TERM - Felix Leitner - E-Book

TERM E-Book

Felix Leitner

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Beschreibung

Term wächst in der perfekten gerechten, nachhaltigen und gleichen Gesellschaft auf. Die Umweltkatastrophe ist abgewandt, die Dominanz der Männer beseitigt und die Allgemeine Wohlfahrt kümmert sich um die Gesundheit und Rente jedes Menschen: Von Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Nur, dass die Menschen immer älter werden und der Nachwuchs immer weniger. Aber Defizite im System werden durch Terms Lebenszeit ausgeglichen, das bestimmt die Ökologische Sozialistische Partei. Terms Wunsch, seinen eigenen Weg zu gehen, verlangt automatisch auch von seinen Mitmenschen, ein eigenes Leben zu führen. Das geht nicht im Ideal der Gleichheit. Außerdem ist seine Arbeitskraft schon fest von der Allgemeinen Wohlfahrt einberechnet. Ein frühzeitiges Ausscheiden ist nicht vorgesehen. Dann trifft er auf Roland, der ihn vor eine unmögliche Wahl stellt: Entweder begeht er ein unglaubliches Verbrechen und wird für immer frei sein, oder er verrät das geplante Verbrechen und wird sein Leben weiterhin eingesperrt verbringen.

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Felix Leitner

TERM

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Wieder ein Alter

Das Ende des Fleischdeputats

Der 99. Geburtstag

Rebellisches Verhalten

Der Nachhaltigkeitskoeffizient

Das Institut für Allgemeine Wohlfahrt

Sklaverei und Shave Ice

Farbball

Atlantic Mule III

Den Teufel austreiben

Überfall

Unabhängigkeitstag

Zombies im System

Der Unsterblichkeitsflügel

Terms Italienreise

Organverschleiß

Jack

Die Drei vom Drogenlabor

In der Besinnungsecke

Camp Regenbogen

Bestrafung

In der deindustrialisierten Zone

Die Verlassenen

Die Kinder der AW

Die Vorzüge einer ökologisch-gerechten Gesellschaft

Magazinverbrennung

Revolution im Wald

Vorbereitungen

Abschied

Der Instrumentenwagen des Todes

Atlantiküberquerung

Epilog

Impressum neobooks

Wieder ein Alter

Der Polizist ließ ihn vor einem weißgestrichenen Mehrparteienhaus aussteigen. Es hatte noch die großen, rechteckigen Solarzellen auf dem Dach. Die veralteten Zellen mussten bestimmt über dreißig oder vierzig Jahre alt sein. In der Schule hatte Term gelernt, dass die Energiewende nur gegen einen enormen Widerstand in Industrie und Gesellschaft erreicht worden war. Term verstand das nicht. »Macht und Geld«, hatte Terms Vater den langen Kampf um die Energiezukunft kommentiert. Für Term waren Elektroautos und Solarzellen auf dem Dach normal wie sein Instant-Milchschaum-Kakaocaramel-Drink am Morgen – selbstverständlich zuckerfrei, biologisch angebaut und nachhaltig produziert.

»Ich melde mich bei dir. So Sprüche wie »Stadt oder Land nicht verlassen« können wir uns ja schenken«, Berg lachte tief. Der silbergraue E-Wagen summte leise davon.

Term suchte die Klingel- und Sprechanlage ab. Raphael Luks. Etagenwohnung. Die Kamera zoomte beinahe unhörbar. »Wer ist da«, raunte ihn eine alte Stimme an.

»Was für eine blöde Frage. Sie sehen mich auf ihrem Display und daneben blendet ihnen die Software meinen Namen ein. Ihre Sicherheitsidentifizierung müsste mich längst erkannt haben.«

»Und?«

Term seufzte laut. »Ich bin Term. Ihr Lebensunterstützer.« Term wollte kotzen.

Es klickte leise und die große, massive graue Eingangstür öffnete sich langsam wie ein ägyptischer Grabstein. Gebückt trat Term ein. In der Eingangshalle befand sich ein hochmoderner Aufzug. Aufzüge für Rollstuhlfahrer waren ja stinknormal und gesetzliche Pflicht, aber mehr und mehr wurden diese breiten Aufzüge noch weiter verbreitert. Lebenswagen, mobile Betten und der Lieferservice für die Alten brauchten Platz. Ein Klicken hallte einsam über die weißen Kacheln. Die einzige Tür in der Etage hatte sich geöffnet. Term atmete ein. Er wollte noch eine Lunge voll frischer Luft mitnehmen.

Braunes Papier, trockenes Moor, kalter Kompost und abgestandenes Parfüm: so rochen für Term die alten Menschen. Obwohl Luks‘ Appartement verdammt modern eingerichtet war, haftete dieser Geruch an den Wänden und Möbeln. In jedem Raum gab es ein Display, mit dem alle Funktionen des Hauses per Fingerdruck reguliert werden konnten. Aber dieser Standard wurde von den kleinen Sensorboxen noch getoppt. Getarnt als kleine schwarze Kunstwerke, schwarz-spiegelnde Pyramiden, Mini-Skulpturen oder ebenso schwarze Vasen mit weißen Steinen reagierten die Sensorboxe auf Stimme, Wärmegrad und Luftgehalt der Wohnung.

»Computer: Regen.«

Ein tiefes Piepsen ertönte. »Programm nicht vorhanden.«

»Beweg dich zum Wohnzimmer. Und lass den Unsinn«, mahnte ihn der Alte aus einem Lautsprecher an. Das ganze Appartement war hell weiß gestrichen. Die wenigen Möbel waren aus Stahlsilber. Die Schränke und Regale in die Wände eingelassen, so dass Eingang und Zimmer wie weite Flure wirkten. Term fand das modern-schick, wusste aber, dass dahinter ein praktischer Grund steckte. Es gab keine Hindernisse für den Bewohner und die Notärzte mit ihren Rollbetten, wenn sie schnell in die Wohnung mussten. Silber eingerahmte Aufnahmen in Übergröße hingen an den Wänden. Sie zeigten einen Mann, um die vierzig, weites Lächeln, kräftiges schwarzes Haar auf einer Wanderung durch den tropischen Regenwald. Der Mann auf den Bildern hatte ein markantes Kinn, breite Schultern und einen stolzen Blick. Ein anderes Foto zeigte ihn dick eingemummt in einen roten Polaranzug irgendwo in einer Eiswüste. Term war sich sicher, dass es derselbe Mann war, da das Kinn unter der dicken Schutzbrille und dem flauschigen Anzug hervorspitzte.

Das Wohnzimmer war gigantisch und quadratisch im Grundriss. Ein Flachbildschirm wie in einer Kommandozentrale war an der Wand befestigt. Hauchdünn wie ein Blatt Papier. Auf dem Bildschirm lief links in einer Spalte eine Dauernachrichtensendung und darunter wurden Uhrzeit und Datum eingeblendet. Der Rest des Bildschirms füllte eine Kochshow aus. Zu den anderen drei Seiten war der quadratische Raum offen. Durch die Fenster sah er zwei kleine Mädchen im Garten spielen.

Term kam vom Eingang, links ging es offensichtlich zu Schlafzimmer und Küche und rechts war eine Fensterwand installiert, die aber leider verdunkelt war. In der Mitte des Raumes stand ein schwarzer Sessel. Die Armlehnen waren bestimmt so breit, man hätte einen Teller abstellen können, ohne dass er über die Lehne ragen würde. Das Leder glänzte noch wie im Möbelhaus.

Das Erste, was Term von Luks sah, war sein Lebensbaum. Basierend auf der Tropfinfusion und der dazugehörigen schiebbaren Halterung hatten Ärzte und Techniker ein modulares Gerüst entwickelt. Bei Luks waren ein Organunterstützer, Flüssigkeits- und Nahrungsregulatoren und eine Ersatzbatterie für die eingebauten Körpermodule eingehängt. Standard bei einem über Hundertjährigen.

»Du bist fünf Minuten zu spät. Der Polizeiwagen hatte dich aber pünktlich vor meinem Haus abgesetzt.« Der Alte musste mit seinen Kameras die ganz Zeit seinen Eingangsbereich ausspioniert haben. »Was denkst du dir dabei, wenn du so herumtrödelst?«

»Selbst der ferngesteuerte Straßenverkehr ist spannender als ihre bescheuerten Kochshows.« Term und Luks musterten sich voller Abneigung füreinander. Von Luks‘ prominentem Kinn, schwarzen Haaren, nicht mal von seinem Grinsen auf den Fotos war etwas übergeblieben. Das Gesicht war langgezogen und seine Wangenknochen hingen die dünne Haut wie ein Nagel einen Bilderrahmen auf. Feine Operationsnarben oberhalb der Schläfen verrieten, dass die ganze Kopfhaut gestrafft worden war, damit sie nicht auch noch über die Augen hängen würde. Die Zähne waren geradezu lächerlich gesund. Das künstliche Gebiss strahlte kräftig weiß, wie bei einem jungen Menschen, der nie einen Tropfen Tee, Kaffee oder Wein getrunken hatte. Es fiel beinahe aus der hängenden Mundhöhle heraus. Nur Luks‘ Bick zeigte noch Verwandtschaft mit dem Mann auf dem Foto. Sein stolzer Blick hing erstarrt in seinen farblosen Pupillen fest, wie ein abgestürzter Computer.

»Haben Sie Großenkelinnen?« Außerhalb seiner Wohnung zerrten und umarmten sich spielerisch zwei kleinen Mädchen. Ihre Haare waren wenige Millimeter kurz geschnitten und gefärbt.

»Im Altersheim wurde eine staatliche Grundschule integriert. Die Viertklässler haben Pause und können sich einfach nicht ruhig verhaaaa … verhalten«, setzte Luks zu einem Schrei an, der so stark wie ein alter, kranker, ausgemergelter Hund war. Die Kinder im Garten nahmen seinen Protest nicht wahr.

»War das ein Brüller«, lachte ihn Term aus.

»Du bist noch zwei Stunden siebzehn Minuten hier. Lass uns besser mit der Arbeit anfangen.« Luks klang, als hätte er Terms Beleidigung nicht gehört. Term nahm an, dass sie gar nicht in seinem Gehirn angekommen war. Gestrandet auf einer toten Synapse.

»Was soll ich denn hier arbeiten? Sie haben eine Küche, die Sie nicht benutzen.« Luks starrte ihn an. Das Gebiss hing ihm offen entgegen. »Sie werden von Nahrungsmischungen ernährt, die Sie durch einen Katheder zu sich nehmen. Die Verpackung werfen Sie weg. Sie schauen fern, sitzen so, dass Ihr Lebensbaum Sie mit genug Flüssigkeit versorgt und brauchen in vielleicht zwei Stunden einen frischen Beutel.« Angestachelt durch Luks Schweigen fuhr Term fort. »Selbst diesen Wechsel könnten Sie gerade noch alleine machen. Es gibt nichts für mich zu arbeiten. WAS SOLL ICH HIER?«

Term hatte nicht gemerkt, wie er lauter geworden war. Erst als er den Alten anschrie, merkte er, dass seine Wut sein Sichtfeld schon wieder verdunkelte. Luks gaffte ihn an wie ein Idiot und tippte mit seinen langen, unverkrümmten Fingern auf der Tastatur. Früher hatten sehr alte Menschen meist zu Ballen geformte Hände oder krumm und schief abstehende Finger, wie bei einer Hexenpuppe. Das wurde längst ab dem 100. Geburtstag von der AW standardmäßig behandelt.

»Ich habe einem Psychologen eine E-Mail wegen deiner Wutanfälle gesandt. Das muss behandelt werden.«

Term konnte gar nicht verschnaufen und brüllte sofort wieder los: »Das können Sie nicht machen. Zermscheiße noch einmal, du stinkender Zombie, ich brauche keine Selbstanalyse.« Term fühlte sich aggressiv wie ein junger Bulle. Er war kein Freund von Beleidigungen, er war nicht mal gerne wütend. Was war nur los mit ihm? Er wollte Bücher aus Luks‘ Regal reißen. Sie dem Alten an den Kopf werfen … das wäre aber dann wirklich versuchter Mord gewesen. Zum Glück gab es keine offenen Regale und auch keine Bücher in der Wohnung. Überhundertjährige durften nur ausgebildete Betreuer anfassen. Lebensunterstützer wie er durften nur den Notfallknopf drücken. Auf keinen Fall mehr, war ihm in der Vorbereitung beigebracht worden. Die ganze Vorbereitung war eine überkorrekte Zermscheiße gewesen, Term wäre beinahe erstickt. Schnell verdrängte er die Erinnerungen, da sich seine Lunge nicht richtig mit Luft füllte. Er hatte zu viel Wut eingesogen.

»Eine Kopie ging an deinen Lebensunterstützer Erdogan Lächner und dessen Vorgesetzten und natürlich an die drei ÖSP-Berater für dein Wohnviertel.« Es piepte, als er die Ökologische Sozialistische Partei erwähnte. Luks bewegte seine Augen wie festgefahrene Scheinwerfer auf sein Infopad und dann wieder langsam hoch. »Mein Vorschlag wurde von den Beratern gerade bestätigt und angenommen.« Klang Luks triumphvoll? War das ein erstes Anzeichen von Emotionen, fragte sich Term.

»Du musst mir helfen, mein Fotoalbum vorzubereiten«, fuhr Luks langsam fort. »Nächste Woche treffe ich mich mit Bekannten aus dem Gerohap-Komplex.« Sein Mund bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer uralten, überschweren Stahllock.

»Ein Fotoalbum vorbereiten!« Terms Wut stieg schon wieder an. Angestrengt kontrollierte er seine Atmung. Die Wut ebbte leicht ab, aber lauerte darauf, wie eine Flut zurückzukehren. »Das geht alles elektronisch. Sie rufen ihren HomePc mit der Stimme auf. Öffnen die Ordner per Stimme und wählen per Touchscreen die Bilder aus. Was soll ich da machen?«

»Zuschauen und lernen.« Term drehte sich um und ging in die Küche. »Komm zurück«, befahl Luks vergeblich. Er klang beinahe flehend. Term sah in den Kühlschrank. Wie er es befürchtet hatte, nur Flüssignahrungspackungen. Eine Packung Butter lag seltsamerweise dazwischen. Was wollte der alte Mann damit? Er konnte kein richtiges Brot kauen. Butter zum Braten brauchte er auch nicht. Sein Kochvorgang war ganz simpel: er steckte die Essenspackung seiner Wahl an den grünen Schlauch und die Flüssigkeit tröpfelte in seinen halb-künstlichen Magen.

»Wofür ist die Butter?«

»Wenn du mich noch einmal anschreist und mir nicht hilfst, werde ich dir kein Mittagessen zuteilen und eine weitere Meldung für deine Akte schreiben. Wer sich nicht in der ökologisch-gerechten Gesellschaft einbringt, der soll auch nicht essen. Du kennst die Devise.«

»Ja.« Term schaltete ab und stellte sich neben Luks. Jetzt war es an ihm, den lebendigen Zombie zu spielen. Der Alte fing wieder an im Schneckentempo einer Dampflock … Term kannte den Begriff nur aus dem Unterricht und fand es faszinierend, dass die Menschen früher in Zügen gefahren waren, aus denen vorne Dampf gekommen war. Aber er bevorzugte die neuen modernen Züge: schnittig, leise und extrem schnell. Er hatte sich einmal mit neun Jahren in den Zug gesetzt und war in den Norden und wieder in den Süden Deutschlands gefahren. Alles an einem Tag. Er liebte die hohe Geschwindigkeit. Als ihn seine Mutter angerufen hatte, war er schon weit über fünfhundert Kilometer gefahren. Der Ärger war heftig gewesen, aber Term einfach glücklich … »hier waren meine Freunde und ich in Ägypten. Das ist die berühmte Unterwasser-Party-Kugel auf dem Boden des Roten Meers. Das ist Pier, Frederick, da bin ich.« Term sah dreißig bis vierzig Jahre alte Männer in weißen Anzügen, die Champagner tranken und anscheinend tanzten. Die seltsamen Verrenkungen hatte er mal in einer Dokumentation gesehen. So hatte man früher getanzt.

»Hier. In dem Ordner habe ich das Neuland in Grönland besucht. So viel grün, wer hätte das gedacht? Dafür mussten wir Dämme in Bangladesch errichten …«. An der Grenze hatten sie ihn aufgehalten. Ein neunjähriger Junge ohne Begleitung und ohne Pass war dem Schaffner aufgefallen. Die blöde automatische, elektronische Reiseüberprüfung hatte das Personal erst aufmerksam gemacht. Zum Glück hatten sie ihm geglaubt, dass er einfach seinen Halt verpasst hatte und keinen Bericht geschrieben. Für solche ungemeldeten Bewegungen konnte man im Heim landen, hatte er gehört. Sogar die Eltern konnten bestraft werden, sagte man. Daher hatte er seinen Eltern davon nicht erzählt … »…das ist der Amazonas übrigens.«

Term unterbrach seinen Nickrhythmus im Minutentackt. »Sie waren in Brasilien?«

»Ja. Das hier sind Pier, Frederick und Adgan, der kam damals in unsere Abteilung. Wir vier haben mehr Gewinn für das Unternehmen reingeholt als alle anderen Abteilungen. Da hat uns der Chef eine First-Class Reise geschenkt. Alles Spesen. Hä Hä.« Sein Lachen klang mehr wie das Krächzen einer überfahrenen Krähe.

»Wie ist Brasilien?«

»Viel Urwald, Menschen, alte Lastwagen und große Busse … und laut war es. So unsagbar laut.« Intensiv beobachtete Term den Alten. Auf den Bildern sah er Luks, wie ihm eine grün-braun gefleckte Schlange um den Hals gelegt wurde. Er hatte eine Flasche exotischen Biers zwischen den Lippen. Ein anderes Bild zeigte ihn und seine Arbeitskollegen vor Spaß in die Kamera brüllend mitten auf einer befahrenen Kreuzung. Die Kreuzung faszinierte Term. Da waren LKW mit Planen und Holzbeschlag. Kleine Mopeds aus deren Auspuffen schwarzer Qualm aufstieg. Straßenverkäufer hielten Sandalen oder Orangen in die Höhe und schrien ihre Preise über die rumpelnden Motoren.

Es war fantastisch. Luks und seinen Saufkumpanen schien es auch gefallen zu haben. Sie mussten ihre Zeit sehr genossen haben, denn sie lachten frei in die Kamera. Luks sah auf dem Bild nicht aus, als würde ihn der Lärm stören. Im Gegenteil, sein Kinn war nach unten geklappt und gesunde weiße Zahnreihen formten ein massives Grinsen.

»Speichern unter Brasilien ‘23«, befahl Luks der Software. Wie Rollladen, die sich schlossen, verschwanden die Bilder in einem neuen Ordner. Term gefiel das Design, er hatte dieselbe Software auf seinem PC. Aber diesmal ging der Speicher- und Verschiebevorgang zu schnell für seinen Geschmack. »Das ist genug für heute. Ich bin müde.«

Endlich. Term hatte die digitalisierte Lebensschau vorerst überstanden. Luks war gerade mal ein Jahr oder zwei mit ihm durchgegangen. Auf seiner Festplatte hatte Luks leicht dreißig Mal mehr Bilder gespeichert, als er Tage gelebt hatte.

Terms Blick fiel wieder auf die spielenden Kinder. Sie hatten mittlerweile eine Zweierreihe gebildet und vor einem hölzernen Rosenbogen aufgestellt. Auch Luks starrte sie an, seine Mundwinkel zuckten leicht und Speichel sammelte sich an seinen Rändern. Gaffte er? Was gab‘s denn da zu gaffen? Vor dem Rosenbogen standen zwei kleine Mädchen. Eine übergewichtige Erzieherin stand am Kopf der Zweierreihe und nickte den Mädchen auffordernd zu.

»Was zur heiligen Zermscheiße machen die da?«, entfuhr es Term. Er ging an das große Fenster, um das Geschehen genauer zu beobachten.

»Gab es das zu deiner Zeit noch nicht?«, krächzte Luks von seinem Sessel aus. »Die spielen heiraten.«

Irritiert blickte Term auf die Schulklasse und ging hinaus. »Ey, ich habe dir nicht erlaubt …«, Term hörte nicht mehr auf ihn. Die zwei Mädchen sagten einen Spruch auf, dann umarmten sie sich und gingen durch das Tor. Die Erzieherin klatschte und alle Kinder klatschten mit. Dann ging das nächste Paar an den Rosenbogen.

Term konnte sich nicht mehr gut an seine vierte Klasse erinnern. Er hatte sich gerauft, gelangweilt und vor sich hingeträumt. Er war schon damals aufgefallen, aber hatte noch keine Minuspunkte bekommen – nur Zusatzaufgaben.

»Was ist da hinten los«, unterbrach die Erzieherin die nächste Zeremonie, denn hinten in der Reihe zankten sich eine Junge und ein Mädchen. »Norbert, Kerstin, was habt ihr?«

»Frau Gerrets, Michael will meine Hand nicht halten!«, meinte Kerstin. »Und ich will auch nicht seine Hand halten. Michael stinkt.« Lachen brach unter den Viertklässlern aus.

Frau Gerrets ging auf das Pärchen zu. »Auseinander! Das ist mir sowieso zu heteronormativ. So, Michael du gehst jetzt zu Paul und Kerstin zu Büsra. Wir haben genügend Pärchen für eine Hetero-Heirat. Der Rest soll sich andere Konstellationen suchen. Wer spielt den Intersexuellen«, wollte Frau Gerrets wissen.

»Aber Frau Gerrets, Kerstin habe ich schon letzte Woche geheiratet«, beschwerte sich Büsra.

»Ruhe! Wer spielt den Intersexuellen?« Eine Hand hob sich mit einer grünen Karte, auf der die Rolle vermerkt war. »Gut, dann gehst du jetzt zu Michael und Paul … «

Murren, genervtes Augendrehen und Kichern begleitete die Neuordnung der Pärchen. »Einer fehlt noch«, kam es aus der Gruppe.

»Genau, wo gehörst du hin?« Als Term nicht reagierte, schritt die Erzieherin zu ihm und packte ihn an der Hand. »Wo gehörst du hin?«

Term schüttelte perplex ihre Hand ab. »Nicht in ihre Klasse.«

»Du kannst ja mitspielen. Man ist nie zu alt«, lud sie ihn freundlich ein. »Wir brauchen einen für Paul.«

»Öhm, nichts gegen Paul, aber ich bin nicht schwul«, sagte Term beiläufig, ohne nachzudenken.

»Boaaah, das sagt man nicht. Der hat wohl in der vierten Klasse nicht aufgepasst!« Die Viertklässler warfen ihm böse Blicke zu, wie es nur kleine Kinder konnten.

»Wo gehörst du hin?« Alle Freundlichkeit war aus dem Gesicht der Erzieherin gewichen und sie packte wieder sein Handgelenk.

»Luks.« Term war noch immer völlig perplex. Er hatte es nicht böse gemeint, so wurde unter Jugendlichen gesprochen – wenn niemand in der Nähe war. Mit einem Ruck zog die Erzieherin ihn zu Luks in die Wohnung. »Ihr spielt noch zu Ende, dann habt ihr Pause«, wies sie die Kinder an.

»Gehört der zu ihnen«, verlangte sie zu wissen. »Er hat ein maskulinistisch heterosexuelles Schimpfwort vor meinen Schülern gebraucht! Ich muss eine Mitteilung an die Zentrale schreiben. Ein solches Vergehen muss mit einem Minuspunkt in der Akte geahndet werden.«

»Tun sie das. Er wurde mir heute erst zugeteilt.«

Term sagte gar nichts mehr, rieb sich die Hände und beobachtete Luks und die Erzieherin.

»Ein schönes Spiel, das sie da spielen«, lobte Luks ihre Arbeit und freute sich. »In dem Alter hören die Kinder noch auf die Erwachsenen.«

»Danke.« Draußen heirateten sich die Viertklässler, ein Paar nach dem anderen. Frau Gerrets stützte ihre Arme in die Hüften und blickte stolz auf ihre Kinder: »Ja, in dem Alter tun sie noch, was man ihnen sagt.«

Zufrieden schwiegen die Erzieherin und der Alte für eine Weile und genossen gemeinsam den ordentlichen Ablauf im Garten. Die Kinder dagegen spielten friedlich, wie es ihnen aufgetragen war. Mit albernen Grimassen und Gekicher gingen sie durch den Rosenbogen und als sie fertig waren, begannen die Kinder durch den Schulhof zu rennen. Schnell hatten sie sich auf der Wiese und zwischen den Bäumen verteilt. Das Spiel der Kinder hatte den Alten und die Erzieherinnen beruhigt.

»Gute Kinder«, bemerkte Luks. Frau Gerrets bedankte sich daraufhin, verabschiedete sich und ging zurück auf den Schulhof.

»Ich hau ab.« Term konnte die selbstgerechte Stimmung nicht mehr ertragen.

»Nicht so schnell.« Luks lag regungslos in seinem schwarzen Sessel. Wie eine Folie auf dem Leder. Genau wie vor Stunden, als er begonnen hatte, Term mit seinen Bildern zu belästigen.

»Meine Zeit für heute ist vorbei. Zwei Stunden muss ich per Gesetz ableisten.«

»Hä Hä. Ableisten nennst du es. Hä Hä. Was glaubst du, habe ich mein Leben lang an Steuergeldern diesem Staat abgeleistet. Da hat mich keiner nachgefragt. Hä Hä … leisten. Das ganze Geld gehört dem System.«

»Ich habe aber gar kein Geld«, erwiderte Term.

»Nein. Aber Zeit … und Zeit ist … Hä Hä.« Luks hatte einen perversen Spaß an dem Vergleich. Term hasste ihn dafür.

Er fühlte sich schuldig. »Du sollst nicht hassen.« Das hatte der papua-neuguineische Priester im Religionsunterricht mit seinem lustigen Akzent gesagt. Das hatte ihm aber auch seine Oma gesagt. Term wollte nicht hassen. Aber er tat es.

»Bring mir meinen Kaffee und Kuchen. Die fünf Minuten länger bringen dich nicht um.« Luks Körper schien auf dem Sessel zu flattern. Anscheinend fand er schon wieder etwas an seinem letzten Satz lustig. Seine verbliebenen Brustmuskeln zitterten und sein Körper wackelte und flatterte. Das war sein Lachen.

»Und Term, schneid mir eine hauchdünne Scheibe von der Butter ab.« Die seltsame Bitte erreichte ihn in der Küche.

Kaffee und Kuchen waren ein schlechter Witz. Koffein würde Luks in seiner medizinischen Verfassung umbringen. Genauso wie der Zuckerschock eines Käsesahnekuchens. Selbst die Glasur eines gesunden Obstkuchens mit frisch gepflückten Beeren könnte ihn unter die Erde bringen. Alles was Term im Kühlschrank fand war eine kleine Kapsel, doppelt so dick und hoch wie sein Daumen, mit der Aufschrift »Kaffee und Kuchen, Dienstag«. Und die Butter.

»Danke, Junge.« Term konnte die Bezeichnung nicht ausstehen »Steck sie an meinen Lebensbaum an. Die gelbe Öffnung ist es.«

»Weiß ich. Das weiß doch jeder. Auf der Kapsel ist auch extra ein gelbes Symbol.« Term war genervt. Die Alten mussten immer alles erklären. Immer und immer wieder. Die Flüssigkeit war braun-weiß und sehr dick. Langsam floss das Geschmacksimitat durch die Schläuche. Wieder beobachtete Term den Alten. Menschen reagierten auf Kaffee und Kuchen. Sein Vater atmete laut und glücklich aus nach einem ersten Nippen. Seine Mutter biss gerne auf frisches Obst. So, dass es knack machte. Seine Oma wurde richtig aufgedreht vor Freude, wenn sie Sahne aß – wahrscheinlich hatte Term seine Sahnesucht von ihr. Jonas, sein Schulfreund, verzog dagegen das Gesicht, wenn er Kaffee trank. »Ist ne bittere Sache, aber die Mädels finden‘s gut. Du lehnst dich an die Mauer, nimmst lässig die Tasse und nickst den Mädels zu.« Term war nicht ganz überzeugt von Jonas‘ Mädelsgeschichten. Der Punkt aber war: Jonas Körper reagierte auf Kaffee.

Luks schluckte nicht einmal. Wie auch. Die braune Brühe floss direkt in seinen Magen … und bald würde sie da auch wieder raus fließen, ohne groß die Farbe zu wechseln.

»Die Butter.«

Term stellte einen Teller mit einem feinen Stück Butter auf Luks Armlehne.

»Verabreiche sie mir.« Gierig sah Luks auf die Butter.

»Butter ist verboten. Die ist nicht gesund für Sie«, spulte Term das Wissen ab, das er bei seiner Einweisung in den Lebensunterstützerdienst hatte auswendig lernen müssen. »Ihr Lebensbaum wird Alarm auslösen, wenn Sie die essen.«

»Nein. Kleinstdosierungen fallen nicht auf. Die Butter!«

»Sie steht doch bei ihnen«, fuhr Term den Alten an.

»Ich kann nicht … reiche sie mir.« Luks drehte seinen Kopf nach Links. Sein stolzer Blick wirkte lächerlich, als er seinen Mund öffnete und hilflos wartete.

Angeekelt nahm Term die dünne Butterscheibe mit den Fingern. Er drückte zu fest zu und sie flutschte ihm aus den Fingern und fiel auf Luks Schulter. »Idiot«, kommentierte Luks sein Versehen. Schnell griff er sie wieder und legte Luks die Butter auf seine vertrocknete Zunge. Speichel und Butter klebten an seinen Fingern und Term eilte angewidert in die Küche, um seine Hände zu waschen.

Im Wohnzimmer lutschte Luks genüsslich die Butter.

Das Ende des Fleischdeputats

»Du hast ihn doch nicht umgebracht! Ich finde den Verdacht der Polizei eine Zumutung.« Seine Mutter war eine schöne Frau. Jedenfalls sagte das sein Vater sehr oft. Auch Lukas, sein Schulfreund, meinte das. Aber für Term war sie einfach seine Mutter. Das Fantastische an ihr war: sie war unkompliziert. Keine langen Reden, keine tausend emotionalen Erinnerungen, wie sehr sie sich wünsche, wie schön es wäre und wie gut es einem selbst täte. Nein, seine Mutter brachte die Dinge auf den Punkt. Ohne Umschweife. Leider setzte sie damit aber auch immer ihren Willen durch. Term mochte zwar nicht immer aufräumen oder Hemden an Geburtstagen tragen, aber dafür trug ihm seine Mutter nichts nach.

»Term, hast du jemanden umgebracht?« Sein Vater stand noch in der Küche, als er die Frage zwischen laufendem Wasser und dampfendem Ofen stellte. »Ah, Mist. Ich habe mir den Finger an der Auflaufform verbrannt.«

Mutter legte ihr Nachrichtenpad weg und schüttelte den Kopf. Dann sah sie mit ihren braunen Augen Term mitfühlend an. Term tippelte mit seinen Füßen auf dem Boden. »Kommst du mit deinem neuen Senior zu Recht?«

»Nein. Er ist ein A …« Seine Mutter sah ihn streng an. Liebevoll oder streng, sie konnte sehr schnell zwischen beiden Stimmungen wechseln, wenn nötig. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

Sein Vater stellte die dunkelblaue Auflaufform auf den Tisch. Sie hatte die Form eines Xes. »Term«, ermahnte ihn sein Vater, während er die Beine des Xes schnitt und Käse-Schinken-Gratin auf den Tellern verteilte. »Du musst lernen mit diesen Aufträgen klar zu kommen. Du sammelst verdächtig viele Mahnungen. Das bleibt doch alles in deiner Akte.«

»Die Akte ist mir egal.«

»Term. Die Akte der AW ist nicht egal. Die Akte bestimmt dein Leben. Geht das in deinen Kopf nicht rein?« Sein Vater strafte ihn wütend mit seinen Blicken. Term verbrannte sich die Zunge.

»Schau Term, das war nicht klug. Dein Vater will nur, dass du daran denkst, was deine Handlungen für Konsequenzen haben. Die Polizei wird bestimmt zweimal nachsehen, weil du so … so wirklich viele und unnötige Ermahnungen hast.« Seine Mutter sorgte sich immer noch wegen des Mordverdachts. Ihre helle Stimme berührte ihn durch seine düstere Genervtheit hindurch.

»Ja. Es tut mir ja leid«, sagte Term leise und etwas komisch. Die Zunge schmerzte noch.

»Du bist doch gar nicht so.« Term nickte.

»Ach er hat doch Recht«, entfuhr es seinem Vater. Das Grau an den Schläfen seines sonst dunkelbraunen Haares erinnerte Term an einen alten Baum, der verwitterte.

»Heinrich?«

»Wenn da nicht die Konsequenzen für sein Einkommen wären, würde ich genauso reagieren.« Sein Vater schnitt das Gratin und aß einen Happen.

»Du bist ja ein schönes Vorbild. Ermutige ihn nur dazu, die Senioren weiter zu ärgern, zu beleidigen. Was hatte er letztens gemacht? Er hat in jede Nahrungskapsel Beta-Carotin gemischt. Heimlich, über Wochen hinweg. Der alte Mann hatte lächerlich ausgesehen. Ein Glück, dass sein Körper das vertragen hat. Ansonsten …«

Bei der Geschichte schien sein Vater beinahe zu grinsen. Zum Glück war die medizinische Seite glimpflich ausgegangen. Term war in der Vorbereitung gewarnt worden, dass jede Nahrungsveränderung zu körperlichen Konsequenzen führen könnte. Aber es war ihm in dem Moment egal gewesen. Er wollte herausfinden, ob der alte Moralbonze orangefarben anlaufen würde. Aber es hätte auch ganz anders ausgehen können, da hatte seine Mutter recht. Wie so oft.

»Schmeckt es dir?«, fragte seine Mutter nach. Term schmeckte wegen der verbrannten Zunge nicht viel, aber es roch gut.

Das Gesundheitsarmband seines Vaters piepte. »Neeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiin. Jetzt schon?«

»Hast du auf der Arbeit Fleisch gegessen? Heinrich?«

»Es war doch nur eine Leberkässemmel.« Echos von Tränen liefen an den Wangen seines Vaters herab. Sehnsuchtsvoll sah er den Schinken im Auflauf an.

Sie haben Ihr Fleischdeputat für diesen Monat aufgebraucht. Sie können bis zum Ersten des nächsten Monates kein Fleisch mehr erwerben und dürfen keines mehr verzehren. Ihr Gesundheitsbetreuer in der Allgemeinen Wohlfahrt ist benachrichtigt. Vergessen Sie nicht: Fleischkonsum beschleunigt den Klimawandel, deswegen wurde er dank dem GNHL stark eingeschränkt. Sehen Sie ihre fleischfreie Zeit als Chance die Welt ein Stück besser zu machen. Als die Computerstimme verstummte, schwiegen seine Eltern. Sein Vater sezierte den Schinken aus dem Auflauf auf seinem Teller heraus. Seine Mutter streichelte seine linke Hand und lächelte ihm mitfühlend zu.

»Ich wäre lieber Mao gefolgt als unter dem Gesetz für nachhaltiges Leben zu existieren«, murrte sein Vater kleinlaut. »Ich esse exakt gleich viel Gramm Fleisch, trinke exakt gleich viel Liter Milch im Monat und habe bestimmt den exakt gleichen Stuhlgang wie jeder 49-jährige Deutsche. Unter Mao konnte man zwar jederzeit zwangsexekutiert werden, aber wenigstens konnten sich die Kommunisten noch besaufen und überfressen.«

»Können wir nach Brasilien fliegen? Einfach mal Urlaub machen?« Traurig stocherte seine Mutter mit der Gabel im Gratin herum. Term fühlte sich sofort schuldig, er wusste, wie gerne sie verreiste.

»Ausgeschlossen, Term. Das Geld haben wir nicht so locker.«

»Wieso denn nicht? Ihr arbeitet beide.«

»Das habt ihr wohl in der Schule noch nicht drangenommen … Du kennst doch das System, dass jeder Jugendliche ab seinem zwölften Lebensjahr als Lebensunterstützer arbeiten muss. In dieser Zeit kannst du dir für deine Rente Zusatzpunkte erarbeiten. Wenn du nicht ordentlich arbeitest oder die Alten beleidigst", Vater hob seine Augenbrauen, »dann bekommst du weniger oder nichts für deine Rente gutgeschrieben. Wenn du ins Arbeitsleben eintrittst, ist dein Guthaben bei null, plus all die Boni … bei dir eher die Mali, die du dir bereits in der Jugend erarbeitet hast. Bei uns Erwachsenen im Arbeitsleben gab es früher mal den Tag des Steuerzahlers. Der sagte aus, bis wann man im Jahr für den Staat arbeitete und ab wann man den Lohn für seine Arbeit für sich behielt. Das war so …«

»Juni. Aber nach der Staatsschuldenkrise, dem Ausbau der Gesundheitssysteme, der Sozialsysteme und der Glückssysteme für alle Bereiche des Lebens sprang der Tag auf September. Wanderte mit der Gründung der Allgemeinen Wohlfahrt in den November und als er auf dem 31. Dezember lag wurde es verboten, über diesen Tag zu reden oder zu schreiben.« Mutter wusste solche Details immer besser als sein Vater.

»Genau. Damit dieser Garantie- und Absicherungsstaat noch irgendwie funktioniert, arbeitet man jetzt sein Leben für die Sicherungssysteme und kurz vorm Ende für sich. Ich muss bis ich 55 bin für den Staat arbeiten, dann hab ich noch die verbleibenden Jahre, um nur für die Altersabsicherung zu arbeiten. Ohne die Boni aus der Jugend hat man keine Chance auf etwas Zeit, bevor man an einen Lebensbaum angeschlossen ist.« Sein Vater warf wütend die Gabel auf den Teller und stützte seinen Kopf auf das Kinn. Term war erschrocken, er sah so gebrochen aus.

Das machte Term noch wütender. »Dann verkaufen wir das Auto. Dafür bekommen wir bestimmt drei Tickets. Wir müssen ja nicht zurückfliegen.«

»Term!« Doch er ließ seine Mutter nicht zu Wort kommen.

»Ich werde dort sofort arbeiten. Das Geld gebe ich euch, damit wir alle gut auskommen.« Term sah sich schon unter der Sonne Brasiliens in einer Bar aushelfen. Wenn er dann 18 war, würde er Elektromechaniker werden und in einer lauten Nebenstraße täglich die E-Wagen reparieren. Abends dann kühlen Limettensaft trinken und zum Tanzen in den Club gehen – in den Club Celecao oder in die Bar Dragao oder im Calido oder wie sie hießen. Seine Eltern würden in Brasilien bestimmt Jobs finden. Sie hatten beide sehr gute Abschlüsse. »Ihr beiden könntet abends Cocktails trinken gehen. Zusammen Tanzen. Nicht wie hier, wo ihr müde nach Hause kommt und nur eure Zeit ableistet.«

»Term. Es ist genug.« Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr Mutters Augenbrauen aus Sorge zusammengewandert waren.

Term warf die Gabel in seinen Auflauf. Der Stuhl schabte laut über den Boden, als er wütend den Tisch verließ. Sein Vater schimpfte. Seine Mutter bat ihn, wenigstens doch etwas zu essen. Hunger müsse er doch haben! Er hatte keinen Bock auf das Minimum. Wenigstens zusammen zu sein, als Familie am Tisch. In solchen Momenten nervten ihn seine Eltern gewaltig. Sie dachten nur an den Alltag. An das, was zu tun war, was sich gehörte und worüber er nachdenken sollte. Und dann? Wollten seine Eltern nicht auch leben? Nicht einfach nur funktionieren?

Er schlug die Tür nicht zu. Theatralik lag ihm nicht. Seine Wutausbrüche verunsicherten ihn selbst schon genug. Das am Tisch war aber keiner seiner unkontrollierten Wutausbrüche gewesen, sondern einfach nur Ärger mit den Eltern.

Terms Zimmer war voll und eng. Es glich einem Urwald aus alten Zeitschriften und ein paar Büchern. Nicht mehr viele, die meisten las er elektronisch. Aber manche alten Ausgaben waren anders nicht zu bekommen. Vor allem die Naturkunde- und Reisezeitschriften. Er kaufte sie für wenig Geld online oder bei Hausräumungen. Deswegen roch es in seinem Zimmer manchmal muffig. Viel altes Papier auf einem Fleck produzierte eine abgeschmackte Luft. Er kippte deshalb immer sein Fenster. Auf den Zeitschriften, die unordentlich auf dem Boden und in den Regalen herumlagen, standen elektronische Bilderrahmen. Fotos von Urwäldern, Bergen und Küsten wechselten sich ab. Die Bilder gingen sanft ineinander über und verstrahlten ein leichtes blaues oder grünes Licht.

Term warf sich in sein Bett und starrte an die Decke. An der Decke hing sein Lieblingsposter. Es zeigte das Nachtleben von Rio de Janeiro. Term verlor sich in seinen Gedanken. Bei diesem fantastischen Poster ging das in Sekundenschnelle. Auf dem Gehsteig neben ihm tanzte ein brasilianisches Pärchen wild und leidenschaftlich. Ihr roter, geknitterter Rock flatterte laut in der Luft. Ein Cocktailverkäufer und er stießen freundlich zusammen. Die kantigen Gläser klirrten. Er war doch fast siebzehn. Wen kümmerte es? Überhaupt, wen kümmerten Regeln und Vorschriften, wenn man durch die Straßen Rios ging? Kleine Mopeds schossen an ihm vorbei, hupten, überholten sich und bogen scharf ab. Term schmeckte das Benzin in der Luft. Alle Menschen dort waren mit Leben beschäftigt, mit Lachen, mit Geld ausgeben, für das, was das Herz gerade begehrte. Hier gab es keinen Sparzwang und keinen Nahrungs- und Konsumplan für die nächsten 365 Tage. Die Nacht lebte in Rio und die Bewohner Rios lebten in der Nacht. Unter ihnen Term.

Der 99. Geburtstag

Wenn er jetzt Luks mit voller Wucht … ach mit einem leichten Kick von der Seite gegen die Schultern treten würde, müsste er nicht zum Geburtstag. Term wollte ihn wegkicken, allein damit er nicht neben diesem alten Monster stehen würde, das ihn ständig zu Recht wies und korrigierte.

»Nä«, krächzte Luks, »wir können stolz sein auf unser System. Niemand hungert und die Busse und Bahnen sind pünktlich. Das schaffen die meisten Länder in Afrika immer noch nicht.« Term hatte dem Scheusal auf seine Frage, wo er hinreisen wolle, ehrlich geantwortet. Sofort erhielt er Belehrungen von Luks, der sein Leben lang die Welt bereist hatte. Etwas, das Term niemals möglich sein würde. »Fahr nach Portugal, Griechenland oder hoch nach Dänemark und du wirst einen schönen Urlaub erleben. Dort gibt es keine bösen Überraschungen und nur Essen, das vorher auch nach ökologischen und gerechten Kriterien zertifiziert, geprüft und zubereitet wurde.«

»Dort gibt es auch keine guten Überraschungen«, entgegnete Term. Der Tritt hätte ihn ins Gefängnis gebracht. Bei einem so alten Menschen konnte die leichteste Erschütterung an Schulter, Torso oder sonst wo zu gebrochenen Rippen und Hüften führen. Die uralten Knochen mussten morsch wie gammlige Sumpfäste sein. »Sie waren schon lang nicht mehr in Afrika. Dort haben die Menschen …«

Ein kühler Lufthauch entwich aus dem Bus, der leise wie eine Schnecke an die Haltestelle gekrochen war. Term konnte ganz schwach die Kompressoren hören, als der Bus standardmäßig auf Gehsteigniveau abgesenkt wurde. Zwischen Bus und Bordstein presste sich fester, schwarzer Plastik-Elastostoff. Schnell wie ein Airbag schoss er unter der Eingangstür hinaus und füllte die gefährlichen Stolperlücken.

»Dort haben die Menschen noch quietschende Busse. Die sind erbärmlich laut und die Luft verpestet. Es kostet einen bestimmt ein gutes halbes Jahr an Leben, wenn man sich in Afrika oder Asien aufhält. Das kann die AW nicht kompensieren und daher ist es zu Recht verboten. In diese Länder reisen ist ja wie freiwillig Gift essen und atmen. Wer macht das schon?« Luks schob seinen Lebensbaum in den Bus und setzte sich auf die Unterstützungsplätze. Dort stöpselte er seinen Lebensbaum an die Energieversorgung an und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er sah aus, als wäre er tot.

»Früher wäre ich die Strecke gerne mit meinem Auto gefahren. Wir wären in einer Viertelstunde bei Jacqueline. Ich hatte einen Ferrari. Der war lang und knallrot. Die Zylinder haben eine unglaubliche Kraft entwickelt. Junge, bist du schon mal 200 km/h gefahren?«

»Nein. Ist verboten.«

»Wann ist denn das passiert?« Luks klang ehrlich überrascht. Aber nicht überrascht genug, um eine Regung in seinem Gesicht zu produzieren. Term war sich nicht sicher, ob das seine Gesichtsmuskeln überhaupt noch hergaben.

»Bei hohen Geschwindigkeiten ist der Schaden an den menschlichen Körpern bei einem Unfall zu hoch. Sie wissen schon, dann kann man keine Organe mehr retten.« Term blickte aus dem Fenster. Sie würden für die kurze Strecke eine gefühlte Stunde brauchen. Aber der Bus durfte nicht schneller als 30 km/h fahren, da er fast ausschließlich von alten Menschen genutzt wurde. Außerdem dauerte das Ein- und Aussteigen. Es dauerte.

»Hä … klingt vernünftig.« Dann knickte Luks Kopf nach vorne und er öffnete mühsam seine Augen. »Vernunft ist wichtig. Der Verbrauch meines Ferraris war zu hoch. Auch der Lärm war zu hoch und für die Materialien wurde … wurde irgendein Volk irgendwo ausgebeutet. Das war schon okay, dass die von der Partei Sportwagen verboten haben.« Luks klang, als wäre es überhaupt nicht okay gewesen. »Nicht einmal einen Kleinwagen durfte ich mehr fahren. Nur diese Mini-Elektromobile, bei denen die Route vorher einprogrammiert wird. Zeitung soll man dann lesen oder das Mobi-TV schauen. Das ist doch kein Autofahren. Da, schau sie dir an.«

Am Bus flitzten ein paar Mini-Es vorbei. Wie kleine silberne Fische machten sie einen engen Bogen um den dicken, dunklen Bus, der sich wie ein Wal durch die Wohngebiete schob. Term mochte die Fahrzeuge. Wenn man den Bordcomputer ausschaltete, konnte man die Mini-Es sogar selbst steuern. Das machte Spaß … war aber nicht erlaubt. Er zuckte Luks gegenüber die Schultern, er hatte diesen Verbots- und Besserwisserwahn nicht begonnen. Luks tat ihm nicht leid. Term kannte es nicht anders.

»Wie lang muss ich denn bei Ihnen bleiben?« Seine Blicke folgten den kleinen Flitzern, die jetzt vor dem Bus fuhren. Würden sie noch schneller fahren, würden die Kameras sofort ihre Geschwindigkeitsübertretung aufzeichnen und ein paar Stunden später eine elektronische Nachricht an den Postkasten der Fahrzeughalter senden.

»Bis die Feier vorbei ist.«

Jetzt legte Term den Kopf in den Nacken und stöhnte laut. »Feier? Sie werden Kuchenkapseln zu sich nehmen und über längst vergangene Zeiten reden, als Sie noch laufen und lachen konnten. Wenn Sie sich überhaupt noch an alles erinnern können.«

»Du hast gerade mal 16 Jahre in deinem Kopf gespeichert und schon die ersten vier bis sechs Jahre verloren. Die Babyjahre verliert der Mensch immer zuerst. Warte ab bis du acht oder neun Mal so viele Erinnerungen hast.«

»Ich hätte lieber Erlebnisse als Erinnerungen.« Luks gab nur ein verächtliches »Hä« von sich.

Term war der erste aus dem Bus. Er sprang über den schwarzen Plastik-Elastostoff und half Luks beim Aussteigen. Die drei silbernen Flitzer hatten auch gehalten. Term beobachtete, wie eine gläserne Seitentür nach oben klappte und ein Mädchen in seinem Alter sich athletisch mit den Beinen voran aus dem Wagen schälte. Sie war etwas über einen Meter achtzig groß, trug einen silber-glänzenden Jeansrock und ein schwarzes Oberteil. Ihre feinen, schwarzen Haare gingen ihr bis zu den Schultern und waren gestylt. Term musste an die Federn eines Raben denken. Das Mädchen steckte ihren Kopf zum Abschied in die Fahrertür und ging dann zielstrebig auf ein großes Restaurant zu.

Das Restaurant »Zum Liliengarten« war ein breites, einstöckiges Gebäude mit zwei Flügeln an der Ost- und Westseite. Es war weiß gestrichen und hatte großzügige Fenster, die von hellem Holz umrahmt waren. Die Kellner trugen weiße Handschuhe und dunkle Jacketts. Ihre Augenbrauen waren genauso gerade wie ihre schmalen Münder. Die Geburtstagsfeier war leicht zwischen den wenigen älteren Pärchen zu finden, die hier still wie Statuen vor sich hin aßen.

»Gabriela. Du siehst so gesund aus wie vor zehn Jahren«, versuchte Luks sich in einem Kompliment.

Die Angesprochene war tatsächlich die vitalste aller Anwesenden. Term wusste, dass sie auf die hundert Jahre zu ging, da er die Einladungskarte gesehen hatte. Von ihrem Gesicht her hätte er es nicht erschließen können. Auch nicht von ihrem Gang. Sie bewegte sich wie eine gesunde 75-Jährige. Das war beachtlich. Ab der 90 spätestens schob die Mehrheit der Senioren Rollatoren oder einen Lebensbaum. Aber Gabriela in rotem Blazer und gelockten braunen Haaren zeigte nicht die offensichtlichen Folgen des Alters.

»Raphael. Schön, dass du dein Home-Entertainment-Studio für mich verlassen hast. Das ist ja eine richtige Ehre.« Nach einer äußerst vorsichtigen Umarmung, ohne dass sich beide tatsächlich berührten, setzte sich Luks zur Gesellschaft.

»Nun sag schon, wie machst du das?«, bohrte Luks mit seiner üblichen Penetranz nach.

Stolz hob Gabriela ihr linkes Armgelenk und schob den Ärmel des roten Blazers nach unten. An ihrem Unterarm blinkten grüne und gelbe Lichter. Der dürre Knochen, der ihr Arm eigentlich war, wurde von silbernem Metall und grauem Plastik eingefasst. Es war ein überdimensionaler Unterarmreif, der vom Handgelenk bis zum Ellenbogen mit ihrem Arm verschmolzen war. Ein Raunen ging durch die versammelten Gäste, ein sehr leises.

»Ein ElderCareManager, oder ECM. Dieser schicke Armreif regelt all meine Körperfunktionen. Jede Nahrungsaufnahme, jeder Stoffwechsel … einfach alles wird gespeichert und ausgewertet. Jede geringfügige Änderung bis hinunter zum Sauerstoffgehalt und den Enzymen wird so gehalten, als wäre ich 75. Das Gerät macht im Endeffekt dasselbe wie eure Lebensbäume und die täglichen Scans, nur rund um die Uhr. Dadurch, dass der ECM mit meinen Nervenbahnen und Blutbahnen verbunden ist, bekomme ich noch genauere Daten geliefert und die Software reagiert sofort. Im ECM sind genug Medikamente und Stoffe für eine Woche gespeichert. Ich habe tatsächlich dieselben Biowerte, wie mit 75 Jahren. Ist das nicht fantastisch?«

»Aus dem Weg.« Neben ihm stand das schwarzhaarige Mädchen. Ihre schmalen Augen blickten ihn angenervt an. Term sprang zur Seite.

»Aber ich habe kein Alzheimer.« Das sonderbare Mädchen schob eine alte Dame zum Tisch, ohne auf Term Rücksicht zu nehmen.

»Sicher, Frau Gonelli.« Das Mädchen hatte eine schöne Stimme, aber sie klang flach wie ein Stein, den man übers Wasser springen ließ. Sie betonte wenige Vokale, aber diese besonders.

»Ich hatte immer ein anderes Mädchen …«, schnell wurde die alte Dame im Versorgungsstuhl unterbrochen.

»Frau Gonelli freut sich heute hier zu sein. Der Motor muss ausgefallen sein, deshalb habe ich sie hergebracht«, ergriff das Mädchen das Wort. Gabriela nickte freundlich und deutete auf eine Lücke am Tisch.

»Ich könnte schwören, dass er heute Morgen noch ging.«

»Ja, ja, Frau Gonelli. Manchmal geht ein Teil kaputt und schon geht nichts mehr. Aber dafür haben Sie ja mich.« Term beobachtete fasziniert wie das Mädchen die alte Frau mit breitem Mund anstrahlte und den Kopf leicht zur Seite neigte.

»Aber ich kenne die Menschen hier gar nicht«, versuchte es die alte Frau erneut.

»Wen bringst du mir da, Mädchen«, wollte die Jubilarin wissen. Ihre grauen Augenbrauen schwangen nach außen und dann über ihrer Nase nach oben und sie funkelte das sonderbare Mädchen an.

»Erinnern Sie sich nicht mehr an Frau Gonelli, Frau Peskic«, entgegnete ihr das Mädchen selbstbewusst.

»Nein, ich kenne alle meine Freunde«, verlautete sie in einem herablassenden Ton und sah die Gesellschaft am Tisch mit einem aufgesetzten Seufzen an. »Kind, du musst bei deinem Lebensunterstützerdienst sorgfältiger sein.«

»Frau Gonelli hat mit Ihnen in der Lübecker Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Sie war zwei Zimmer neben ihnen. Zehn Jahre lang.« Mühsam nahm Frau Peskic ihr Kinn nach unten und zwang ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.

»Frau Gonelli, so schön, dass Sie an mich gedacht haben.« Frau Gonelli wurde mit einer Umarmung beschwichtigt und als Geburtstagsgast aufgenommen.

Das Mädchen ging zu Term, der aufhörte der Geburtstagsgesellschaft zuzuhören. Jemand am Tisch bemerkte, wie schön der ECM-Armreif gestaltet worden sei.

»Verwandt oder verpflichtet?« Der Mund des Mädchens war schmal und aus der Nähe wirkte ihr Haar wie Federn, die über ihren Ohren tanzten. Als Term nicht sofort reagierte, wiederholte sie ihre Frage.

»Der alte Sack mit den langen Fingern, der neben dem sitzt, bei dem sich die Lippen unabhängig vom Gesicht bewegen«, beschrieb Term die Sitzanordnung.

»Ein Lippenzitterer meinst du. Dein Zombie sieht mit seinem langen dünnen schwarzen Mantel wie eine Mischung aus Rachegeist und Comicfigur aus. Diese Dienstaufgaben sind doch große zermscheiße. Ich hasse sie dafür, dass sie mir meine Zeit klauen.« Term sah sie baff an, ihre kalte Wut ließ ihn die Schultern hochziehen.

»Sag das nicht so laut. Bist du wahnsinnig. Denk an die Strafen.«

»Pff, das ist mir scheißegal. Dir etwa nicht?« Ihre dunklen Augen warteten.

»Nun …«, eigentlich nicht, dachte sich Term. Tatsächlich war sein Vergehenskonto sowieso schon im roten Bereich. Es schien, als könne er die Unbekannte damit beeindrucken. Deshalb sagte er, »… für mich ist es eh schon zu spät. Niemand hat mehr Maluspunkte als ich.«

Sie nickte. Als er sie nach ihrem Namen fragen wollte, warf sie einen Blick auf den leeren Tisch und sagte: »Dann lass uns diesen Zeitdieben mal ein scharfes Geburtstagsfest bereiten.«

»Warte. Kennen sich diese Frau Gonelli und Peskic wirklich?«

»Nein.«

Sie zwinkerte ihm mit dem rechten Lid zu. Dann wandelte sich ihr Gesicht in das eines unschuldigen Mädchens, das in einer Zahnpastawerbung hätte lächeln können. Ganz süß strich sie sich eine Strähne hinter die Ohren, wandte sich an die Gesellschaft und fragte dann die alten Menschen, ob sie denn ihre Geburtstagstorte haben wollten.

»Oh ja, gerne. Ihr könnt alles hereinbringen.«

»Ich habe nicht so viel Glück mit meinem Lebensunterstützer. Der Junge ist unhöflich, widerspenstig und zu wirklich nichts nutze. Dreimal, mindestens, muss ich ihm einen Auftrag geben, bis er seine Sache auch wirklich ausfüllt.« Luks wurde bemitleidet. »Dann gibt er auch noch Widerworte – könnt ihr euch das vorstellen?«

»Warum lässt du dir kein anderes Kind zuteilen. Es steht dir zu«, bemerkte Gabriela. »Was hat das Kind schon geleistet? Geschweige denn der Gesellschaft zurückgegeben? Derweil sind es wir 100 bis 120-Jährigen, die dieses Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Wir haben den perfekten und weltweit einmaligen Wohlfahrts- und Gesundheitsstaat geschaffen. Gerechtigkeit zwischen den Generationen sollte diesen undankbaren Jugendlichen in der Schule beigebracht werden. Glauben die, es fällt alles vom Himmel? Dafür sollte extra ein Schulfach eingerichtet werden!«

»Das gibt es schon … Ökologie und Gerechtigkeit heißt das glaube ich. ÖK sagte mein erster Lebensunterstützer immer. Aber das ist nicht so einfach. So viele Kinder gibt es auch wieder nicht zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Dann dürfen sie wegen des ökologischen Fußabdrucks ja nicht weiter als 45km entfernt wohnen.«

»Wohl wahr, wohl wahr«, murmelte es wie in einer Kirchengruft.

»Da gibt es eine Ausnahmeregelung. Ein Kind aus dem Umland kann zum Dienst in die Stadt beordert werden, wenn wirklich kein anderes frei ist. Jedem von uns steht per Gesetz ein Lebensunterstützer zu. Es ist auch verboten ohne Unterstützer durch das Alter zu gehen, damit die nachwachsende Generation auch gleich und gerecht ihren Dienst leistet.« Für die wenigen Sekunden, in denen Luks Sitznachbar sprach, zitterte seine Lippe nicht. Seine Hände ruhten auf seinem dicken Bauch.

»Ich musste ihn nehmen, da kein anderes Kind frei war. Er wird des Mordes verdächtigt.« Luks wurde noch mehr bemitleidet und genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Wenigstens für einen Moment hatte er Gabriela die Show gestohlen.

»Es ist ganz und gar nicht gerecht, dass wir unser Leben lang arbeiten und diese verzogenen Kinder meinen, sie müssen nichts zurückgeben. Das bisschen Pflege, pah. Sie sollten es als Geschenk verstehen, Zeit mit uns zu verbringen und von unserer Lebenserfahrung zu lernen …«, Gabriela schimpfte sich wieder in die Mitte der Aufmerksamkeit zurück.

»Lass uns gehen.« Das Mädchen mit den schwarzen Haaren ging zielstrebig zur Küche. Term hatte sich noch gar nicht im Restaurant umgesehen, während sie offenbar alles im Blick hatte.

»Wieso müssen wir das machen? Wieso müssen wir überhaupt hier sein? Es gibt doch Kellner.«

»Sei nicht so weinerlich.« Das brachte ihn sofort zum Verstummen. »Diese Aufgaben sind doch nur ein Vorwand des Systems. Diese Handgriffe könnten auch von Maschinen erledigt werden, teils sogar von den Alten selbst. So immobil sind diese Zombies nicht. All diese belanglosen Arbeiten sollen uns vertraut mit den Alten machen. Blumen gießen, Nahrungspillen in die Lebensbaum werfen oder mit ihnen fernsehen. Sie erzählen dir von ihrem Leben und wenn was schiefläuft, haben wir Lebensunterstützer in der Regel auch dieselbe Blutgruppe wie unsere Alten. Nur für den Notfall. Hauptsache sie haben das Enkel-Gefühl, da sie dann geistig gesünder altern. Dafür sind wir da, denn das Management der biologischen Alterung liegt ja bei der AW.«

»Das Gefühl Kinder und eine Familie zu haben, ist besser als jede Pille.« Sie sah ihn kurz an. »Dann lass uns mal die Torte holen.«

»Seid ihr die Lebensunterstützer der Gesellschaft Gabriela Peskic?« Sie nickten dem hochgewachsenen Kellner zu. »Bloß nicht runterwerfen.« Der Kellner stellte eine echte Sahnetorte vor ihnen ab. Sie sah schmackhaft auf. »Finger weg!« Der Kellner schlug Terms Hand weg.

»Du hattest nicht wirklich vor, von der Torte zu naschen?«, fragte ihn das Mädchen ungläubig.

»Wieso nicht, mir doch scheißegal, was die Alten sagen. Hast du das nicht auch gesagt?« Sie lächelte.

»Kinder, benehmt euch! Der Liliengarten ist ein angesehenes Restaurant. Kann ich mich auf euch zwei jetzt verlassen oder soll ich sie rüberbringen?« Der Kellner hatte noch Servietten und einen Tortenheber dazu gelegt.

»Sie können sich auf uns verlassen«, reagierte das Mädchen umgehend. Als der Kellner weg war, holte sie mehrere kleine, weiße Kapseln aus einer Tasche in ihrem Rock. »Diese Torte ist nicht für dich, Term.«

»Sind das Essenskapseln?«

»Ja. Nimm welche … ich dachte, es gibt keinen echten Kuchen. So ein Mist, aber hier schau.« Sie nahm sich einen kleinen Löffel vom Tisch, piekte mehrere Löcher in die Mitte des Kuchens. Ungefähr dort, wo die Spitze eines Kuchenstücks sein würde, wenn er angeschnitten wurde.

»Mach eine Kapsel auf und lass den Inhalt in das Loch fließen.«

»Was ist da drin?«

»Schnell«, zischte sie konzentriert. Zwei Kapseln hatte sie schon so in die Torte eingearbeitet. »Ist eine kleine Aktion, um es den undankbaren Kommandeuren heimzuzahlen.«

»Aber ich kenn die doch alle nicht …«

»Wenn du nicht mitmachen willst, dann halt die Klappe.« Ihre Wangen waren rot, sie war wütend und hatte Angst bekommen, entdeckt zu werden. »Was kümmern dich die alten Säcke? Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein Schwachmaten-Programm bist.« Warum hatte sie erwartet, dass er anders reagieren würde, fragte sich Term.

Er knickte die Kapsel entzwei. Die Beleidigungen des Mädchens wirkten wie Befehle auf Term. Weiße Sahnemasse tropfte in ein Loch. Dann füllte er noch ein Löffelloch. Gekonnt verstrich das Mädchen die obere Tortenschicht. »Fast perfekt, denn die vordere Spitze wird immer gegessen.«

Jetzt grinste sie ihn breit an. »Das wird ein Spaß.«

Die Geburtstagsgesellschaft war begeistert. Ein echter Kuchen, keine Kapseln. Die Augen der Anwesenden wurden größer, als Gabriela den Kuchen anschnitt. Nur das erste Stück, den Rest durften Term und das Mädchen verteilen.

»Er ist so echt wie möglich. Selbstverständlich Laktose-, Gluten und Zuckerfrei. Der Kaloriengehalt eines Stückes entspricht in etwa dem eines Teelöffels Erbsen. Ihr könnt ihn bedenkenlos essen.« Es raunte wieder am Tisch. Einige bedankten sich.

»Was haben wir da reingetan?« Term versuchte keine Aufregung zu zeigen. Nervös sah er eine Uhr über den Tischen an.

»Konzentriertes Wasabi.« Das Mädchen klang stolz. »Das Wasabi ist geschmacksneutralisiert worden. Man kann es nicht schmecken. Es ist nur die Schärfe geblieben.«

»Das ist nicht dein Ernst.« Langsam drehte er sein Gesicht zu ihr. Fröhlich strahlte sie ihn an. Der Moment fühlte sich wie in einem Comic an: Als würde gleich etwas richtig Witziges passieren, ein Clown aus der Torte springen oder ein großer Ambos vom Himmel fallen. »Hast du jemals darüber nachgedacht, dass einer daran sterben könnte? Schock, erhöhte Herzfrequenz … was weiß ich, ich bin kein verdammter Doktor.«

»Term.« Er war völlig überrascht, dass sie seinen Vornamen benutzte. Woher kannte sie ihn? »Von Wasabi stirbt man doch nicht.« Aber in ihrer Feststellung klang eine leise Frage mit.

Bevor Term weitersprechen konnte, explodierte ein Konzert aus elektronischen Warnsignalen. Gabrielas ECM fiepte wie eine gefangene Maus, Luks Lebensbaum blinkte rot und andere schrille Warnsirenen brachen aus den technischen Geräten an den alten Menschen hervor. Ein alter Herr röchelte um Hilfe. Luks spuckte das Stück Torte aus. Hilflos stürzte eine Dame ein Glas Wasser hinunter. Flüssigkeit tropfte an ihrem dürren Kinn herab und sie schien Feuer spucken zu wollen. Panisch drückte Gabriela Tasten auf ihrem ECM. Kellner standen hilflos bei der Geburtstagsgesellschaft. Keiner traute sich, die würgenden und hustenden Alten anzufassen, denn ein falscher, zu starker Griff war gefährlich. Erst recht traute sich niemand, den Lebensbäumen und Maschinen Befehle einzugeben, denn das durften nur ausgebildete Pfleger und Ärzte.

»Luft …« Eine Rentnerin zwang das Wort aus ihrer Kehle, dann fiel sie nach vorne mit dem Gesicht auf ihr Stück Torte. Entsetzt betrachtete Term die alte Frau. Kurzes, weißes Haar hing über ihre Ohren und verklebte mit dem weißen Tortenbelag.

»Von wegen, davon stir…«, wollte er das Mädchen anschreien, aber sie war verschwunden. Schnell schluckte er seine letzten Worte hinunter. Er wollte nicht verdächtig wirken. Er drehte Luks Stuhl zu sich und überprüfte seinen Alten.

»Luks. Sind Sie in Ordnung?« Raphael Luks saß ganz entspannt in seinem Stuhl und betrachtete seine Umgebung argwöhnisch. Das Zappeln und Hilfesuchen seiner Tischnachbarn ließ ihn kalt. Es interessierte ihn, wie ein Botaniker ein misslungenes Beet studierte. Er wirkte gelangweilt und verächtlich zugleich.

»Gabrielas Kuchen war wohl nicht richtig zubereitet. Geschieht ihr Recht, diese hochnäsige Schlange.« Sprachlos sah Term seinen Alten an. Luks wollte nur die Niederlage seiner »Freundin« auskosten. Term überblickte die um Luft und Fassung kämpfende Geburtstagsrunde. Kannten sich die versammelten Alten hier überhaupt? Oder war das Treffen nur wie eine Singstunde, eine Stunde Fremdsprachenunterricht oder ein Ausflug zu einem Restaurant auf dem Land. Waren sie Freunde?

»Alle weg vom Tisch! Ihr da drüben, macht die Glastüren im Wintergarten auf. Wir werden alle auf Liegen abtransportieren.« Der Notarzt trat souverän auf und gab knappe Befehle. Die Kellner rannten sofort zu den Fenstertüren und rissen sie auf. Term stellte sich an die Wand und beobachtete das Geschehen. Es hatte knapp fünf Minuten gedauert, schon waren drei hochmoderne Krankenwagen vor dem Restaurant aufgefahren. Zwei waren vom staatlichen Gesundheitswesen, das erkannte Term an ihrer roten Aufschrift. Der dritte Wagen war blau-grün lackiert und das neuste Model der Notfallserie. Die großen Hintertüren waren aufgeschwungen. Das Wageninnere bestand aus einem massiven silbernen Block medizinischer Geräte mit einer rechteckigen Öffnung. Term musste an die Form eines Sarges denken. Im Inneren der rechteckigen Aushöhlung waren Sonden, Schläuche und Sensoren zu erkennen. Die zwei Notärzte in den grün-blauen Uniformen schoben Gabriela Peskic durch den Biergarten und dann in die Öffnung des Krankenwagens. Sie verschwand in der Öffnung wie ein Sarg im Leichenwagen und dann knallten die Wagentüren zu. Mit einem Heulen verschwand der erste Wagen.

»Packen Sie den Kuchen ein und geben Sie ihn meinen Kollegen. Der muss in die Toxikologie.« Der nächste Befehl für die Kellner wurde ebenso schnell ausgeführt. »Zur Sicherheit werden wir sie auch mitnehmen, Herr Luks. Bis Ihre Werte wieder normal sind«, entgegnete der Notarzt Luks‘ Protesten.

»Du bist der Lebensunterstützer des Herrn Luks?« Der Notarzt kaute Kaugummi und klang so aufgeregt wie eine Schildkröte. Die vielen Einsätze hatten ihn ruhig werden lassen. Sehr ruhig und abgebrüht. Term nickte. »Du hast ab jetzt frei. Wenn Herr Luks aus der Klinik entlassen ist, geht dein Dienst weiter. Genieß deine Freizeit.«

Dann fuhren die restlichen zwei Krankenwagen davon. Die Kellner schlossen die Türen wieder, räumten den Tisch auf und deckten ihn neu.

»Wer hat den Kuchen gebacken«, verlangte der Chef zu wissen, der mittlerweile aus seinem Büro herausgestürzt war. Die Krankenwagen waren fast genauso schnell wie er gewesen, da die Werte schneller an die Gesundheitszentrale übermittelt wurden, als die Betroffenen vor Ort die Veränderung in ihrem Kreislauf spürten. Als der Mund und Rachen der Alten zu brennen begonnen hatte und das Herz losraste, waren die Biosignale bereits in der AW eingegangen und hatten Alarm geschlagen. Während der Restaurantchef noch die Speisekarte für den nächsten Tag geplant hatte, waren die Notärzte bereits in den Wagen gesprungen und losgefahren. Der Chef hatte erst zwei Minuten später von seinem ersten Kellner erfahren, was im Restaurant los war. Als er dann aus der ersten Etage hinuntergeeilt war und sich ein Bild gemacht hatte, war die Tür schon aufgeschwungen und der Notarzt hatte das Kommando übernommen.

»Der wurde geliefert.« Die Erleichterung standen Chef und Angestellten ins Gesicht geschrieben.

»Entschuldigen Sie. Haben Sie das Mädchen gehen sehen?« Planlose Gesichter sahen Term an. »Das Mädchen, das mit mir hier war?«

»Muss wohl mit im Krankenwagen sitzen. Keine Ahnung, sie war doch die Lebensunterstützerin der Dame mit Alzheimer«, antwortete ihm der Kellner.

Term bedankte sich und verließ das Restaurant. »Genieß deine Freizeit«, hatte der Notarzt gesagt. Aber das mysteriöse Mädchen ließ ihm keine Ruhe. Die alte Dame sah aus, als ob sie erstickt worden wäre. Wenn rauskam, dass Term den Kuchen manipuliert hatte, würde ihn Polizeikommissar Berg eines zweiten Mords beschuldigen. Nein, Term konnte seine Freizeit nicht genießen. Er musste dringend das Mädchen finden.

Rebellisches Verhalten

»Verlassen Sie mein Haus«, brüllte Terms Vater Polizeikommissar Berg an. Term hatte seinen Vater noch nie so zornig gesehen, oder laut schreien gehört. Seine Brust pumpte sich auf und er war aufgestanden. Die Fäuste stemmte er mit den Knöcheln auf dem Esstisch ab.

»Sie haben einen Fleck auf Ihrem Teppich. Funktioniert Ihr Reinigungsroboter nicht?«

»Der Teppich ist aus Marokko und nicht nach DIN hergestellt. Der Roboter hat kein Programm dafür und nimmt zu viel Reinigungspulver. Daher verstaubt der Roboter in der Kammer«, erklärte sein Vater.

»Marokko? Wann sind Sie denn dort gewesen?«

»Bevor die Reiseverbote für Länder erlassen wurden, in denen die Frauenrechte und der Naturschutz nicht nach unserer Norm beachtet werden. Diese verfluchte scheinheilige Politiker-Brut …«, entwich seinem Vater der Zorn.

»Also daher scheint Ihr Sohn seine Wutanfälle zu haben«, bemerkte der Polizist unbeeindruckt. Vor Berg hätte auch ein wilder Bär stehen können. Der kleinwüchsige Wachtmeister strich sich über seinen dunkelbraunen Stoppelbart.

»Heinrich. Setz dich. Nimm einen Schluck Wasser«, ruhig stellte seine Mutter ihrem Mann ein Glas Wasser auf den Tisch. Niemand beachtete das Glas. Term saß stumm am Tisch und hatte die Schultern nach oben gezogen. Berg hatte gerade die Vermutung geäußert, Term hätte die Vergiftung der alten Menschen im Restaurant »Zum Liliengarten« verursacht.

»Setzen Sie sich, Polizeikommissar Berg. Bitte«, sagte seine Mutter nachdrücklich mit der Stimme, die Term an einen massiven Felsen erinnerte. »Wenn du dich beruhigt hast, kannst du dich auch wieder setzen, Heinrich.« Tatsächlich setzte sich Berg, der nun freundlich lächelte und als Terms Vater merkte, dass er der einzige war, der noch stand, sank er genervt in seinen Stuhl. Term tat sein Vater leid, immerhin hatte der Polizeikommissar nicht ganz unrecht. Er hatte mitgeholfen, aber das würde er bestimmt nicht zugeben.

»Letzte Woche haben Sie vermutet, dass mein Sohn schuld an Herrn Hoffmanns Tod war. Die Ursache war ein geknickter Versorgungsschlauch. Heute verdächtigen Sie meinen Sohn eine Geburtstagsgesellschaft mit … Wasabi vergiftet zu haben?« Term sah seine Mutter staunend an. Mit einem kleinen Umschwung im Tonfall ihrer Stimme war ihr die Stimmung im Wohnzimmer wie auf Befehl gefolgt. Sein Vater fühlte sich unwohl auf seinem Stuhl, weil er gebrüllt hatte und Berg fühlte sich unwohl, da er die seltsam klingende Verdächtigung geäußert hatte.

»Nun, es klingt tatsächlich abstrus. Aber jemand hat in den Kuchen hochkonzentrierte Wasabimasse gegeben. Laut Konditor hat der Geburtstagskuchen das Geschäft in tadellosem Zustand verlassen. Der Kellner hat ausgesagt, dass er völlig normal ausgesehen hatte, als er den Kuchen den Jugendlichen übergeben hatte. Daher wollte ich Ihren Sohn befragen, ob er irgendetwas bemerkt hat oder vielleicht den Alten einen Streich spielen wollte? Es ist völlig normal, wenn es ein Streich hätte sein sollen. Jugendliche neigen zu solchem Verhalten, nicht wahr? Vielleicht hast du nicht gewusst, was für Folgen Wasabi haben könnte?«

»Stopp.« Wieder übte seine Mutter ihre Fähigkeit aus, Gespräche zu lenken. Diesmal hielt sie Berg an. »Bevor Sie meinen Sohn verdächtigen, wieso zweifeln Sie das Wort der Bäckerin oder das des Kellners nicht an?« Term sah unglücklich auf den blanken Tisch. Seine Mutter verteidigte ihn so bedenkenlos, dass seine Schuldgefühle seinen Magen sauer werden ließen. Er hatte ja diesem Mädchen geholfen. Er hatte sie nicht zurückgehalten und ihr zeigen wollen, dass er sich nicht von den Alten rumkommandieren ließ. Dass er sich nichts gefallen ließ.

»Nun, Ihr Sohn hat eine Vorgeschichte und zeigt regelmäßig rebellisches Verhalten gegenüber älteren Mitmenschen. Muss ich Ihnen die Gründe für sein enormes Minuspunktekonto vorlesen?« Das Argument brachte seine Mutter zum Nachdenken. Sie sah ihn mitfühlend aber kritisch an. Ihre Augen sagten ihm deutlich, dass auch er Verantwortung trug.

»Ich habe dir doch gesagt, dass alles in deine Akte geht, Term. Dass es dich irgendwann verfolgen wird.« Terms Vater klang nicht, als ob er Recht behalten wollte.

»Term, antworte dem Polizisten. Sag ihm ruhig, was du gesehen hast.« Terms Magen stach schmerzhaft, als hätte er einen Kaktus verschluckt. Seine Mutter war davon überzeugt, dass er unschuldig war.

»Wir haben den Kuchen nur vom Tisch herübergetragen. Die Alten haben ihn dann angeschnitten und gegessen. Kurz darauf waren sie alle am Kreischen und Keuchen und dann kamen schon die Notärzte.« Berg machte sich Notizen in seinem EPad.

»Term, leider bist du immer in der Nähe, wenn solche Unfälle passieren. Daher muss ich dich als Verdächtigen führen. Ich hoffe, du verstehst das?« Term nickte.

»Haben Sie denn keine Fingerabdrücke gefunden oder andere biologische, chemische Restbestände des Täters?«