Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In Chemnitz gießt es wie aus Kannen, der Regen hört scheinbar nie mehr auf, und die Flusspegel steigen von Stunde zu Stunde. Schon sind die ersten Straßen überspült. Für Fleischer Moritz ist es der schlechteste Umsatztag seit Wochen, genau vier Leute sieht er an diesem Tag an seinem Marktwagen. Er erinnert sich aber nur an Katja, die schönste Frau, die er seit langem getroffen hat und von der er gern mehr wüsste - vor allem, als er ihr Bild in der Zeitung sieht: Noch im Tod sieht sie unglaublich anziehend aus. Als Moritz tatsächlich den Fotografen des Bildes aufsucht, ahnt er noch nicht, dass er gerade dabei ist, einen großen Fehler zu begehen … Vor dem Hintergrund des Hochwassers von 2013 entwirft Bettine Reichelt eine spannende, motivisch dichte und raffiniert komponierte Geschichte von Liebe, Eifersucht und Hass. Wer glaubt, in Chemnitz gäbe es nur den Roten Turm und das berühmte Glockenspiel, wird in diesem fulminanten Krimidebüt eines besseren belehrt. Ein Glücksfall!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 158
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Bettine Reichelt
Tendenz steigend
Ein Chemnitz-Krimi
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-713-6
1. Auflage
© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © photocase, steffne
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Moritz aus Sachsen
Dienstag, 30. Juni
I
Hähnchen und Haxen von Moritz aus Sachsen, Hähnchen und Haxen von Moritz aus Sachsen. Kommen Sie ran. Für fünfzehn Euro mache ich Ihnen die Tüte voll. Knackwurst, frisch auf den Tisch, ist besser als Fisch. Dem Aal-Manfred von nebenan würde ich eh nicht trauen. Und mit Wurst im Keller gedeihen die Kaninchen schneller.
Ach, es war immer das Gleiche: Wenn er nach Chemnitz kam, regnete es. Und heute regnete es nicht nur, nein, es schüttete, als hätte da oben jemand eine Badewanne wütend umgeworfen. Ach, was! Eine Badewanne? Mindestens zehn oder hundert mussten das sein. Und er war mal wieder in Chemnitz. Wie er diese Stadt hasste …
Ja, einmal, einmal, da war er gern hierher gefahren. Das waren noch ganz andere Zeiten gewesen, damals. Oh, was hatte er die Stadt geliebt. Den Roten Turm, den Küchwald und sogar den Nischel. Geküsst hatte er den Nischel damals. Heimlich seine Lippen auf den Karl-Marx-Kopf gedrückt. Nur heimlich. In Zeiten des Glücks ist man eben ein bisschen verrückt.
Aber jetzt? Es goss in Strömen, und er hatte keine Aussicht, die Nacht in einem vorgewärmten Bett zu verbringen. Nicht mehr. Und der Verkauf war lausig. Außerdem waren nur Idioten unterwegs. Jedenfalls die meisten. Gut, ich nehme es zurück, dachte Moritz, die hier, die hat was.
Was darf’s denn sein, mein Reh. Bei Regen ist die Wurst kein Schaden. Sie hilft, das Leben zu ertragen. Fünfzehn Euro die Tüte. Und Sie bekommen alles, was Sie brauchen. Echte ungarische Salami, dazu eine Knackwurst mit Kümmel und eine mit Knoblauch. Aber immer schön gemeinsam essen. Immer schön gemeinsam. Sonst wird das Leben einsam.
Etwas Gehacktes dazu. Heute so frisch wie gestern … Und für Sie noch Lachsschinken vom Feinsten. Und dann noch Lende, frisch geräuchert. Mein Herz, das ist doch was, oder? Könnte ich mich glatt selbst bei Ihnen einladen.
Das macht dann fünfzehn Euro, mein Reh.
Trotzdem: Chemnitz war einfach zum Ausreißen finster heute. Aber es gab Sonnenstrahlen im Regen. Wie die hier. Mann, Mann, Mann, die sollten sie nur mit Bodyguard auf die Straße lassen.
Das Wechselgeld. Einen wunderbaren Tag, die Dame.
Was für eine geile Schnitte. Bah. So was in Chemnitz wieder – und alles wäre wie damals. Moritz blickte der Frau sehnsüchtig hinterher. Diese Frau … Wie damals! Sie sah wirklich aus wie … Aber die Schnitten, nein, lass es, Moritz, die Schnitten haben ihren Preis. Und wer den nicht zahlen will … Das hast du doch erlebt.
Aber wie die geht. Und die Hüften. Damals …
Allein schon der Schwung ihrer Hüften machte Moritz halb wahnsinnig. Er hätte jetzt stundenlang in den Regen schauen können und hätte ihren Gang noch einmal vor sich gesehen. Aber die Leute warteten nur ungern im Regen. Ein Mann stand am Wagen. Eine Frau trat hinzu.
Fünfzehn Euro für die Tüte mit Hähnchen und Haxen, gibt’s nur bei eurem Moritz aus Sachsen.
Männer interessierten Moritz nicht. Aber in diesem Moment wäre es besser gewesen, wenn, ja, wenn sein Interesse etwas größer gewesen wäre. Aber Moritz aus Sachsen schaute über den Mann hinweg. Der Fremde verschwand in der Regenwand. Neben ihm ging eine Frau. Zu unscheinbar für Moritz. Außerdem war nicht ganz klar, ob sie nicht vielleicht doch zu diesem Typen gehörte. Von Frauen, die mit Männern auftauchten, ganz egal aus welchem Grund, hielt sich Moritz fern. Aus Prinzip.
Fünfzehn Euro für Hähnchen und Haxen, gibt’s nur bei eurem Moritz aus Sachsen. Ich fülle Ihnen die Tüte mit lauter Lust und Güte. Da braucht’s dann keine alten Hüte – wie bei Nudelfritzen nebenan, der auch nicht kann. Meine Damen, Sie verstehen?
Moritz stand mitten im Wagen, redete ins Mikro. Unablässig. Wie alle Tage.
Ein blasser Typ mit teigigen Fingern reichte ihm das Geld über die Verkaufstheke. Auffällig unauffällig gekleidet. Beruf? Öler. Bestimmt, dachte Moritz, der zockt die Leute in der Bahn ab. Straßenbahnüberwachungsamt. Genau so sah der aus. Wie ein Kontrolleur.
Fünfzehn Euro für Fleisch und Wurst, nebenan gibt’s noch was für euren Durst. Bei diesem Wetter kann das nicht schaden, meine Lieben. Kommen Sie ran. Kommen Sie ran. Mit Hähnchen und Haxen kommen Sie quer durch Sachsen. Und Moritz hilft Ihnen dabei. Und wenn’s noch eine schöne Thüringer Roster sein darf. Dann gibt’s auch eine Stippvisite ins Nachbarland.
Das tägliche Gedränge blieb aus. Schon am Morgen hatte es eine Unwetterwarnung gegeben. Und tatsächlich schienen die Wetterfrösche recht zu haben. Kaum ein Mensch war auf der Straße. Auch die Nachbarstände blieben weitgehend leer. Langeweile machte sich breit. Man hatte zu viel Zeit zum Denken.
Der Nächste ist mein letzter Kunde, sagte sich Moritz immer wieder. Der nächste.
Moritz musste einige Zeit auf den nächsten warten.
Er entschied: Der jetzt. Dann ist Schluss für heute. Vier Uhr. Feierabend!
Moritz begann aufzuräumen, verschloss die Waren in der Kühlung, säuberte die Flächen und zog das Verdeck zu. Seine Beine schienen ihm vereist, obwohl doch Sommer war, und die Schuhe konnte man auswringen. Bei jedem Schritt schmatzte das Wasser unter seinen Fußsohlen. Dabei hatte er die ganze Zeit unter dem relativ sicheren Dach gestanden, den Heizer an den Füßen. Die kurze Zeit im Regen beim Räumen hatte genügt, ihn völlig durchzuweichen.
Es war vier. Und hätte ihm jemand gesagt, dies sei der Weltuntergang, er hätte es ohne mit der Wimper zu zucken geglaubt. Es goss noch immer in Strömen. Zeit, sich auf den Weg in die Unterkunft zu begeben, solange man noch einigermaßen sicher sein konnte, dass die Straße offen war.
II
Das Wasser stieg. Sie fühlte es. Bis vor wenigen Minuten hatte sie kaum mit den Füßen darin gestanden. Jetzt spürte sie die Wellen schon am Fußgelenk. Aber es machte ihr keine Angst. Sie war bis auf die Haut durchnässt. Das Wasser floss ihr den Rücken hinunter. Es war unwichtig. In der Hand hielt sie einen Plastikbeutel. Sie klammerte sich daran fest, als könnte ihr das Halt geben.
III
Zu dumm, dass sie Moritz ausgerechnet jetzt den Führerschein abgenommen hatten. Moritz ärgerte sich über sich selbst. In einer Woche hatte er Urlaub. Aber bis dahin waren noch ein paar Tage. Musste es ausgerechnet in dieser Zeit so unglaublich schütten? Wie blöd musste man auch sein, um sich erwischen zu lassen. Vier Wochen Spaziergang wegen überhöhter Geschwindigkeit. Und dann auf Tour. Und jetzt im Regen nach Hause.
Dass die Markersdorfer Straße bei Regen betroffen sein würde, hatten die Leute aus dem Haus Moritz erzählt. Da sollte ja schon das Wasser stehen, wenn es noch gar kein Wasser gab. Jedenfalls nicht wirklich viel Wasser. Die Frage war nur: War es jetzt bereits so weit? Und würde die Fahrtstrecke seiner Straßenbahn betroffen sein? Moritz hatte keine Lust, jemanden danach zu fragen.
Sollte er lieber laufen oder mit der Bahn fahren? Die ganze Strecke zu Fuß kam natürlich nicht in Frage. Nicht bei diesem Wetter.
Vom Roten Turm ins Fritz-Heckert-Gebiet waren es kaum fünfzehn Minuten Fahrt. Aber wenn sie die Bahn umleiten würden? Dann hieß es doch laufen. Oder einen Bus nehmen, mit Umleitung. Eingepfercht zwischen lauter tropfnassen Menschen. Und dann laufen. Wenn auch nicht so weit. Aber eine gewisse Strecke im Regen hätte er auf jeden Fall vor sich.
Man sollte die Stadt verlassen und einen besseren Ort für den Verkauf suchen. Aber er war hier gebucht. Und hätte ja dann nur wieder jemanden für den Truck gebraucht.
Also gut, Bahn bis zur Robert-Siewert-Straße, wie es auf dem Zettel stand, zwei Stationen nach der Markersdorfer, dann den kleinen Berg hochlaufen und in sein Zimmer bei der Kirchgemeinde. Es war genial, dass er diesen Tipp bekommen hatte. Das Zimmer war einfach, die Kochgelegenheit im Flur – und Toilette und Dusche auch über den Flur erreichbar. Alles war sauber, und preisgünstig war es auch. Wenn nicht gerade jemand auf dem Klavier nebenan hämmerte, war es geradezu genial dort. Das Geklimper musste man halt in Kauf nehmen. Meist waren die Nachbarn eh nicht da. Es ließ sich alles ertragen.
Moritz bummelte durch die Passage und hoffte im Stillen, dass der Regen nachließ. Er kaufte ein paar Zeitschriften, eine Zeitung. Was gab es Besseres, als die Zeit hier im Bett zu verbringen? Schlafen, lesen. Den Kühlschrank hatte er schon gestern gefüllt. Notfalls waren es bis zum Laden nur ein paar Schritte. Endlich einmal Zeit, um Zeitung zu lesen. Moritz liebte das. Man musste nicht viel verstehen, und es war vollkommen in Ordnung, alles sofort wieder zu vergessen.
An der Zentralhaltestelle stieg er in die Bahn. Sie zuckelte durch den Regen. Moritz setzte sich auf einen Platz am Fenster.
Obwohl es so früh war, hatte man die Straßenbeleuchtung bereits angeschaltet. Auch in der Bahn gingen flackernd die Neonröhren an. Weltuntergangsstimmung. Jeder wollte nur noch eins: möglichst schnell nach Hause. So trocken wie irgend möglich. Kaum einer redete. Die Handys schwiegen. Nur wenige Jugendliche versuchten zu chatten. Es schien aber nicht zu funktionieren. Einige begannen sich lauthals über die Unfähigkeit der Anbieter aufzuregen.
Moritz nahm sein Handy aus der Tasche und schaute nach der Zeit. Beinahe fünf. Der Akku war fast leer. Und der Empfang schlecht. Also darum maulte die Jugend. Es gab kein Netz.
Der Ordnung halber stülpte sich Moritz beim Aussteigen die Kapuze über den Kopf. Über die Straße, vorbei am Edeka und dann den kleinen Berg hinaufsteigen, vorbei an den Wohnblöcken in sein kleines Paradies der Ruhe mit Baum und Vogel vorm Fenster. Die Vögel hatten sich heute verkrochen. Und der Baum würde auch nur schweigend seine langen Äste im Wind schaukeln lassen.
Moritz freute sich auf trockene Kleidung, eine heiße Dusche, sein Bier und die Zeitung. Er kramte den Schlüssel aus der Innentasche, stieg die Treppe hoch und verschwand in seinem Zimmer. Kleidung fallen lassen, Schuhe vor die Tür, ab unter die Dusche. Auf dem Rückweg dann Essen und Bier aus dem Kühlschrank fassen.
Mist, er hatte die Zeitschriften in der Innentasche stecken lassen. Na, klasse, wenn sie jetzt nass waren wie alles, dann konnte er den gemütlichen Abend vergessen.
Aber Moritz hatte Glück. Die Innentasche war vergleichsweise trocken geblieben. Die Zeitung also noch lesbar. Er legte sie auf den Nachttisch am Fenster. Dann öffnete er die Flasche, trank einen Schluck, stellte sie neben die Zeitung und warf sich aufs Bett.
Vom steigenden Wasserpegel war noch nicht viel zu lesen. Ein paar allgemeine Informationen. Er fand einen Hinweis, sich per SMS über die aktuelle Hochwassersituation informieren zu lassen. Aber war das nicht übertrieben? Natürlich regnete es fürchterlich, und man hatte aus Sicherheitsgründen begonnen, die Bahnen umzuleiten. Aber das Hochwasser in Grimma, das war wirklich eine Katastrophe gewesen. Damit konnte man das hier ja wohl nicht vergleichen.
Im Regionalteil fand Moritz einen Bericht über die Arbeit der Stadtverwaltung. Eine Fotowerbeserie mit Artikel. Er wollte schon weiterblättern, als sein Blick auf eins der Bilder fiel. Da war sie. Die schönste Frau des heutigen Tages war Sachbearbeiterin bei der Stadtverwaltung. Interessant!
Moritz schaute sich die Bilder genauer an. Der Artikel war Teil einer Serie. Diese stellte die Stadtverwaltung vor. In diesem Fall führte Frau Katja, wie sie im Artikel genannt wurde, durch die verschiedenen Abteilungen. Vermutlich wollte die Stadtverwaltung junge Männer einstellen. Oder warum ließ man einen Fotografen eine solche Serie machen?
Oder sie hatte Erfahrung damit. Vielleicht posierte sie ja öfter? Dann konnte man sie sicher auch irgendwo im Netz finden. Ein Model aus der Stadtverwaltung. Hätte er den Leuten da gar nicht zugetraut. Irgendwie war Verwaltung für Moritz vor allem mit Staub, Arbeit am Rechner und Langeweile verbunden.
Vielleicht war das ja ein Fingerzeig? Vielleicht sollte er es noch einmal mit Chemnitz versuchen? Einmal hatte ihm die Stadt schon Glück gebracht. Was war, konnte wieder sein. Geschichte wiederholte sich nicht, aber eine neue Geschichte wäre möglich.
Aber er würde nach der Frau suchen müssen. Zu dumm, dass es kein Netz gab. Dann funktionierte sein Stick nicht. Und einen normalen Internetanschluss hatte er in diesem Zimmer nicht. Wäre er doch in eine richtige Pension gegangen! Moritz war wütend auf sich. Das Sparen brachte kein Glück. Genau genommen stand es seinem Glück sogar im Wege.
Allerdings waren solche Frauen wie diese Sachbearbeiterin entweder in festen Händen oder sie hatten einen Schaden. Schöne Frauen, die verrückt waren, kannte Moritz zur Genüge. Das musste man sich überlegen.
Mit Sicherheit hatte aber der Fotograf eine Macke. Der nannte sich Hans im Glück. Künstler. Solche Typen hatte Moritz noch nie verstanden. Aber egal. Er hatte sie fotografiert. Vielleicht könnte der ja einen Kontakt zu ihr herstellen.
Moritz riss den Artikel aus der Zeitung und legte ihn auf den kleinen Schreibtisch an der Wand. Da war sie.
Mittwoch, 1. Juli
I
Es regnete die ganze Nacht. Das Wasser stieg. Von Stunde zu Stunde wurde die Lage schwieriger. Die Feuerwehr war rund um die Uhr im Einsatz.
Kurz nach Mitternacht stellte man den Straßenbahnbetrieb ein. Für den gesamten Bereich Mittelsachsen bestand Katastrophenwarnung. Für die Chemnitz und die Zwönitz sogar Warnstufe 4. Der Pleißenbach und der Kappelbach traten in der Nacht ebenfalls über die Ufer.
Moritz ahnte davon nichts. Er schlief tief und fest. Erst als er am Morgen das Radio anschaltete, hörte er von der dramatischen Verschlechterung der Situation. Überall wurden Helfer gesucht. Die Schule fiel aus. Nicht nur in Chemnitz, sondern auch im Erzgebirgskreis und im Vogtland. Vor zwölf Uhr sei keinesfalls mit einer Besserung zu rechnen.
Moritz überlegte, was zu tun sei. Er hing hier fest, keine Frage. Auf jeden Fall musste er mit der Zentrale Kontakt aufnehmen. Und er musste auch am Wagen nach dem Rechten sehen. Vielleicht war es dann gut, irgendwo mitzuhelfen, Säcke zu stapeln, Sand einzufüllen? Falls denn Hilfe gebraucht wurde.
Auf jeden Fall veränderte es die Pläne für die nächsten Tage. Es gab viel zu tun. Das Bild auf seinem Schreibtisch hatte er fast vergessen. Aber es lag noch da.
II
Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Die Luft war warm und feucht. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft. Moritz lief in die Innenstadt. Es war gar nicht so weit, wie er gedacht hatte. Er brauchte gerade mal eine gute Stunde.
Die Innenstadt war wie ausgestorben. Kaum ein Mensch unterwegs. Während es unten an der Chemnitz dramatisch aussah, war hier alles trocken geblieben. Auch der Wagen stand gut und sicher. Regen von oben war kein Problem.
Ein alter Mann ging langsam über den Platz.
Na, junger Mann, heute keine Leute da?
Nein, heute fällt der Verkauf ins Wasser.
Hier ja noch nicht. Da kommt das Wasser höchstens in die Tiefgarage. Aber unten an der Chemnitz …
Ich habe es gesehen. Überall Land unter. Ich bin froh, dass mein Truck hier gut steht. Morgen mach ich Ihnen Ihre Tüte wieder voll. Kommen Sie vorbei. Bei mir bekommen Sie die beste Wurst im ganzen Freistaat.
Na, na, junger Mann, das will ich mal bezweifeln. Sie mit Ihrer Dauerwurst. Früher, da haben wir noch selbst geschlachtet. Und so eine große Tüte, die brauch ich ja nicht mehr für mich allein.
Moritz klopfte dem Alten freundlich auf die Schulter.
Dann nahm er sein Handy aus der Tasche. Er musste endlich in der Zentrale anrufen und sich melden, wenn das Telefon wieder ging.
Und es ging. Die Verbindung war schlecht, aber er konnte sich immerhin beim Chef melden – oder wenigstens bei Lilly in der Zentrale.
Moritz, lieber Himmel, wo steckst du denn! Seit Stunden versuchen wir dich zu erreichen. Alles okay da in der Hochwasserstadt?
Ja, so weit alles bestens, meine Blume. Bin gerade am Wagen. Hier ist alles noch trocken. Aber natürlich nichts los. Verkauf kannst du heute vergessen. Ich werde mal sehen, dass ich hier irgendwo helfen kann.
Melde dich, wenn du mehr weißt, okay? Der Chef will wissen, was wird. Und fall nicht ins Wasser!
Jaja … Ich kann schwimmen, schon vergessen?
Na, das hat schon so mancher gesagt. Und ob dir das was nützt in diesem Fall, das glaube ich mal auch nicht.
Du kennst meinen Schwimmstil nicht, mein Herz!
Alter Angeber. Bis bald!
III
Die Anlaufstelle für Helfer war leicht zu finden. Den größten Teil des Tages füllte Moritz Sand in Säcke. Irgendwann tat ihm der ganze Körper weh, und er war völlig erschöpft. Dabei ist der Sand noch gar nicht nass, dachte er.
Am Nachmittag entspannte sich die Lage an den Flüssen allmählich. Moritz verabschiedete sich. Der Truck stand den ganzen Tag schon unbeobachtet in der Stadt. Er musste sich darum kümmern. In der Einkaufspassage holte er sich eine Zeitung. Heute war die Zeitungsschau am Abend wichtiger als sonst.
An der Zentralhaltestelle studierte er die Aushänge. Nach Markersdorf gab es einen Schienenersatzverkehr. Immerhin konnte er zurückfahren. Er war müde von der Plackerei und froh, sich setzen zu können. Der Bus war nur locker gefüllt. Wer nicht unterwegs sein musste, blieb heute zu Hause.
Im Zimmer angekommen, öffnete Moritz das Fenster und lehnte sich hinaus. Die schwüle Luft lag noch immer drückend über der Stadt. Das Gras glänzte feucht in der Abendsonne, und die Äste der Weide hingen vom Regen schwer herab. Sonst war das Gelände unversehrt. Erstaunlich, wie klein das zerstörte Gebiet doch war. Aber dort kämpften die Anwohner um alles. Sie würden noch Tage brauchen, um den Schlamm aus den Kellern zu schippen. In der Ferne hörte man die Geräusche der Straße. Sicher waren auch hier die Kehrmaschinen unterwegs, um zumindest die Straßen zügig vom Schlamm zu befreien.
Moritz legte sich aufs Bett. Er war zu träge, um das Fenster wieder zu schließen. Ruhe, Lesen. Er streifte die Schuhe von den Füßen. Sie fielen polternd auf den Boden.
Dann vertiefte er sich in die Zeitung: Der Regen werde im Laufe des Tages aufhören, schrieben sie. In den nächsten Tagen werde es nicht regnen. Das lasse auf eine weitere Beruhigung der Lage hoffen. Noch könne man nicht genau beziffern, wie hoch der Schaden sei. Man sei dabei, einen Hilfsfonds für Betroffene einzurichten. In zahlreichen öffentlichen Gebäuden biete man warme Getränke an.
Eine ganze Seite widmete man den eingereichten Bildern vom Hochwasser. Aufmacher war ein großes Bild von einer Brücke. Am Pfeiler hatte sich offensichtlich ein Stoffbündel verhakt. Moritz konnte sich gut vorstellen, wie es in dem bewegten Wasser hin und her getrieben wurde. Darunter fand sich wieder der Name Hans im Glück. Also fotografierte er nicht nur schöne Damen, sondern auch die Katastrophe. Was musste man für ein Kerl sein, damit man so etwas ablichtete? Komischer Typ.
Aber man musste zugeben, dass dieser Hans einen Blick dafür hatte, was die Bedrohung ausmachte.
Donnerstag, 2. Juli
I
Die Hochwassersituation entspannte sich allmählich. Am Nachmittag konnte Moritz den Wagen wieder öffnen. Die ersten Käufer erschienen. Kühlschränke mussten gefüllt werden. Man hörte die Straßenkehrmaschinen in der ganzen Stadt. Die Martinshörner waren jedoch beinahe verstummt. Sie waren kaum häufiger zu hören als an anderen Tagen.
Der Lieferwagen war am Vormittag bis in die Innenstadt gekommen. Das Lager war gut gefüllt. Er warb mit neuer Freude für Hähnchen und Haxen von Moritz aus Sachsen.
II