauf, was Rock bald erriet. Er schubste sie beiseite und nahm sich Obst und Gemüse. Belle blieb nun auf dem Weg zum Versteck sitzen und wartete, bis Rock in die entgegengesetzte Richtung blickte, bevor sie sich zum Futter begab. Bald lernte Rock, Belle im entscheidenden Moment nicht aus den Augen zu lassen. Belle wiederum ging dazu über, Rock freiwillig ein Stück Obst oder Gemüse zu überlassen, um sich dann mit dem Rest aus dem Staub zu machen …
Man geht heute davon aus, dass sich die Intelligenz von Primaten und Menschen als Reaktion auf die Herausforderungen des Soziallebens entwickelt hat – und nicht etwa ein Instrument zur Bewältigung der nicht sozialen Umwelt ist. Unsere Erfahrung bestätigt dies: Tagein und tagaus sind wir damit beschäftigt, Täuschungsmanöver aufzudecken oder zu kaschieren, Lügengespinste zu entwirren oder selbst zu lügen. Man sucht Ausflüchte dafür, warum man zu einer Verabredung zu spät gekommen ist, man färbt seine Haare, um Jugendlichkeit vorzutäuschen, und trägt eine Brille aus Fensterglas, um den Eindruck von Kompetenz zu erwecken. Man präsentiert eine Vase, die man schon lange entsorgen wollte, als wertvolles Geschenk und behauptet, einen Kuchen selbst gebacken zu haben, der in Wirklichkeit vom Konditor stammt. Man lächelt einem Angestellten freundlich zu, dessen Entlassungspapiere man gerade unterschrieben hat, und gratuliert dem Chef, den man für einen Vollidioten hält, zu seiner Weitsicht. Umgekehrt registriert man, dass die Intellektuelle zwar einen eindrucksvollen Stapel anspruchsvoller Bücher auf dem Wohnzimmertisch herumliegen lässt, die «Bunte» und «Gala» aber in ihrem Schlafzimmer versteckt; man achtet auf Anzeichen dafür, dass der Partner einen betrügt oder dass der Zahnarzt Reparaturen vornehmen will, die nur ihm selbst etwas nützen. Man teilt sich im Restaurant die Rechnung mit einem Freund und überschlägt im Kopf die Mehrkosten, die man dabei übernommen hat; man hegt den Verdacht, dass die Kopfschmerzen, die eine Freundin just in dem Moment überfallen haben, als sie uns beim Umzug helfen sollte, nicht ‹echt› sind. Auch ein Großteil dessen, was wir als ‹Nachrichten› bezeichnen, handelt entweder vom Betrug oder von seiner Entlarvung.
Die Entwicklung der menschlichen Sprache hat die Fähigkeit zur Täuschung zweifellos potenziert. Bereits im Tierreich ist jede Art der Kommunikation nicht so sehr ein Mittel, andere zu informieren als vielmehr ein Mittel, andere zu manipulieren. Mit dem Sprachvermögen ist dem Menschen jedoch ein Instrument in die Hand gegeben, mit Hilfe dessen er ohne großen Aufwand Überzeugungsarbeit in eigener Sache zu leisten vermag. Die sogenannte Wirklichkeit ist schließlich weitgehend Verhandlungssache. Wem es gelingt, seine Sicht der Dinge als objektive Wahrheit durchzusetzen, der kann seine Interessen ungehindert verfolgen. Dazu ein Beispiel aus der Weltliteratur: Tom Sawyer ist von seiner Tante Polly dazu verdonnert worden, den Gartenzaun zu streichen, als ausgerechnet Ben Rogers des Weges kommt, vor dem Tom sich am wenigsten lächerlich machen möchte. Da hat er die erlösende Idee: Er tut vor Ben so, als sei es ein seltenes Privileg, Zäune zu streichen, das nur von wenigen Auserwählten wahrgenommen werden kann. Tom bringt Ben so weit, dass er schließlich sogar dafür bezahlt, die Arbeit Tom Sawyers erledigen zu dürfen. Ein solches Kunststück ist nur mit sprachlichen Mitteln zu bewerkstelligen.
Aus evolutionärer Sicht ist der Mensch ein sehr soziales, aber eigennütziges Wesen. Keiner von uns wäre jetzt am Leben, wenn unsere Vorfahren nicht auf ihren eigenen Vorteil bedacht gewesen wären – Individuen, die so selbstlos waren, dass sie sich von jedem ausbeuten ließen, hatten im survival of the fittest keine Chancen gehabt. Außerdem attestiert uns die Evolutionsbiologie einen grundsätzlichen Mangel an Aufrichtigkeit. Die Verständigung untereinander dient häufig dem Ziel, andere zu belügen, zu betrügen und zu täuschen. Doch damit nicht genug. Der Mensch ist nicht nur ein Meister der Täuschung, sondern auch der Selbsttäuschung, wobei die Selbsttäuschung im Dienste der Täuschung stehen soll. Die Argumentation ist folgende: Wenn ich mir meiner Absicht im Moment des Täuschungsversuchs bewusst bin, besteht die Gefahr, dass ich mich ungewollt durch Gestik und Mimik verrate. Menschen neigen dazu, rot zu werden, zu stottern oder zu schwafeln, den Blick abzuwenden und fahrige Bewegungen zu machen, wenn sie lügen; und andere Menschen sind dazu in der Lage, all diese Zeichen blitzschnell zu deuten. Wenn ich meine wahren Motive jedoch überzeugend vor mir selbst verberge, dann mag es mir umso besser gelingen, auch mein Gegenüber zu täuschen.
Robert Trivers vermutet, dass hierin der Grund für die Entwicklung des Unbewussten liegen könnte. Es stellt die Region unseres Geistes dar, in der unsere wahren Motive zwischengelagert werden. Sie beeinflussen zwar unser Verhalten, aber wir können und müssen uns keine Rechenschaft über sie ablegen.
Als Entdecker des Unbewussten gilt Sigmund Freud, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts festgestellt hat, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist. Auch wenn der Mensch sich für ein vernunftbegabtes Wesen hält, wird er doch zu einem großen Teil nicht von Bewusstsein und Verstand, sondern von unbewussten Antriebskräften gesteuert. Diese Grundaussage der Psychoanalyse war lange Zeit sehr umstritten, weil sie der Vorstellung widersprach, die der Mensch seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert von sich hatte, und weil sie wissenschaftlich nur schwer zu beweisen war. Die moderne Gehirnforschung konnte Freuds Annahme unbewusster seelischer Prozesse jedoch bestätigen. Ihr ist es in den letzten Jahren gelungen, mit Hilfe bildgebender Verfahren darzustellen, wie unser Gehirn arbeitet. Zahlreiche Untersuchungen ergaben, dass nur ein kleiner Teil der Tätigkeit des Gehirns ins Bewusstsein gelangt. Wahrnehmen, Denken und Handeln finden großenteils im Unbewussten statt, also ohne dass wir davon Kenntnis erlangen. Allerdings ist unser Bewusstsein ständig darum bemüht, Rechtfertigungen für das zu finden, was wir tun – Sigmund Freud hat in diesem Zusammenhang von Rationalisierungen gesprochen.
Dies zeigt eine berühmte Serie von Experimenten, die an Split-brain-Patienten durchgeführt wurden – Menschen, bei denen die Verbindung zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte durchtrennt worden war, um schwere epileptische Anfälle zu unterbinden. Der Eingriff hatte wenig Einfluss auf das Verhalten der Patienten im Alltag, aber unter bestimmten Bedingungen ereigneten sich erstaunliche Dinge. Wenn das Wort ‹Nuss› nur dem linken Auge (dessen Nervenbahnen zur rechten Hirnhälfte führen) präsentiert wurde, aber nicht dem rechten (dessen Nervenbahnen zur linken Hirnhälfte führen), dann war sich der Patient des Signals nicht bewusst. Denn die dargebotene Information gelangte nie in die linke Hirnhälfte, die bei den meisten Menschen für Sprache und Bewusstheit zuständig ist. Die linke Hand des Patienten kramte jedoch unter einer Vielzahl von Gegenständen in einer Schachtel eine Nuss hervor, ohne dass der Patient angeben konnte, warum er ausgerechnet dieses Objekt gewählt hatte. Häufiger als das Eingeständnis von Unwissenheit ist jedoch die Erfindung plausibler Begründungen für ein Verhalten, dessen Motive der Betroffene selbst nicht kennt. Ein Beispiel: Der Befehl ‹geh!› wird der rechten Hirnhälfte eines Patienten zugesandt, und er tut, was ihm aufgetragen worden ist. Wenn er gefragt wird, wohin er gehe, dann führt die linke Hirnhälfte, die den wahren Grund nicht kennt, einen anderen, plausiblen an: Er will sich gerade etwas zu trinken holen, sagt der Patient voller Überzeugung. Der Psychologe und Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga, der einige der Split-brain-Experimente durchgeführt hat, meint deshalb, dass die Sprache nur der ‹Presseagent› für andere Teile des menschlichen Geistes sei. Sie rechtfertigt, was immer für Handlungen das Unbewusste initiiert, mit dem Ziel, die Welt davon zu überzeugen, dass der Handelnde eine vernünftige Person ist.
Fairness zahlt sich aus, solange auch alle anderen sich anständig benehmen. Aber es lohnt sich nicht immer, nett zu sein. Gerade unter anständigen Menschen hat vielleicht derjenige den größten Erfolg, der die sozialen Austauschprozesse zu seinen Gunsten zu beeinflussen versteht. Und in einer Welt von Betrügern wäre es ganz offensichtlich verkehrt, der einzig Aufrichtige zu bleiben. Nach den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie haben wir nicht nur ein angeborenes Programm für kooperatives Verhalten, sondern auch ein Programm für Betrug: Unser Persönlichkeitsstil entscheidet, welches Programm bevorzugt zur Anwendung kommt.
Ein Persönlichkeitsstil ist die besondere Art eines Menschen im Umgang mit anderen. Falken und Tauben werden die beiden grundlegenden Strategien repräsentieren: Konkurrenzverhalten auf der einen und Kooperation auf der anderen Seite.
Tauben zählen Friedfertigkeit, Verlässlichkeit, Fairness und Vertrauenswürdigkeit zu ihren Vorzügen; groß ist jedoch die Gefahr, dass sie von anderen ausgenutzt, überfahren und übervorteilt werden. Falken verstehen es, ihre Interessen durchzusetzen und sich durch geschicktes Taktieren Vorteile zu verschaffen. Sie riskieren jedoch, als unfaire Mitspieler entlarvt zu werden, die versuchen, auf Kosten anderer zu leben und voranzukommen.
Falken und Tauben lassen sich auch auf neurobiologischer Ebene gut unterscheiden. Man geht heute davon aus, dass es zwei unabhängige Systeme für die Verhaltenssteuerung gibt, denen auch bestimmte Hirnareale entsprechen. Das eine System führt zu Annäherungsverhalten und reagiert auf Reize, die Belohnung oder Nicht-Bestrafung signalisieren (Belohnungssystem). Das andere System bewirkt eine Verhaltenshemmung und reagiert auf Reize, die unbekannt sind oder Bestrafung signalisieren (Bestrafungssystem). Alle Menschen sind von ihrem evolutionären Design her also darauf eingerichtet, einerseits nach Erfolg, andererseits nach Sicherheit zu streben. Unterschiede in der Stärke und Ansprechbarkeit der beiden Antriebssysteme führen zu unterschiedlichen Persönlichkeitsstilen, wie der Psychologe Julius Kuhl herausgefunden hat. Dabei gilt für Falken, dass die Belohnungssensitivität hoch, die Bestrafungssensitivität mittel bis niedrig ist, während bei Tauben die Belohnungssensitivität niedrig bis mittel, die Bestrafungssensitivität aber hoch bis sehr hoch ist. Das bedeutet, dass Tauben sehr empfindlich auf Bestrafung reagieren und sich entsprechend normgerecht verhalten und stark anpassen, während Falken in erster Linie anreizmotiviert sind und die möglichen negativen Folgen ihres Handelns weit weniger bedenken. Die einen versuchen sich zu nehmen, was sie wollen, mit geringer Rücksicht auf die Konsequenzen; die anderen sind vorrangig damit beschäftigt, diese (tatsächlichen oder nur vorgestellten) negativen Konsequenzen zu vermeiden.