Nachricht von der Erde - Christina Corente - E-Book

Nachricht von der Erde E-Book

Christina Corente

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Beschreibung

Milliardäre haben einen entfernten Planeten zum Luxusnest ausgebaut und sich den Traum ewiger Jugend erfüllt, indem sie ihre Gehirne in Klone transplantieren, die sie der Erde abpressen. Hundert Jahre später läuft nichts mehr rund. Das stellt nicht nur der General fest, der den Exodus der Reichen einst durchzog. Das Klon-Paradies kennt Verlierer, darunter seine echten Kinder. Und auf der Erde haben sie es satt, Klone zu züchten und zum Planeten Daddy zu schaffen. Was als Provisorium begann und immer einen faulen Kompromiss darstellte, weil eine Klonforscherin Gründe hatte, den Rufen des Geldes und der Liebe nicht zu folgen, endet mit der Nachricht, dass die Erde den Klon-Hahn zudreht. Und in all der Zeit hat es niemand auf Daddy geschafft, selbst für Nachschub zu sorgen. Was nun?

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Hoffnung ist überall

Inhaltsverzeichnis

Mandy Grace hat es wieder versucht

Ich habe es wieder versucht

Etwas hatte Mandy Grace tief erschreckt

Etwas hatte mich zutiefst erschreckt

Was Mandy Grace alles entging

Was mir alles entgangen ist

Mandy Grace wusste nichts von der Erde

Was wusste ich schon von der Erde?

Wovon Mandy Grace besser nichts erfuhr

Wovon ich lieber gar nichts erfahren hätte

Was Mandy Grace gut gefallen hätte

Was mir ganz sicher nicht gefiel

Mandy Grace

Fliehen will ich bloß aus allen Welten!

Für Mandy Grace Johnson

Und für die anderen

Mandy Grace hat es wieder versucht

„Ruby Mayella Clarke - sind Sie das?"

„Was ...? Ja, bin ich."

„Und Mandy Grace Johnson ist Ihre Tochter, richtig?"

„Ja, das ist richtig. Was ist denn los, bitte? Hat meine Tochter etwa wieder ... "

„Ich fürchte ja, Ms Clarke... - aber sie lebt, ängstigen Sie sich nicht. Sie hat viel Blut verloren, aber das lässt sich wieder in Ordnung bringen. Aber ihre Stimmung, Ms Clarke, die bereitet uns weiterhin Sorgen."

„Ja, das ... kann ich mir vorstellen. Wo ist meine Tochter jetzt, bitte?"

„Auf der Krankenstation in der Mondphase, Bereich F. Dort fragen Sie sich einfach durch, Sie haben natürlich Besuchsrecht."

„Danke, aber das ist mir jetzt zu viel. Ich komme morgen. Haben Sie vielen Dank, ich weiß, wo ich sie finde. Danke, Ms ..."

„ Lilly Janet Gonzales, Ms Clarke."

„Ja, danke, Ms Gonzales..."

„Lilly Janet reicht, Mam. Sie erinnern sich doch?"

„Ja, danke, Lilly Janet. Vielen Dank ..."

„Keine Ursache, Ms Clarke. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht."

„Danke. Leben Sie wohl."

Mit einer matten Geste ihrer Hand kappte Ruby Mayella Clarke die Verbindung und löschte gleich dazu das Licht. Langsam sank sie zurück auf das Kissen.

Warum muss mir das widerfahren? So ein Undank. So viel Unwillen. Solch eine derartige Verweigerung, das Leben hier zu preisen. So gar keine Andacht, so überhaupt kein Respekt vor dem Leben, das ist schon richtiggehend bösartig.

Aber so war sie schon immer. Seit ihrem ersten Tag war dieses Kind, dieses Mädchen, diese Frau so gestrickt. Mit all dieser Düsternis und dieser verdammten Todessehnsucht. Das wievielte Mal war das jetzt? Der dritte Versuch - nein, es war wohl schon der vierte. Irgendwann wird sie es schaffen, irgendwann gelingt es ihr. Wo doch dieses Leben auf der Welt das einzige ist, was überhaupt irgendeine Bedeutung hat. Das hat Mandy Grace nie begriffen. Nie, nicht eine einzige Sekunde lang.

Nach allem, was ich durchgemacht habe, um dieses Kind überhaupt zur Welt zu bringen. Ich habe ja noch einen Sohn. Ewan Jesse Friggs. Mit dem ist alles in Ordnung. Er steckt bereits in seinem ersten Neukörper, einem Klon, und er ist seit der ersten Minute auf diesem Planeten fabelhaft drauf und rundum gesund. Ein schöner Kerl, hat auch schon eine Tochter, wie heißt sie noch? Ach, mein Gedächtnis ist so schlecht, es ist ein Jammer. Aurora Phyllis heißt sie, Aurora Phyllis, was für ein seltsamer Name. Wie kommt man nur darauf?

Vielleicht liegt es ja daran, in welchem Leib wir Kinder bekommen. Es wird ja immer geraten, den Naturkörper dazu zu nehmen. Aber wer ist da schon so gefestigt, dass er ernsthaft an Nachwuchs denkt? Da ist man ja quasi die ganze Zeit selbst noch ein Kind oder in der Pubertät. Höchstens aus Nachlässigkeit passiert einem da doch so etwas ... und Ewan Jesse habe ich zur Zeit meines ersten Neukörpers bekommen. In dem war ich allerdings auch so richtig glücklich, siebenunddreißig wunderbare Jahre lang. Wie er jetzt in dem seinen glücklich ist.

Entweder läuft es von Anfang an glatt oder gar nicht. Ja, vielleicht liegt es daran. Mandy Grace habe ich in meinem zweiten Neukörper bekommen. Zwar auch ein Klon, aber eine Qual. Eine einzige verdammte Qual, die ganzen verdammten sechzehn Jahre lang, die ich da drin ausharren musste, bis der Ersatz kam, Eilbestellung. Mandy Grace war auch nicht geplant, sie war ein Unfall. Doch nicht in diesem Körper, habe ich damals noch gedacht, ich weiß es noch wie heute. Ja. Vielleicht liegt es daran.

Leslie Fiona Jenkins könnte eine echte Freundin von ihr werden, wirklich. Ruby Mayella schenkte der Frau, die ihr gegenüber saß, ein strahlendes Lächeln. Es erschien ihr kaum fassbar, wie bezaubernd und makellos die andere aussah. Unwahrscheinlich schöne, blonde Locken, die sie umgaben wie ein fast weißer Heiligenschein. Doch das machte vielleicht das Licht, das war nicht ganz natürlich. Leslie Fiona probierte gerade das Modul mit den neuen, ungewöhnlichen Farbverfremdungen aus und Ruby Mayellas Augen hatten Mühe, sich anzupassen.

Sie saßen in dem Café, dessen durchsichtige Kuppel den Blick auf Daddys natürliche Umgebung freigab. Es gab fünf Sonnen, von denen drei weit entfernt im allzu spärlichen Tageslicht des Planeten wie zu groß geratene Sterne am Himmel funkelten.

Die größte Sonne (sie nannten sie die Sonne Nummer Eins) aber stand gefährlich nah und bedrohlich direkt über ihnen. Es war im Grunde bloß ein von feurigen Furchen durchzogener Felsbrocken, auf dem ununterbrochen Blitze zuckten. Es war keine Sonne im eigentlichen Sinne, sondern mehr so etwas wie ein innerlich glühender Mond. Ein Glücksfall für den Planeten Daddy, weil diese Sonne sich als Energiequelle nutzen ließ. Und weil der Planet im Fahrwasser dieser Sonne um eine fünfte, im Grunde auch zu schwache, weil überaus weit entfernte echte Sonne kreiste, die außerhalb ihres Blickfeldes irgendwo hinter ihnen bereits wieder unterging. Zu schwach natürlich im Vergleich zur Erdsonne, deren Abstand zum Heimatplaneten hier immer noch als das Maß aller Dinge galt, auch wenn ihr aller Dasein auf der Erde nun schon über hundert Jahre zurücklag.

Trotzdem vertrug immer noch nicht jeder Daddys echte Umgebung, weswegen die Farbverschiebungen die Augen beruhigen und mit dem Anblick versöhnen sollten. „Die hier ist doch gut", sagte Leslie Fiona gerade und Ruby Mayella nickte hinter ihrer Kaffeetasse, aus der sie einen Schluck genommen hatte. Die Farben waren ihr eigentlich zu schrill. Aber wenn sie der anderen gefielen, warum nicht?

Leslie Fiona warf das Modul mit einer lockeren Bewegung in Richtung Wand, wo es leise brummend in einer unsichtbaren Ummantelung einrastete. Aufseufzend wandte sie sich ihrem Kuchen zu, aber nicht ohne ihrerseits Ruby Mayella zuzulächeln. „Wie schön, dass unser Treffen geklappt hat, liebe Ruby Mayella, ich darf Sie doch so nennen? Wir waren uns gleich so sympathisch und glauben Sie mir – ich bin noch nie einem so unfassbar schönen Menschen wie Ihnen begegnet. Es macht mir solche Freude, Sie anzusehen." - „Oh, das geht mir mit Ihnen doch genauso!". Ruby Mayella beugte sich über die Maßen berührt zu der anderen vor. „Sie sind die schönste Frau auf diesem Planeten, da bin ich mir vollkommen sicher. Sie erscheinen mir manchmal wie das Leben selbst in seiner bezauberndsten Form. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?". - „Ja, stellen Sie sich das bitte vor, liebe Ruby Mayella - mein lieber Lebensgefährte, S.T. Shepard, hat das neulich auch zu mir gesagt." - „Nein, ist nicht wahr.". - „Doch, bitte glauben Sie mir, er hat eins zu eins Ihre Worte verwendet!"

Einander zugewandt schauten sie sich unter der riesigen Sonne Nummer Eins warm lächelnd tief in die Augen. „Shaun Trevor Shepard ist Ihr Lebensgefährte, liebe Leslie Fiona, habe ich das eben richtig verstanden?" - „Vollkommen richtig, meine Liebe. S.T.Shepard – der ranghöchste General auf diesem Planeten ist die Liebe meiner vielen Leben. Möchten Sie mit mir darauf ein Glas Champagner trinken?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, schnipste Leslie Fionas schlanke Hand den entsprechenden Befehl in die Luft. Ruby Mayella war vor Staunen die Luft weggeblieben. Die Lebensgefährtin des Generals war nun ihre Freundin. Was für ein Volltreffer.

Ich habe es wieder versucht

Nachher kommt meine Mutter mich besuchen. Ich schwöre, wenn sie wieder die ganze Zeit davon quatscht, wie jemand die Haare trägt und wie er oder sie diesen Schwung der Augenbrauen hinbekommt – dann bringe ich sie um und nicht mich.

Die Tür zum Sprechzimmer meines Psychiaters schwingt leise hinter mir zu und ich sehe noch, wie der eitle Sack nachdenklich in den Spiegel starrt, der hinter ihm direkt in Blickhöhe hängt, wie praktisch. Um sich zum achthundert siebenundzwanzigmillionsten Mal ins Gesicht zu glotzen, muss er nicht mal aufstehen, sondern bloß den Stuhl ein wenig drehen....

Die Strategie dieses Menschen besteht darin, dass er fest daran glaubt, dass sich alles zum Besseren wendet, wenn ich mich nur in ihn verliebe. Wer hat bitte aus welchen Gründen sonst einen Spiegel bei der Arbeit rumzuhängen? Die sind doch alle verrückt hier, sie müssten sich dringend behandeln lassen. Statt dessen mühen sie sich mit mir ab, das verstehe mal einer. Wenigstens habe ich einen Plan.

Wenn auch keinen, der sonderlich gut funktioniert. Das war jetzt der fünfte Versuch. Ich betrachte meine Handgelenke, die innen bloß ein wenig gerötet und etwas dicker erscheinen als vorher, sonst sieht man gar nichts. Die verstehen sich hier aufs Kosmetische, keine Frage. Und es ist anscheinend nicht mal meine Haut. Keine Ahnung, woher die Teile stammen, von mir jedenfalls nicht, ich untersuche mich jedes Mal anschließend gründlich.

Aber das ist ihnen ganz wichtig, dass bei jedem, den sie behandeln, die schöne Fassade auf jeden Fall gewahrt bleibt. Sie werden mich so hübsch wie möglich wieder herrichten und zu Markte tragen, da kennen sie nichts. Wer dafür leiden muss, wer dafür mal stirbt, das ist ihnen alles vollkommen gleichgültig. Aber freiwillig gehen - sagen, dass man dieses Leben dick hat und nicht mehr mitspielt, das geht nicht und da doktern sie auf Teufel komm' raus an einem herum. Alles im Namen der Gesundheit und ach ja - dem ach so geheiligten Leben.

Wie alt mag dieser Psychiater in Wahrheit sein? Hundert oder schon hundertzwanzig Jahre? Er sieht aus wie dreißig, aber seinem steinalten, müden Blick sieht man an, dass es in Wirklichkeit anders ist. Aber mit den eigenen Zellen lässt sich schließlich anstellen was man will, nicht wahr? Steht genau so in unserer Verfassung. Man darf seine Klone massenhaft züchten lassen und keine Ahnung haben, wie sie behandelt werden, bis man wieder mal einen brauchen kann, um für weitere Jahrzehnte jung und schön zu bleiben. Jedes Tier hat mehr Rechte auf ein eigenes Leben als eins der armen Dinger. Keiner sagt was, alle finden es großartig, es ist scheinbar die Lösung, um endlich ewig zu leben. Alles völlig legal und wie es den Klonen zwischenzeitlich ergeht, ist allen total egal.

Allen außer mir. Ich kann das einfach nicht.

Deshalb habe ich ja meinen Plan, deshalb habe ich es wieder versucht. Und werde es weiter versuchen. Damit müssen die eben leben, dass einer beziehungsweise eine nicht damit leben will, womit hier alle unbedingt leben wollen und müssen. Mit ihren verfickten Neukörpern von der verfickten Erde, die sich dafür hergibt, die Zuchtstation für diese Klone zu spielen und brav alle sieben Jahre zu liefern, damit sie hier ewig leben, diese müden alten Säcke in ihren geklauten, jungen Körpern. Zum Kotzen ist das, ich will hier weg. Aber auf die blöde Erde will ich auch nicht. Da bleibt doch nur noch Sterben. Warum sieht denn niemand ein, dass dies meine Lösung ist?

Im Schneckentempo watschelte Mandy Grace zu der Station für den horizontalen Hochgeschwindigkeits-Aufzug, der sie gratis, lautlos und brutal schnell zu ihrem Krankenhaus-Trakt bringen würde. Drinnen ließ sie teilnahmslos bezaubernde, simulierte Erdlandschaften, die sich vor den Fenstern abspielten, an sich vorüberfliegen. Schier endlos weite Obstbaumwiesen, durchzogen von Schafherden. Wogende Weizenfelder mit viel knallrotem Mohn und lila Lavendel an den Rändern, in denen Hühner herumpickten, alles unter einer gleißenden Sommersonne. Ein stiller blaugrüner See mit Schwänen und Ufern voller Schilf und ein üppiger Bergwald, aus dem funkelnd ein Wasserfall herabstürzte.

Wo blieben auf der Erde eigentlich die Menschen ab? Hatte man sie unterirdisch untergebracht, so wie hier auf Daddy die künstlichen Erdlandschaften? Gab es überall auf der Welt einfach immer mehrgeschossige Ebenen, für die man jeweils ein Aufenthaltsrecht besaß oder eben nicht? Mandy Grace beispielsweise durfte Daddys Oberfläche schon seit längerem nicht betreten, das würde sie in ihrem Zustand zu sehr reizen, hieß es.

Sie fühlte sich von ihren Mitreisenden durchweg befremdet beobachtet. Es waren nicht viele, aber junge, schöne und atemberaubend zurechtgemachte Leute, unter denen sie sich, pummelig, im Bademantel, in Schlappen und die Haare ungekämmt, vorkam wie jemand von einem anderen Stern. Oder von einem anderen Planeten, womöglich von der Erde? Obwohl sie doch hier, auf Daddy, geboren war.

Mit Sicherheit aber war sie keine von ihnen.

In ihrem Raum fand sie statt ihrer Mutter einen Gedichtband auf ihrem Nachttisch vor. Die Metamorphosen des römischen Dichters Publius Ovidius Naso oder kurz Ovid, na toll. Sie feuerte das Buch sofort in die Ecke. Ihre vergessliche Mutter glaubte immer, ihr damit anstelle ihrer Gegenwart eine Art Offenbarung zu liefern, dabei konnte Mandy Grace diesen unfreiwilligen Ausreden-Lieferanten von der Erde schon seit der Schulzeit nicht leiden. Dass dessen Menschengeschlechter seit Anbeginn der Zeiten stetig unmoralischer und blutrünstiger wurden, hatten sie hier seit langem zum Anlass genommen, in immer derselben Generation auszuharren. Das ließ sie sich gottgleich fühlen und die eigene Lebenszeit getrost auf unendlich stellen.

So entgingen sie zwar allerlei katastrophalen Entwicklungen, außer vielleicht der, dass ihre in Wahrheit über hundertjährige Mutter ihr alle naselang dieselben Bücher schenkte und sich ansonsten vor dem Zusammensein drückte. Wahrscheinlich steckte sie in einer ihrer Dichterlesungen, wo sie – ebenfalls auf zeitlos gestellt – die Ergüsse des Ovid wieder und wieder auf die ewig gleiche Weise und natürlich ausschließlich in ihrem Sinne interpretierten, gähn.

Mandy Grace warf sich der Länge nach aufs Bett und schlief geschwind ein, bevor sie wieder anfing loszuheulen.

Etwas hatte Mandy Grace tief erschreckt

„Shaun Trevor? - Kommst du mal bitte!" - Leslie Fiona Jenkins sah in ihrem Luxusreich hier nach und dort, vollführte viele ihrer lässigen Gesten und schnipste mit den Fingern, doch ließ sich der General einfach nicht auftreiben, um einer erwartungsvollen Ruby Mayella vorgestellt zu werden. „Vielleicht hat er etwas Dringendes zu tun?", meinte die Gastgeberin schließlich etwas ratlos und schien das selbst nicht für sehr wahrscheinlich zu halten.

Sie hatte draußen vor der Terrasse in der simulierten Strandlandschaft nachgesehen, sich bei der durchhuschenden Servicekraft erkundigt und erfolglos eine Telefonverbindung zu S.T. Shepard zu knüpfen versucht. „Na - oder er ist gerade spazieren oder was. Dann mixe ich uns jetzt eben erst mal einen Drink!"

Ruby Mayella war einstweilen mit der Umgebung völlig ausgelastet. Sie selbst war ja im Mondtrakt, dem zweitschönsten Distrikt des Planeten Daddy, auch sehr hübsch untergebracht, aber das hier war der Erdtrakt, gewissermaßen oberster Standard. Hier konnte man tatsächlich vor der Strandhausanmutung kilometerweit spazieren gehen, ohne jemandem zu begegnen. Wollte man sich auf dem Weg zurück danach nicht die Füße wund laufen, querte man einfach die Düne, wo ein horizontaler Hochgeschwindigkeits-Aufzug wartete, in dem einen garantiert kein Mitreisender anstarrte. Ruby Mayella hätte nichts dagegen gehabt, das gleich hier und jetzt einmal auszuprobieren, aber dazu hätte sie die von all dem Luxus bloß noch gelangweilte Leslie Fiona zurücklassen müssen und womöglich brüskiert. Aber es war ja auch gar nicht schlimm – irgendwann würden sie die atemberaubende Kulisse für ein sehr nachdenkliches, tiefgründiges Gespräch ganz sicher einmal brauchen können. Ruby Mayella erbebte bereits voller Vorfreude.

Die Distrikte des Planeten Daddy waren - sicher nicht sehr einfallsreich, vielleicht aus Heimweh - nach dem alten Sonnensystem der Erde benannt. In Ruby Mayellas Richtung hätte anschließend der Marstrakt kommen müssen, doch hatte man den ausgelassen. Das hatte mit der frühen Geschichte der Weltraumbesiedlung zu tun, als eine hochmotivierte Gruppe zur seinerzeit sage und schreibe über sechs Monate dauernden Reise zum Mars aufbrach. Dass der Mars von alters her als Kriegsplanet verschrien war, hatte man ausgeblendet und wollte solchem Aberglauben in moderner Zeit auch keinen Vorschub mehr leisten.

So begann alles äußerst verheißungsvoll, als es den Siedlern gelang, zwei steinalte, früher zum Mars geschossene Rover – Spirit und Opportunity – wieder instand zu setzen und deren Bilder und dank des technischen Fortschritts sogar Filme nahezu live und endlos zur Erde zu funken. Schon bald jedoch fanden die antiken, kleinen Chronisten-Kisten kaum noch Beachtung, weil sich die Leute unerklärlicherweise dauernd in die Haare gerieten.

Auf der Erde, wo sie ja eigentlich auch nicht zimperlich waren, hatte nach einer Weile niemand mehr hinsehen wollen. Die Siedler massakrierten einander wie in den übelsten Splatter-Filmen. Der kleine Spirit setzte sich abermals als erster ab und stellte alle Sendungen ein. Mars-Rover Opportunity hatte das Pech, dem letzten, weiterhin erregt vor sich hin schimpfenden Siedler über den Weg zu rollen. Er bekam alle Wut ab und so sollte das Schicksal des letzten Mannes auf dem Mars für immer im Dunkeln bleiben. Auf der Erde verzichteten sie darauf, ihm den Prozess zu machen. Dort wollte man dieses weitere, unrühmliche Kapitel der Menschheitsgeschichte am liebsten nur noch zuklappen und das Ganze vergessen. Und so gab es auf Daddy - Aberglauben hin oder her - eben keinen Marstrakt. Basta.

Ruby Mayella saß wie vom Donner gerührt hinter ihrem riesengroßen, farbigen Fitnessdrink und mochte ihren Augen nicht recht trauen, als der General doch noch auftauchte und zwar unvermutet aus den rauschenden Fluten direkt vor ihnen. Er bückte sich nach dem Handtuch am Strand, das sie völlig übersehen hatten, trocknete sich damit das Haar und schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln.

Sie kam nicht umhin, ihrem Augenarzt plötzlich recht zu geben, den Ruby Mayella regelmäßig wegen einer vermeintlichen Seh-Schwäche aufsuchte und der sie stets wieder mit der Bemerkung nach Hause schickte, sie sähe in Wahrheit besser als ein Luchs. Es seien bloß die alten, mit Erinnerungen prall gefüllten Hirnteile, die nicht mehr genau hinsehen wollten, das müsste halt trainiert werden. Nun zeigten ihre augengymnastischen Übungen offenbar Wirkung, denn sie erkannte auf den ersten Blick und überscharf einiges an der Gestalt von S.T.Shepard, mit dem sie tatsächlich zuletzt gerechnet hätte. Natürlich war er ein blendend aussehender Mann mit einem durchtrainierten Körper, das war gar keine Frage – doch waren beim besten Willen weder die Kränze rund um seine Zwinker-Augen – waren das etwa Krähenfüße? - noch seine von einer pergamentartigen Haut überzogenen und etwas welk wirkenden Schultern zu übersehen. Statt sich muskulös zuzuschmälern, stach seine Körpermitte durch sichtbare Hüftknochen hervor, die ihn etwas nach vorne abknicken ließen und der eingefallenen Gesäßmuskeln wegen kamen ihr seine Beine lang vor wie bei einem Storch.

Mit einer Mischung aus Ekel und Erregung registrierte Ruby Mayella, dass Shaun Trevor Shepard, seit ihrer aller Ankunft auf Daddy am höchsten dekorierter General und Quasi-Regent des Planten – nun ja - alt wirkte. Er, der ihnen im Grunde dieses Dasein erst ermöglichte und sie in Schleife laufenden Fernsehansprachen unablässig dazu ermunterte, ja nicht zu viel Zeit bis zum nächsten Neuköiper verstreichen zu lassen, dies zu beachten sei allererste Bürgerpflicht, er bitte darum!, – war mit seinem eigenen Übertritt mittlerweile gut zwei Jahrzehnte mindestens zu spät dran. Ruby Mayella konnte es nicht fassen. Und du liebe Güte, was hatte ihn in der Zwischenzeit bloß daran gehindert, die kosmetische Chirurgie zu nutzen, das bekam man doch heutzutage alles ganz leicht in den Griff, zumindest hoffte sie das.

Während der Phase lachenden Smalltalks streifte Ruby Mayellas irritierter Blick des öfteren die Lebensgefährtin des Generals, ihre neue Freundin und Gastgeberin, die zwischen ihnen nach Art eines aufgedrehten Schulmädchens wie mit dem Vater und der älteren Schwester herumalberte. Es war nun unübersehbar, dass Leslie Fiona die Klonerei übertrieb und bis auf das äußerste, auch dank Sonderbestellungen ausreizte. Alle fünfzehn bis zwanzig Jahre musste ein Neukörper her und auch der konnte es ihr vor dem Spiegel nur für kurze Zeit und mit sehr viel Training und Kosmetik recht machen.

Daneben saß nun Ruby Mayella, als einzige von ihnen dreien nicht mit einem zelleigenen Leib versehen. Das war fünfzehn Jahre zuvor einfach nicht anders gegangen. Sie hatte unter Lebensgefahr ihren todkranken zweiten Neukörper verlassen müssen und man griff aus der Not heraus zu einem überzähligen Klon, der einer außerordentlich schönen Frau gehört hatte. Was aus dessen eigentlicher Besitzerin geworden war, wusste Ruby Mayella nicht und sie war auch bislang niemandem begegnet, der so ausschaute wie sie jetzt, nur älter. Das einzige, woran sie sich erinnern konnte, war der Schock ihrer damals erst zehn oder zwölf Jahre alten Tochter, die sich lange geweigert hatte zu glauben, dass es ihre Mutter sein sollte, die in diesem ihr völlig fremden, ausgelassenen Teenager steckte, der scheinbar grundlos dauernd um sie herumturnte, während ihre bekannte Mutter verschwunden blieb.

Gut möglich, dass in dieser Ausnahmesituation alle etwas undiplomatisch mit der Heranwachsenden umgesprungen waren - das sah Ruby Mayella jetzt im Nachhinein ohne weiteres ein. Doch zog sie hier auch die Gesellschaft zur Verantwortung, die ihre Einstellung in Bezug auf Nachwuchs alle paar Jahrzehnte änderte.

Einmal galten Kinder als Privatsache, die sich bloß ein paar Rückständige noch antaten, obwohl das Leben doch davon durch die Klon-Technik längst befreit war. Dann wieder profitierte man für ein paar Jahre dankbar von der Leistungsfähigkeit der Nachgewachsenen, die, einmal dazu überredet, als einzige an Arbeit noch richtig etwas wegschafften. In solchen Phasen öffneten sich ihnen die Türen, bis ein paar Bürokraten mit Platznot-Paranoia (Daddy war ja deutlich kleiner als die Erde) wieder alles vorschrieben und umgehend Maßnahmen ergriffen. Schon sollten sich die Nachgeborenen endlich wieder über ihr Bleiberecht glücklich schätzen, ihnen wurden die Löhne gekürzt, Ausbildungen gestrichen, Ansprüche nicht wahrgenommen und so weiter.

Und ihr als Mutter machte man es natürlich auch nicht leicht, deswegen kannte sich Ruby Mayella so gut damit aus. In den nachwuchsfeindlichen Phasen wurde sie immer wieder einmal schriftlich dazu aufgefordert, ihre vor gut achtzig Jahren begonnene Ausbildung fortzusetzen. Ein naturwissenschaftliches Studium, das sich hinzog und zunehmend zur Qual geriet, weil es überall ständig neue, unappetitliche Lebensformen zu entdecken und zu erforschen galt, oft genug schmarotzerhaft lebende. Schon länger verspürte sie dazu nicht mehr die geringste Lust. Am besten wechselte sie bei Gelegenheit doch noch einmal über zu Jura oder Journalismus, wenn sie sie damit gar nicht in Ruhe ließen – oder zu dem, was sich bei ihr doch seit langem in der freien Zeit bewährte, Literatur der Antike.

S.T. Shepard war mehr als angetan von der Begleitung, die seine Partnerin dabei hatte. Natürlich sah sie zauberhaft aus und war in einem Klon-Alter von vielleicht zweiunddreißig Jahren für ihn außerordentlich begehrenswert, doch das war es nicht oder jedenfalls nicht allein. Während er sie, geblendet durch das künstliche Sonnenlicht, aus halbgeschlossenen Augen betrachtete, traten die Unterschiede zu seiner Lebensgefährtin klar hervor, welche sich um Aufmerksamkeit heischend zunehmend wie ein kapriziöser Fratz gebärdete. Gerade hüpfte sie auf ihren perfekten, langen Beinen barfuß um den Tisch herum und beklagte ihre Zellulitis, diese Geißel der Frauen, gegen die man immer noch nichts erfunden hatte und der sie, wie es schien, niemals entkam, was sie auch ausprobierte. Shaun Trevor hätte sie am liebsten beiseite geschoben, um sich zu konzentrieren. Was war es, dass ihn an dieser neuen, ihm bislang unbekannten Person so sehr anzog?

Das Ergebnis seiner Wahrnehmung erschütterte ihn. Ruby Mayella Clarke hatte auf ihre Art etwas Gereiftes, im Vergleich geradezu Abgeklärtes, ja Mütterliches. Das machte den General deshalb so fertig, weil er sein gesamtes, kloniertes Leben daran gegeben hatte, derlei überholte Eigenschaften der Menschen überwinden zu helfen. Am wenigsten hatte er noch gegen Vaterfiguren einzuwenden, wobei sich das auch recht geschickt hatte lösen lassen, indem diese Rolle ein für allemal der Kugel zugedacht war, auf der sie nun wohnten.

Wohl mochte er selbst inzwischen auch etwas Väterliches ausstrahlen, weil er mit seinem Übertritt in den Neukörper nun schon so absurd lange wartete. Doch ließen ihn neben den kleingeredeten Risiken des Eingriffs und damit verbundenen Unannehmlichkeiten auch die Vorstellung zurückschrecken, sich dann wieder für zehn, zwölf Jahre Männern wie Frauen gegenüber unberechenbar und beinahe unzurechnungsfähig zu zeigen. Weil die Hormone der frischen Zellen seine knapp werdenden Hirnkapazitäten dann Mal um Mal überschwemmten, das kannte er doch zur Genüge und es nervte ihn mittlerweile weit mehr als dass er sich darauf noch hätte freuen mögen.

Andererseits wusste er auch keine andere Lösung für die weibliche Rolle als die der allzeit Begehrlichen, die immer wieder von der erfahrenen Frau zur Jungfrau wechseln durfte, das war doch dem ganzen Kinderkram auch vorzuziehen. So etwas konnte S.T. Shepard zwar nur vermuten, war aber überzeugt davon. Nicht von ungefähr legte er seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen den antiken Dichter Ovid so sehr ans Herz und dessen furchtbare – doch wie er hoffte, zutiefst aufklärende – Verkettungen und Verwandlungen von Göttern in Sternbilder, Menschen, Tiere, Steine, Pflanzen und zurück und nicht zu vergessen, ihre davon unberührten, ewigen, familiären Verstrickungen. Jeder auf Daddy sollte doch durch die Lektüre zur Besinnung kommen und ihre gewonnene Lebensweise als einzige leidlich vernünftige, anerkennen und preisen.

Erst recht alle wie er, die noch furchtbare Schuld auf sich geladen hatten und dazu verurteilt waren, diese für immer zu empfinden, beispielsweise gegenüber dem Kind, das Leslie Fiona Jenkins einst gewesen war.

Aber so leicht ließen sich alte Gefühle wohl nicht ausrotten.

Etwas hatte mich zutiefst erschreckt

Der Pfleger lehnte auf der Schwelle zum Raum und quälte die Tür ein bisschen, welche pustend und prustend versuchte, endlich wieder hinter ihm zu zu schwingen.

„Mach' nur so weiter", sagte Mandy Grace und hob kurz und gelangweilt den Blick von ihrem Fertigungsmodul, „und du löst den Alarm aus."

Ihre Haltung war natürlich vorgetäuscht, aber so bekam sie ihn schließlich in ihr Zimmer. Mit sparsamen Bewegungen tänzelte er herein und obgleich sein Körper jungenhaft schmal war, sah man ihm eine Sprungkraft an, wie sie sich an allen Fitnessgeräten dieses Planeten nicht trainieren ließ, so sehr man es auch versuchte.

„Wie heißt du?, fragte sie knapp und ohne, dass sie einander anschauten. Es war ziemlich dunkel, er fixierte etwas an der Wand, sie behielt die Augen fest auf ihr Gerät geheftet.

„Zorro."

„Und, weiter?"

„Zorro, Baby!"

„Zorro Baby? Was ist’n das bitte für 'n Name?"