Tausend Wasser und Tod - Christina Corente - E-Book

Tausend Wasser und Tod E-Book

Christina Corente

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Beschreibung

Hanne von Hardenbeck, um die sechzig Jahre alt und in zweiter Ehe mit Klaus verheiratet, schippert mit einer lasterhaften Freundin über die Jahre immer mal wieder auf Ausflugsschiffen über Deutschlands Gewässer. Zu ihrer eigenen Überraschung landet sie dabei zunehmend bei sich selbst und ihrer Vergangenheit als Lebensborn-Kind. Ohne diesen Prozess zu steuern, lässt sie sich schließlich darauf ein und nimmt die Herausforderung an.

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Alle Menschen und Tiere, die in diesem Buch eine Rolle spielen, existieren nur zwischen diesen Seiten.

Für Verlorene, die nichts verloren geben.

Inhaltsverzeichnis

Auf Rheinfahrt

Im Spreewald

Am Berliner Halensee

Auf der Donau

Auf einem Stausee bei Bochum

Das Café im Hamburger Halen

An der Havel und auf der Spree

An und auf dem Starnberger See

An der Ostsee

Auf der Elbe

Auf der Mosel

Norddeich Mole

Entlang der Würm

Auf der Insel Mainau

Über die Elbe unterwegs zur Moldau

Auf Rheinfahrt

Ein einziges Mal nur kam der Tod direkt an Bord.

Noch am Vortag hatte Ellen Partridge, eine hochgewachsene Britin schwer bestimmbaren Alters (oder war sie US-Amerikanerin? Hanne wusste es gar nicht), ihr für ein hübsches Sümmchen die Zukunft vorhergesagt. Es hatte nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass man die Wahrsagerin selbst heute morgen leblos in ihrer Kabine auffinden würde. Doch genau so war es gekommen. Ein Schock, nach dem Hanne von Hardenbeck nun stockbleich an der Reling des Oberdecks der 'Loreley' lehnte und sich dort Güterzug für Güterzug um die Ohren donnern ließ. Diese bretterten gefühlt im Minutenabstand vorbei, von den Hochufern des Flusses noch schallverstärkt.

Es war nicht bloß der Lärm schuld, dass die Rhein-Dampferfahrt in diesem Sommer 2004 zur Pleite geriet. Da war ja auch noch Hannes überspannte Freundin „Sue", die neuerdings jedem Sanktionen androhte, der sie weiterhin Suse nannte. Darüber konnte Hanne zwar nur den Kopf schütteln, hätte es als einzigen Ärger aber gerne hingenommen.

Jetzt jedoch stand Suse – Pardon, Sue! - plötzlich mit krauser Stirn vor ihr und nahm den Bügel der Sonnenbrille aus dem Mund: „Wie, verschieden? Wie kann man denn bitte einfach so verscheiden? Quietschfidel war die gestern noch! Also hat die - du! Die hat sich doch umgebracht, hat die sich!"

Hanne wandte sich von ihr ab und schaute auf das Wasser zu ihren Füßen. Es glitt schwindelerregend schnell dahin, ein Eindruck, den sicher noch verstärkte, dass sich das Schiff seinen Weg stromaufwärts bahnte und Kahn und Fluten somit aneinander vorbeirauschten. Was hatte doch neulich jemand über den Rhein erzählt? Dass der Strom bis vor zweihundert Jahren in zahllosen Flussarmen mit lauter Inseln dazwischen friedlich durch ein sehr breites Bett mäandert war, bis man ihn, technisch sicher eine Meisterleistung, zu den korsettierten Wassermassen gemacht hatte, auf die sie nun hinabblickte. Keinem Ärmchen war es mehr vergönnt, aus dem mächtigen Wasserkörper auszuscheren.

Vielleicht gab ihr das die nötige Kontrolle zurück, jedenfalls wandte sich Hanne nun schon weniger blass wieder an ihre Freundin. „Verschieden – so hat es der Kapitän eben ausgedrückt. Verstorben eben. Tot, nehme ich an. Hat er gesagt, nicht ich! Und was los war, wusste er auch nicht. Wir möchten die Ruhe bewahren."

Sie sprach diese Worte zu ihrem Erstaunen in eine ganze Reihe von Gesichtern. Unbemerkt von Hanne hatten sich Bruce und Jenna Lewis aus Idaho zu Suse gesellt, ein ihnen inzwischen vertrautes amerikanisches Touristenehepaar. Jenna kam Hanne immer vor wie das Paradestück einer Sammlung Oldtimer. Stets äußerst sorgfältig zurechtgemacht, bewegte sie sich kaum und wenn, dann mit aller Vorsicht. Ihr Mann Bruce erklärte einem immerfort die Welt, wobei ihm jedes Wort schwer über den Gaumen rollte. Ohne die eklektische Ruhe dieser beiden hätte Hanne auf dieser Fahrt sicher schon längst die Geduld verloren.

Als Bruce eben ansetzte, um die Lage zu kommentieren, schob ihn Suse unsanft beiseite, um Hanne auf den letzten freien Stuhl zu nötigen, nach dem ein weiterer Herr gerade hatte greifen wollen. Sichtbar vor den Kopf gestoßen, entfernte sich Suses Liebhaber der vergangenen Nacht wieder und Hanne blieb nichts weiter übrig als auf den Stuhl zu plumpsen und Suse einen bitterbösen Blick zuzuwerfen.

Su-se! Was hatte sie sich doch in dieser weltläufig wirkenden Person getäuscht, die sie seit der gemeinsamen Schulzeit ihrer beider Kinder kannte und welche sie fünf Jahre zuvor zu einer unvergesslichen Elbkreuzfahrt überredet hatte.

Eine Zeitlang hatte Hanne noch viel Mitgefühl für die Mutter einer unförmigen Tochter namens Claire und eines betuchten, aber kaum greifbaren Ehemannes aufgebracht. Mittlerweile war ihr längst klar, wie froh die beiden jedes Mal sein mussten, die rastlose Dame des Hauses eine Weile los zu sein.

Wie ein Teenager gab sich Suse auf ihren Reisen Liebesräuschen hin, die sie bei Tagesanbruch auf der Stelle wieder vergaß. Und das mit über sechzig. Zwar erwähnte Suse ihr Alter nie und wand sich aus allen Fragen danach heraus, aber Hanne kannte sie nun lange genug und konnte rechnen.

Zu allem Überfluss kam Hanne dabei die Verstorbene wieder in den Sinn. Deren Kabine grenzte an Suses und so hatte mit ziemlicher Sicherheit Lustgeschrei der armen Ms Partridge in ihrer letzten Stunde im Ohr geklungen (ein Grund, aus dem Hanne vorsorglich viel Raum zwischen ihren Kabinen eingefordert hatte).

In diese Vorstellung lachte Suse nun auch noch ordinär hinein und warf den blondierten Schopf in den Nacken. Dies war endgültig die letzte Schiffsreise, die sie gemeinsam unternahmen, schwor sich Hanne, allen Vorhersagen der toten Hellseherin zum Trotz. Jene hatte das Schiff bereits ohne Aufsehen, – von Bruce aus Idaho aber gleichwohl bemerkt – , in einem gemessen an ihrer Körpergröße verblüffend kurzen Sarg verlassen, von ein paar unauffällig gekleideten Herren frühmorgens ans Ufer gehievt.

Plötzlich begann es in Hannes Herzgegend zu rumoren. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass dies von ihrem Mobiltelefon herrührte, welches in ihrer Brusttasche vibrierte. Reflexhaft nahm sie den Anruf entgegen, nur um das im selben Moment zu bereuen. „Mamma?" schallte es vorwurfsvoll aus dem Hörer und sofort sah Hanne das konzentrierte Mausgesicht ihrer Tochter Caro vor sich. Caroline war eine hübsche 38-Jährige mit lebhaften Augen, die unter einem dichten Pony hervorleuchteten. Ihre scharf geschnittenen Gesichtszüge verliehen ihrem Profil Klasse, ließen sie aber zugleich immer ein bisschen verkniffen aussehen.

Damit entsprach das Äußere von Hannes Tochter ziemlich exakt deren Seelenlage. Von Natur aus umtriebig, verbrachte Caro die Tage im wesentlichen damit, ihren vielen Pflichten hinterher zu laufen, von denen die meisten selbst auferlegt waren. Dass sich ihr Programm nicht bewältigen ließ, lastete sie ihrer Umgebung an, die das Leben in ihren Augen viel zu locker nahm. Folgerichtig hielt sie nicht das geringste von den Schiffsreisen ihrer Mutter in Begleitung einer liebestollen Freundin (Hanne bedauerte bereits, sich bei ihrer Tochter über Suses Eskapaden ausgelassen zu haben).

In Caros Welt hatte eine Großmutter jeden freien, mithin also jeden verfügbaren Moment zum Hüten der Enkel zu nutzen, so dass sie selbst den Rücken frei bekam für all die Anstrengungen, die es kostete, ihren inzwischen geradezu großbürgerlich anmutenden Alltag zu organisieren.

An dieser Haltung waren Hanne und ihr zweiter Ehemann Klaus nicht ganz unschuldig, seit sie ihre Hamburger Villa mit Elbblick – von Hanne insgeheim der Kasten getauft - vor ein paar Jahren gegen das Reihenmittelhäuschen von Caro und ihrem Mann Gero in einem weit bescheideneren Stadtviertel eingetauscht hatten.

Seither fühlten sich die jungen Leute berufen, ihr großes Haus herrschaftlich zu füllen, was einen nie mehr versiegenden Schlund an Arbeit und Kosten nach sich zog. Wen das repräsentative Anwesen beherbergte, dem schien es unablässig Klavierstunden für die Kinder, Wohltätigkeitsempfänge mit Blaubeerkuchen und dergleichen mehr abzunötigen. Hanne, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie wusste, was das mit einem Menschen machte und sie deswegen nicht ohne Eigennutz dort ausgezogen war, lehnte sich mit dem Handy am Ohr auf dem Deck ihres Rheindampfers erschöpft zurück.

Dennoch schaffte sie es, indem sie die Ereignisse schilderte, Caro eine Zeitlang von ihren Klagen abzubringen. Verblüfft stellte Hanne fest, wie ihr dabei die Tränen kamen. Ihre Tochter rang derweil in Hamburg nach Luft. Es dauerte aber nicht lange, bis sich Caro wieder gefangen hatte: „Du hast doch die Frau nicht etwa schon bezahlt, Mamma?" - „Doch, natürlich habe ich das. Das macht man so. Man bekommt die Zukunft vorhergesagt und bezahlt, was es kostet." - „Aber es handelt sich doch offenbar um Scharlatanerie, wenn sie nicht einmal etwas davon ahnte, was ihr selbst passieren würde... ." - „Aber wer sagt dir denn bitte, dass sie davon gar nichts ahnte?"

Punkt für Hanne. Sie registrierte mit ein wenig Genugtuung, wie ihre Mitreisenden mittlerweile schwiegen, um dem Dialog neugierig zu folgen. Caro schwenkte um und wollte Resultate sehen. „Und, hat sie dir eure Kaffeefahrten wenigstens ausreden können?" - „Ganz im Gegenteil, mein Kind. Sie riet mir, weiterhin zu reisen!" - „Was? Wieso das denn?" - „Weil mich das über kurz oder lang zu meinen Ursprüngen führen wird." - Stille. Dann ein ärgerliches „Aber Mamma, jetzt denk doch mal nach, wer findet denn bitte auf Kreuzfahrt zu seinen Ursprüngen? Deine Wurzeln sind doch bei uns - wenigstens hoffe ich das!" - „Das kannst du hoffen, aber streng genommen bin ich ja wohl eure Wurzel."

Hannes Blick landete auf Suse, die sich vorbeugte, um besser zu hören, während wieder einmal ein Zug vorbei brauste. „Nun ja", fiel ihr Caro am Handy in gequältem Ton ins Wort. „Zumindest hatte deine Kartenleserin noch etwas von der Sache. Kann man einem Menschen ja gönnen so kurz vor seinem Tod." Dazu fiel nun wiederum Hanne nichts mehr ein.

Abends, während des Essens am Tisch im Salon unter Deck, wusste Bruce zu berichten, dass Ms Partridges Tod ein natürlicher gewesen war, den diese gegen drei Uhr morgens noch durch eine Notklingel zu verhindern versuchte, worauf der Bordarzt leider nicht rechtzeitig und sie auf seine Wiederbelebungsversuche später gar nicht mehr reagiert hatte. Dem Arzt war nichts weiter übrig geblieben, als ihren Tod festzustellen.

Alle nahmen das hin außer Suse, welche an ihrer Freitodversion festhielt, wofür sie keinen anderen Grund vorweisen konnte als ihr Gespür und in diesem Augenblick sirrte Hannes Mobiltelefon erneut.

Dieses Mal war es Klaus und seine Stimme klang noch milder als sonst, woran sie erkannte, dass er bereits mit Caro gesprochen hatte. „Was ist denn da bloß los bei euch?", erkundigte sich ihr Mann leise. „Ist denn mit dir alles in Ordnung, mein Liebes?". Wieder schossen Hanne Tränen in die Augen, nun aber, weil sie auf gar keinen Fall wollte, dass er sich Sorgen machte. Sie spielte den Vorfall, so gut es ging, herunter, bis sie ihn erleichtert aufatmen hörte.

Wie stets verlor er kein Wort über ihre Tochter, denn Simone, sein eigenes Kind aus erster Ehe, welches ebenfalls die Villa bewohnte, bot kaum leichteren Umgang als Caro. Hanne und Klaus hatten sich angewöhnt, hinsichtlich ihrer Töchter nur das nötigste zu erwähnen, um dann gleich auf sein Hobby umzuschwenken - die Kaninchenzucht. So erkundigte sie sich eilig, wie denn Bugs, der Zweite, bei der Rassenschau in Aschaffenburg abgeschnitten habe, nur um ihren Mann missmutig sagen zu hören „Ach, es lief nicht gut, auch bei Artus nicht (sein Favorit, den hatte sie vergessen) – aber das war ja abzusehen."

Trotz eigentümlich geknickt hängender Ohren sahen seine englischen „Widderchen" mit ihrem kurzen Fell und ihren schlanken Proportionen überhaupt nicht aus wie Zuchthasen. Außerhalb von Klaus’ altehrwürdigen, aber kleinem Verband, fanden seine Mühen deshalb wenig Anerkennung und so gingen seine schmucken und gesunden Karnickel bei den Schauen meistens leer aus. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Hanne, dass Klaus’ eigener Zuchtverband im September in Hamburg ebenfalls eine Schau vorbereitete und dort würde es ganz anders ausgehen. „Genau!", meinte er wieder zufrieden „und du passt derweil schön auf dich auf!" - „Das tue ich doch immer!", bekräftigte sie und so beendeten sie getröstet ihr Gespräch.

~

Einige Monate nach Hannes Schiffsreise auf dem Rhein wurde der Fluss noch einmal Thema und zwar bei einem Abendessen, zu dem Klausens Tochter Simone die gesamte Patchworkfamilie in den Kasten einlud. Von der Straße durch dicht gedrängte Thujen hinter einem schmiedeeisernen Zaun abgeschirmt, schien die Villa selbst noch weniger an einem Wiedersehen interessiert als Hanne. Ohnehin kam es letzterer zum wiederholten Male so vor, als habe es dem Haus bereits bei seinem Bau die Laune verhagelt, weil es hier gereiht an seinesgleichen die Allee säumte statt allein ein Anwesen zu krönen, durch vorgebaute Säulen geadelt und am Ende einer langen Auffahrt, etwa so, wie man es ein bisschen weiter weg an der Elbchaussee bewundern konnte.

Simone von Hardenbeck war nie aus ihrem Geburtshaus ausgezogen und bewohnte allein das gesamte Obergeschoss, zu dem neben einem licht durchfluteten Wintergarten und etlichen hohen Räumen auch die prächtigere der beiden Küchen des Hauses gehörte. Dies war ein ewiger Quell des Ärgers für die unter ihr lebende Caro, Hannes Tochter, die das, an dem langen, prunkvollen Tisch zusammengesunken, ebenso offen kummervoll hinnahm wie den köstlichen Fasan, welcher in eben jener Küche zubereitet worden war. Simone, – makellos zusammengebundene dunkle Mähne, die starken Brauen im hübschen herben Gesicht stolz wie eine Piratenprinzessin zur Schau gestellt -, servierte das Essen so beiläufig, dass man vor Neid hätte ohnmächtig werden können, sofern man dazu neigte. An den ausladenden Schritten aber, mit denen sie ihr Reich durchmaß, ließ sich für Hanne ablesen, dass es um die gegenwärtige Beziehung ihrer Gastgeberin nicht zum besten stand - falls es sie überhaupt noch gab. Nicht zum ersten Mal hätte sich Simones Auserwählter, für gewöhnlich ein Junggeselle der Hamburger Upperclass, als so unreif und launisch erwiesen, dass die Liebe daran tränen- und konfliktreich zerbrochen war. So war tatsächlich auch an diesem Abend niemand an Simones Seite zu sehen und sie selbst verlor darüber kein Wort. Das war etwas, worauf Hanne ihre Tochter in weiblicher Tücke gerne hingewiesen hätte, doch war diese zu sehr abgelenkt.

Klaus zuliebe war Hanne entschlossen, den Abend angenehm zu verbringen. Dazu lud jedoch weder das Interieur ein, ... moderne, überdimensionierte Leuchtmittel, die in den weiten Räumen scheinbar noch wuchsen und wuchtige, abstrakte Gemälde, welche durch ein raffiniertes Schienensystem gehalten vor den Stuckwänden schwebten..., - noch einer der übrigen Gäste, die sämtlich gleichgültige bis verdrießliche Mienen zur Schau trugen.

Hanne, die sich bei solchen Treffen immer wünschte, unsichtbar sein zu können, spielte zuvor sogar mit dem Gedanken, ihre alte Kellnerinnen-Tracht überzustreifen, - ja, sie hätte sogar darauf gewettet, für ihre Tochter in dieser Aufmachung noch am ehesten hierher zu passen.

Doch um Klaus in seinem vormaligen Umfeld nicht bloßzustellen, hatte sie das als Scherz gleich wieder verworfen und sich für ein unauffälliges Kostüm entschieden, das keinen Moment lang mehr vorgab als überaus bequem zu sein. Ganz anders Simones Mutter, Rita von Hardenbeck und Klaus' geschiedene erste Ehefrau, die zwar auch ein Kostüm trug, welches aber cremefarben und so raffiniert und edel geschnitten war, dass es wie beabsichtigt zum Hingucker des Abends wurde.

Wie alle, die des Namens von Hardenbeck habhaft geworden waren, hatte Rita, eine zarte und gefällige Ausgabe ihrer Tochter Simone, ihn nach der Scheidung behalten und er stand ihr ja auch besser als ihrem Ex, der etwas steif und untersetzt im offenkundig einzigen Anzug, den er besaß, am Tisch hockte. Doch ganz gleich, wie wichtig sich in diesem Hause alle vorkamen und was für spöttische Blicke Klaus und Hanne auch ernteten, so vergaß doch wenigstens Hanne nie, dass man Klaus keinen Dünkel nachsagen konnte, nachdem er eine gebürtige Schneider – Rita - und später eine geschiedene Fischer – Hanne - geehelicht hatte. Vielleicht waren Klaus sein feines Elternhaus und der stolze Name auch im Grunde lästig, denn letzteren verdankte er einem Ahn, der das hanseatische Ordensverbot („Es gebe über dir keinen Herrn und unter dir keinen Knecht") getrost überhört und sich den Titel trotzdem hatte verleihen lassen. Alles ein einziges Affentheater für Klaus und wohl darum wischte er sich so ungezwungen das Kinn mit der blütenbetupften Serviette ab, als säße er in seiner Vereinskantine. Gegen das, was sich hier an Überheblichkeiten abspielte, schien zumindest er weitgehend immun.

Obwohl sich Rita von ihrem aktuellen Lebensgefährten so leidenschaftlich wie zärtlich umwerben ließ, wirkte dieser aufgekratzt und unzufrieden. Ludwig Castro war ein Mann, der seinen exotischen Namen so umständlich erklärte, dass ihm niemand dabei folgen mochte. Seit längerem erzürnte es den Unternehmer, Rita nicht zu einer Heirat und zu einer Annahme seines Namens bewegen zu können. Dass sie den Namen seines Vorgängers in einer Ehe mit ihm behielt, wollte er selbstredend auch nicht.

So reagierte er sich ab, indem er seine eigene Herkunft weiter verschleierte, die der anderen dafür aber unnachgiebig ausleuchtete. Schon bald geriet die arme Hanne ins Visier seiner Hornbrille. „Wie man hört, haben Sie sich ja unlängst wieder aufgemacht, meine Liebe, und das ausgerechnet zu einer Fahrt auf unserem guten alten Rhein", schnarrte Castro, wobei er das schwere Silberbesteck auf einem mächtigen Salatberg ablegte. „Da hat Sie doch gewiss nicht nur die schöne Aussicht gelockt, nicht wahr?" Sehr wahrscheinlich wollte er dabei mindestens auf Klaus' Vergangenheit als Geschichts- und Erdkundelehrer an einem Gymnasium anspielen und sich öffentlich darüber wundern können, dass dieser nicht mitgefahren war.

Hanne hatte sich vor Schreck prompt verschluckt. Sie kam nicht dazu, etwas zu erwidern und bekam so trotz ihres Hustenanfalls gleich noch heiseres Liedgut hinterhergeschoben: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein! Ob sie wie gier’ge Raben sich heiser nach ihm schrein! Das sagt Ihnen doch etwas, Madame! Ma-dame?"

Sie konnte das nicht komisch finden oder einfach humorvoll abtun. Unter ihrem beschützenden Stoff war es der Angesprochenen nun unangenehm heiß geworden. Am liebsten hätte Hanne ein Fenster aufgerissen, scheute aber die dazu nötigen Umstände. Sie selbst mochte Castro eigentlich ganz gern, war froh, wie sehr er sich um die exzentrische Rita bemühte und hatte sich, auf ihre Dampferfahrten angesprochen, noch nie Erklärungen dafür zurechtgelegt. So glitten ihre Augen nun hinter der Serviette weit geöffnet über die Runde und sie stammelte: „Ach, nennen Sie mich doch Hanne. Und bitte - wer soll den Rhein nicht bekommen? Und warum?"

Bei ihrem Gegenüber war der Blick unterdessen eigenartig leer geblieben. Castro schien hauptsächlich auf irgendeine Reaktion von Hanne gewartet zu haben um ihr gleich wieder brüllend ins Wort zu fallen, dabei tat er so, als bemerke er Klaus’ zornige Blicke nicht. „Na! Das wird Ihnen doch kaum entgangen sein, trotz der ganzen Touristen, die den Rhein ja inzwischen bevölkern. Auf so einem Vergnügungsdampfer will heute niemand mehr etwas davon wissen, aber anno achtzehnvierzig sollte alles links vom Rhein in französische Hände fallen. „Chant de guerre de l'armee du Rhin" wurde im Elsass ja bereits gegrölt."

Mit seinem rotem Gesicht und dem vorgebeugtem Oberkörper erinnerte er an einen stark geforderten Bühnenschauspieler. „Inzwischen ist das ja die Nationalhymne, bisschen geändert, der Text, meine ich. Oh – ich sehe, das ist alles neu für Sie. Na ja...!". Er winkte mit großer Geste ab und schlug sich dann lachend auf den Schenkel, wobei ihm das Besteck vom Salat rutschte und scheppernd zu Boden fiel.

„Ach, wissen Sie", sagte Hanne nach einer Weile, wobei sie die Serviette sinken ließ. „Wissen Sie, mein Hobby ist ja nicht Geschichte oder so. Uns – also meine Begleiterin und mich – uns interessierte tatsächlich vor allem die schöne Gegend, die Loreley - und dann dieser Felsen...."

Sie wusste selbst, dass nichts davon der Wahrheit entsprach, doch wie und warum sollte sie diesen Leuten hier etwas über ihre wirklichen Beweggründe sagen? Wie sollte sie ihnen klarmachen, dass nichts auf der Welt sie mehr zu beruhigen vermochte als Wasser beziehungsweise bereits der Blick darauf? Und dass es ihrer aufgewühlten Seele zeitlebens genau darauf ankam, nämlich endlich Ruhe zu finden. In dieser Runde würde davon doch niemals jemand etwas begreifen.

Statt dessen hatte sie nun plötzlich eine Eingebung. „Strasbourg? Ich meine... Straßburg?" hörte sie sich sagen, krampfhaft bemüht, sich der Schiffsroute zu entsinnen, obwohl diese noch gar nicht lange zurücklag. „Moment doch mal – also in Basel ging es los, das war aber noch in der Schweiz. Dann war links von uns doch aber erst mal ... alles... französisch...?". Auf der Suche nach Hilfe schaute sie nun etwas ratlos von einem zum anderen und schließlich ein bisschen erzürnt auf ihren Mann, der doch neben ihr saß und es eigentlich noch am ehesten wissen müssen und ihr doch so langsam einmal hätte beispringen können.

In der nun folgenden Stille, durch Hüsteln und Räuspern aus verschiedenen Richtungen unterbrochen, schienen alle mehr oder weniger damit beschäftigt, ihr Schulwissen nach Erinnerungen bezüglich des Rheins zu durchforsten. Selbst Ludwig Castro war verstummt – fühlte sich aber offenbar auch nicht mehr zuständig. Wie Rita hatte er mit spitzen Fingern die Tischdecke gelüftet, um unter dem Tisch nach seinem Besteck zu spähen, wobei aber keiner Anstalten machte, sich danach zu bücken. Hanne durchzuckte der Reflex, dies selbst zu tun, doch schob sich ihr just in diesem Moment Klaus' Bein wie ein Brückenpfeiler in den Weg.

In der Aufregung, die dann kam, blieb das Besteck einfach unterm Tisch liegen - „Ach, die Sucherei verdirbt uns doch den Spaß, das macht morgen schon jemand", bemerkte Simone nur knapp dazu. Doch hinderte sie das nicht, ihren Gast im selben Atemzug für Ersatz in die Küche zu beordern. Unter ihrem Kommando, welches viel (französisches) Küchenkauderwelsch enthielt, ließ sie Castro dort die Fächer durchsuchen und schließlich mit deutlich kleineren Messern und Gabeln wiederkehren, - mehreren - denn was ihm widerfahren war, „konnte doch wirklich jedem passieren".

Mit der Gelassenheit der Hineingeborenen ließ es Simone völlig kalt, wie andere sich nach ihrem Lebensstil reckten und streckten und das galt natürlich auch für ihre Mutter. Während der ganzen Zeremonie achtete sie nicht im geringsten auf Ritas flehentliche Blicke.