Teufels Küche - Andrea Strauß - E-Book

Teufels Küche E-Book

Andrea Strauß

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Beschreibung

Dass man Töpfe nicht im Fluss mit Krokodilen spült, wie man in der Nacht vor einer indischen Hochzeit ein Brautkleid organisiert, wie Jürgen Klinsmann zum Lebensretter wurde und wofür Omas alte Eisenzange gut ist. "Teufels Küche" führt rund um den Globus, auf sechs Kontinente und in viele Kulturen. Schlaglichtartig begegnet man indischen Bauern, charmanten Ausreißern, bolivianischen Straßenräubern und schlauen Papageien. In über dreißig Erzählungen verrät die Reisejournalistin Andrea Strauß die "Geschichten hinter den Geschichten".

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Seitenzahl: 221

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Die Autorin

Andrea Strauß, geboren 1968 in München, studierte nach der Ausbildung im Verlag Germanistik, Geschichte und Geographie. Sie arbeitet hauptberuflich als Journalistin und veröffentlichte gut zwanzig Sachbücher zu den Themen Reisen und Outdoor. Viele ihrer Reiseeindrücke werden in Zeitschriften veröffentlicht, die im deutschsprachigen Raum und in Übersetzungen in Europa erscheinen.

Für Else und für Mama

Inhaltsverzeichnis

Singh heißt Löwe

Reifentreiben

Der Topf

Frage des Standpunkts

Zeit lassen!

Nacht der Nächte

Dieb in Arusha

Nachbars Garten

Teufels Küche

Holy shit

Lieber Lausbub

Pinkelpause

Indische Hochzeit

Der letzte Bus

Nordisch extrovertiert

Verlosung für den Arsch

Schwarzes Meer

Eselscheiße

Beste Freunde

Doppelzimmer mit Beistellbett

Hausaufgaben verteilen

Deutschland neben England

Gamsbleaml

Im Zipfelmützentakt

Katzenschreck

Souverän

Türöffner

Valentinstag

Hausschuhe

Transitbereich

Nach dem letzten Takt

Der Prophet im eigenen Haus

IQ-Wunder

IQ-Wunder II

Adelstitel

Morgenfurz

Dein Bild

Sackgasse

Singh heißt Löwe

„Singh heißt Löwe“, erklärte mir mein Gastgeber noch am Flughafen. „Das ist ein Ehrentitel für Krieger.“ Er straffte die Schultern und machte ein strenges Gesicht. Seine Lippen zogen sich zu einer schmalen Linie zusammen, die Nasenflügel wurden dünn und windschnittig, die Augenbrauen näherten sich an. Für einen Moment war er Singh, Löwe, Krieger, bereit auf eines der dürren Rajasthanpferde zu springen und zum Angriff zu reiten.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte er dann: „Jeder ist Singh in Indien.“ Im Laufe der Tage und Wochen, in denen ich Gast im Hause des Löwen war, würde ich die Strenge des Hausherren kennen lernen, aber auch die feine Selbstironie, mit der er ein ums andere Mal den Eindruck wieder zerstören würde, denn im Grunde stand er Gandhi näher als der Kriegerkaste seiner Vorfahren.

Während der Fahrt vom Flughafen durch das noch nächtliche Delhi stürmten so viele exotische Eindrücke auf mich ein, dass der Respekt vor dem Gastgeber in den Hintergrund trat: das gespenstisch orangefarbene Licht der Straßenbeleuchtung, die in Müllfässern brennenden Feuer, an denen sich Gestalten in Lumpen wärmten, die niedrigen Holzliegen, auf denen Männer und Kinder direkt am

Straßenrand schliefen, Rudel von räudigen Straßenhunden, ein zaundürrer Gemüsehändler, der mit einem Karren mit Holzrädern den Schlaglöchern im Asphalt auswich.

Noch immer war es dunkel, als wir in eine Seitenstraße einbogen, das Auto ausrollte und mein Gastgeber es als einziges Fahrzeug scheinbar auf der Überholspur neben einem kleinen Park abstellte. Ein cremefarbener Ambassador, heute ein Oldtimer, aber auch in den 1980er Jahren bereits ein Zeichen für den gediegenen Wohlstand eines Familienoberhaupts, für das die PS-Zahl keine Rolle spielt. Alle sechs Insassen stiegen wir aus.

Die Seiten das Parks waren von einstöckigen Häusern gesäumt. Unter Arkaden waren im Erdgeschoss kleine Läden untergebracht. Noch waren sie mit eisernen Rollläden verschlossen. Vereinzelt lagen Lumpenhaufen im Schutz der Arkaden. Unbeeindruckt steuerte meine Gastgeberin durch die hier auf dem Pflaster Schlafenden. Sie hatte den Haustürschlüssel schon in der Hand, ging unserer kleinen Prozession voraus. Ein schmaler unbeleuchteter Treppenaufgang führte hinauf zur Wohnungstür im ersten Stock.

Hinter einem zweifachen Schloss und einer von der Monsunfeuchtigkeit so verzogenen Holztür, dass an manchen Tagen doppeltes Körpergewicht und Finesse nötig waren, um eintreten zu können, lag ein Paradies.

Der Innenhof, in dem man sich befand, hätte mit dem blanken Betonfußboden, der Treppe hinauf aufs Flachdach und den von Stockflecken gesäumten Wänden schäbig wirken können, aber die Hand der Hausfrau hatte ihn in einen geheimnisvollen Privatgarten verwandelt mit zig großen Blumentöpfen und einer Tafel unter freiem Himmel. Dass ein Holztisch und Polsterstühle in einer Stadt mit Monsunregen unpraktisch sein könnten, schien sie nicht zu stören. Am Tag meiner Ankunft, dem 15. Juni, lag Delhi zwar in diesem Jahr noch unter einer Smogdecke, aber auch später, als kaum mehr ein Tag ohne heftige Regenfälle verging, blieb die Tafel im Innenhof. Immer richtete der Monsun sich nach Frau Tomar und ihren Essenszeiten. Der Herr des Hauses mochte ein Löwe sein, aber seiner Ehefrau konnte auch das Wetter keinen Wunsch abschlagen.

Zur einen Seite des Innenhofs lag ein überdachter, aber offener Bereich, in dem der große Kühlschrank ratterte und vor Anstrengung zitterte. Bewacht von Abziehbildern mit den Hindugottheiten Ganesh, Vishnu und Shiwa, aber auch mit einer Mutter Gottes im hellblauen Mantel kühlten hier Wasserflaschen und türmten sich Blechschüsseln in allen Größen mit den Curryresten des Vortags, mit scharfen Pickles, eingelegten roten Zwiebeln, angesetztem Joghurt, mit Gemüse und Obst.

Toilette, Dusche und Küche hatten ebenfalls Betonfußboden, winzige, vergitterte Fenster knapp unter der Decke und waren beängstigend klein, die

Dusche mit rund drei Quadratmetern noch am größten. Hatte man sich an die Schummrigkeit dieser Räume erst einmal gewöhnt, stellte man fest, dass sie so sauber waren wie eine Hotelküche, die das Gesundheitsamt erwartete.

Waren Küche, Dusche und Toilette der Notwendigkeit des Lebens geschuldet, so trug der Innenhof die Handschrift der Hausfrau. Auf der anderen Seite des Hofs führte eine knarzende Flügeltüre ins Wohnzimmer. Hier betrat der Gast den Repräsentationsraum. Gewohnt wurde hier nicht, hier wurde ein Statement abgegeben.

Auf dem dunkelrot gestrichenen Boden lag ein raumgroßer Teppich. An drei Wänden standen niedrige Hocker mit Flechtbezug und hohen Rückenlehnen sowie ein dunkles Holzsofa mit kunstvoller Schnitzerei. Zwischen Zweier- und Dreiergrüppchen der Sitzgelegenheiten standen dunkle Holztische. Es wirkte wie das Gestühl in einem Refektorium. Über den Köpfen der imaginären Besucher hing ein Wandgemälde aus Stoff. Es umspannte alle vier Seiten des Raums. „Einer meiner Brüder ist Künstler“, erklärte Frau Tomar bei einem der seltenen Aufenthalte im Wohnzimmer.

„Er lebt in Kalkutta. Da leben alle Künstler. Wer Künstler ist, muss nach Kalkutta“, fügte der Hausherr schmunzelnd hinzu. Einen Augenblick ließ er die Ironie seiner Feststellung stehen. Dann stellte

er klar: „Aber ihr Bruder ist gut. Er kann sogar davon leben. Leute kaufen seine Bilder. Wenn er nicht ihr Bruder wäre, könnten wir uns so etwas nicht ins Wohnzimmer hängen.“

Auf dem Gemälde schritten traditionell gekleidete Rajputen wie in einem Festzug durch den Raum. Die Figuren blieben zweidimensional, die Köpfe waren auf Augen, Nase, Mund und Turban reduziert. Doch ihre Gesichter hatten Würde und Strenge, ihre Bewegungen Dynamik, sie strahlten Kraft aus. Hier bewegten sich Löwen durch den Raum: „Jeder ist Singh in Indien.“

Die lebensfrohe Musik, die der Künstler gehört haben muss, als er die Figuren schuf, war auch für mich zu hören. Dass man von diesen Bildern leben konnte, war keine Frage.

Die vierte Seite des Raums, das Herz der Wohnung, war dem Familienaltar vorbehalten. Ein etwas höheres Sideboard war mit einem schönen Tuch abgedeckt und darauf tanzte ein tausendarmiger Krishna aus Bronze. Alles im Raum schien auf ihn ausgerichtet: die Hocker, die schreitenden Krieger des Gemäldes, alles. Am Boden zu seiner Rechten stand als einziger Altarschmuck eine Vase mit roten Gladiolen.

Zwei kleine Räume schlossen ans Wohnzimmer an. Dort standen die Betten, dort waren die Schränke, dort brummten die Klimaanlagen, dort wurden

Bücher gelesen, Saris aufgebügelt, diskutiert, gelacht, gelebt.

Ich hatte den ersten Monsunregen gefeiert, mich an die Schärfe der indischen Küche gewöhnt und den Lebensrhythmus kennen gelernt. Ich glaubte eine erste Ahnung davon zu haben, wie viel Löwe in der Kriegerfamilie steckte, deren Gast ich war, als an einem Sonntagvormittag Frau Tomar auf die Uhr schaute und mich musterte. „Interessierst du dich für Religion und Literatur? Es gibt ein indisches Nationalepos, das Ramayana. Alle unsere Götter sind dort verwurzelt. Jedes Kind kennt die Geschichten aus dem Ramayana. Das ist wie Bibel und eure Brüder Grimm in einem.“

Natürlich hatte ich Interesse. „Komm. Es hat um zehn angefangen. Du musst dich von der Form lösen, auf den Inhalt kommt es an.“

Im Windschatten ihres Saris wurde ich ins Wohnzimmer gezogen. „Am besten setzt du dich auf den Teppich“, empfahl sie mir und wies mir mit der Hand den Platz vor dem vermeintlichen Familienaltar. Mit einem resoluten Griff fasste sie den bronzenen Krishna um die Hüfte, zog das Tuch vom Sideboard und schaltete den Fernseher ein. Der Zeichentrickfilm des Ramayana hatte gerade begonnen.

Reifentreiben

Als langes Asphaltband zieht sich die Straße von Marrakesch nach Casablanca durch die Wüste. 240 Kilometer – von Ben Guerir und Settat abgesehen – ohne nennenswerte Ortschaften. Mal unterbricht ein staubiger Strauch die Einöde, mal eine primitive Baracke. Bis zum Bau des Marrakesh Expressways sollte es noch zwei Jahrzehnte dauern.

Am Samstagmorgen kurz nach sechs Uhr ist kaum etwas los. Unser kleiner Fiat Uno ist auf weiten Strecken das einzige Fahrzeug. Zügig, aber ohne zu rasen, fahren wir nach Norden, dem Ende des Osterurlaubs entgegen. Heute Abend schon würden wir zuhause sein und am Montag wieder arbeiten.

Doch die knapp zwei Wochen im Hohen Atlas und im marokkanischen Teil der Sahara hatten sich mit ihren vielfältigen Eindrücken gelohnt. Die Gelassenheit der Einheimischen, ihr Organisationstalent, das auch für scheinbar unlösbare Probleme immer wieder eine gute Lösung fand, die quirligen Städte, die Farben der Oasen, die schwarzen Felstürme im Hohen Atlas, der perfekte Firn, den wir dort auf unseren Skitouren vorgefunden hatten, und die wilden Rinnen und Kare, in denen wir teils voller Abenteuergeist unterwegs gewesen waren, weil es gutes Kartenmaterial nicht gab, die bitterkalten Zeltnächte auf 3000 Meter und die stechend heiße Nachmittagssonne nach Rückkehr von unseren Firnabfahrten und Gipfelbesteigungen und schließlich noch die Weite der Wüste, von der wir ja nur den Bruchteil eines Randgebiets gesehen hatten – doch, Ostern in Marokko war herrlich gewesen. Auch der letzte Abend in Marrakesch am Jemna el Fna, dem belebten Hauptplatz mit seinen Gauklern und den traditionellen Wasserträgern, mit den vielen Essensständen, den exotischen Düften und dem blutroten Sonnenuntergang als Abschiedsspektakel war die richtige Entscheidung gewesen. Dass wir früh aufstehen müssten für die Fahrt nach Casablanca, die Rückgabe des Fiats, fürs Einchecken unserer Ski und unserer Rucksäcke, das wollten wir dafür gern in Kauf nehmen.

140 Kilometer vor Casablanca benimmt sich der Fiat plötzlich wie ein störrisches Pferd. Er ruckelt und bockt, lässt sich kaum mehr lenken und beginnt nach rechts Richtung Straßengraben zu ziehen. Der erste Verdacht bestätigt sich beim Aussteigen: Das rechte Vorderrad ist platt. Rasch stapeln wir Skisack und Rucksäcke, Skischuhe und Taschen am Straßenrand, packen Ersatzrad und Wagenheber aus und machen uns daran, den Reifen zu wechseln. Die ersten Umdrehungen des Wagenhebers heben das Auto aber um keinen Millimeter. Stattdessen biegt sich das Werkzeug und sieht nun wie eine Chiquita aus.

Hatte ich nicht vor einem Kilometer erst eine Tankstelle gesehen? Mit dem Wagenheber in der Hand renne ich zurück. Samstagmorgen im Niemandsland: Die Tankstelle ist geschlossen. Aber es tauchen drei Männer auf. Sie haben Zugang zur Garage. In dem halbdunklen Raum gibt es Hammer und Amboss. Sie nehmen mir den Wagenheber aus der Hand, - viel zu erklären ist ja nicht – und schlagen ihn so gerade wie möglich.

Mit dem reparierten Wagenheber jogge ich in meinen Sandalen zurück zum Auto. Andere Schuhe habe ich nicht mehr. Die löchrigen Turnschuhe sind am Morgen in Marrakesch geblieben und die Skischuhe werden aus Gewichtsgründen meine Flugbekleidung.

Jetzt schnell den Reifen wechseln, Gepäck einladen und zum Flughafen. Zeitreserve haben wir nun keine mehr. Doch zurück am Fiat muss ich sehen, dass unser Problem sich mit einem zurechtgebogenen Wagenheber nicht lösen lässt. War das Auto vorhin vorne rechts tiefer gelegt, so liegt es bei meiner Rückkehr auch hinten rechts tiefer. Zwei platte Reifen, ein Reserverad und noch 140 Kilometer bis Casablanca.

Hoffnungsschimmer ist ein Samstagmorgen-Passant, von dem Andi glaubt, er würde den Besitzer einer nahen Autowerkstatt herbeirufen. Diese ist in einem der nahen Schuppen am Straßenrand untergebracht. Tatsächlich ist es zunächst nur eine Figur aus der Ferne, die langsam wieder größer wird und sich uns nähert. „Er kommt“, verspricht der Helfer. Bis endlich auch der Werkstattbesitzer auftaucht, vergehen uns die Minuten wie zäher Brei. Hoffen und Bangen, Hoffen und Bangen. Und egal wie sehr wir uns vornehmen, nicht auf die Uhr zu sehen – fast jede Minute wandert der Blick doch zum Handgelenk.

Zügig, aber ohne Eile sperrt der Automechaniker seine Werkstatt auf. Sie befindet sich tatsächlich in einer unscheinbaren Baracke direkt gegenüber unserer Panne. Den Fiat lassen wir auf den Felgen über die Straße rollen und vor sein Werkstatttor. Mit seinem hydraulischen Wagenheber steht unser Auto bald auf drei „Beinen“. Ein Schlauch soll unser Dilemma lösen. Doch wir wären nicht in Arabien, würde die Sache nicht vorher gestenreich diskutiert. Offensichtlich bezweifeln die beiden, dass uns mit der Reparatur der beiden Reifen geholfen wäre, da einer in zu schlechtem Zustand ist.

Bis einer der beiden Reifen geflickt ist, Reifen und Reserverad montiert sind, der nach wie vor kaputte Reifen und das Gepäck wieder eingeladen sind und der Fiat wieder fahrbereit ist, vergeht Zeit. Längst schwanken wir zwischen Bangen und Resignation. Wir sind eine gute Stunde hinter dem Zeitplan.

„Was kostet die Reparatur?“, will ich wissen. Französisch ist für beide Seiten mehr ein Hindernis als eine Sprache. Es dauert, bis ich das „rien“ wirklich glauben kann. Nichts! Eine Hilfe soll die Arbeit der beiden gewesen sein, keine Reparatur. Wir bitten sie trotzdem, ein großzügiges Trinkgeld zu nehmen. Um längeres Höflichkeits-Ping-Pong abzukürzen, sage ich gleich: „Nehmen Sie es für Ihre Kinder! Bitte.“

Wieder auf der Straße, wieder auf vier Rädern schlägt der Bammel bald in Übermut um. „Wenn es jedes Mal so schnell geht, können wir uns nochmal eine Panne leisten“, behaupte ich.

Noch immer über hundert Kilometer von Casablanca entfernt, jetzt in einem menschenleeren Abschnitt, ohne Tankstelle, ohne Werkstatt, ohne Spaziergänger, als der Fiat unvermittelt das Fahrgeräusch ändert. Ein lautes Brummen übertönt das Radio, dann beginnt das Auto zu bocken und nach rechts zu ziehen.

Wieder stehen wir am Straßenrand, haben den reparierten Wagenheber in der Hand und zweifeln, ob er einer Generalprobe stand hält. Aber warum sollten wir überhaupt aufbocken, wenn wir keinen Reifen haben, den wir als Ersatz montieren können?

Während wir noch immer ungläubig unsere Misere begutachten, kommt ein altes Mercedes-Taxi vorüber. Wir bitten ihn anzuhalten. Acht Männer in traditionellen Djellabas schälen sich aus dem Innenraum. „Zigaretten?“ Wir müssen verneinen. Noch nie tat es mir so leid, Nichtraucher zu sein.

Mit wachem Blick überschaut der Taxifahrer die Situation. Er packt ungefragt seinen eigenen Wagenheber aus, lacht und sagt: „Made in Germany!“

Als der kaputte Reifen abmontiert ist, sieht er aber ebenso schnell, dass unser Ersatz ein großes Loch hat. Andi verdeutlicht die Brisanz, zeigt nach Norden, breitet die Arme zu Flügeln aus, startet akustisch die Triebwerke und deutet auf die Uhr. „Schnell, schnell“, sagt der Taxifahrer in gebrochenem Deutsch und nickt. Dann nimmt er einen unserer beiden kaputten Reifen, packt ihn zu seinen Fahrgästen ins Taxi und rollt davon.

Das Motorengeräusch verklingt, das Taxi wird immer kleiner, verschwindet hinter einer Kuppe und wir sind allein. Stehen neben unserem dreibeinigen Fiat im Straßengraben. Zwischen Plastikfetzen und Gummiteilen. Und sind allein.

Jedes Fahrzeug, das vorüberkommt, mustern wir. Viele sind es noch immer nicht. Doch unser Taxi ist nicht dabei. Die Zeit rinnt dahin. Unendlich langsam und doch viel zu schnell. Dann braust ein Auto heran, hält am gegenüberliegenden Straßenrand, der Taxifahrer saust zum Kofferraum und noch bevor wir ihn selbst wieder zu Gesicht bekommen, hüpft uns mit mehreren meterhohen Sätzen ein prall gefüllter Autoreifen über die beiden Fahrbahnen entgegen.

Reifentreiben hieß das Spiel, das Kinder auf der ganzen Welt spielten und immer noch spielen: ein großer Ring oder Reifen wird geschickt in die richtige Richtung gelenkt. Man kann ihn laufen lassen, antreiben, Kurven fahren, kann ihm einfach hinterher laufen, kann auf seine Öffnung zielen oder man kann ihn übermütig hüpfen lassen. Unser Hinterreifen hüpft!

Im Handumdrehen ist er montiert. Die Rechnung, die uns unser rettender Engel von der Werkstatt mitbringt, ist auf Arabisch. Ein wenig brauchen wir, bis klar wird, dass Schlauch und Ventil nicht hundert Mark, sondern hundert Dirham kosten, also knapp 20 Mark. Für die Extrafahrt zu uns zurück weigert er sich, Geld zu nehmen. Sein Wunsch: Nehmt mich im Geist mit nach Hause.

Das tun wir. Gerade noch rechtzeitig, im gebuchten Flug.

Der Topf

Steiler und steiler wurde das Firnfeld. Rechts und links von abschüssigen Felswänden eingefasst, war der schneegefüllte Graben trotzdem die einfachste und ungefährlichste Aufstiegslinie. Noch vor Erreichen der steilsten Passage müssen wir aber einsehen, dass Umkehren sinnvoll ist. Zu spät hat es heute Nacht aufgehört zu regnen, zu hart ist der Schnee, zu mühsam und zu langsam verläuft der Anstieg über die steile Rinne, zu lang ist die noch vor uns liegende Tour.

Da hilft die gute Vorbereitung nichts und auch die Vorfreude auf eine Klettertour in einer der höchsten Felswände der Ostalpen.

Beleidigt wie ein abgewiesener Liebhaber verbringen wir die Tage bis zum nächsten Wochenende. Erst am Freitagnachmittag kommt die Rede auf die abgebrochene Tour der Vorwoche. Schnell sind die Kletterrucksäcke wieder gepackt, Schlafsäcke im Auto verstaut und eine Kiste mit Kochutensilien und Essen ist ins Auto geladen. Im Vergleich zur akribischen Planung des letzten Mals verlaufen die Vorbereitungen dieses Mal zügig und mit einer gewissen Leichtigkeit. Lediglich die Entscheidung über Tee oder heiße Schokolade als Frühstücksgetränk wird zu einer Grundsatzfrage: viel Flüssigkeit oder Kalorienbombe?

Die Nacht vor der Kletterei verbringen wir im Kofferraum unseres Passats bereits am Ausgangspunkt. Kein Regen plätschert dieses Mal aufs Autodach, stattdessen glitzern noch vereinzelte Sterne am Himmel, auch wenn die große Südwand des Birnhorns einen guten Teil des Firmaments verdeckt.

Das Wetter verspricht gut zu werden. Noch ist es eisig kalt, zu kalt für Anfang Juni. Schnell einen großen Topf Tee kochen, dann möchten wir los, können es kaum erwarten! Mit einem Fauchen meldet sich der Kocher zu Wort. Teebeutel, Wasser – aber wo ist der Topf?

Beide Töpfe müssen noch zuhause im Keller stehen. Die Campingtassen sind aus Plastik und wenn wir nicht den Suppenlöffel über die Flamme halten wollen, gibt es keine Möglichkeit für Teewasser oder heiße Milch. Jetzt am Morgen ersetzt die Euphorie die fehlenden Töpfe, aber am Abend, wenn alle Energiespeicher leer sind nach der langen Tour, werden die Töpfe abgehen. Sollen wir die Tortellini im kalten Wasser einweichen? Oder den Abend mit der Suche nach einem noch offenen Gasthaus verbringen? Oder heimfahren?

Ein letztes Mal suche ich in allen Taschen und Kisten nach den Töpfen, dann machen wir uns auf den Weg. Eine Wunschtour schon vor dem ersten Schritt scheitern zu lassen, weil man nicht weiß, was es am Abend zu essen gibt, kann nicht die Lösung fürs Problem sein.

Bald zweigt der Zustieg zur Kletterei vom Wanderweg ab. Die Sonne geht auf, es wird ein wunderbarer Tag. Aber wo sind die Töpfe abgeblieben?

Über Felsschrofen queren wir in jene Firnrinne, die uns letzte Woche den Weiterweg verhindert hat. Bald stehen wir wieder auf der Altschneefläche. Mit Steigeisen an den Bergschuhen gewinnen wir beständig an Höhe. Die Rinne wird zur Schlucht, der Firn steiler. Eine Lücke in der Schneedecke müssen wir im Felsgelände umklettern, dann geht es auf Steigeisen weiter, bis eine weitere Schneeunterbrechung uns endgültig ins Felsgelände abdrängt.

So weit ist alles gut. Längst ist uns warm geworden, auch ohne heißen Frühstückstee. Der Magen knurrt jedoch allmählich. Wie wird das erst heute Abend werden? Mit leerem Magen? Ohne Tortellini?

Immer schräg links aufwärts steigen und klettern wir weiter. Mal können wir seilfrei gleichzeitig gehen, mal ist das Gelände zu schwierig und die Felsqualität zu schlecht, so dass wir von Seillänge zu Seillänge sichern. Die Wegfindung in der riesigen Wandflucht und die Brüchigkeit des Felsen fordern volle Konzentration.

Nach acht Stunden sitzen wir endlich unter jenem kompakten Felsen, der als sogenannter „Pfeiler“ den Beginn des schwierigsten Teils markiert. Eine Pause ist nun angesagt. Essen, trinken, rasten und den Blick übers Tal schweifen lassen. Kräftig grün sind die Wiesen dort unten. Bauernland. Kaum Höfe, kaum Ortschaften. Wo die Bäuerin wohl ihren neuen Kochtopf kauft? Aber sicher kauft sie den nicht am Samstagabend. Und wahrscheinlich kauft sie ihn auch nicht im nächsten Weiler, sondern beim Großeinkauf in der nächsten Stadt.

Die Kletterschwierigkeiten am Pfeiler lenken vom Topfproblem ab. Abwechslungsreich ist es, mit Rissen, Querungen, Verschneidungen. Am Ende des Pfeilers nehmen wir das Seil auf. Die restlichen Höhenmeter bis zum Gipfel des Birnhorns sind vor allem flache Schrofen und Felsschutt. Bis auf kleine Kletterpassagen kann man einfach hinaufsteigen, ohne die Hände zu Hilfe nehmen zu müssen. Nach einer knappen halben Stunde werden wir auf den Wanderweg treffen, der hier unter dem Gipfel quert. Dann ist es nochmals eine gute halbe Stunde zum Gipfel. Über die Passauer Hütte werden wir absteigen. Insgesamt sind das nochmals drei bis vier Stunden, in denen wir über unser Kopftopfproblem nachdenken können.

Hell silbern leuchtet unser Retter zwischen den Felsbrocken, von denen das Kar übersät ist. Fünfzehnhundert Meter über dem Tal und dreihundert Meter unter dem Gipfel, mitten in einer der höchsten Wände der Ostalpen, mitten in einer kilometerlangen Wandflucht, in der es außer ein paar nie begangenen Klettertouren keinen Weg gibt, liegt ein Kochtopf.

Freilich, das neueste Modell ist er nicht. Aluminium, verbeult, mit scharfen Kanten, verkohltem Boden und einem biologisch-chemisch lebendigen Inneren. Aber ein Kochtopf. Ein Retter in der Not. Ein neuer, alter Freund. Er darf mit auf den Birnhorngipfel und tritt dann seine Reise ins Tal an. Delikat werden die Tortellini aus ihm schmecken, besser noch als vom Sternekoch.

Frage des Standpunkts

Ein Schild mit einem großen roten Kreuz hängt im Ankunftsbereich des Flughafens La Paz. „Cruz Roja“ steht dabei, eine erste kleine Auffrischung der spanischen Sprachkenntnisse für den Neuankömmling in Bolivien. Geschuldet ist die Sanitätsstation der Tatsache, dass der internationale Flughafen auf der Andenhochfläche liegt und man auf über 4000 Metern landet. Kreislaufzusammenbrüche und massive Höhenprobleme sind keine Seltenheit. Selbst wer nicht gleich das Rote Kreuz benötigt, erhält noch vor Passkontrolle, Gepäckausgabe und Zoll einen Becher Coca-Tee. Drogen auf Staatskosten, sozusagen. Als Prophylaxe für Höhenkrankheit.

Zehn Tage sind seit diesem ersten Coca-Tee vergangen. Kleine spanische Unterhaltungen laufen schon wie geschmiert, die Taxifahrer bringen uns dorthin, wo wir hin möchten, Bustickets für das korrekte Ziel und den korrekten Tag bekommen wir auch und die Passanten auf den Straßen von La Paz antworten auf unsere Fragen nach dem Wo oder Wie ohne Nachfrage zum Verständnis.

Seit zwei Tagen nun zeigt sich Bolivien von seiner schönsten Seite: blauer Himmel und warm. Lediglich ein böiger Wind fegt übers Altiplano und durch die Straßen der Hauptstadt. Er trocknet die Haut aus und sandstrahlt Rucksäcke und Kleidung. In den Haaren wirkt er wie Spray. Die Frisur bleibt formstabil, egal, was man tut und die Haarfarbe ist sandbraun.

Nach zehn Tagen Reisen und Bergsteigen würde Haare Waschen ein neues Lebensgefühl vermitteln. Zu diesem Glück fehlt mir aber ein Kamm. Auf dem Weg zum Busbahnhof ist ein kleiner Gemischtwarenladen, dort sollte man mir helfen können. Ich frage nach. Auf Spanisch.

„Haben Sie einen Kamm?“

„Einen Kamm? Nein.“

„Und wo…?“

„Draußen, rechts, bei den Frauen.“

Draußen rechts haben ein halbes Dutzend fliegender Händlerinnen ihre Verkaufstücher auf dem Pflaster ausgebreitet. Darauf sind farbenfrohe Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Gleich die erste Frau, die hier am Boden sitzt, ist eine junge Schönheit. Im Vergleich zu vielen anderen Bolivianerinnen ist sie schlank und großgewachsen, ihr Gesicht ist schmal und die Haare trägt sie auf eine neckische Weise, die sagt: „Ja, ich bin hübsch. Und das weiß ich auch.“

Kämme hat sie scheinbar nicht im Sortiment. Aber ich gehe in die Hocke und scanne das Angebot noch einmal aus der Nähe. „Haben Sie einen Kamm?“, frage ich sie. Zweifelnd sieht sie mich an. Ich wiederhole. Ich betone anders. Sage nur „Kamm?“. Habe ich vielleicht das falsche Wort in Erinnerung? Frage ich sie gerade nach Windpocken oder einer Angelschnur, nur weil das Wort vor langem auf derselben Seite des Vokabelhefts stand oder so ähnlich klingt?

Mit den Fingern kämmt ich mir schließlich durch die Haare. Zeichensprache hilft. In ihren Augen blitzt Verständnis auf: „Sanu!“ Aus einem zusammengeknoteten Tuch holt sie eine Tüte mit drei großen, roten Plastikkämmen. Mit einem „Sanu“ breitet sie die drei vor mir aus. Einen Moment noch ist sie glücklich, dass sie das Gesuchte hat und mir weiterhelfen kann. Im nächsten Moment drückt ihr Gesicht Enttäuschung aus. Sie fragt mich etwas, das ich nicht verstehe. Sie wiederholt es langsamer. Dann stellt sie beim dritten Versuch eine ganz andere Frage, eine Frage in gebrochenem Spanisch diesmal, genauso stockend und unbeholfen wie ich selbst vorher: „Sprichst du überhaupt kein Aymara?“

Zeit lassen!

Endlich hatte auch der Alpennordrand wieder Schnee bekommen. Für die vage vereinbarte Skitour im Ex-Kollegenkreis standen die Zeichen also gut. Vor allem würden wir nicht weit fahren müssen. Gleich die erste Bergkette würde ausreichend Schnee haben. Zwischen Tegernsee und Königssee standen uns Dutzende von Möglichkeiten offen.

Vier Autos bleiben schließlich am Pendlerparkplatz stehen, ins fünfte verladen wir Ski, Stöcke, Schaufeln und Rucksäcke. „Ja, was moantsn?“, eröffnet Schorsch die Entscheidung zum Tourenziel. Die „alten Hasen“ werfen ein paar Gipfel und Routen ins Gespräch:

„Trainsjoch geht. War i aber erst.“

„Chtsgaden geht sicher a ois.“

„Zwiesel.“

„Nord?“

„Oder Rauschberg.“

Die beiden Tourenküken mit weniger als zehn Jahren Erfahrung halten sich aus dem schnellen Wortwechsel heraus, sie müssen darauf vertrauen, dass das Ergebnis unserer Wahl auch für sie eine gelungene Samstagstour wird.

„Fahr ma halt amal.“ Schorsch als Fahrer und erfahrenster der alten Hasen hat die Landkarte mit Ausgangspunkten ohnehin im Kopf.

Am Kreisverkehr nach der Autobahnausfahrt wird uns klar, dass wir die letzte Entscheidung zwischen Zwiesel und Rauschberg noch nicht getroffen haben und der demokratische Prozess die Länge der Kreiselaußenseite zeitlich übertrifft. Schorsch fährt eine zweite Runde, dann besteht über Schneehöhe, Geländeuntergrund, Gesamtlänge, steilste Stelle, Anzahl der prognostizierten anderen Tourengeher, mögliche Varianten und spätere Einkehroptionen mit Sonnenterrasse Einigkeit und wir biegen Richtung Zwiesel ab.

Als wir in die Bindungen steigen, liegt der Talboden noch im Schatten. Es ist eisig kalt. Kein Wunder, dass hier eine der ersten Natureisbahnen entstand. Wir schlagen ein gemäßigtes Tempo an, so dass wir zu zweit und dritt nebeneinander gehen können und über Gott und die Welt ratschen können.

Schließlich wird die Spurtrasse enger, wir gehen hintereinander. Ratschen kann man aber immer noch. Es wird steiler. Zwischen einer Rippe und einem Graben spuren wir durch steilen Wald hinauf. Später am Gipfel werden wir feststellen, dass die „alten Hasen“ allesamt das große, steile Kar rechts einer strengen Sichtprüfung unterzogen haben. („I bin scho moi nüberquert, des geht.“ - „Der Schnee langt. Nur in der Mittn is dünn.“ - „Ja, aber rechts schauts besser aus.“)

Die letzten Bäume liegen hinter uns. Das eigentliche Zwieselkar ist wie ein Stück wilde Westalpen: steile Felswände, Rinnen, die sich dem Blick entziehen, und ein noch ungewisser Ausstieg auf die sonnige Südseite. Wie durch einen Kühlschrank geht es hinauf. Konzentriert steigen wir das letzte Stück in die Scharte hinauf. Mit Harscheisen geht das gut, ohne gäbe es kein Halten. Auch der Rücken zum Gipfel hinauf ist steil und ausgesetzt. Dort wo der Schnee weich ist und ein paar Latschen trügerische Sicherheit vorspielen, geht es. Erst in der Abfahrt wird uns auffallen, wie kompromisslos die Kante nach links abbricht.