Tavith (Band 1): Wenn Himmel und Hölle sich lieben - Philina Hain - E-Book

Tavith (Band 1): Wenn Himmel und Hölle sich lieben E-Book

Philina Hain

5,0

Beschreibung

Ein Krieg zwischen Himmel und Hölle. Eine Prophezeiung, die den Untergang der Welt vorhersagt. Und eine Liebe, die nur Bestand hat, wenn sie akzeptiert werden kann. Zweitausend Jahre ist es her, seit Dämonen die Familie von Nymphenkönig Jiyan ermordeten. Als die Engel ihre Botin Amaleya zu ihm schicken, um das Bündnis gegen die Streitkräfte der Hölle zu erneuern, denkt Jiyan nicht daran, sich ihnen anzuschließen. Waren es doch die Engel, die seine Familie damals im Stich ließen. Kurz darauf erfährt er, dass ein Krieg zwischen Himmel und Hölle bevorsteht und es scheint unumgänglich, Verbündete zu suchen. Denn das Nymphenreich liegt genau zwischen den beiden Rivalen und auch die Hölle bemüht sich um eine Allianz. Doch bevor er sich entscheidet, gibt es ein paar Ungereimtheiten, die Jiyan klären will. Wieso arbeitet Amaleya mit den geflügelten Verrätern zusammen, wenn sie ganz augenscheinlich nicht zu ihnen gehört? Wer oder was ist sie? Und wieso fühlt er sich so stark zu ihr hingezogen, obwohl er entgegen seiner Nymphennatur abstinent leben wollte? Fragen, deren Antworten ihn ebenso hart treffen könnten, wie die drohende Apokalypse. Doch manchmal braucht es eine Erschütterung, damit alle Puzzleteile an ihren Platz fallen.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Weltkarte

Prolog

Kapitel 1 - Bloß kein Engel!

Kapitel 2 - Rauswurf

Kapitel 3 - Auf Nimmerwiedersehen

Kapitel 4 - Ungebetene Gäste

Kapitel 5 - Ich schwöre dir …

Kapitel 6 - Ein Stück deines Herzens

Kapitel 7 - Nur Freunde

Kapitel 8 - Das gewissenlose Biest

Kapitel 9 - Der Alkoholiker und der Junkie

Kapitel 10 - Ein echter Höllentrip

Kapitel 11 - Du bist nicht allein

Kapitel 12 - Himmelfahrtskommando

Kapitel 13 - Alles auf Anfang

Kapitel 14 - Feuer und Zündstoff

Kapitel 15 - Ich bin dann mal weg

Kapitel 16 - Für den Notfall

Kapitel 17 - Wie ein Hurrikan

Kapitel 18 - Im Vakuum

Kapitel 19 - Neustart

Kapitel 20 - Es war einmal

Kapitel 21 - Das Schicksal musste ihn lieben

Kapitel 22 - Die wirklich wichtigen Dinge

Kapitel 23 - Pustekuchen

Kapitel 24 - Schlangengrube

Kapitel 25 - Eure Majestäten

Kapitel 26 - Vom Regen in die Traufe

Kapitel 27 - Wenn du so weit bist

Kapitel 28 - Falsche Worte, wahre Pläne?

Kapitel 29 - Eines der vielen Mysterien

Kapitel 30 - Wertlos ohne dich

Kapitel 31 - Soldat des dunklen Herrschers

Kapitel 32 - Schicksalhafter Auftrag

Verzeichnis

Nachwort

 

Philina Hain

 

 

Tavith

Band 1: Wenn Himmel und Hölle sich lieben

 

 

Fantasy

 

Tavith (Band 1): Wenn Himmel und Hölle sich lieben

Ein Krieg zwischen Himmel und Hölle.

Eine Prophezeiung, die den Untergang der Welt vorhersagt.

Und eine Liebe, die nur Bestand hat, wenn sie akzeptiert werden kann.

 

Zweitausend Jahre ist es her, seit Dämonen die Familie von Nymphenkönig Jiyan ermordeten. Als die Engel ihre Botin Amaleya zu ihm schicken, um das Bündnis gegen die Streitkräfte der Hölle zu erneuern, denkt Jiyan nicht daran, sich ihnen anzuschließen. Waren es doch die Engel, die seine Familie damals im Stich ließen. Kurz darauf erfährt er, dass ein Krieg zwischen Himmel und Hölle bevorsteht, und es scheint unumgänglich, Verbündete zu suchen. Denn das Nymphenreich liegt genau zwischen den beiden Rivalen und auch die Hölle bemüht sich um eine Allianz. Doch bevor er sich entscheidet, gibt es ein paar Ungereimtheiten, die Jiyan klären will. Wieso arbeitet Amaleya mit den geflügelten Verrätern zusammen, wenn sie ganz augenscheinlich nicht zu ihnen gehört? Wer oder was ist sie? Und wieso fühlt er sich so stark zu ihr hingezogen, obwohl er entgegen seiner Nymphennatur abstinent leben wollte? Fragen, deren Antworten ihn ebenso hart treffen könnten wie die drohende Apokalypse. Doch manchmal braucht es eine Erschütterung, damit alle Puzzleteile an ihren Platz fallen.

 

Die Autorin

Philina Hain, geboren im September 1994, wuchs auf der Ostsee-insel Fehmarn auf. Nach dem Abitur zog sie mit ihrem Freund nach Sachsen-Anhalt, wo sie Sozialwissenschaften studiert und Bauchtanz unterrichtet. Da sie schon seit ihrer Kindheit dichtete und Geschichten schrieb, besuchte sie bereits im Alter von elf Jahren ihre ersten Schreibworkshops. Mit der Veröffentlichung ihrer Tavith-Reihe erfüllt sich nun endlich ihr Traum vom Auto-rensein.

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, August 2020

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röl-lig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Illustrationen S. 5, 9, 487: Philina Hain

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-133-8

ISBN (epub): 978-3-03896-134-5

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für all die lieben Menschen,

die immer an mich glauben,

auch wenn ich selbst es nicht tue.

 

 

 

 

 

 

Prolog

Jiyan

 

Vor zweitausend Jahren im Königreich der Nymphen

Beißender Schwefelgeruch ätzte in seiner Nase, seinem Rachen, seiner Lunge. Ließ ihn würgen, während er wie in Trance an den toten Wachen vorbeilief, welche die Flure des Schlosses säumten.

Bis tief in seine Seele hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte, und war so schnell wie noch nie nach Hause geeilt, nur um das Schloss als Ort des Grauens vorzufinden.

Wie so oft hatte er sich zuvor am Abend aus seinen Gemächern geschlichen, um sich in der Stadt, die den Palast umgab, zu amüsieren und seiner Begierde nachzugeben, wie es typisch für seine Art war. Doch statt bei einer Berührung das warme Prickeln zu empfinden, das Energie in seinem Körper freisetzte, hatte er sich beinahe übergeben müssen. Ihm hatte sich der Magen umgedreht, kalter Angstschweiß war seinen Rücken hinabgeronnen und ein Zittern an seinen Gliedmaßen emporgekrochen.

Dieses Zittern verstärkte sich mit jedem weiteren Schritt, den Jiyan nun auf den Thronsaal zuging. Sein Herz raste so sehr, dass es in seinen Ohren rauschte. Der dumpfe Klang seiner Stiefel, die auf dem hellen Marmor aufsetzten, war das einzige Geräusch weit und breit.

Schwankend kniete er sich neben eine tote Wache, deren Hals und Brustkorb auf bestialische Weise zerfetzt worden waren. Die glasigen Augen des Mannes waren auf die Waffe gerichtet, welche seine Finger immer noch fest umschlungen hielten.

Jiyan zerrte das Schwert des Soldaten aus dessen leblosen Händen. Seine Haut war noch warm. Ebenso wie der Schwertgriff. Die Monster, die dieses Blutvergießen zu verantworten hatten, waren noch nicht lang fort. Oder vielleicht waren sie auch noch hier und lagen auf der Lauer. Warteten auf einen weiteren Nymphen, den sie zerfleischen konnten.

Dämonen, dachte Jiyan angewidert und richtete sich wieder auf.

Ihr Schwefelgestank und die Wunden der Opfer gaben sie preis.

Sein Blick glitt den breiten Flur entlang, der zum Thronsaal führte. Zugleich entstand in seinem Inneren eine merkwürdige Leere, als ob seine Emotionen zu überwältigend wären, um von ihm empfunden zu werden. Denn er ahnte, dass ihn ein noch entsetzlicherer Anblick erwartete.

Wenngleich er umkehren wollte, setzte er sich wieder in Bewegung und umklammerte den Griff des Schwertes auf der Suche nach Halt.

Besser als jeder Soldat im Königreich der Nymphen wusste er damit umzugehen. Denn jede der Wachen hatte den Waffengebrauch aus einem Pflichtgefühl heraus gelernt, um der Königsfamilie zu dienen – Jiyans Familie –, aber sie wollten nicht kämpfen. Jiyan schon. Und er hatte einen der besten Lehrer gehabt, um es zu erlernen.

Mit jedem weiteren Schritt spannten sich seine Muskeln voller Erwartung noch ein wenig mehr an, bis er dachte, sie würden bersten. Dann bog er um die Ecke zum Thronsaal. Nicht mal für eine Sekunde hatte er seine Deckung fallen lassen, falls sich noch weitere Dämonen in der Nähe aufhielten. Doch bei der Szene, die sich ihm bot, fiel seine Deckung wie die vertrockneten, toten Blätter der Laubbäume im Herbst, wenn ihre Zeit vorüber war.

Nein. Nein. Nein.

Dieses kleine Wort erklang immer wieder in seinen Gedanken wie das endlose Ticken einer Uhr.

Das Schwert fiel klirrend zu Boden, als er in die Richtung des Thrones losstürmte.

Voller Entsetzen stieg er über den Ring aus toten Wachen, der um den Herrscherstuhl geformt worden war.

Dahinter lagen auf den breiten Stufen der Empore sein älterer Bruder Milan und dessen Frau Baraa. Tot. Grotesk entstellt. Milans Blick war auf seine Frau gerichtet, der die Augäpfel fehlten.

Jiyan hatte schon des Öfteren gehört, dass sich Höllengeschöpfe besonders hübsche Augen als Souvenir mitnahmen, doch er hätte nie gedacht, dass er es einmal erleben würde.

Bestürzt kniete er sich neben Milan – oder eben das, was von seinem Bruder übrig war.

In seinem Verstand tat sich ein bodenloses Loch auf, in das er immer tiefer hinabfiel. Haltlos stürzte er in die Dunkelheit, während sich seine Kleidung mit dem sagenumwobenen blauen Blut der Königsfamilie der Nymphen vollsog, das über die Stufen des Throns lief.

Ganz langsam hob Jiyan den Blick. Fühlte sich wie gelähmt, sodass sein Körper Zeit brauchte, um zu reagieren.

Vor dem Thron lag der nackte, geschundene Körper seiner Mutter, zu Füßen seines Vaters, der an den Königssessel gekettet war. Sein Kopf fehlte. Schien nirgendwo herumzuliegen in diesem bizarren, perfekt arrangierten Bild des Verderbens, in dessen Mitte Jiyan kniete.

Als die vernichtende Realität allmählich zu ihm durchsickerte, nisteten sich bodenlose Trauer, Wut und Hass wie ein Geschwür in ihm ein, das ihn von innen heraus auffraß.

Trauer – um seine geliebte Familie.

Hass – auf die Monster, die sie ihm genommen hatten.

Wut – auf sich selbst.

Wo hatte er sich herumgetrieben, während sie flehentlich um Gnade schrien? Was hatte er getan, als man sie wie Vieh geschlachtet hatte? Er hatte sich mit anderen Nymphen vergnügt und seine Lust befriedigt. Hatte sich amüsiert, während seine Familie qualvoll starb.

Zuvor hatte er sich gefühlt, als ob er unaufhaltsam fallen würde, doch nun schlug er auf dem Boden der Tatsachen auf.

Sie sind tot. Für immer fort.

Seine Emotionen überkamen ihn wie eine gewaltige Welle, die ihn unter Wasser drückte, umherwirbelte und ihm die Luft aus den Lungen presste. Seine Sicht verschwamm und er erbrach sich neben der Leiche seines Bruders. Schämte sich so unsagbar für sich selbst, dass er wünschte, er wäre an ihrer Stelle gestorben.

Hätte er es nicht verdient? Er hatte sie im Stich gelassen!

Gedämpft vernahm er Schritte im Korridor, hörte besorgte Rufe und das Schluchzen der Wachen, die um ihre Freunde und Verwandten trauerten.

Dies war ein Tag des Verlusts und sie alle wussten, dass die Schuldigen Dämonen waren. Jiyan würde dafür sorgen, dass sie es niemals vergaßen. Und mit niemals meinte er wirklich nie. Denn wie auch die Götter, Engel und Dämonen waren die Nymphen unsterblich. Spätestens mit dreißig Jahren hörten sie auf, äußerlich zu altern, Frauen tendenziell früher als Männer. Außerdem litten sie nie an natürlichen Krankheiten und die Körper gewöhnlicher Unsterblicher heilten schnell. Daher gab es nicht viele Möglichkeiten, um sie zu töten.

Jiyan konnte selbst durch seinen Tränenschleier die bläulich verfärbten Einstichlöcher an den Hälsen seiner Liebsten erkennen, welche darauf hindeuteten, dass sie vergiftet worden waren. Wahrscheinlich hatten die Dämonen sie im Schlaf überfallen und aus den Betten gezerrt.

Mit zitternden Gliedern beugte er sich nun über den Körper seines Bruders und strich ihm die blutdurchtränkten Haare aus der Stirn, als er flüsterte: »Es tut mir so leid, Milan. Es tut mir so unendlich leid, dass ich nicht da war … Ich werde euch rächen. Ich schwöre dir, dass ich …« Seine Stimme brach, bevor er die nächsten Worte aussprechen konnte.

Doch in Gedanken schwor er sich, dass er jeden Dämon, der je seinen Weg kreuzen würde, vernichten würde. Diese Kreaturen hatten nichts in diesem Teil der Welt verloren und zerstörten alles, was gut und rechtschaffen war. So wie seine Familie.

Aber er würde ihnen Einhalt gebieten. Würde sie bekämpfen und Rache nehmen für all das Leid, das sie an diesem Tag über die Nymphen gebracht hatten.

Kapitel 1 - Bloß kein Engel!

Jiyan

 

Zweitausend Jahre später

Der Schweiß lief Jiyan in kleinen Rinnsalen über den nackten Oberkörper, während er unermüdlich weiterrannte. Immer weiter. Schneller. Die Sonne schien gnadenlos auf ihn herab und brannte auf seiner Haut. Mit jedem weiteren Schritt spürte er die Müdigkeit in seinen Muskeln, die darum bettelten, aufhören zu dürfen.

Doch diesen Luxus gönnte er sich nicht. Noch nicht.

Tief gruben sich seine Füße in den Sand und erschwerten sein Vorankommen, aber er zwang sich selbst unaufhörlich vorwärts. Die Hitze und die Anstrengung ließen ihn immer mehr austrocknen, bis er das Gefühl hatte, Sand zu schlucken.

Noch konnte er laufen. Und das würde er.

»Scheiße, Mann, seit wann rennt er da seine Runden?«, rief Fionn aufgebracht, der soeben die Trainingsarena betreten haben musste.

Durch seine Erschöpfung nahm Jiyan die Stimme seines besten Freundes und königlichen Beraters nur gedämpft wahr.

»Keine Ahnung, er war schon heute Morgen hier, als wir mit dem Training anfangen wollten«, erwiderte Leano, der ebenso ein unermesslich guter Freund und Berater im Laufe der Jahrhunderte für Jiyan geworden war und mit dem er gern zusammen sein Kampftraining ausführte.

Das Gleiche traf auch auf Balamy zu, den Vierten im Bunde. Die drei Männer waren stets an Jiyans Seite und hatten ihm besonders nach dem einstigen Massaker im Thronsaal Kraft gegeben. Sie hatten ihn daran erinnert, dass er nicht nur für sich selbst lebte, sondern auch für sein Volk. Damit hatten sie seinem Leben wieder einen Sinn gegeben.

Jiyan beschäftigten gerade einige unliebsame Gedanken, weshalb er ein paar Runden hatte joggen wollen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Das war heute Morgen gewesen und nun ging die Sonne bald unter.

»Wollt ihr mich verarschen? Er läuft hier schon den ganzen Tag umher und keiner von euch unternimmt was dagegen?« Fionns Stimme hallte donnernd von den Mauern der Trainingsarena wider.

»Krieg dich mal wieder ein! Jiyan ist eine beschissene Dampfwalze, dem stell ich mich bestimmt nicht in den Weg!«, rief Balamy verteidigend.

Dampfwalze?, dachte Jiyan jetzt benommen. Er? Dann zahlte sich die harte Arbeit wohl endlich aus.

Von der Tribüne am Eingang brüllte Fionn ihm zu: »Euer Hoheit, bewegt Euren königlichen Arsch hierher oder muss ich erst runterkommen?«

Jiyan setzte nach wie vor einen Fuß vor den anderen. Er lächelte müde. Sollte Fionn doch zu ihm herunter in die Arena kommen. Ein kurzer Kampf mit seinem besten Freund wäre der perfekte Abschluss seines heutigen Trainings.

Nur wenige Augenblicke später hörte er tatsächlich Fionns Schritte hinter sich. Kurz darauf hatte dieser zu ihm aufgeschlossen, sodass sie nebeneinander herliefen.

Sein Kamerad seufzte. »Jiyan, muss ich dich wirklich daran erinnern, dass du gleich verabredet bist? Ein Gesandter der Engel wird dich im Thronsaal erwarten und dich vermutlich um eine Allianz mit ihnen bitten. Hast du dir schon überlegt, ob du darauf eingehen wirst?«

Jiyan entging Fionns besorgte Miene nicht. Dessen warme braune Augen schienen in Jiyans Gesicht nach einer Antwort auf seine Frage zu suchen.

Man könnte Fionn als ein Musterbeispiel für ihresgleichen bezeichnen. Er trug sein hellblondes Haar kurz geschnitten, war athletisch gebaut und besaß im Gegensatz zu Jiyan einen Dreitagebart, der die Fältchen um seinen Mund kaschierte, weil er die Lippen aufeinanderpresste und auf eine Erwiderung wartete. Während Fionn einen typischen Nymphen verkörperte, stellte Jiyan das Gegenteil dar. Doch er war ja auch nicht wie andere, er war ihr König.

Jiyan wollte seinem Freund erklären, dass er das Treffen nicht vergessen, sondern genau deswegen schon früher mit seinem täglichen Training begonnen hatte. Nämlich, um sich davon abzulenken, dass er nichts von den Engeln wissen wollte. Allerdings brachte er nur ein atemloses Krächzen hervor.

Erneut seufzte Fionn und handelte dann so unerwartet, dass Jiyan der Konfrontation nicht mehr ausweichen konnte. Er spürte kaum den dumpfen Schmerz an seinem Schienbein, als er auch schon stürzte. Dank seiner guten Reflexe rollte er sich gerade noch rechtzeitig über die Schulter ab und kam somit wieder zum Stehen.

Langsam drehte er sich zu Fionn um. Sein Freund hatte ihm doch wirklich im Laufen gegen den Unterschenkel getreten, sodass Jiyan unschön in den Dreck gefallen war.

Er schaute an sich herunter. Fantastisch, er sah aus wie der Sandmann. Sein nackter Oberkörper war über und über mit Sand bedeckt, da er völlig verschwitzt war. Dafür würde er sich revanchieren.

Nur ein paar Schritte entfernt stand er seinem besten Freund und Berater gegenüber, der kühn das Kinn reckte. Ihre Körpergröße stellte ihre einzige Gemeinsamkeit dar, denn anders als Fionn hatte Jiyan in den letzten Jahrtausenden immer mehr Muskeln aufgebaut, und sein Oberkörper war mittlerweile braun gebrannt von all den Trainingseinheiten, die er draußen absolvierte.

Sein Kamerad provozierte ihn, da er ausgeruht und bei Kräften, während Jiyan außer Atem und sein Körper erschöpft war. Fionn sollte es allerdings besser wissen, als ihn herauszufordern – egal, in welchem Zustand Jiyan sich befand. Denn bei ihren Raufereien, die sie sich seit jeher lieferten, zog sein Kindheitsfreund meist den Kürzeren.

Blitzschnell machte Jiyan einen Satz auf den Nymphen vor sich zu und setzte mit der linken Faust zum Schlag an. Wie erwartet hob Fionn seinen Arm, um links zu blocken. In dem Moment schlug Jiyan mit der Rechten zu. Sein Freund konnte die Deckung nicht schnell genug hochfahren, sodass Jiyans Faust seinen Kiefer traf.

Fionns Kopf flog zur Seite, aber er nutzte die Drehung, um Jiyan mit Schwung gegen den Knöchel zu treten.

Aty! Verdammt!

Seine Beine waren zu erschöpft, als dass sie dem Tritt standhalten könnten. Er verlor das Gleichgewicht und fiel hinten herüber in den Sand. Im nächsten Moment war Fionn auch schon über ihm und schlug auf ihn ein.

Zweimal. Dreimal.

Weiße Sterne blitzten in Jiyans Blickfeld auf, seine Nase brach unter der Wucht der Hiebe. Er biss die Zähne zusammen und versuchte sich frei zu kämpfen, um Fionn von sich wegzustoßen. Seine Muskeln waren jedoch schrecklich taub von der Anstrengung des intensiven Trainings und gehorchten ihm kaum.

Er sah keinen anderen Ausweg, griff sich eine Handvoll Sand und schleuderte sie Fionn ins Gesicht. Sein Freund ließ nur für einen Sekundenbruchteil von ihm ab, um die Augen abzuschirmen.

Jiyan wusste diesen kurzen Moment zu nutzen. Er holte mit gestreckten Armen aus und schlug mit den Handflächen auf Fionns Ohren, sodass ihm die Trommelfelle platzten. Sofort jaulte dieser auf, ein Blutstropfen rann seinen Hals hinab.

Um von ihm wegzukommen, rollte er sich von Jiyan herunter.

Das war seine Chance.

Jiyan sprang auf, beugte sich über seinen Kontrahenten und wollte gerade zum Schlag ausholen, als ihm bewusst wurde, dass er bereits gewonnen hatte.

Der Kampf war vorbei. Zumindest wenn er seinem Freund nicht ernsthaften Schaden zufügen wollte.

Fionn würde ohnehin für die nächsten zwei Tage, bis er geheilt war, nur herumtaumeln können, da durch seine geplatzten Trommelfelle nun sein Gleichgewichtssinn gestört war. Mal davon abgesehen, dass er nun nichts mehr hören konnte. Zwei Tage lang. Oder einfach bis zum nächsten Sex, denn dadurch würde Fionn als Nymphe neue Kraft schöpfen und in nur wenigen Minuten vollständig heilen.

Als Nymphen benötigten sie zwar Körperkontakt zum Überleben, doch es barg auch den Vorteil, dass sie außergewöhnlich schnell dadurch regenerierten.

Jiyan ließ sich neben seinen Freund in den Sand plumpsen und klopfte ihm auf die Schulter. Fionn schmunzelte und zeigte ihm den Mittelfinger. Das hieß dann wohl so viel wie »Gut gemacht«.

Jiyan grinste bis über beide Ohren, sodass der Schmerz durch sein Gesicht zuckte, da Fionn dieses ziemlich demoliert hatte.

Dennoch liebte er diese kleinen Raufereien mit seinen Freunden. Dadurch hatten sie sich in den letzten zwei Millennien immer vertrauter mit den Kampfstilen des anderen gemacht und bildeten ein eingeschweißtes Team, wenn sie in den Kampf um Leben und Tod zogen, der meist gegen Dämonen stattfand – ihre schlimmsten Feinde, denen man in der heutigen Zeit viel zu häufig begegnete. Darüber hinaus härtete das Training sie alle ab, denn sie waren längst nicht mehr die schwache Rasse von damals.

Er hörte, wie Leano und Balamy sich ihnen näherten, und wandte sich ihnen zu.

Balamy trug eine schwarze, zerrissene Jeans, Stiefel und ein pinkes T-Shirt mit der Aufschrift ›Na Schnitte, schon belegt?‹. In Kombination mit seiner gebräunten Haut, dem dunklen Haar und seinen beinahe schwarzen Augen wirkte es nicht einmal lächerlich.

Leano war ebenfalls in eine schwarze Hose und Stiefel gekleidet, nur trug er sie mit einer weißen Leinentunika. Schlicht wie immer.

Balamy warf Jiyan eine Wasserflasche zu. »Toll habt ihr das gemacht, ihr Hohlköpfe. Und wer nimmt nun den Termin mit dem Gesandten wahr?«

Jiyan setzte die Flasche an und nahm ein paar Schlucke. Die kalte Flüssigkeit rann ihm die Kehle hinab und war Balsam für seinen geschundenen Körper.

Genau wie Fionn trug Leano einen Dreitagebart, über den er sich nun mit den Fingern am Kinn rieb, während er zu grübeln schien. »Jiyan, ich sage es dir ja nur ungern, aber du siehst recht … mitgenommen aus. Eher wie der Prügelknabe und nicht wie der König.« Leano reichte ihm ein Handtuch, das sich Jiyan um die Schultern legte.

So verschwitzt und sandig, wie er war, würde ihm ein Handtuch kaum noch weiterhelfen.

Nachdem Jiyan etwas getrunken hatte, fand er nun endlich seine Stimme wieder: »Könnt ihr euch noch an den Tag erinnern, an dem meine Familie, ebenso wie viele eurer Kameraden und Verwandten, von Dämonen niedergemetzelt wurden?«

Einen nach dem anderen schaute er seine Freunde ernst an. Stumm nickten Balamy und Leano, während Fionn sie mit gerunzelter Stirn beobachtete.

Jiyan fuhr fort: »Wo waren die Engel an diesem Tag? Wo waren sie in den Wochen danach? Wir waren mit ihnen alliiert gewesen, trotzdem haben sie uns im Stich gelassen, als wir sie am meisten gebraucht hätten.«

Die Verbitterung in seiner Stimme konnte er nicht verbergen, denn er verabscheute die Dämonen aus tiefster Seele für die Leben, die sie genommen hatten, und auf welche abscheulichen Arten sie es getan hatten. Doch die Engel verabscheute er ebenso, da sie sich einst als Verbündete und Freunde der Nymphen bezeichnet und ihnen den Rücken zugekehrt hatten, als sie ihre Loyalität hätten beweisen sollen. Bei solchen Verbündeten brauchte man wahrlich keine Feinde mehr.

Ohne auf eine Reaktion seiner Freunde zu warten, sprach er weiter: »Es interessiert mich nicht, ob sie erneut eine Allianz mit uns wollen. Und ebenso wenig interessiert es mich, was ich für einen Eindruck auf sie oder ihren Gesandten mache. Sie haben sich von uns abgewandt.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein verschwitztes Haar und strich es zurück, wie er es so oft tat, wenn ihn etwas aufwühlte. »Jetzt wollen die Engel unsere Hilfe, weil wir stark geworden sind. Weil wir zahlreich geworden sind. Weil wir Krieger geworden sind, die sich gegen die Dämonen zu verteidigen wissen und ihnen Einhalt gebieten. Hilfe, die sie uns einst verwehrt hatten.«

Leano hatte die blonden Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. Balamy hingegen steckte die Hände in die Hosentaschen, seine Mundwinkel zuckten belustigt, als ob ihm ein Spruch auf den Lippen läge.

Jiyan war allerdings noch nicht fertig. »Die Engel wenden sich uns wieder zu, da sie uns brauchen, aber was können sie uns im Gegenzug bieten? Wir haben hart gearbeitet und gekämpft, um dort anzulangen, wo wir heute sind, und sind unabhängig von irgendwelchen Allianzen zu einem prachtvollen Königreich erblüht. Wir benötigen keine Hilfe mehr, kein Bündnis mit wem auch immer. Daher werde ich freundlich sagen, dass ich einen Scheiß auf eine Allianz mit den Engeln gebe.« Er hob die Flasche, auf seine eigene Rede anstoßend, und trank den letzten köstlichen Rest des kalten Wassers.

»Das musstest du jetzt mal loswerden, was?« Balamy grinste und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne.

»Darauf kannst du wetten.« Er hatte den ganzen Tag über die Situation mit den geflügelten Verrätern gebrütet und war froh, endlich seine Gedanken zur Sprache gebracht zu haben. Jetzt fühlte er sich gleich besser.

Leano seufzte. »Du hast ja recht.«

»Wie immer«, ergänzte Balamy.

Fionn warf ihnen irritierte Blicke zu.

Jiyan wusste, dass sie einer Allianz nur aus dem Grund zustimmen würden, um einen Konflikt mit den Engeln zu vermeiden. Doch es würde keinen Konflikt mit diesen geben, da die ja bereits alle Hände voll zu tun hatten, die Dämonen zu bekämpfen, die in den letzten sieben Jahrhunderten immer zahlreicher geworden waren. Warum auch immer. Wer wusste schon, was in der Hölle vor sich ging? Nur die Geschöpfe, von denen er sich fernhalten wollte.

Jiyan erhob sich, klopfte grob den Sand von seinem Oberkörper und seiner Hose und half dann Fionn hoch, der von Leano und Balamy auf ihrem Weg zurück zum Schloss, in dem sie alle lebten, gestützt werden musste. Ohne seinen Gleichgewichtssinn konnte er kaum allein gehen.

Sie verließen die Trainingsarena und liefen durch die kopfsteingepflasterten Straßen der eher altertümlichen Stadt, vorbei an Backsteinhäusern und Gärten, in denen lachende Kinder spielten. Die Einwohner nickten Jiyan freundlich zu oder winkten, und er erwiderte ihre Grüße.

Alles wirkte so friedlich und er wollte, dass es so blieb. Frieden war in der heutigen Zeit allerdings nur denen bestimmt, die zu kämpfen wussten. Dies hatte er seinem Volk klargemacht, sodass Frauen, Männer und Kinder gleichermaßen in Selbstverteidigung und im Waffengebrauch unterrichtet wurden. Denn gerade die noch schwachen und unerfahrenen Kinder waren eine leichte Beute für niedere Dämonen, auch Lakaien genannt, die sich in ihr Land schlichen.

Es hatte sich viel hier verändert, trotzdem war sein Volk so ausgelassen und heiter wie eh und je, weshalb es ihn mit Stolz erfüllte, ihr König zu sein.

Eine Gruppe Nymphinnen winkte ihnen jetzt im Vorbeilaufen zu, wobei eine hübsche Brünette Balamy einen Luftkuss zuwarf, den er lächelnd erwiderte. Die Frauen steckten kichernd die Köpfe zusammen, worüber Jiyan die Augen verdrehte.

Er liebte sein Volk, aber verstand nicht, wie er einst so viel Gefallen an den Frauen seiner Art hatte finden können. Die wenigen, die für ihr Land kämpften, hart trainierten und sich nicht davor scheuten, Waffen zu benutzen, bewunderte er und fand sie aufgrund ihres Auftretens auch durchaus begehrenswert. Doch die meisten blieben lieber zu Hause und gingen fraulichen Tätigkeiten nach, was ihm reizlos erschien.

Fast hätte er geseufzt. Reizlos bedeutete wenigstens, dass er nicht in Versuchung geriet. Nicht mehr. Diese Zeiten waren vorbei.

Ihre kleine Gruppe passierte das Eingangstor zum Schloss, wo er den Wächtern zunickte und sie sein Nicken mit einem Lächeln erwiderten. Er warf einen Blick über die Schulter zu seinen Freunden und stellte fest, dass es tatsächlich spät geworden war und hinter ihnen am Horizont die Sonne langsam unterging.

Die Stadt wurde in orangenem Licht gebadet, während manche Nymphen die ersten Straßenlaternen an ihren Häusern anzündeten.

Jiyan liebte diesen Anblick, sein Land und sein Volk. Beides würde er um jeden Preis beschützen, denn in seinen Augen war ebendies die Aufgabe eines Königs.

Er zuckte zusammen, als aus dem Inneren des Schlosses ein Schrei erklang. Blankes Entsetzen ergriff Besitz von ihm. Er sprintete schon ins Innere des Schlosses, bevor er überhaupt den Gedanken dazu gefasst hatte. Leano und Balamy folgten ihm.

Kalte Schauer liefen ihm den Rücken hinab. Ihre schnellen Schritte hallten von den verzierten Schlosswänden wider, während sie sich ihren Weg bahnten in Richtung des Thronsaals, aus dem der Schrei gekommen war.

Schneller!

Bilder seiner toten Familie schossen ihm durch den Kopf.

Seine Liebsten. Misshandelt. Gefoltert. Ausgeblutet. Tot.

Die Angst ließ ihn nur noch schneller rennen. Er würde seine Männer nicht so sterben lassen wie einst seine Familie. Sie waren seine Kameraden, seine Freunde, nicht nur Untergebene. Eher würde er selbst sterben, als noch jemanden zu verlieren, der ihm wichtig war.

Auf einmal hörte er Leano hinter sich seinen Namen brüllen und machte eine Vollbremsung.

Hatte er sich etwa in der Richtung geirrt?

Außer sich vor Sorge sah er sich zu seinem Freund um, der ihn atemlos anfuhr: »Hör doch mal!«

Jiyan konzentrierte sich sofort auf die Geräusche, die sie im Schloss umgaben, und vernahm … Gelächter? Wenn ihn seine Ohren nicht täuschten, kam nun aus der Richtung des Thronsaals das Gelächter seiner Soldaten.

Verwirrung breitete sich in ihm aus. Was in aller Welt ging hier vor sich?

Mit fragendem Blick wandte er sich Balamy und Leano zu, die beide nur mit den Schultern zuckten und wie er selbst nach Atem rangen.

Besorgt und schnellen Schrittes gingen sie weiter in die Richtung des Thronsaals, wobei das Gelächter seiner Männer lauter wurde.

Eanrin, einer von Jiyans Truppenführern, rief: »Selbst schuld! Sie hat dich gewarnt!«

Jiyan hörte das Lächeln in Eanrins Stimme und entspannte sich etwas.

Moment. Sie?

»Du bist ja gemeingefährlich! Ich dachte, du scherzt!«, schimpfte Jaron, einer seiner jüngeren Soldaten, mit schmerzverzerrter Stimme.

Nun entspannte sich Jiyan noch mehr, denn es war Jarons Schrei gewesen, den er im Eingangstor zum Schloss gehört hatte. Und Jaron lebte offensichtlich noch.

Alles ist in Ordnung, allen geht es gut, beruhigte er sich selbst und atmete tief durch. Seine Männer waren offenbar nur am Herumalbern und seine Sorge unbegründet.

Endlich bogen er und seine Freunde um die Ecke zum Thronsaal und traten durch das breite Tor. Wie angewurzelt blieb Jiyan stehen, sodass Leano in ihn hineinlief.

Eine Frau mit langem schwarzen Haar stand Jaron gegenüber. Sie zeigte mahnend mit dem Finger auf den jungen Soldaten, während sie in der anderen Hand eine Schriftrolle hielt. »Also, wenn ich schon so höflich bin und dir sage, dass ich dir den Arm breche, wenn du mir noch mal an den Hintern grapschst, dann bist du selbst schuld, wenn du es tust. Und normalerweise kannst du meine Drohungen mit grausam multiplizieren und einen ordentlichen Tritt in den Arsch addieren, aber ich bin hier ja schließlich Gast und weiß mich zu benehmen. Im Gegensatz zu dir!«

Sie besaß eine bezaubernde Stimme. Etwas hoch und äußerst feminin. Offensichtlich war ihr Ärger nur gespielt, denn sie versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. Sogar ihre außergewöhnlichen goldenen Augen schienen amüsiert zu funkeln.

Ohne dass er es verhindern konnte, glitt Jiyans Blick über ihren Körper. Sie trug praktische Stiefel, eine enge Lederhose, die sich an ihre langen, schlanken Beine schmiegte, und ein Top, das ihre Kurven zur Geltung brachte. Ihre gesamte Kleidung war so schwarz wie ihr glattes Haar, das sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden trug und ihr über eine Schulter nach vorn fiel. Die Hand, mit der sie die Pergamentrolle umfasste, war provokativ in die Hüfte gestemmt.

Wie die meisten unsterblichen Frauen war sie mit Anfang zwanzig nicht mehr gealtert, sodass Jiyan ihr richtiges Alter nicht einschätzen konnte. Ihre Ausstrahlung hingegen verriet ihm, dass sie durch und durch eine Kriegerin war.

Wenn man die Schriftrolle in ihrer Hand bedachte, musste sie wohl die Botin sein. Ihr vorlautes Auftreten und ihre dunkle Kleidung sprachen eher dagegen und waren untypisch für einen Engel.

Sie ist gefährlich!, meldete sich plötzlich seine Vernunft zu Wort und er versuchte, seine Aufmerksamkeit von ihr loszureißen.

Eine Frau, die einem Mann mit nur einer Hand den Arm brechen konnte, weil er ihr einen Klaps auf den Hintern gab, war wohl in jeder Hinsicht gefährlich.

Was hatte sie denn im Land der Nymphen erwartet? Gucken, aber nicht anfassen? Das traf wohl nur auf Jiyan zu.

Bei diesem Gedanken keimte ein Gefühl der Verbitterung in ihm auf. Er verdrängte es, bevor Erinnerungen an die Vergangenheit und Schuldgefühle ihn einholten.

Als sein Blick dann auf den Arm des jungen Soldaten fiel, runzelte er die Stirn.

Sie nannte einen offenen Bruch gutes Benehmen? Interessant.

Jiyan trat durch das Tor hindurch in seinen Thronsaal, und das Gelächter verstummte, doch das Grinsen auf den Gesichtern seiner Männer blieb. Der ramponierte Anblick, den er gerade bot, war keine Seltenheit und so wunderte sich auch niemand darüber.

Jaron wollte soeben zu einer Erwiderung ansetzen, als er Jiyan bemerkte, sich von der schwarzhaarigen Schönheit abwandte und grüßend den Kopf neigte.

Nur einen Moment später war Jiyan vor seinem jungen Kameraden, legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sanft zu. Es war eine kurze Geste, die er nur selten ausführte, da jede Berührung Konsequenzen nach sich zog.

Erneut keimte das Gefühl der Verbitterung in ihm auf. Dieses Mal konnte er es nicht zurückdrängen. Hätte er sich einst nicht in fremden Betten herumgetrieben, während seine Familie abgeschlachtet worden war, hätte er sie beschützen können. Dieser Vorfall hatte genug Selbsthass in ihm geschürt, damit er lieber gestorben wäre, als weiterhin von den Berührungen anderer abhängig zu sein, wie es für seinesgleichen üblich war.

Als Nymphen brauchten sie den Körperkontakt zu anderen, um ihre eigene Lebensenergie freizusetzen. Es verhielt sich wie mit einem Schatz: Dass er existierte, bedeutete nicht, dass man Zugriff darauf hatte. Jiyans Art kam immer nur an die Schatztruhe heran, wenn andere sie berührten und ihnen damit den Schlüssel dazu gaben. Das traf auf alle Nymphen zu. Nur nicht auf Jiyan. Andere Nymphen gaben sich mit dem Schlüssel zum Schatz zufrieden, aber ausgerechnet sein Körper wollte gleich die ganze Schatzinsel für sich.

Im Gegensatz zu anderen entzog Jiyan allen, die er berührte, ihre Lebensenergie. Je intimer die Berührung, desto mehr Energie nahm er auf. Nach seinem kalten Entzug damals war es nur noch schlimmer geworden. Und vor allem spürte er seit seinem Entzug die Nachwirkungen, wenn er jemanden berührte und damit dessen Energie in sich aufnahm. Wenn er diese Energie verbraucht hatte, fühlte er sich so schlecht wie ein Junkie, der alles tun würde, um sich neue Drogen zu beschaffen. Egal ob beim Kampf, während einer Umarmung oder durch ein zufälliges Anrempeln – durch jede Berührung lief er Gefahr, rückfällig zu werden. Beim Training nahm er dieses Risiko allerdings in Kauf, denn dieses war wichtig, damit er sein Volk weiterhin beschützen konnte.

Jiyan vermied Berührungen, sollte es ihm möglich sein, und hielt sich von seiner persönlichen Droge fern. Um seiner selbst willen und um anderen nicht versehentlich zu schaden.

Daher berührte er den jungen Soldaten jetzt nur ganz kurz, um sich zu vergewissern, dass er wohlauf war.

Niemand schwebte in Gefahr.

Jaron war von der Geste überwältigt, da er wusste, dass Jiyan sonst jedwede Berührung vermied. »Jiyan, ich … Es tut … mir leid, mein König«, stammelte er verlegen. »Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«

Jiyan klopfte Jaron lächelnd auf die Schulter, bevor er sich erneut dem Körperkontakt entzog. »Ich bin einfach nur froh, dass es euch allen gut geht. Dass es dir gut geht.«

Er schaute in die Runde und nickte seinen Männern zu. Sie erwiderten seinen Gruß mit einem warmen Lächeln.

Keinen von ihnen wollte er jemals missen, ebenso wenig wie die Heiterkeit, die ihre Gesichter erhellte.

Mit kontrolliertem Gesichtsausdruck wandte er sich schließlich der Quelle dieses Tumults zu, die ihn aufmerksam beobachtete.

Für einen Sekundenbruchteil stockte ihm der Atem, als sich ihre Blicke trafen. Ihre schimmernden Augen aus flüssigem Gold funkelten ihn herausfordernd an. Sie ließ ihn wissen, dass, was auch immer er von diesem Gespräch erwartete, sie ihre eigenen Pläne hatte. Und auch wenn es absurd erschien, hätte er schwören können, dass in diesem Moment ein magisches Flüstern in der Luft lag, das ihm zuraunte, ihr näher zu kommen.

Fionn musste bei ihrer Rauferei härter zugeschlagen haben, als ihm bisher klar gewesen war, denn anders konnte er sich seine Gedanken und das merkwürdige Kribbeln seiner Haut nicht erklären.

Die schwarzhaarige Schönheit wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und zwinkerte ihm frech zu. »Na, sattgesehen, Euer Hoheit?«

Kapitel 2 - Rauswurf

Amaleya

 

Amaleya würde wetten, dass dem Nymphenkönig Unterhöschen zugeflogen kamen, wann immer er das Haus verließ.

Äh, Schloss natürlich.

Seine Stimme war tief und ein wenig rau, als er konterte. »Ich könnte das Gleiche fragen.«

»Touché.« Nur hatte sie jeden Grund zum Starren.

Solche hohen Wangenknochen in Kombination mit seinem großen, muskulösen Körper glichen einer Sünde. Das helle Blau seiner Augen stach durch seine gebräunte Haut besonders hervor und sein dunkelblaues Haar verlieh ihm etwas Verruchtes. Dass seine Nase gebrochen zu sein schien, die Haut an seinem linken Wangenknochen, seinem Mundwinkel und seiner Augenbraue aufgeplatzt war, ließ ihn auf sie nur noch attraktiver wirken.

Welcher Gott erschuf denn so einen Mann und ging damit nicht gleich in Serienproduktion?

Die übrigen Nymphen besaßen nämlich einen eher athletischen Körperbau. Wenn man bedachte, dass König Jiyan verschwitzt war und mehrere Fausthiebe abbekommen hatte, musste er wohl hart dafür gearbeitet haben, ein Sonderexemplar zu werden. Einfach alles an ihm war zum Niederknien. Wortwörtlich. Und sie zählte nicht zu der Art Frau, die lang fackelte, um sich zu nehmen, was sie begehrte. Was wohl an ihrer Vergangenheit lag.

König Jiyan runzelte jetzt die Stirn, als ob ihr Verhalten ihn irritierte und er noch nicht wüsste, wie er mit ihr umgehen sollte. Die Fältchen zwischen seinen Augenbrauen verrieten ihr, dass er ein eher ernster Zeitgenosse war.

So eine Schande.

Jemand sollte ihn zum Lachen bringen und diese Denkerfalten entknittern. Sie würde sich selbstverständlich dafür anbieten, wenn dieses Treffen erfolgreich verlaufen war.

Unter seinem kritischen Blick wurde sie jetzt tatsächlich nervös. Diese Zusammenkunft war wichtig und sie hatte bereits einen schlechten Start hingelegt, indem sie irgendeinem Soldaten den Arm gebrochen hatte.

Das war ja mal wieder typisch. Was schiefgehen konnte, ging auch meistens schief.

Vielleicht könnte sie die Situation noch retten, indem sie ihren Charme spielen ließ. Nicht dass sie sonderlich charmant war, doch der König vor ihr war schließlich ein Nymphe.

Jiyan verengte die Augen, sodass seine langen schwarzen Wimpern Schatten auf seine Wangen warfen. »Solltest du mich nicht mit gebührendem Respekt behandeln, wenn du planst, mich zu einem Bündnis zu bewegen?«

Sie zuckte mit den Schultern, als ob er nicht den Nagel auf den Kopf getroffen hätte. »Ich bin bereits Königen, Prinzen und Fürsten aus allen Teilen der Welt begegnet und die wenigsten verdienen den Respekt, den sie einfordern. Verdient Ihr denn meinen Respekt?«

Jiyan blinzelte verwirrt, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber schloss ihn dann wieder.

Was ist los, Süßer? So schnell entwaffnet?

Dafür gab sie sich mental ein High Five.

Hinter ihr kicherten die Soldaten, wodurch ihr wieder einfiel, dass sie nicht mit Jiyan allein war und sich außerdem auf einer Mission befand. Den König der Nymphen zu irritieren, bis er sie rausschmiss, stand heute definitiv nicht auf der To-do-Liste.

»Was gibt es da zu lachen?«, brummte Jiyan mürrisch seine Soldaten an. »Raus mit euch. Ihr habt viel zu viel Spaß.«

Der Befehl hatte kaum seinen Mund verlassen, da setzten sich alle gehorsam und grinsend in Bewegung.

Sobald die Tür des Saals zugefallen war, flankierten die beiden Nymphen, die mit Jiyan hereingestürmt waren, diese. Sie mussten sehr gute Freunde sein, denn in ihren Blicken spiegelte sich Besorgnis wider. Die zwei musterten Amaleya kritisch – im Gegensatz zu den Soldaten, die hier bis eben noch herumgestanden hatten.

»Zurück zu deiner Frage.« Jiyan schien komischerweise nicht mehr verärgert. »Es ist mir tatsächlich gleichgültig, ob mir eine Gesandte der Engel Respekt zollt oder nicht.«

Tja, jetzt ergab es Sinn, dass er seine Männer fortgeschickt hatte. Das sollten die natürlich nicht hören, sondern vielmehr denken, dass er Amaleya jetzt zusammenfaltete.

»Interessant. Mit Gleichgültigkeit hat noch niemand auf meine Provokationen reagiert«, ließ sie ihn wissen.

Zumindest reagierte niemand mit Gleichgültigkeit darauf, wer sich als rechtmäßiger Herrscher irgendeines Gebietes oder als Anführer irgendeiner Gruppierung betrachtete. Das warf doch die Frage auf, als was Jiyan sich selbst sah.

Er neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Was für eine Art Gesandte bist du eigentlich?« Statt vorwurfsvoll klang er vielmehr interessiert. »Du stellst dich nicht vor, siehst deine Mission offensichtlich nicht als Priorität an und scheinst mir auch selbst kein Engel zu sein, da du nicht stolz deine Flügel präsentierst, wie es sonst üblich ist.«

Ups, allen anderen hatte sie sich bei ihrem Eintreffen natürlich vorgestellt, nur dem König und seinen beiden Begleitern nicht. Ganz toll.

Sie schnalzte empört über sich selbst mit der Zunge und machte einen Schritt auf ihn zu. »Hat man Euch etwa nicht informiert?« Ja, schieb ruhig die Schuld auf alle anderen. »Mein Name ist Amaleya, ich bin zur einen Hälfte Engel und zur anderen Hälfte Gangsterbraut und ich bin neu bei den Special Heaven Forces. Eine Freundin von mir hat die Apokalypse vorhergesagt. Daher soll ich von den Engeln erfragen, ob Ihr eine Allianz mit ihnen eingehen würdet im Kampf gegen das Böse, das Ihr so sehr verachtet. Reicht das?«

Sie warf ihre Haare über die Schulter zurück und zog die Augenbrauen hoch. Mit ihrer Erwiderung hatte sie all seine Fragen beantwortet, sich vorgestellt und immerhin bestätigt, dass sie kein reinblütiger Engel war.

Mehr durfte sie nicht preisgeben, da sie nicht nur eine Unsterbliche wie die Nymphen war, sondern eins von sechs Wesen auf dieser Welt, die wider die Natur existierten, denn sie waren sowohl das rein Gute als auch das absolut Böse. Sie waren Tavith – halb Dämon, halb Engel – oder auch Dämonenengel. Man könnte sie als die Freaks unter den Unsterblichen bezeichnen, weshalb sie sich darauf geeinigt hatten, es geheim zu halten.

Aber irgendetwas hatte sie Jiyan ja erzählen müssen, bevor er noch das Gespräch beendet und sie mit einer Absage zurückgeschickt hätte. Er schien allerdings nicht begeistert über ihre Antwort, denn er hob skeptisch eine Augenbraue.

Wie war das noch gleich? Sie würde einfach ihren Charme spielen lassen? Ja, sicher.

Jiyan verschränkte die trainierten Arme vor der Brust. »Die Apokalypse? Wird die nicht seit Anbeginn der Zeit regelmäßig von irgendwelchen Orakeln prophezeit? Warum sollte ausgerechnet diese Prophezeiung ernst zu nehmen sein?«

»Weil …« Ihr Blick wanderte über seine Brust und Arme, und ihre Gedanken schweiften ab.

Sie fragte sich, was er wohl tun würde, wenn sie jetzt ihren Arm ausstreckte und mit den Fingerspitzen seine Adern am Unterarm nachzeichnete, die leicht hervortraten. Könnte sie beobachten, wie er durch ihre Berührung stärker wurde und heilte? Würde sein Gesichtsausdruck sanfter werden und er sich ihrer Berührung entgegenlehnen?

»Amaleya.« Jiyans Ton war drohend, doch durch seine Aussprache klang ihr Name wie eine exotische Südseeinsel, auf der er gern Urlaub machen würde.

Sie biss sich auf die Zunge und versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. Jiyan macht Urlaub auf Amaleya … Ha! Der war gut!

Nein, Moment! Was hatte er gefragt?

»Hm?« Sie blinzelte unschuldig und hatte tatsächlich den Faden verloren.

Seufzend wollte sich Jiyan mit Zeigefinger und Daumen an die Nasenwurzel fassen, zuckte dann aber zurück, weil seine Nase gebrochen war. Seine Lippen hoben sich, und nur einen Moment später schüttelte er lachend den Kopf, da ihr Verhalten ihn amüsieren musste.

Ihn lachen zu hören, wenn auch nur leise, fühlte sich wie ein sanfter Windhauch in der schwülen Nachmittagshitze an, der einen aufatmen und sich nach mehr verzehren ließ. Wenn Jiyan gerade dabei war, sie in seinen nymphischen Bann zu ziehen, leistete er ganze Arbeit.

»Was in aller Welt stimmt nicht mit dir? Solltest du dich nicht auf deinen Auftrag konzentrieren, statt mich anzustarren?« Obwohl er das fragte, senkte er seine Hand und grinste über das ganze Gesicht. Seine Worte klangen vielmehr wie ein Kompliment als wie ein Vorwurf.

»Äh …« Äh? Wie intellektuell von ihr. Lief ihr da etwa gerade Sabber aus dem Mund?

Zu ihrer Überraschung prustete Jiyan nun erst richtig los, was sie endgültig aus dem Konzept brachte.

Ach, Unsinn, welches Konzept? Warum war sie noch gleich hier?

Reiß dich gefälligst zusammen!, ermahnte sie sich und hätte um ein Haar den Kopf über ihr eigenes Verhalten geschüttelt.

Stattdessen musste sie Jiyan wie gebannt angestarrt haben, denn er verstummte abrupt und sah nun verlegen zur Seite.

Verdammt, damit machte er sie verlegen. Und bildete sie sich diese Schwingungen zwischen ihnen nur ein, die plötzlich in der Luft zu liegen schienen, oder spürte er sie auch?

»Haben dich wirklich die Engel zu mir geschickt?« Sein Lächeln verblasste zwar, doch die Denkerfältchen zwischen seinen Augenbrauen kehrten nicht zurück. Er gab ihr mit seinem Blick, der zu der Pergamentrolle in ihrer Hand wanderte, zu verstehen, dass er über den Grund dieser Audienz sprechen wollte.

Offensichtlich hatte sie sich die Schwingungen zwischen ihnen nur eingebildet, denn ein Nymphe würde von diesen nicht ablenken. Vielleicht war sie sogar anmaßend, sich vorzustellen, der König der Nymphen könnte sie begehren – eine Bürgerliche. Eigentlich gehörte sie als Halbdämonin sogar zu den Geschöpfen, die von allen gehasst und für das Schlechte in dieser Welt verantwortlich gemacht wurden. Was meistens auch gerechtfertigt war. Und genau deswegen war diese Mission so wichtig für sie.

Von ihrem Vorgesetzten bei den Engeln, Celestino, hatte sie den Auftrag erhalten, ihren guten Willen unter Beweis zu stellen und den Nymphenkönig als Verbündeten zu gewinnen.

Das war das Einzige, was vorerst zählte. Oder zählen sollte. Denn ihr war bewusst, dass sie impulsiv Entscheidungen traf und sprunghaft ihre Meinung ändern konnte.

»Ja, die Engel haben mich geschickt«, bestätigte sie jetzt in möglichst neutralem Tonfall und besann sich wieder darauf, warum sie hier war und dass sie gerade mit einem König sprach. »Denn dieses Mal ist die Prophezeiung ernst zu nehmen, da sie nicht von einem gewöhnlichen Orakel, sondern von der Tochter des Engels der Zukunft stammt – meiner Freundin Taina. Als Beweis, dass mich die Engel schicken, soll ich Euch dies überreichen.«

Sie bot Jiyan die Schriftrolle dar, die sie schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Statt sie zu ergreifen, starrte er mehrere Augenblicke auf ihre Hand. Durch ihr sensibles Gehör, das sie dem Dämonenblut in ihren Adern verdankte, vernahm sie, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.

Generell verdankte sie ihrer dämonischen Abstammung ihre enorme Kraft, Schnelligkeit und die stark ausgeprägten Sinne. Eins musste man Dämonen lassen, sie waren den meisten Arten körperlich überlegen.

Zögerlich streckte Jiyan jetzt seine Hand aus.

Woran dachte er? Fürchtete er sich davor, dass sich ihre Finger berühren würden? War sie ihm so zuwider? Hätte sie das kommen sehen, hätte sie die Schriftrolle am unteren Ende umfasst, um ihm mehr Platz zu lassen.

Gerade als sie darüber sinnierte, trat ein entschlossener Ausdruck in seine Miene, als ob er seine vorherigen Zweifel verdrängen würde.

Er griff nach der Pergamentrolle. Ihre Finger streiften einander. Nur ganz flüchtig. Nur so kurz, dass andere die Berührung gar nicht wahrgenommen hätten.

Jiyan ließ sich nichts anmerken und öffnete das Dokument.

Amaleya hingegen war fassungslos. Zwar hatte sie gehört, dass Nymphen sich durch Berührungen stärkten, doch Jiyan … Er nutzte den Körperkontakt nicht, um seine eigene Lebensenergie freizusetzen, wie es der Normalfall war, sondern er entzog anderen ihre Energie. Es war sehr wenig und sorgte für ein angenehmes Prickeln ihrer Haut, trotzdem war es sonderbar.

Deswegen also sein Zögern. Er wollte wahrscheinlich nicht, dass sie wusste, dass er anders war. Sie konnte ihn allerdings verstehen und zufällig vom Anderssein ein Lied singen.

Kaum dass Jiyan nun aus der Schriftrolle eine Art gläsernes Gefäß mit vergoldetem Deckel hervorzog, in dem sich Asche und Papierfetzen befanden, verfinsterte sich sein Blick. Als er dann noch die Schriftrolle las, schien er innerlich vor Wut zu explodieren. Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und verengte die Augen zu Schlitzen, sodass Amaleya kaum noch seine hellblauen Iriden unter den langen schwarzen Wimpern erkennen konnte. Seine Stirn legte sich wieder in Falten wie schon zu Beginn dieser Unterredung.

Super. Memo an mich: Wenn dir Engel sagen, dass du die Bitte an den König nicht lesen sollst, dann lies sie auf jeden Fall.

Denn jetzt hatte sie keine Ahnung, was ihn so erzürnte. Vielleicht wollten die Engel ja gar nicht, dass sie Jiyan zu einem Bündnis überredete? Wollten die Engel sie womöglich scheitern sehen? Zumindest hatten sie Amaleyas Job gerade um Längen erschwert.

Wortlos rollte Jiyan das Pergament wieder um das Glasgefäß. Kurz darauf wurde es ihm von dem braunhaarigen Nymphen an der Tür abgenommen, bevor der sich wieder auf seinen Posten neben dem Blonden zurückbegab.

Jiyan wandte sich ihr erneut zu. Zu ihrer Überraschung verschwanden die Fältchen zwischen seinen Augenbrauen. Was die Engel ihm geschrieben hatten, musste ihm gegen den Strich gehen. Trotzdem strahlte er eine Ruhe aus, die für eine immense Selbstbeherrschung stand. »Es wäre ungerecht, meinen Zorn an dir auszulassen«, erklärte er in kühlem Tonfall, während er die Arme vor seiner trainierten Brust verschränkte. »Aber richte Celestino aus, dass er zur Hölle fahren kann.«

Sie riss die Augen auf und hob verteidigend die Hände, als könnte sie damit seine Aussage abwehren. »Scheiße, nein, dann bin ich gefeuert!«

Das war für einen Engel die schlimmste Beleidigung, die es gab!

Jiyans Mundwinkel hoben sich, bis er sie breit angrinste und seinen Zorn zu vergessen schien. »Gut, dann richte ihm bitte aus, dass ich einem Bündnis nicht zustimmen werde.«

Na prima, jetzt hatte er es gesagt.

Missmutig knirschte sie mit den Zähnen. »Dann bin ich vermutlich auch gefeuert.«

Die Enttäuschung ihres Vorgesetzten konnte sie sich bereits bildlich vorstellen, weswegen sie diese Niederlage keinesfalls hinnehmen würde.

Womöglich sollte sie Jiyan in einer entspannteren Atmosphäre noch einmal um das Bündnis bitten. Wie gut standen die Chancen, dass er zu einem Date »Ja« sagte, wenn sie ihn nun darum bat? Wahrscheinlich verschwindend gering.

Doch wer nicht wagte, der hatte schon verloren. Außerdem müsste sie blind, taub und glücklich vergeben sein, um ihn nicht anzumachen. König hin oder her.

»Das tut mir leid«, meinte Jiyan in sanfterem Tonfall. »Weißt du, du bist nicht der erste Bote, der zu mir geschickt wird. Trotz der verstrichenen Zeit habe ich meine Meinung nicht geändert und auch nicht vor, es jemals zu tun. Daher lehne ich das Bündnis mit den Engeln ab – aus sowohl politischen als auch persönlichen Gründen. Wie gesagt, es tut mir leid, dass du diese Nachricht deinem Vorgesetzten überbringen musst.«

Seine ruhige Erklärung hatte sie zwar so weit beschwichtigt, dass sie niemandem den Kopf abreißen würde, aber es frustrierte sie ungemein, dass er ihr nicht einmal konkrete Argumente für seine Entscheidung vortrug. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie einen Gang höher schaltete und ihn duzte, um mehr Nähe zwischen ihnen zu schaffen.

Nachdenklich neigte sie den Kopf zur Seite, sodass ihre Haare über eine Schulter nach vorn fielen, und sie wickelte sich eine dunkle Strähne um den Finger. »Hm, wenn es dir wirklich leidtut, willst du es ja vielleicht wiedergutmachen?«

Während sie das sagte, ging sie gemächlich auf ihn zu.

Jiyans Blick huschte über ihren Körper und verweilte kurz auf ihren Beinen, als wollte er sich vergewissern, dass sie gerade tatsächlich auf ihn zutrat. Er senkte die Arme und neigte ebenfalls nachdenklich den Kopf. »Inwiefern wiedergutmachen?«

Entweder machte er auf ahnungslos oder auf schwer zu kriegen.

Als sie unmittelbar vor ihm zum Stehen kam, spürte sie seine Wärme. »Du könntest mich durch dein Schloss führen.« Sie ließ ihre Stimme wie ein verheißungsvolles Gebet klingen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Dadurch brachte sie ihr Gesicht so nah an das seine, dass sie nur noch ein Atemzug voneinander trennte. »Und mich anschließend auf einen Drink einladen. Und mich bitten, zu bleiben.«

Er hatte nicht gewusst, was sie von ihm wollte, denn seine Augenbrauen zogen sich kaum merklich hoch, als ihn die Erkenntnis traf. Zunächst wirkte er überrascht, aber genauso schnell veränderte sich sein Ausdruck in etwas … Gefährliches. Sie schien nicht die Einzige mit sprunghaftem Verhalten zu sein.

Seine Stimme klang kehlig, als er ihr antwortete. »Das willst du nicht wirklich. Schlafende Bestien soll man nicht wecken, kleiner Halbengel.«

Wenn sie jetzt die Hand nach ihm ausstreckte, würde sie gewiss wieder dieses berauschende Prickeln ihrer Haut wahrnehmen und würde ihn heilen. Sollte sie es wagen?

»Glaub mir«, flüsterte sie ihm verführerisch ins Ohr. »Ich bin vielen Bestien begegnet und noch habe ich sie alle bezwungen. Du scheinst mir eher ein guter Mann zu sein, Jiyan. Ich war noch nie mit einem guten Mann zusammen – darin liegt ja der Reiz.«

In der hellen Iris seiner Augen loderten blaue Flammen auf, in denen sie sich bereits dahinschmelzen sah. Dennoch stand er wie angewurzelt da.

Sie wollte dem Drang nicht länger widerstehen und hob die Hand, um mit den Fingern über seine von Schweiß und Sand bedeckte Brust zu streichen. Er zuckte kaum merklich unter dem Körperkontakt zusammen, doch dann heilte er und seine gebrochene Nase richtete sich.

Wie erwartet spürte sie das wohlige Prickeln an den Fingerspitzen. Als sie die Hand bis hinauf zu seinem Schlüsselbein wandern ließ, zog sich das Prickeln von den Fingern durch ihren Arm und auch den restlichen Körper.

Es fühlte sich an, als würde Jiyan ihr eine Last abnehmen. Das musste daran liegen, dass sie als Tavith so viel Energie besaß, um die er sie nun erleichterte.

Selbst wenn sie hätte aufhören wollen, hätte sie es nicht gekonnt.

Jiyan wirkte, als ob er die Berührung ebenso genießen würde. Kurz schloss er die Augen, als würde er beten, dass sie nicht aufhörte.

Wie in Trance griff sie ihm mit halb geschlossenen Lidern in den Nacken und zog ihn zu sich runter. Und er ließ es geschehen.

Ihr Körper schrie vor Freude auf. Ein Kuss, nur einer – sie verzehrte sich auf einmal danach. Musste wissen, wie sich seine schmalen, doch sinnlich geschwungenen Lippen auf den ihren anfühlen würden. Wollte spüren, wie sie scheinbar schwerelos in seinen Armen schwebte.

Sie sah einen inneren Kampf in seinen Augen aufblitzen, konnte sich aber nicht dazu durchringen, sich von ihm fernzuhalten. Und in diesem Moment schien es auch keine Rolle zu spielen. Die Zeit stand für mehrere Herzschläge still, während sie sich näherkamen und sich ihre Lippen beinahe berührten.

Wie aus dem Nichts schoss ein Schmerz durch ihre Schulter.

Erschrocken taumelte sie mehrere Schritte zurück. Gerade genug, um wieder zu klarem Verstand zu gelangen. Verwirrt blinzelte sie Jiyan an, der sie jetzt panisch aus weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Was zur Hölle?!«, blaffte sie und griff sich mit der Hand an die linke Schulter.

Jep, ausgekugelt.

Mit einer gekonnten Bewegung renkte sie sich die Schulter wieder ein.

»Das könnte ich dich ebenso fragen«, knurrte er. »Verschwinde! Wir sind hier fertig!«

Hatte er sie gerade einfach so von sich gestoßen? Mit Nachdruck? Was zum Henker war nur in ihn gefahren?!

Während sie tatsächlich sprachlos war und sich am liebsten in Luft auflösen wollte, stand Jiyan einfach da und biss die Zähne so fest aufeinander, dass die Muskeln an seinem Kiefer hervortraten. Er erwartete natürlich, dass sie seinem Befehl Folge leisten und verschwinden würde.

Ihr wurde plötzlich bewusst, dass die Nymphen an der Tür sie auf eine Art betrachteten, die sie nicht deuten konnte. Wahrscheinlich waren die beiden ebenso durcheinander wie Amaleya. Es trieb ihr die Hitze in die Wangen, dass andere Zeugen davon geworden waren, wie Jiyan sie zurückwies und sogar so hart von sich gestoßen hatte, dass er ihr die Schulter auskugelte.

Statt sich bei ihr zu entschuldigen und sich zu bedanken, dass sie ihn geheilt hatte, schaute er sie jetzt an, als ob es ihre eigene Schuld wäre, und schmiss sie raus.

Super. Wieder einmal bestätigte sich, dass sie einen schlechten Geschmack hatte, was Männer anbelangte.

Sie bemühte sich um einen kühlen Gesichtsausdruck und zuckte mit den Schultern. »Okay, weißt du was? Fahr selbst zur Hölle.«

Für einen Sekundenbruchteil erschien er schuldbewusst, doch dann wurde das Blau seiner Iriden wieder kalt. Abweisend.

Jedenfalls kam kein weiteres Wort über seine Lippen, weshalb sie nicht anders konnte, als noch hinzuzufügen: »Weißt du, wenn ich es mir recht überlege, braucht wahrscheinlich eh keiner eure Hilfe. Im Ernst, wer will schon Schlappschwänze wie euch Nymphen als Back-up haben?«

Nymphen als Schlappschwänze zu bezeichnen, war vermutlich die lächerlichste Beleidigung, die er je gehört hatte. Dennoch blieb seine Miene ungerührt. Anscheinend wollte er sich nicht dazu herablassen, mit ihr zu diskutieren.

Gut. Prima!

Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlenderte bemüht unbekümmert an ihm vorbei zum Ausgang. Sein Blick folgte ihr, bohrte sich förmlich in ihren Rücken. Und obwohl er ihr gerade den Korb des Jahrhunderts gegeben hatte, hätte sie schwören können, dass er ihr auf den Hintern starrte. Wofür sie ihm am liebsten eine reingehauen hätte. Scheiß drauf, ob er der König der Nymphen war oder sie ihn zu einem Bündnis bewegen sollte! Was fiel ihm ein, sie so zu behandeln?

Ein letztes Mal sah sie sich zu ihm um. »Denk ja nicht, dass du gewonnen hättest, nur weil ich jetzt gehe«, erklärte sie beiläufig. »Du wirst dem Bündnis zustimmen.«

Dafür würde sie sorgen, selbst wenn sie jeden Tag hier auftauchen müsste, bis er irgendwann nachgab.

Sie verschwand, indem sie sich nach Hause teleportierte. Dazu trat sie in die Geisterwelt über, in der sie keine feste, materielle Form mehr besaß und sich innerhalb eines Wimpernschlages um die ganze Welt bewegen konnte. Die Geisterwelt war wie eine Art Parallelwelt, in der man von Außenstehenden zwar nicht wahrgenommen wurde, aber von anderen, die sich in der gleichen Form dort aufhielten. Diese Fähigkeit verdankte sie ihrer dämonischen Abstammung, wenngleich auch andere Unsterbliche wie beispielsweise die Götter über sie verfügten.

Amaleya fokussierte sich auf das Himmelsschloss ihrer Freundin Majandra, in dem sie mit ihren Artgenossen seit über sechshundert Jahren zusammenlebte. Entlang eines Energiestroms, von denen es unsagbar viele auf der Welt gab, beamte sie sich dorthin.

Binnen einer Sekunde war sie da. Sollte Jiyan eben wissen, dass sie diese Fähigkeit besaß, die erneut dafürsprach, dass sie kein Engel war oder eben nur zur Hälfte.

Sie stand nun in der imposanten Eingangshalle des Schlosses, deren Boden aus wunderschönem weiß-goldenen Marmor bestand. Genau wie die Nymphen lebten die Tavith nicht auf der Erde in der Menschenwelt, sondern im Himmel, wobei es eine obere und eine untere Himmelsebene gab, die beide aus mehreren wolkenähnlichen Inseln bestanden.

Das Königreich der Nymphen lag auf einer dieser Inseln, ebenso wie das Himmelsschloss, in dem die Tavith lebten. Obwohl die Inseln von unten aussahen wie Wolken, besaßen sie einen festen Boden, auf dem – wie in der Menschenwelt auch – Pflanzen wuchsen. Auf der oberen Himmelsebene lebten die Engel. Dort gab es keinen nahrhaften, grünen Boden wie auf der unteren Himmelsebene, denn alles war in weiße, fluffige Wolken gehüllt.

Amaleya horchte, ob ihre Freunde zu Hause waren, doch nur Stille begrüßte sie. Nun ja, und der langsame, dumpfe Herzschlag des Anwesens, das Majandra gehörte.

Wenngleich Amaleya nicht wusste, woraus das Schloss erbaut worden war, bestand es bestimmt nicht aus kaltem, leblosem Stein. Nur weil ihre Freundin ihr Zuhause im Griff hatte, störte es niemanden, dass sich gelegentlich die Gänge veränderten oder sich der Boden bewegte.

Auch wenn die anderen Tavith nicht daheim zu sein schienen, beschloss sie dennoch, kurz nachzuschauen. Das lenkte sie immerhin davon ab, dass sie gerade ihren Auftrag von den Engeln um einiges schwerer gestaltet hatte und der Nymphenkönig ein Blödmann war, den sie am liebsten nie mehr wiedersehen wollte. Trotzdem würde sie nicht so schnell lockerlassen. Der würde schon sehen, wer von ihnen den größeren Dickschädel hatte. Aufzugeben war für sie noch nie eine Option gewesen, auch nicht in den drei Jahrhunderten, die sie in der Hölle hatte verbringen müssen.

Sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran, dass zwei ihrer Mitbewohner in der Hölle geboren worden und dort aufgewachsen waren. Denn das Einzige, was dort zählte, war Macht. Wer die furchteinflößendsten Fähigkeiten besaß, diese durch seine enorme Lebensenergie am häufigsten einsetzen konnte und über den weitreichendsten Einfluss verfügte, gab den Ton an.

Um in der Unterwelt zu überleben, musste ein Geschöpf entweder mit Macht geboren worden sein oder es war schlau und grausam genug, sich diese zu verschaffen. Doch wer so stark war, um nichts mehr fürchten zu müssen, zahlte mit seiner Freiheit.

Die meisten der mächtigsten Geschöpfe dieser Welt lebten in der Hölle und sie alle waren an diesen Ort gebunden. Daher sehnten sie sich nach nichts mehr als nach ihrer Freiheit, ohne ihre Kraft im Austausch für diese einbüßen zu müssen.

Dieser Gedanke erfüllte Amaleya mit Angst. Denn dass Taina die Apokalypse prophezeit hatte, bedeutete, dass sich die Hölle erheben würde.

 

 

 

Kapitel 3 - Auf Nimmerwiedersehen

Amaleya

 

Luft!

Beißender Schwefelgestank füllte ihre Lunge und ließ ihre Augen tränen. Sie kniete zitternd und schwer atmend auf dem Boden und sah, wie ihre Tränen auf den schwarzen Stein unter ihr fielen.

Keinen Tag länger würde sie es hier in der Hölle aushalten. Sie war das alles so leid. Die Angst, Einsamkeit und das Misstrauen, die sie bis in ihre Träume verfolgten. Es machte sie als Halbengel krank, hier zu sein. Doch solang sie ein Schwur an den Dämonenfürsten Sergen Ashad band, war es ihr nicht möglich, zu gehen. Es sei denn, er befahl es. Oder sie starb.

Langsam richtete sie sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den harten Bettpfosten. Es war nicht ihr Bett, nichts hier war ihr Eigentum. Alles hier gehörte Sergen, genau wie sie selbst.

Sie schlug den Kopf nach hinten gegen das Metall des Bettes und biss die Zähne fest aufeinander, als Schmerzen ihren Schädel durchschossen.

Wie hatte sie einst so dumm sein und denken können, Sergen würde sich für sie interessieren? Wieso nur hatte sie ihm geglaubt, er würde ihr helfen und sie unterrichten, statt sie einfach nur auszunutzen? Warum bloß war sie davon ausgegangen, dass ihr Schwur – der Schwur einer Unsterblichen – sie nicht an den Dämonenfürsten binden würde, so wie es bei einem Menschen der Fall wäre?

Mit geschlossenen Augen saß sie da und versuchte sich zu erinnern, wie sich Sonnenlicht auf der Haut anfühlte oder die Luft im Sommer roch, wenn die Blumen auf den Wiesen blühten.

Wie klang das Rascheln der Blätter im Herbst, bevor sie in allen Orangetönen zu Boden fielen? Sie färbten sich dann doch orange, oder?

Sie wollte diese Bilder in ihrem Kopf heraufbeschwören, aber die letzten dreihundert Jahre in der Hölle hatten sie vergessen lassen.

Sie biss sich von innen auf die Wange, um nicht zu schluchzen, und schmeckte Blut.

Für Sergen hatte sie bereits genug Blut vergossen und konnte es nicht länger ertragen. Andererseits wusste sie nicht mehr, was Mitgefühl war. Es war ein Wort ohne Bedeutung, das durch ihren Kopf geisterte und dafür sorgte, dass sie sich elendig fühlte.

Würde es ihr besser gehen, wenn sie sich erinnerte?

Schlagartig nahm sie eine Veränderung in der Luft wahr.