Gold in den Gräbern der Stadt - Christina Corente - E-Book

Gold in den Gräbern der Stadt E-Book

Christina Corente

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Beschreibung

Beinahe-Kommissarin Billie Oedland ist im West-Berlin der Achtziger Jahre besser darin, Verbrechen aufzuklären als ihr eigenes Lebens-Chaos zu entwirren. Doch ausgerechnet das könnte ihr helfen, den größten Widersacher in der Stadt dingfest zu machen.

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Ähnlichkeiten in diesem Buch zu lebenden Personen sind rein zufällig. Und bis auf ein paar unbedeutende Kleinigkeiten ist alles, was in dieser Geschichte steht, frei erfunden.

*

Zweierlei war denkwürdig am Verhältnis von mir zu meinen Mitschülern. Zum einen schienen ihnen hier, im Westberlin der Siebziger Jahre, äußerst seltsame Dinge zu widerfahren und dann verspürten sie zuweilen das dringende Bedürfnis, mir davon zu erzählen.

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass beispielsweise Nadja, ein hübsches Mädchen mit einem bemerkenswert ausdruckslosen Gesicht, in unregelmäßigen Abständen meine Nähe suchte, um mir weiszumachen, dass ihre Mutter sie für Geld älteren Männern anbieten würde. So erinnere ich mich, dass wir beide einmal nach der Schule einfach noch nicht nach Hause gegangen waren und angeberisch rauchend und vor Kälte bibbernd im Eckchen eines kleinen Parks in der Nähe unseres Oberstufenzentrums beisammen saßen, wobei wir hofften, dass uns von den Strahlen der Herbstsonne bald ein bisschen wärmer würde. Wir waren zu dieser Zeit vielleicht elf, zwölf Jahre alt.

„Was soll denn das heißen, sie bietet dich für Geld älteren Männern an? Sollst du für die putzen und warum tut sie das denn nicht selbst, ist sie krank oder was?“, fragte ich mit klappernden Kiefern und hoffte, die Zigarette sei bald aufgeraucht, da mir bereits die Kehle höllisch brannte und aufsteigende Tränen die Sicht vernebelten.

„Ach was, putzen! Stell' dich doch nicht so blöde an. Du kannst dir schon denken, worum es geht“, zischte mich Nadja an, die mich immer äußerst herablassend behandelte, was ich mir sonst eigentlich von niemandem gefallen ließ. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was sie meinen könnte, merkte aber, dass sie so vernuschelt sprach, weil ihr nicht weniger kalt war als mir. „Lass' uns gehen“, sagte ich. „Wärmer wird’s nicht und die Marke schmeckt scheiße. Die bekommt mir nicht!“

„Die sind aus dem Osten, es gab keine anderen“, murmelte Nadja mit gesenktem Blick, um dann wieder hochzufahren und mich scharf zu mustern. „Sibylle Oedland! (so hieß ich tatsächlich). Du glaubst mir nicht! Wusste ich's doch“, meinte sie dann und plötzlich war mir trotz meines verrauchten und verwässerten Blicks aufgefallen, wie finster und geradezu verzweifelt sie mich aus ihren schönen, dunklen Augen anstarrte.

Nadja war mit ihrer Mutter ein paar Jahre zuvor aus Russland nach Berlin gezogen und beide standen dauernd im Verdacht, für den Osten zu spionieren. Daran wollte ich mich nicht beteiligen, deshalb seufzte ich bloß, reichte ihr die beschissene Zigarette, rieb mir die mittlerweile eiskalten Hände und meinte: „Also gut, was wollten die Männer denn dann von dir, red' doch mal Klartext!“ - „Na, was denn wohl!“ - „Ja, was denn wohl?“ - „Du bist auch zu blöd!“ - „Na, dann bin ich eben zu blöd!“

So sind wir an diesem Tag mürrisch auseinandergegangen. Aus dem Kopf ging mir die Sache aber nicht.

*

Nadja und ich haben nicht mehr darüber gesprochen. Nur ab und an traf mich in der Schule ihr finsterer Blick, vorwurfsvoll und so, als hätte ich längst irgendetwas unternehmen sollen. Weil ich absolut nicht wusste, was das sein könnte, schaute ich ostentativ weg oder tat, als würde ich sie und ihr Gestarre gar nicht bemerken. Das Ganze war jedes Mal schnell vergessen, es gab genug andere Sorgen.

Jahre später entdeckte ich sie plötzlich im Fernsehen. Mit Anfang zwanzig wurde sie als Begleitung eines ebenso uralten wie steinreichen Sacks vorgestellt. In ihrem zauberhaft gebauschten, weißen Kleid erinnerte Nadja an ein köstliches Baiser und der etwa Sechzigjährige biss auch prompt hinein und tauschte mit ihr einen ellenlangen Zungenkuss, auf den die Kamera genüsslich draufhielt. „Rainer Passmann, Unternehmer, mit junger Freundin Nadja Treibl“ tauchte in der Blende unter den offenen Mündern der beiden auf und der Typ war mir sofort ein Begriff. Selbst im an zwielichtigen Gestalten so reichen Berlin war sein Ruf denkbar schlecht. Scheiße! War Nadja wieder mal verkauft worden oder suchte sie jetzt selbst die Nähe solcher Figuren?

In der nächsten Szene tauchte auch noch ihre Mutter auf. „Rainer versteht sich mit Mamma manchmal besser als mit mir“, sagte Nadja und zog einen Schmollmund, während die beiden Älteren einander verlegen zulächelten. Ich konnte mir mittlerweile denken, wie meine ehemalige Schulkameradin das meinte.

*

„Billie, das geht so nicht weiter, es ist definitiv zu eng hier für zwei!“, fuhr mich meine Freundin Aurel gereizt am Frühstückstisch an. Der Platz in der schmalen Altbauküche, wo wir beide saßen, war gut dafür gewählt, denn an diesem Ort stimmte es ausnahmsweise. Vor dem Fenster am Ende der langen Küchenzeile hatten wir uns hinter den wackeligen, kleinen Tisch gezwängt, der wenn überhaupt einer Person am Morgen besinnliche Momente gönnte. Nun kamen wir ohne Krach und Gerempel nicht mehr dahinter hervor und nirgends ohne große Umstände heran. Aurels ebenmäßiges Gesicht hatte sich darüber bereits vor Wut verdunkelt.

Trotzdem war es ungerecht. Sie lebte schließlich in einer geerbten Eigentumswohnung in der Bleibtreustraße − fast direkt am Ku'damm und doch ruhig und mit relativ viel Grün − auf satten neunzig Quadratmetern meist allein und unter ständigen Klagen, was zu ihrem Glück alles noch fehlen würde. Dabei wohnte hinter ihrem adretten Äußeren ein echter Messie, also jemand, der sein Heim gnadenlos zumüllt. Auch das wusste sie geschickt zu verbergen, indem sie ihre „Sammlungen“ so edel verhängte und drapierte, dass man die Wohnung im Affekt glatt für halb so groß hätte halten können. Optische Täuschung war eben ihre große Stärke. Auch mich hatte sie längst in ein Eckchen verbannt, in dem ich kaum noch auffiel. Aber ich musste natürlich frühstücken.

Ich kann dir helfen, ein bisschen aufzuräumen“, startete ich hoffnungsvoll ein Friedensangebot, da ich auf keinen Fall derzeit zurück nach Hause wollte und konnte.

Zu Hause − das war für mich eine dieser Mietwohnungen in einem Block aus den Vierziger Jahren. An sich nicht schlecht geschnitten und groß genug. Aber mit Decken, die ich berühren konnte, wenn ich mich auf einen Hocker stellte (und ich bin nicht groß!). Sowie äußerst knapp bemessenem Restlicht, das sich durch die mickrigen Sprossenfenster ins Hochparterre zwängte. Es ist bestimmt die Zeit, aus der diese Häuser stammen und wieder meine gnadenlos ausufernde Fantasie, aber ich muss dabei immer an die Monumentalbauten der Nazis denken. Da sind die Fenster genauso unterdimensioniert wie bei uns zu Hause. Und das sagt mir etwas über den Kleingeist jener Zeit. Dauernd planten sie für Giganten − aber die Fenster hätten jederzeit in ein Hobbithäuschen gepasst. Bloß nicht zu viel für die Heizung berappen − das einte uns alle.

Unnötigerweise blickte man durch diese Fenster auch noch direkt auf die Autobahn. Und dafür war das Ding noch nicht mal besonders preiswert zu haben und alle tönten, wir könnten froh sein, dass wir endlich so ein schönes Heim unser eigen nennen konnten. Dabei war es das noch nicht einmal, wir wohnten dort zur Miete.

Aber das war es alles nicht, wovor mir grauste. Sondern ich fürchtete mich vor meinem Freund Ilias, der da jetzt allein in der Küche hockte und sein blödes Sportlermüsli schlabberte. Illie & Billie, − was waren wir doch am Anfang für ein Traumpaar gewesen. Keine drei Jahre war das her. Und was hatten wir seither nicht alles unternommen, damit wir keins mehr waren.

„Nein, im Ernst, willst du ihn nicht endlich mal anrufen?“, meinte Aurel, die meine Gedanken las und offenkundig nichts vom Aufräumen hielt. Warum auch, konnte sie sich doch an ihren Bergen vorbei immer noch irgendwie ins Warme zwängen. Das einzige, was sie dringend loswerden wollte, war meine Wenigkeit, ich schaute sie nun ebenso grimmig an. „Nein, ich möchte ihn nicht anrufen, Aurel. Ich spreche sowieso nie wieder ein Wort mit dem Typen. Schon sehr bald werde ich die Kraft haben, die Dinge zu ordnen und so lange nimmt mich meine beste Freundin eben dankenswerterweise bei sich auf! So einfach ist das.“

Ich hielt meine Kaffeetasse fest umklammert und wartete ab, bis sie mit Augenrollen fertig war und damit aufhörte, lauthals herum zu stöhnen. Uns beiden war klar, dass ich die Dosis steigern würde, wenn sie jetzt nicht nachgab. Dass ich sie daran erinnern müsste, wem sie ihren Job bei den Bullen im Grunde zu verdanken hatte. Dass ich sie bequatschen würde, mich wieder mit aufs Revier zu nehmen und an ihrer natürlich schwer geheimen Arbeit teilhaben zu lassen. Prompt schaute sie auf einmal furchtsam drein. Und hielt endlich die Klappe.

*

„Billie, wie ich sehe, hast du immer noch nichts auf die Reihe bekommen. Und das hier ist ein Tatort, zieh dir wenigstens Handschuhe an!“, sagte Gleißner, Aurels Chef, ärgerlich und reichte mir welche. Ich streifte sie umstandslos über, lächelte ihn dabei strahlend an und überhörte sein Gerede.

Gleißner mochte mich. Er hätte mich damals viel lieber im Kommissariat gehabt als Aurel, die sich, auch weil wir spät dran waren, hinter meinem Rücken ins Wohnzimmer zwängte und gleich wieder Wortgefechte mit den Kollegen Brecht (er hieß wirklich so) und Britzke lieferte. Aurel eignete sich überhaupt nicht für ihren Beruf und eigentlich für gar keinen, denn sie war faul, anmaßend und herausfordernd, aber sie sah halt nicht so aus. Ihre Haare bildeten eine beneidenswert schwere, schimmernde Einheit. Eine bronzefarbene Welle, aus der selbst bei starkem Wind kein Härchen auszuscheren wagte und die um ein Gesicht herum rollte, das nicht weniger darbot als eine Projektion hundertprozentiger Verlässlichkeit. Verlangte eine Gefahrenlage, sein Kind einer völlig Fremden anzuvertrauen? Niemand schien sich dafür mehr zu eignen als Aurelia Hammond (klingt britisch, ich weiß, der Papa war Engländer, soweit mir bekannt) und keiner, der nichts näheres über sie wusste (sie konnte Kinder nicht ausstehen), hätte bei der Aktion auch nur ansatzweise gezaudert.

Ihren durchdringenden Blick aus dunkelgrünen Augen konnte kaum etwas erschüttern und er wurde auch nicht durch übertriebene Mimik abgelenkt. Alles reine Show und ihren symbiotisch verbundenen Kollegenzwillingen fiel sie damit schon viel zu lange auf die Nerven. Während Britzke lautstark Sprüche klopfte, hatte sich Brecht bereits brummelnd abgewandt und in einem fort was auch immer abgewunken.

Ihr Chef grinste mich die ganze Zeit an, wie ich gerade bemerkte. Im Grunde freute ihn mein Kommen. „Frauenleiche um die vierzig“, sagte er knapp. „Der Typ, der sie wahrscheinlich erschlagen hat, sitzt drüben in der Küche. Kommst du zur Befragung mit?“. Nichts lieber als das, ich marschierte hinter ihm her und wir ließen den frotzelnden Haufen im Wohnzimmer zurück.

*

„Na, nee − da brauchen wir Aurel!“, platzte es keine zehn Minuten später beinahe unfreiwillig aus mir heraus. In eine Zimmerecke zurückgekehrt beriet ich mich mit Gleißner, weil die „Befragung“ des schockgefrosteten Mittsechzigers in der Küche rein gar nichts erbracht hatte. Jemand hatte ihm auch noch eine Beruhigungsspritze verpasst und nun begnügte er sich damit, tief zu atmen und an uns vorbei aus dem Fenster zu stieren.

Ein erstes Vernehmungsprotokoll der Polizei hatte ergeben, dass er in der Dämmerung eine Einbrecherin auf frischer Tat ertappt und im Affekt mit einem gusseisernen Kaminwerkzeug erschlagen hatte. Gleißner, der bei aller Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit wie alle bei der Berliner Kripo dazu neigte, offensichtliche Fälle endlos auszuwalzen und alles, was knifflig wirkte, gar nicht erst anzupacken, wollte das anscheinend schon gelten lassen. Obwohl der „Einbrecherin“ eine Menge Blut aus dem Hinterkopf über den kanariengelben Blazer gelaufen war, der auch ohne diese Tatsache schon ziemlich auffiel und der Wohnzimmertisch noch mit Kaffee und Kuchen für zwei Personen eingedeckt da stand. Alles reichlich benutzt, auch wenn man abziehen musste, dass sich wahrscheinlich bereits alle Anwesenden bedient hatten wie am Buffet. „Da war wohl jemand grad' gegangen oder er hat noch irgendwen erwartet“, sagte Gleißner lahm zu dem Gedeck. „Holen wir mal Aurel!“, beharrte ich.

Gleißner gab wie gewöhnlich nach und so tauchte sie mit ihrer naturgegebenen Chefinnen-Aura mit uns beiden im Schlepptau in der Küche auf. Und schlagartig war es vorbei mit dem komatösen Getue des Verdächtigen. Er warf ihr sofort unsichere Blicke zu und begann nervös auf seinem Stuhl herumzurutschen. „Das ist unsere Chefin, Frau Oberkommissarin Hammond, sie hat noch ein paar Fragen an Sie“, sagte ich genüßlich und ignorierte, dass Gleißner mir sofort empfindlich auf die Zehen trat. Na bitte, Frauen wie unsere „Chefin“ schüchterten ihn ein, diesen eine ganze Zehlendorf-Villa alleine bewohnenden Zahnarzt. Ihm rannen jetzt Ströme von Schweiß über die Stirn.

*

Das Wohnzimmer hatte reichlich verqualmt gewirkt, das war mir anfangs gleich aufgefallen. Ich hatte mich vor dem stinkenden Kamin gebückt, in dem augenscheinlich ein Packen Papier mit verbrannt worden war und Blätterreste mit Hilfe meines Taschenmessers auseinander genestelt. Ein einziger Schnipsel davon schien brauchbar, die Worte - „usgesucht, dich zu lieben, mein klei“ - wiesen darauf hin, dass es sich wohl um Liebesbriefe handelte, die jemand nie wieder hatte sehen wollen. Der Verfasser und Bewohner dieses Hauses, wie ich annahm.

Dann wandte ich mich der Geldbörse der Toten zu, die jemand aus ihrer Tasche genommen und auf den Tisch gelegt hatte. Daneben lagen ihr Personalausweis, der Führerschein und etwas Geld, mehr hatte niemanden interessiert. Dem Ausweis nach handelte es sich um die ledige und kinderlose Almut Eschenbach, die tatsächlich in einigen Tagen vierzig Jahre alt geworden wäre.

Ich untersuchte ihr Portemonnaie genauer und fand neben zwei Katzenbildern noch ein Foto. Darauf lächelten drei Leute in die Kamera. Ein Mann stand zwischen einer Frau und einem etwa zwölfjährigen Mädchen und umarmte die beiden. Während er jedoch das munter strahlende Kind auffallend eng an sich gedrückt hielt, baumelte sein anderer Arm achtlos wie ein toter Fisch über der Schulter der Frau.

In dem Mann erkannte ich wenig später unseren Verdächtigen in der Küche wieder. Das Foto war vielleicht vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren aufgenommen worden, schätzte ich. Und in dem Augenblick war Gleißner mit seinem Paar Extra-Handschuhe zu mir getreten.

„Was unserer Frau Oberkommissarin sonderbar vorkommt, ist die Kleidung der toten Frau in Ihrem Wohnzimmer. So ist doch sicherlich keine Einbrecherin angezogen“, nahm ich den Gesprächsfaden in der Küche wieder auf, wobei Aurel streng dazu nickte. Der Zahnarzt zuckte heftig zusammen und schaute nun gehetzt abwechselnd von Aurel zu der Fotografie in meiner Hand, welche ich vor ihn auf den Küchentisch legte. „Nein“, sagte er, während er zu weinen anfing und andauernd heftig den Kopf schüttelte. „Das ist doch alles so lange her, das interessiert doch heute niemanden mehr. Ich habe niemals jemandem etwas getan, bin niemals straffällig geworden, das schwöre ich!“ Unter seinen Achseln bildeten sich enorme Schweißflecken, es begann in der Küche zu riechen wie in einer Sportlerumkleide.

„Das sind doch aber Sie auf dem Foto“, bemerkte Gleißner, der sich das Bild genauer betrachtete. „Ist das Ihre Tochter und sind das Mädel und die tote Frau im Wohnzimmer ein und dieselbe Person? Haben Sie beide sich also gekannt? Sind Sie vielleicht von ihr erpresst worden?“, „Nein, nein, nein ...“. Bei jeder Frage ging das Kopfschütteln unablässig weiter, seine Tränen tropften auf den Küchentisch.

Nun beugte sich auch Aurel zu dem Verdächtigen vor. „Sie wohnen doch hier ganz allein, haben offensichtlich keine Angehörigen“, stellte sie fest. „Sind Sie homosexuell?“ - „Nein doch! Nein, nein, nein ... .“

Zeit, mich wieder reinzuhängen, sonst ging das hier zu schleppend voran. „Dann haben Sie es sich damals nicht ausgesucht, ein Kind zu lieben und Frau Eschenbach hat es sich nicht ausgesucht, als Kind von Ihnen geliebt zu werden“, sagte ich und legte den Liebesbriefschnipsel neben das Foto und ebenfalls vor ihn hin.

Ein offenbar lange aufgestauter Sturm aus haltlosen Schluchzern entlud sich danach über den Küchentisch. Es schüttelte den Verdächtigen dermaßen, dass er minutenlang nicht in der Lage war zu sprechen. Anschließend verstanden wir bloß noch Satzfetzen wie „... niemals jemanden zu etwas gezwungen ...“, „ ... hätte alles zerstört, was ich mir aufgebaut habe ...“ und „ ... wusste doch nicht, was sie nach all den Jahren noch von mir gewollt hat“. Darüber hinaus schien es ihm unendlich wichtig, dass seine Mutter ihm einmal würde vergeben können, wohingegen er uns drei kaum noch wahrnahm. Was uns recht war.

Almut Eschenbach war eine mutige Frau gewesen, die wohl versucht hatte, ein mehr oder weniger sexuelles Verhältnis für sich zu klären, in das sie von dem vorgeblichen Freund ihrer Mutter als kaum zwölfjähriges Mädchen hineingezogen worden war.

Wir würden nie erfahren, was sie Zeit ihres Lebens am meisten daran verstört hatte oder auch nur einen ihrer Gründe dafür, diesen Mann nach Jahrzehnten wieder aufzusuchen. Lag ihr immer noch etwas an dem Kerl? Hatte sie Aufschluss über seine Pädophilie haben und ihn vielleicht tatsächlich damit konfrontieren oder unter Druck setzen wollen? Oder war sie einfach nie über den vermeintlich gemeinsamen Verrat an ihrer Mutter hinweggekommen? Und wer weiß denn, welche lebenslangen Wunden es in einem Menschen schlägt, als Kind so viel Aufmerksamkeit und sogar Begehren zu erfahren um dann später, wenn er reif genug dafür wäre, einfach völlig uninteressant für jemanden geworden zu sein, was wohl einer ultimativen Abwertung der eigenen Person gleichkommen dürfte.

Was wir aus Dr. med. dent. Gisbert Beier-Hold (für mich trotz seiner Tränen nur noch Unhold) herausbekamen, war einzig seine grenzenlose Angst, die nach Almuts Erscheinen in Panik umgeschlagen war. Mit ihrer etwas grellbunten Attraktivität hatte sie ihn wie alle Frauen an seine dominante Mutter erinnert. Darüber hinaus suchte keines der anderen, ehemaligen Kinder, denen er sich nach dem immer gleichen Schema, nämlich dem geheuchelten Interesse an der Mutter, genähert hatte, jemals wieder Kontakt zu ihm. Nachdem er jeweils bei Einsetzen der Pubertät das Weite gesucht und alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte.

Die Mädchen hätten ihn doch immer ganz schnell vergessen, behauptete er schmollend und vor Selbstmitleid triefend. Wahrscheinlich, weil er selbst sofort jegliches Interesse verlor, sobald aus den Kindern Frauen wurden.

Almut aber hatte nichts vergessen. Als sie bei dem Treffen plötzlich seine ganzen, alten Briefe auspackte, sah er keinen anderen Ausweg mehr als sie hinterrücks zu erschlagen.

„Abführen!“, rief Aurel, die sich ein bisschen sehr in ihre Rolle als Frau Oberkommissarin hineingesteigert hatte und „Au-aaa!!“, als ihr Gleißner gleich im Anschluss auf die Zehen stieg.

Aber nachdem wir die Villa verlassen hatten, richteten sich alle Augen mit einem Mal auf mich. „Billie, so geht das doch nicht weiter! Niemand hat verlangt, dass du in den Kamin kriechst“, „Willst du hier jetzt jeden Tag mitmachen?“ und „Jetzt regle bitte endlich deine Angelegenheiten!“ war noch das freundlichste, was ich zu hören bekam. Ihr undankbares Pack, dachte ich wütend, drehte mich wortlos um und machte mich davon. Hatte sich vielleicht einer der Herren oder meine liebe Freundin schmutzig gemacht, um zur Klärung des Falles beizutragen? Und in dem blöden Plastikanzug von der Spurensicherung hätte ich mich doch überhaupt nicht mehr bewegen können. Da konnte man mir wenigstens mal die Reinigung bezahlen, mehr hatte ich ja gar nicht verlangt.

Ach, hatte ich das schon erwähnt? Schwanger war ich auch noch, Ende siebter Monat.

*

Ich hatte die Haustür noch nicht hinter mir geschlossen, da bekam ich bereits gründlich eine verpasst. Wie zur Antwort knallte ich mit dem Kopf irgendwo gegen und sah zurückweichend mein Blut über die unlängst renovierte Wand laufen. „Das bringst du wieder in Ordnung“, gurgelte ich, während Ilias fortfuhr, mich zu traktieren.

Ja, Herrgott, ich werde geschlagen und ja, verdammt, vom Vater meines werdenden Kindes und hoffentlich überstanden wir das beide hier lebend. Also, das Kind und ich, um den Scheißkerl machte ich mir bestimmt keine Sorgen.