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Spezlwirtschaft, Intrigen und Verbrechen bis zum Mord: Hinter der Fassade der feinen Gesellschaft am Tegernsee verbergen sich bisweilen finsterste menschliche Abgründe. Das erfährt auch Kommissar Markus Kling, als er es bei seinem ersten Fall mit einer Schmiergeldaffäre zu tun hat und ein Luxushotel bis auf die Grundmauern niederbrennt. Im Zentrum der Ermittlungen steht ein Feuerteufel, der seine Umgebung in Angst und Schrecken versetzt - erst recht, als er bei seinen Taten über Leichen geht.
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Seitenzahl: 252
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Jürgen Ahrens
Tegernsee-Connection
Kriminalroman
Tödliches Komplott Ein leerstehendes Luxushotel am Tegernsee wird durch ein Großfeuer in Schutt und Asche gelegt. Alle Indizien deuten auf Brandstiftung hin. Wer hatte Interesse an der Zerstörung des Gebäudes? Bei seinen Ermittlungen sieht sich Kriminalkommissar Markus Kling zwielichtigen Geschäftemachern, Multimillionären und dubiosen Lokalpolitikern gegenüber – einer „Tegernsee-Connection“, in der jeder Einzelne verdächtig ist. Überraschend und zum Entsetzen aller geht der unbekannte Brandstifter einen Schritt weiter: Mehrere Gebäude brennen ab, in ihren Ruinen finden sich verkohlte Leichen – und der Feuerteufel ist nicht zu fassen. Mit jedem Brand wird die Sache mysteriöser. Erst nach einem weiteren Mord fällt es Markus Kling wie Schuppen von den Augen. Endlich hat er eine heiße Spur, doch die bringt ihn unversehens in Lebensgefahr …
Jürgen Ahrens, geboren in Bremen, studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Fotodesign. Im Anschluss arbeitete er acht Jahre als Texter in internationalen Werbeagenturen, bevor er sich selbstständig machte. Neben seiner werblichen Tätigkeit arbeitete er auch journalistisch, unter anderem für das BMW Magazin und die Süddeutsche Zeitung, und veröffentlichte mehrere Autobücher und Romane. Mit Kommissar Markus Kling hat er seine erste Serienfigur erschaffen. Jürgen Ahrens lebt mit seiner Ehefrau in seiner Wahlheimat München. Seit 2005 ist er aktives Mitglied der Autorengruppe KaLiber.
Weitere Informationen unter: juergen-ahrens.com
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sina Deter
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © egerer-fotografie / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6616-8
Für Günter
Elf Uhr zehn, Leiche Nummer zwei für heute.
Die Utensilien des Autopsiebestecks lagen auf dem Instrumententablett bereit, glänzend und akkurat ausgerichtet: Schädelspalter, Rippenschere, Osteotomiezange, Hammer und Schaber, dazu verschiedene Meißel, Seziermesser und Pinzetten.
Dr. Hans Wiesmeier, Oberarzt am Münchner Institut für Rechtsmedizin, schlug das Abdecktuch zurück und musterte den verkohlten Körper, der vor ihm auf dem Obduktionstisch lag. In seiner siebenjährigen Berufspraxis hatte er bereits etliche Brandopfer zu Gesicht bekommen, aber dieses war besonders übel zugerichtet. Die diffuse, kaltweiße Beleuchtung, die jede Pore gnadenlos zur Schau stellte, ließ das Ausmaß der Vernichtung noch brutaler wirken.
»Den hat’s gründlich erwischt«, kommentierte Wiesmeier trocken.
Seine Assistentin, Dr. Julia Kern, las gerade in dem Bericht des Kollegen aus Rottach-Egern. »Er hat ja wohl auch direkt am Brandherd gelegen«, meinte sie. »Armer Kerl. Sieht scheußlich aus.«
»Ja, nicht gerade das, was man sich direkt vor dem Mittagessen wünscht«, bestätigte Wiesmeier. »Pfefferminzbonbon?«
Er hielt ihr die Schachtel hin, und sie nahm dankend an. Danach lupfte er seinen Mundschutz und bediente sich selber.
»Also, dann wollen wir mal«, sagte er, während er knirschend sein Bonbon zerbiss. »Ich denke, wir können es relativ kurz machen. Die Staatsanwaltschaft möchte von uns die exakte Todesursache wissen, und da gibt es nach Lage der Dinge drei Möglichkeiten: Schussverletzung, Schädelbruch oder Rauchgasvergiftung. Die Schädelfraktur wurde ja von dem Kollegen am Brandort festgestellt. Bleibt noch zu untersuchen, ob sie unmittelbar tödlich war.«
»Dann hätten wir einen Fall von Brandmord.«
»Genau. Und dasselbe könnte zutreffen, wenn wir wider Erwarten eine Schussverletzung finden. Das sind zwar juristische Spitzfindigkeiten, aber der Staatsanwalt ist da sehr penibel. Kann man verstehen.«
Wiesmeier schaltete sein Diktiergerät ein und begann mit dem Obduktionsprotokoll.
»Name: Goran Svetila, geboren am 15. Februar 1993 in Karlovac, wohnhaft in Dürnbach, Gemeinde Gmund, von Beruf Objektschutz-Mitarbeiter. Identität vorbehaltlich Untersuchung und Abgleich des Zahnstatus, wie von der Kriminalpolizei gewünscht. Ich beginne jetzt mit der äußeren Besichtigung.«
Routiniert und akribisch untersuchte er jeden Quadratzentimeter der rußgeschwärzten Haut auf mögliche Eintrittsspuren eines Projektils. Plötzlich stutzte er und beugte sich tief über den rechten Handrücken des Toten.
»Sieh mal hier! Das ist keine normale Verletzung. Sieht eher aus wie eingeritzte Schriftzeichen oder sowas.«
Er untersuchte die kaum erkennbaren Einschnitte mit einer Lupe und versuchte ihren Sinn zu entschlüsseln. »Sechs gerade Linien, anscheinend mit einem Messer in die Haut geschnitten. Wenn ich mich nicht ganz schwer täusche, sind das Buchstaben. K-I-L. Sehr seltsam. Mit einem L mehr könnte man sich einen Reim darauf machen. Aber KIL? Was zum Teufel soll das bedeuten?«
Julia Kern zuckte die Schultern. »Da bin ich genauso überfragt wie du. Vielleicht … wollte er ein zweites ›L‹ einritzen und ist durch irgendetwas gestört worden?«
»Ja, gut möglich. Klingt zumindest plausibel.«
Wieder sprach Wiesmeier in sein Diktiergerät. »Fürs Protokoll: In den Rücken der rechten Hand wurden drei Buchstaben eingeritzt, K, I und L. Frau Dr. Kern macht ein Foto davon, und ich entnehme eine Gewebeprobe von den Wundrändern, um sie im Labor auf Rückstände von Blut oder Serum untersuchen zu lassen.«
Julia Kern brachte ihre Handkamera in Position und machte einige Blitzaufnahmen der kryptischen Zeichen. Wiesmeier sah kopfschüttelnd zu. »Egal, wer oder was dahintersteckt«, sagte er, »der Täter hat offensichtlich ein Rad ab. Nicht, weil er Feuer legt und jemanden umbringt, sondern weil er die Leiche auch noch mit einer schriftlichen Botschaft dekoriert. Pervers.«
Nach der Gewebeentnahme setzte Wiesmeier die Suche nach Schusswunden fort. »Negativ«, diktierte er schließlich das Ergebnis. »Der Körper weist keinerlei Einschussspuren auf.«
Die Leiche lag jetzt auf dem Bauch und ließ deutlich den zertrümmerten Teil des Schädels erkennen.
»Massiver Bruch des Scheitelbeins«, protokollierte Wiesmeier, »wie schon im Totenschein vermerkt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar letal. Art und Umfang der Verletzung deuten darauf hin, dass mehrfach mit einem harten Gegenstand auf den Schädel eingeschlagen wurde, als der Mann am Boden lag. Dass es ein herunterfallendes Trümmerteil war, ist aufgrund des Berichts der Spurensicherung eher unwahrscheinlich.«
Auch die zweite Verletzung war unübersehbar.
»Ausgedehnte Läsion im Bereich des fünften bis zehnten Brustwirbels, wurde ebenfalls dokumentiert. Der Tote lag auf dem Bauch, als man ihn gefunden hat, der Rücken eingeklemmt unter einem verkohlten Balken. Somit geht diese Verletzung zweifelsfrei auf den Brand zurück.«
Mit einem Seziermesser entfernte Wiesmeier die Haut von dem betroffenen Bereich und legte die Wirbelsäule frei. »Bruch des fünften bis achten Rippenwirbels«, diagnostizierte er, »post mortem. Dass der Mann zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hat, würde ich ausschließen.«
»Also vermutlich Tod durch Schädelbruch«, resümierte Julia Kern.
»Wenn du mich fragst, ja. Mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit. Aber das restliche eine Prozent müssen wir trotzdem einkalkulieren. Sollten sich Brandrückstände in den Atemwegen finden, war meine Einschätzung falsch.«
Erneut schaltete er das Diktiergerät ein.
»Ich untersuche jetzt Lunge, Luftröhre und Speiseröhre auf Ruß- oder Rauchgasspuren, um zu klären, ob beim Ausbruch des Feuers eventuell noch Vitalfunktionen bestanden.«
Er setzte die Rippenschere an und öffnete mit wenigen geübten Schnitten den Brustkorb der Leiche. Dann griff er zu einem der Seziermesser und begann mit der inneren Besichtigung. Nach mehreren Inzisionen in die Brustorgane und Begutachtung dessen, was einmal Schleimhäute gewesen waren, schüttelte er den Kopf. »Nichts«, sagte er zu seiner Assistentin. »Jedenfalls nichts, was ad hoc zu erkennen wäre.«
»Also Laboruntersuchung.«
»Ja.« Wiesmeier nahm das Protokoll wieder auf. »Die Sichtprüfung ergab keinen Hinweis auf Brandspuren, das muss im Labor abgeklärt werden. Zur Untersuchung auf etwaige Rauchgasrückstände entnehme ich jeweils eine Gewebeprobe aus Luftröhre, Bronchien und Speiseröhre.«
Mithilfe von Skalpell und Pinzette sondierte er mehrere Stellen der Organe und schnitt erbsengroße Stücke aus dem Gewebe heraus. Julia Kern reichte ihm für jede Entnahme ein steriles Plastikröhrchen, in das er die Probe sorgfältig einführte. Endgültige Gewissheit über die Todesursache würden erst die Kollegen im histologischen Labor herstellen können.
Wiesmeier kam zu seinem Schlussbericht. »Vorläufiges Obduktionsergebnis, unter Vorbehalt von Gewebeuntersuchung im Labor und histologischem Gutachten: Tod durch Scheitelbeinbruch und Eindringen von Knochenteilen ins Gehirn, verursacht durch massive Gewalteinwirkung mit einem harten Gegenstand. Falls ein Kampf mit dem Täter stattgefunden hat, dann vorher, sonst würde sich die Fraktur nicht am Hinterkopf befinden. Der Mann hat also vermutlich auf dem Bauch gelegen, während die Schläge ausgeführt wurden.«
Er schaltete das Gerät aus und legte es auf dem Tablett ab. »Okay, das war’s fürs Erste. Bleibt noch die zahnärztliche Untersuchung zum Identitätsnachweis. Du kannst Dr. Kählitz anrufen und ihm Bescheid sagen, dass wir fertig sind.«
Die beiden Mediziner verließen den Saal und bemühten sich, ihren inneren Kompass um hundertachtzig Grad zu drehen. Zeit, sich von Mordbrand und Organsektionen auf die Mittagspause umzustellen, von Grauen auf Genuss. Ganz gelang es Wiesmeier nicht; seine Gedanken kreisten immer weiter um den Hergang der Tat.
»Also, für mich persönlich ist der Fall klar«, sagte er zu seiner Kollegin. »Wahrscheinlich wird es auch die Kripo so rekonstruieren. Ich sehe das fast wie einen Film vor mir: Der Brandstifter wird in flagranti ertappt, ringt den Security-Mann nieder und schlägt ihm anschließend den Schädel ein.«
»Mit der Pistole, die verschwunden ist. Oder was meinst du?«
Wiesmeier wiegte skeptisch den Kopf. »Ich denke, eher nicht. Die Schädelfraktur ist so massiv, dass es eher ein größerer Gegenstand mit mehr Hebelwirkung war. Wahrscheinlich aus Holz, dann ist sowieso nur Asche davon übrig, also ein Mord ohne Corpus delicti.«
»Und der Rest ist in Rauch aufgegangen«, sagte Julia Kern. »Ich frag mich nur, was der Kerl mit der Schusswaffe vorhat.«
»Mit Sicherheit nichts Gutes. Hoffentlich müssen wir nicht demnächst eine Leiche obduzieren, in der eine von den Patronen steckt. Wenn ich bedenke – eine voll geladene HK P7, und irgendein Irrer, dem es auf Mord oder Totschlag nicht ankommt, läuft damit frei in der Gegend herum … nicht gerade eine beruhigende Vorstellung.«
»Mal nicht den Teufel an die Wand.«
»Muss ich gar nicht«, erwiderte Wiesmeier lakonisch. »Der geht ja schon um. Und wenn das hier sein zweiter Anschlag war, macht er weiter, da kannst du Gift drauf nehmen.«
Ist das wirklich so einfach?
Er hat seinen Rucksack vor dem Hintereingang abgestellt, die Werkzeuge herausgenommen und den Spanner im Licht seiner Taschenlampe ins Türschloss eingesetzt. Passt. Mit der linken Hand hält er den Spanner in Position, mit der rechten schiebt er den Elektropick nach, so gefühlvoll, wie es seine zitternden Finger erlauben. Ein Knopfdruck, und unter leisem Sirren arbeitet sich die Metallspitze vor. Wie der Rüssel eines überdimensionalen Insekts dringt sie in den Schließmechanismus ein, sucht sich vibrierend ihren Weg und gibt die Stifte der Reihe nach frei. Fertig. Das Ganze kann nicht mehr als zehn Sekunden gedauert haben.
Erleichtert, aber weiterhin skeptisch drückt er gegen den Türknauf und schiebt unten mit dem rechten Fuß nach. Die Tür hängt nicht mehr ganz lotrecht in den Angeln und schleift geräuschvoll mit der Unterkante über den Boden, aber sie geht auf. Sicherheitshalber sieht und hört er sich noch einmal in alle Richtungen um. Nichts. Die Herbstnacht ist so still, als halte sie in Erwartung des Geschehens den Atem an. Selbst das knisternde Tröpfeln von Tau aus den Baumwipfeln klingt nach Grabesruhe.
Also los. Er nimmt sich seinen Rucksack, schnallt ihn um und tritt in den Gang. Ein dumpfes Gemisch aus Staub und Moder dringt aus dem Dunkel, legt sich penetrant auf die Schleimhäute. Er reibt sich die Nase, um nicht niesen zu müssen. Blödsinn, denkt er gleich darauf, hier kann dich ja keiner hören.
Und doch erfasst ihn plötzlich Angst vor der eigenen Tollkühnheit. Während er langsam die Treppe ins Erdgeschoss hochsteigt, spürt er, wie sein Herzschlag sich beschleunigt. Es sei risikolos, hat ihm der Unbekannte versichert. Aber was, wenn jemand etwas bemerkt, bevor er sich in sichere Entfernung abgesetzt hat? Er muss schnell sein. Schneller als die Flammen. Schneller als ein nächtlicher Notruf und die Einsatzbereitschaft der Feuerwehr.
Er hält inne und zwingt sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Dann greift er in seine Jackentasche, zieht einen Flachmann mit Obstler heraus und nimmt ein paar kräftige Schlucke. Schnell zwei von den hellgrünen Tabletten hinterher. Das hilft fast immer.
Er öffnet eine weitere Tür, diesmal unverschlossen, und betritt die verwaiste Lobby. Im Lichtkegel der Taschenlampe scheinen bläulichweiß die Gespenster der Vergangenheit auf. Staub und Spinnweben überall; abgewetzte Sessel und Stühle, fransenbesetzte Brokatvorhänge, ehemals farbig gemusterte Orientteppiche, die seit Jahren kein Fuß mehr betreten hat. Zwei Mäuse flüchten über den Fußboden in ihre Löcher. Hinter dem Empfangstresen hängen noch immer die Schlüssel der Gästezimmer, säuberlich nach Nummern aufgereiht.
Er muss an die Reise denken, auf der er selber zum letzten Mal in einem Hotel dieser Art übernachtet hat. Das war in Opatija an der kroatischen Küste, in einem historischen alten Kasten, mit livrierten Pagen, stuckverzierten Decken und Zimmerschlüsseln, an denen schwere Messinggewichte baumelten. Es ist, als habe sich eine Gruft verblichener Erinnerungen geöffnet, die nun stumm ihre Mumien preisgibt.
Der Alkohol und die Tabletten haben sich zu einem explosiven Gemisch verbunden. Eine jähe Woge von Selbstekel, Wut und Hass steigt in ihm auf. Weg mit all dem, zur Hölle mit dem ganzen verlogenen Plunder –
»Verfluchte Schweine!«, bricht es aus ihm heraus. »Verfluchte … dreckige … verdammte Schweinebande!« Es ist Zorn- und Triumphgebrüll zugleich, imaginären Widersachern entgegengeschleudert, die sich längst aus seinem Leben verabschiedet haben. Niemand außer ihm kann es hören, die Wände schlucken den Schall gleichmütig und ohne die leiseste Resonanz. Aber es erleichtert ungemein. Plötzlich fühlt er sich nicht mehr als Gefangener seines Auftrags, sondern vollkommen frei. Er hat Macht. Er kann Ungeheures vollbringen. Dieses große, erhabene Zerstörungswerk – es wird ein Fanal sein, ein höllisches Feuer, mit dem er sich von allem reinigt, was ihm an Schmach und Gemeinheiten zugefügt worden ist. Schnell einen Schluck Obstler, nein, zwei.
Als er sich wieder beruhigt hat, setzt er seinen Rucksack ab und leert den Inhalt aus. Drei grüne Plastikflaschen kullern auf die Bodendielen. Drei Liter Brennspiritus, das dürfte mehr als genug sein. Die Wände sind ringsum mit Holz vertäfelt, auch die Decke und die ausladende Treppe, die ins nächste Stockwerk führt, bestehen vollständig aus Holz. Obendrein ist alles so knochentrocken, dass es augenblicklich in Flammen aufgehen wird. Er darf nur nicht riskieren, vom Feuer eingeschlossen zu werden. Der Rückweg zur Hintertür muss gesichert sein.
Er geht zu einem der Fenster hinüber und leert die erste Flasche gluckernd über einen Sessel aus, der direkt neben einem Brokatvorhang steht. Den Inhalt der zweiten schüttet er auf die Holztreppe mit ihrem verschlissenen roten Läufer, den dritten quer über den Empfangstresen. Beißender Chemikaliengeruch breitet sich aus.
Er tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet aufatmend sein Werk. Dann holt er das Stabfeuerzeug aus dem Rucksack, drückt auf den Taster und hält die Gasflamme mit ausgestrecktem Arm an den mit Spiritus getränkten Sessel. Im nächsten Moment fährt er erschrocken zurück, so hell und heftig schießt die Lohe hervor. In Sekundenschnelle springt sie auf den Vorhang über, der sich in eine drei Meter hohe Feuersäule verwandelt. Jetzt schnell die beiden anderen Pfützen anzünden und dann verschwinden, bevor der ganze Raum zu einer Flammenhölle wird. Wusch, die Treppe. Wusch, der Tresen. Eine weitere Feuersäule.
Er schnallt den Rucksack wieder um und tritt mit hastigen Schritten den Rückzug an. Draußen ist es nach wie vor totenstill, doch plötzlich hört er das Klirren einer zerspringenden Fensterscheibe und gleich darauf ein prasselndes, fauchendes Geräusch. Die Stimme des Feuers. Gierig fressen die Flammen, was sie erbeutet haben, nichts kann sie jetzt mehr aufhalten. Wie schön es brennt, wie lustvoll, wie böse!
Er durchquert den fast hüfthoch mit Unkraut bewachsenen Garten, zwängt sich durch das verrostete alte Tor in der Hecke und läuft auf den Waldrand zu. Der Rückweg durch den Bergwald nach Ringsee, eine knappe halbe Stunde, dürfte die leichteste Übung sein. Zu dieser Nachtzeit wird ihm dort keine Menschenseele begegnen.
Mit jedem Schritt löst sich seine Anspannung und macht zunehmend innerem Jubel Platz. Es ist geschafft. Es ist geschafft! Die Anzahlung hat er sich redlich verdient. Und übermorgen, spätestens nach dem Wochenende, wird er noch einmal um vierzigtausend Euro reicher sein.
Eine Woche zuvor hatte er noch an einen schlechten Scherz geglaubt. Es geschah nicht oft, dass sein Telefon klingelte. Meist handelte es sich um unerbetene Werbeanrufe von windigen Verkäufern, die ihm Zeitschriften-Abos oder Glücksspiellose aufschwatzen wollten. Er hatte sich angewöhnt, nach dem ersten einschlägigen Satz kommentarlos aufzulegen, nachdem er anfangs ein wütendes »Ach, leck mich doch« in den Hörer geblafft hatte.
»Ja …?«, meldete er sich misstrauisch.
»Herr Lauterwasser?«
»Ja.«
Diesmal kam der einschlägige Satz nicht, obwohl im Display keine Nummer angezeigt war.
»Mein Name ist Lehmann, guten Abend«, sagte der Anrufer stattdessen. »Ich …«
Der Mann sprach Hochdeutsch mit leichtem Akzent, den Lauterwasser nicht einordnen konnte. Holländer? Schweizer? Bayer schien er jedenfalls nicht zu sein. Außerdem war unüberhörbar, dass er seine Stimme verstellte. Es klang, als würde er beim Reden die Zähne aufeinanderpressen, statt seinen Unterkiefer normal zu bewegen. Wahrscheinlich war auch der Name falsch.
»Lehmann? Kenn i ned«, unterbrach Lauterwasser grob. »Pfüa Gott.«
»Moment, lassen Sie mich doch ausreden! Also, ich würde Ihnen gern ein Geschäft vorschlagen.«
»Ich bin kein Geschäftsmann. Nicht mehr.«
»Ja, weiß ich. Aber Sie können Geld gebrauchen, oder?«
Schweigen.
»Was ist?«, fragte der Anrufer.
»Woher kennen Sie mich? Was wollen Sie?«
»Ich sagte doch, ich möchte Ihnen ein Geschäft anbieten. Eins, bei dem Sie eine Menge verdienen können.«
»Eine Menge? Und wie viel ist das genau?«
»Sagen wir zwanzigtausend Euro?«
Lauterwasser verschlug es die Sprache. Unwillkürlich vergaß er das Ausatmen, während ihm ein Blutschwall in den Kopf stieg und fühlbar pochte.
»Also, was ist?«, wiederholte der Unbekannte.
»Sie spinnen ja«, sagte Lauterwasser, als er sich wieder gefangen hatte. Doch gleichzeitig begann die Neugier von ihm Besitz zu ergreifen. Neugier in ihrer reinsten Form, wie sie ihm seit Jahren vertraut und verhasst war. Ihr Name war Geldgier.
»Ich mache keine Witze«, widersprach der Anrufer. »Zwanzigtausend Euro, bar auf die Hand. Einverstanden?«
Lauterwasser ließ sich die Summe plastisch durch den Kopf gehen. »Ich weiß nicht«, sagte er mit bemühtem Zögern, obwohl er vor Erregung vibrierte. »Das klingt nicht gerade so, als wäre es etwas Legales.«
»Nein, zugegeben, legal ist es nicht. Aber risikolos. Und es wird niemand zu Schaden kommen, so viel kann ich Ihnen versprechen.«
»Und wieso sind Sie da gerade auf mich gekommen?«
»Weil Sie bis zum Hals in der Scheiße stecken und Geld brauchen. Muss ich denn alles doppelt sagen?«
»Sie haben sich also über mich erkundigt. Was sind Sie, ein Detektiv?«
Aus dem Hörer drang ein kurzes, amüsiertes Lachen. »Nicht ganz. Ich bin so eine Art … Agent, könnte man sagen.« Für einen kurzen Moment vergaß der Anrufer, die Zähne aufeinanderzupressen, korrigierte seinen Lapsus aber sofort.
»Sie meinen Geheimagent?«, fragte Lauterwasser. Die ganze Sache klang überaus mysteriös.
»Denken Sie, was Sie wollen. Mehr erfahren Sie von mir nicht.«
»Na gut. Reden wir halt über Ihr … Geschäft, was immer das sein soll.«
Am anderen Ende der Leitung war ein tiefer Atemzug zu hören. Lehmann, oder wie er wirklich heißen mochte, schien deutlich erleichtert zu sein. »Also, dann hören Sie jetzt gut zu«, sagte er. »Sie kennen den Luitpoldpark in München?«
»Dem Namen nach, ja. Ich war aber nie dort.«
»Egal, dann lernen Sie ihn jetzt kennen. Haben Sie morgen Vormittag etwas vor?«
»Nein. Im Moment bin ich arbeitslos.«
»Ausgezeichnet …«
»Ha!«, schnaubte Lauterwasser. »Ich könnte mir was Besseres vorstellen.«
»Ich wollte damit nur sagen, dass wir keine Zeit zu verlieren brauchen. Also, besorgen Sie sich als Erstes eine Bahnfahrkarte nach München. Vom Hauptbahnhof gehen Sie dann in den Karstadt gegenüber und kaufen sich irgendein billiges Oberhemd, eine Hose oder was weiß ich …«
»Wollen Sie mich verarschen?«, fiel ihm Lauterwasser konsterniert ins Wort.
»Warten Sie doch ab, bis ich fertig bin! Also, kaufen Sie irgendetwas, zu dem Sie eine große Tragetasche bekommen. Die paar Euro haben Sie ja wohl übrig.«
»Ja, hab ich.«
»Anschließend steigen Sie am Hauptbahnhof in die U2 und fahren bis zur Station Scheidplatz. Der Luitpoldpark ist direkt nebenan. Vom U-Bahnhof aus führt ein kleiner Pfad zum Aussichtshügel, das sind fünf bis zehn Minuten Fußweg. Da oben gibt es eine kleine freie Terrasse mit Bänken. Und auf einer dieser Bänke werde ich sitzen, morgen um Punkt dreizehn Uhr. Sie erkennen mich daran, dass ich eine identische Tragetasche dabeihabe. Außerdem trage ich eine getönte Brille und einen Hut.«
»Aha. Und dann?«
»Dann setzen Sie sich zu mir, und wir tauschen die Tragetaschen. In meiner werden Sie eine Anzahlung finden, das nötige Handwerkszeug und genaue Anweisungen, was zu tun ist. Haben Sie einen Rucksack und eine Taschenlampe?«
»Ja. Beides.«
»Sehr gut, dann muss ich mich darum nicht kümmern.«
»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, um was es geht?«
»Nein. Das bekommen Sie dann ja schriftlich.«
»Und wie hoch ist die Anzahlung?«
»Die Hälfte, zehntausend. Den Rest gibt es, wenn die Sache erledigt ist.«
»Hmmm.« Lauterwasser fühlte sich zunehmend selbstsicher. Der Mann wollte etwas von ihm, also verhandelten sie auf Augenhöhe. Nur nicht zeigen, dass man in der schwächeren Position war.
»Was heißt hmmm?«, hakte Lehmann nach.
»Ich überlege noch. Was ist, wenn ich zu all dem jetzt nein sage?«
»Ich glaub kaum, dass Sie das tun.«
Das kam so von oben herab, in einem Tonfall zwischen Spott und Mitleid, dass Lauterwasser versucht war, »Arschloch!« in den Hörer zu brüllen und aufzulegen. Aber er beherrschte sich mühsam. »Also schön«, hörte er sich stattdessen sagen. Und fügte fast übergangslos hinzu: »Aber dann will ich fünfzigtausend.«
Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, da bereute er ihn auch schon. Einmal mehr war der Spieler in ihm durchgekommen, wider alle Vernunft. Va banque, volles Risiko, bis zum Ruin. Was würde jetzt kommen? »Dann vergessen Sie’s«?
Doch zu seiner Erleichterung geschah nichts dergleichen. Der Anrufer verstummte für einige Sekunden und sagte dann umstandslos: »Okay. Fünfzigtausend und keinen Cent mehr. Dann sind wir uns also handelseinig.«
»Ja. Sind wir.«
»Gut. Und ich muss wohl nicht extra betonen, dass Sie das Papier mit den Anweisungen in den Ofen stecken und verbrennen werden, sobald Sie es gelesen haben. Ach, und noch was: Lassen Sie sich bloß nicht einfallen, von dem Honorar irgendwelche Schulden in bar zu bezahlen oder teure Sachen zu kaufen. Im Internet finden Sie jede Menge Tipps, wie Sie das Geld unauffällig in den Kreislauf einschleusen können. Und dann verschwinden Sie am besten irgendwohin. Nach einer gewissen Karenzzeit.«
»Ganz schön viele Vorschriften«, sagte Lauterwasser trotzig. »Und wenn ich mich nun nicht daran halte?«
»Im Zweifelsfall sind Sie dann tot.«
Er meinte es ernst, daran ließ der eisige Ton keinen Zweifel. Jäh wurde Lauterwasser klar, dass er hier nur der Schwimmer war, der mit einem Weißen Hai zu spielen versuchte. Er spürte, wie ihn ein Frostschauer durchlief.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Gut. Also, haben Sie sich alles gemerkt?«
»Ja«, sagte Lauterwasser mit pelziger Zunge. »Morgen um dreizehn Uhr auf dem Aussichtshügel im Luitpoldpark. U-Bahnhof Scheidplatz.«
»Wunderbar. Ich freue mich darauf, Sie zu treffen. Bis morgen. Und denken Sie an die Tragetasche.«
»Jaja. Und was ist mit der Restzahlung? Ich meine … Hallo?«
Es kam keine Antwort mehr. Lauterwasser stand reglos in seiner Wohnküche, hielt das Telefon in der Hand und starrte auf den billigen Abreißkalender an der Wand. Der Countdown lief. Morgen um dreizehn Uhr. Und wenn nicht?
Es war zu spät, um daran zu denken. Er hatte sich auf die Leimrute locken lassen, jetzt klebte er daran fest und kam nicht mehr los.
»Und nun die wichtigsten Nachrichten aus der Region. Bei einem Großfeuer im Kreuther Ortsteil Reitrain am Tegernsee wurde in der vergangenen Nacht ein ehemaliges Luxushotel vollständig zerstört.«
Markus Kling horchte auf und drehte das Radio lauter. Reitrain am Tegernsee. Das klang nach Arbeit. Das gesamte Tegernseer Tal fiel in die Zuständigkeit seiner Dienststelle, der Polizeiinspektion Miesbach. Und ein solches Großereignis war etwas anderes als ein Zimmerbrand wegen eines vergessenen Bügeleisens, auch etwas anderes als die Bagatellvorkommnisse, an denen es keinen Tag mangelte.
»Die örtliche Feuerwehr und Einsatzkräfte aus den umliegenden Gemeinden waren mit mehreren Löschzügen im Einsatz, konnten aber nicht verhindern, dass das Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrannte. Personen kamen offenbar nicht zu Schaden, da das Hotel seit geraumer Zeit leer stand. Über die Höhe des Sachschadens wurden bisher keine Angaben gemacht, auch die Brandursache ist derzeit unklar. Wir halten Sie auf dem Laufenden und melden uns, sobald nähere Informationen vorliegen.«
Vorsätzliche Brandstiftung, dachte Kling fast automatisch, auch wenn die Meldung nichts dergleichen enthielt. Womöglich sollten in dem Hotel Flüchtlinge untergebracht werden, und irgendwelche selbst ernannten Patrioten hatten sich berufen gefühlt, diesen Plan gewaltsam zu durchkreuzen. Es wäre ja nicht der erste Fall dieser Art. Kling hoffte, dass er falsch lag. Es wäre einfach zu ekelhaft und zu frustrierend.
In diesem Moment klingelte sein Smartphone, das neben der Kaffeetasse auf dem Küchentisch lag. Die Nummer der Inspektion erschien im Display. Kling unterbrach sein Frühstück, legte seine mit Marillenmus bestrichene Semmel zur Seite und nahm den Anruf an. Annette Weiss meldete sich, eine Kollegin, die in den letzten acht Stunden den Kriminaldauerdienst versehen hatte.
»Hast du gehört, was letzte Nacht passiert ist?«, fragte sie.
»Ja, kam im Radio«, sagte Kling. »Der Großbrand am Tegernsee. War schon jemand von euch da?«
»Ich selber, ja. Bin vor einer halben Stunde zurückgekommen. Es war die Hölle, kann ich dir sagen. Die Feuerwehr hat mit fünf B-Rohren draufgehalten, aber da war nichts mehr zu retten.«
»Und gibt es irgendwelche Hinweise auf die Ursache?«
»Nichts Konkretes, da müssen wir abwarten, was die Brandfahnder sagen. Aber wenn du mich fragst, ich tippe ganz klar auf Vorsatz.«
»War auch mein erster Gedanke. Und was macht dich so sicher?«
»Na ja …«, antwortete Annette mit einem Achselzucken in der Stimme. »Es ist einfach so, dass nichts anderes in Frage kommt. Erstens war der alte Kasten unbewohnt, zweitens hatte er seit Jahren keinen Strom- und Gasanschluss mehr, also scheiden die üblichen Verdächtigen von vornherein aus. Kurzschluss, glimmende Zigarette, heiße Herdplatte, Explosion und dergleichen. Gewitter gab es auch keine, somit steht auch Blitzschlag außer Betracht. Da bleibt nicht viel übrig, oder?«
»Nein, mir fällt auch nichts ein.«
»Außerdem hat sich das Feuer rasend schnell ausgebreitet. Da muss jemand nachgeholfen haben.«
»Ich frag mich nur, was das Motiv sein könnte«, überlegte Kling. »Wer zum Henker zündet ein leer stehendes Hotel an? Kann es sein, dass es als Flüchtlingsunterkunft vorgesehen war?«
»Nein, nein, auf keinen Fall. Das sollte verkauft werden, soweit ich weiß. Oder ist bereits verkauft. Näheres sag ich dir dann im Büro. Wann kannst du da sein?«
»In einer Viertelstunde.«
»Gut, dann warte ich auf dich. Lenz wird dir dann nähere Anweisungen geben. Er hat vorhin gesagt, dass er dich zusammen mit Murad hinschicken will, sobald die Brandstelle begehbar ist.«
Lorenz »Lenz« Finsinger hatte erst vor Kurzem die Leitung der Polizeiinspektion von seinem Vorgänger übernommen. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren war er der älteste und erfahrenste Beamte im Team. Murad Özkan besaß eine Spezialausbildung als Brandfahnder. Seine Familie stammte ursprünglich aus Kayseri in der Zentraltürkei, er selber war in Ottobrunn bei München aufgewachsen und arbeitete seit zwei Jahren als Hauptkommissar in Miesbach.
Kling sah auf die Uhr. Noch die eine Marmeladensemmel und eine Tasse Kaffee, dann wäre er startbereit und könnte zehn Minuten vor seinem offiziellen Dienstbeginn in der Inspektion eintreffen. Während er den Kaffee schlürfte, ging er hinüber in die Diele und sah in den Garderobenspiegel. Na ja, halbwegs annehmbar. Seiner störrischen Frisur das gewohnte Gel-Finish zu verpassen, war zeitlich nicht mehr drin, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er ging zurück in die Küche, steckte sein Smartphone ein und schaltete das Licht aus. Vor dem Fenster wurde es langsam hell, auch wenn die Sonne es noch nicht über die Hügelkuppen geschafft hatte.
Während er die Treppe aus dem ersten Stock hinunterlief und wie üblich zwei Stufen auf einmal nahm, ließ er sich das Geschehene im Zeitraffertempo durch den Kopf gehen. Wenn es sich wirklich um Brandstiftung handelte, wartete ein arbeitsreicher Tag auf ihn, der aus kriminalistischer Sicht äußerst spannend werden konnte.
Vor einem Dreivierteljahr hatte er seinen Dienst als Hauptkommissar in der Polizeiinspektion Miesbach angetreten. Eigentlich hätte er sich eine Anstellung im Rosenheimer Präsidium gewünscht, auch wegen der größeren Nähe zu ein paar Freunden aus seiner Schulzeit am Gymnasium; so gesehen war sein Einsatzort also eher zweite Wahl. Andererseits – was Stadtbild und Lage betraf, hatte Miesbach deutlich mehr zu bieten als Rosenheim, das aussah, als hätte es sich irgendwann am Scheideweg zwischen Dorf, Großstadt und Industriegebiet in einer Sackgasse verrannt. Außerdem besaß die Gegend einen entscheidenden Vorteil: In einer halben Autostunde war man von hier aus mitten im Spitzinggebiet, einem Paradies für leidenschaftliche Mountainbiker und Skifahrer wie ihn. Noch klarer war dieser Vorzug im Vergleich zu Fürstenfeldbruck, wo er vor Jahren seine erste Ausbildungsetappe an der Polizeihochschule absolviert hatte.
Sonderlich spektakuläre Fälle hatte Markus Kling an seinem neuen Arbeitsplatz bis jetzt nicht bearbeitet; mehrere Einbruchsdiebstähle waren darunter, ein Handtaschenraub, eine versuchte Vergewaltigung und ein Grundstücksbesitzer, der seinen Nachbarn wegen des Streits um einen Gartenzaun mit einer Gaspistole angeschossen hatte. Seitdem war das Opfer auf einem Auge stark sehbehindert. Die Anklage lautete auf gefährliche Körperverletzung; das galt nicht mal als Verbrechen, sondern nur als Vergehen.
Ein Großbrand wie der von letzter Nacht war da ein ganz anderes Kaliber. Kling stellte sich vor, wie die Feuersbrunst ausgesehen haben musste: turmhoch aufsteigende Flammen und Rauchsäulen, zusammenkrachende Balken, platzende Fensterscheiben und ringsherum die Feuerwehrleute mit ihren B-Schläuchen, deren gewaltige Wasserfontänen vergeblich gegen die Zerstörung des Gebäudes ankämpften. Grausig und doch irgendwie faszinierend.
Wie immer brauchte er mit dem Auto nur knapp zehn Minuten bis zur Inspektion. Auf dem Flur kam ihm Annette Weiss entgegen, deren Schicht gerade beendet war. »Grüß dich, Markus!«, sagte sie und sah ihn mit großen Augen an. »Gut schaust aus.« Das »gut« zog sie auffallend in die Länge.
Kling war sich seit Längerem bewusst, dass er auf Annette offensichtlich anziehend wirkte, aber diese Bemerkung kam dennoch überraschend. »Wieso?«, fragte er verdattert. »Was meinst du?«
»Deine neue Frisur. Gefällt mir besser als vorher.«
»Ach so …« Unwillkürlich fuhr er sich mit den Fingern über den Kopf. Also fand sie seinen struppigen Look, der nur der Eile des Aufbruchs geschuldet war, attraktiver als die mit Gel gebändigten Haare? Das wäre womöglich eine Überlegung wert. Nicht für Annette, die war leider überhaupt nicht sein Typ, aber ganz allgemein gesehen.
»Meinst du wirklich?«, fragte er. »Ich hatte schon Angst, dass ich wie Boris Johnson aussehe.«
»Quatsch!«
»Na gut, dann … dann sollte ich das vielleicht so lassen.«
»Ja, mach das.« Damit endete das Geplänkel, und Annette wechselte zu Klings Erleichterung in einen sachlichen Tonfall über. »Aber wir wollten ja über das Großfeuer reden.«
»Genau«, sagte Kling. »Das war in Reitrain, oder? Wo liegt das noch mal genau?«
»An der Hauptstraße zwischen Rottach-Egern und Bad Wiessee, von Süden aus gesehen links davon. Es gehört aber zur Gemeinde Kreuth.«
»Ist da nicht auch dieses Schloss?«