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Die Münsteraner Kommissarin Fey Amber wurde vor allem durch die Aufklärung von Mordfällen in Haltern und Dülmen bekannt. Ihr spektakulärster Fall ereignete sich bereits 2014, als bei einer schrecklichen Tat eine Mutter und ihr Kind am Halterner Silbersee ums Leben kamen. Kurz darauf wurde ein Pfarrer unweit des Tatorts tot aufgefunden. Alles deutete auf ein spirituelles Motiv des Mörders hin. Die Ermittlungen verliefen im Sand, bis Hanno Albers – ein charismatischer Kollege außer Dienst, der für diesen Fall reaktiviert wurde – eine neue Spur entdeckte. Ihre Recherche führte sie nach Irland, wo im Jahre 1994 ein ähnlicher Fall für nationale Empörung sorgte.
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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Cover zeigt eine, links und rechts von Altstadthäusern gesäumte, Fußgängerpassage an deren Ende die Sankt Lamberti Kirche in Münster zu sehen ist.
Teufels Täter
Wolfgang Wiesmann
Februar 2025
© 2025 OCM Verlag, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund
Verlag:OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-949902-21-5
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Verflixt
Chefsache
Tatort Baggersee
Gut und Böse
Der Pfarrer
Der Plan
Schock
Nachts
Krokodil
Die Mutter
Teambildung
Beaujolais
Folter
Die chinesische Methode
K
Der sprachlose Zeuge
Machtspirale
Pressewirbel
Citylink
Die Akte Brendan O’Donnell
County Clare
Münster
Klimawechsel
Keane’s Pub
Mountain Blues
Cauldron
Cregg House
Frühstück
Das Haus am See
Vorletzte Überraschung
Teufels-Taeter
Tappen
Abwegig
Showdown
Cover
Impressum
Inhaltsübersicht
Textanfang
„Fey, dein Chef will dich sprechen. Klingt ziemlich nervös.“
„Woher hat der deine Nummer?“, fragte Fey konsterniert.
Ihre Schwester nahm die Hand vom Mikro und reichte ihr das Handy.
„Herr Carstensen, was gibt’s?“
„Sie kommen bitte sofort ins Präsidium. Direkt in mein Büro. Doppelmord. Kollege Mörris ist ja bekanntlich auf Urlaub im Himalaja.“
„Herr Carstensen, ich habe mir ausdrücklich für diesen Tag frei genommen. Steht dick im Terminplaner. Seit Wochen. Ich bin Taufpatin. Wir fahren gerade zur Kirche.“
„Frau Amber, der Fall duldet keinen Aufschub!“
Fey Amber konnte es nicht fassen. Ihr Chef hatte aufgelegt. Als hätte sie es geahnt. Ihr eigenes Handy hatte sie vorsorglich in ihrem Wagen gelassen. Nur mal ein paar Stunden ungestört ganz der Familie gehören. Es war ihr nicht vergönnt.
„Der hat tatsächlich deine Nummer herausgefunden“, stöhnte sie verärgert und gab das Handy an ihre Schwester zurück. Fey war den Tränen nahe. Ihre Schwester bemerkte das und nahm die Decke vom Babysitz zur Seite.
„Schau ihn dir an! Du bist trotzdem seine Taufpatin und er wird stolz auf dich sein, wenn er später erfährt, dass seine Tante bei der Mordkommission arbeitet. Ist er nicht süß? Wir werden eine Lösung finden. Der Pfarrer sieht das nicht so eng.“
Fey seufzte und schaute aus dem fahrenden Wagen. Ihre Schwester streichelte ihr über die Wange. „Schau her, wie niedlich er schläft.“ Für Fey stand ein harter Arbeitstag an. Sie musste umschalten, ganz gegen ihren Willen.
„Tut mir leid, ich muss telefonieren.“ Sie bat um das Handy und bestellte zwei Polizisten von der Streife zur Kirche. „Die sind schneller als ein Taxi“, murrte sie widerwillig, schmunzelte aber beim Blick auf ihren Neffen. „Dann können die lieben Verwandten darüber spekulieren, warum wohl die Taufpatin von ihren uniformierten Kollegen abgeholt wird. Was für eine Welt, in die du da hineingeboren wurdest.“
Fey überlegte, warum ihr Chef sie ins Büro bestellt hatte und nicht gleich zum Tatort. Dadurch verlor sie wichtige Zeit. Ein Doppelmord war selten. Vielleicht mussten zwei Zeugen dran glauben, waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder mal wieder ein Familiendrama, in dem die Emotionen bereits lange unterschwellig kochten und man sich zur Abkühlung gegenseitig die Kehlen aufgeschlitzt hatte.
Im Aufzug des Präsidiums erfuhr sie, dass in Carstensens Büro der Ausnahmezustand herrschte. Die Bude wäre rappelvoll mit Kollegen.
Fey tippelte auf ihren hohen Absätzen und in ihrem engen champagnerfarbenen Zweiteiler in Carstensens Büro, wo sie den männlichen Kollegen für eine Sekunde den Atem raubte. Schnell tat jeder so, als würde ihn die hübsche Mittvierzigerin mit ihren hochgesteckten blonden Haaren nicht wirklich interessieren. Dass sie in ihrem Outfit heute noch im Büro auftauchen würde, war nicht beabsichtigt. Schon gar nicht für einen Auftritt vor Ackermann, dem Polizeipräsidenten, der auf dem Sessel ihres Chefs Platz genommen hatte.
Sie legte ihre kleine Handtasche mit den Schminkutensilien auf Carstensens Aktenschrank und schaute sich um. Sie blickte in betroffene Gesichter. Eine unwirkliche Stille beseelte den Raum. Klar, wenn’s um Mord ging, fühlten alle Kollegen mit, aber diesmal lag noch etwas anderes in der Luft.
Ackermann mischte sich sonst nie in das Tagesgeschäft ein. Eine terroristisch motivierte Tat wäre eine Erklärung für seine Anwesenheit oder es hatte zwei Prominente erwischt.
Sie suchte nach einer Sitzgelegenheit, aber alle Stühle waren belegt. Ob aus höflicher Gewohnheit oder aus ehrlicher Kavalierstradition stand Ackermann auf und bot ihr seinen Platz an. Sie lächelte und folgte der Einladung. Daraufhin stand Carstensen auf und forderte Ackermann auf, sich statt seiner zu setzen.
Carstensen ergriff das Wort: „Wie ich bereits ausgeführt habe, handelt es sich um einen besonders tragischen Doppelmord. Eine Mutter und ihr Kind wurden an einem Baggersee circa 30 km südlich von Münster auf dem Gebiet der Stadt Haltern durch Schüsse aus einer Pistole getötet.“
Es dauerte einige Sekunden, bis Fey die Nachricht verinnerlicht hatte. Eigentlich würde ihr kriminalistischer Instinkt nun eine erste Einordnung vornehmen. Doch wie nach einem Schock waren ihre Gedanken blockiert. Einen Moment zweifelte sie am Wahrheitsgehalt der Nachricht. Hatte er wirklich Mutter und Kind gesagt? Es war bestimmt ein tragischer Unfall. Ein idiotischer Angeber wollte sich mit einer Waffe brüsten und ohne es zu wollen, schoss er gleich zwei Menschen tot. Sie wusste, dass es sich bei dieser Vorstellung um naives Wunschdenken handelte und wollte Klarheit. Sie meldete sich zu Wort. „Was weiß man über den Täter? Kann eine Verzweiflungstat ausgeschlossen werden? War es mit Sicherheit kein Suizid?“
„Frau Amber“, reagierte Carstensen missfallend. „Sie werden sich in Kürze davon überzeugen können, dass es sich um ein Kapitalverbrechen handelt. Die Mutter starb durch einen Schuss in den Kopf und ihr drei Wochen junges Baby wurde durch einen Schuss in die Brust regelrecht hingerichtet. Sie waren sofort tot.
„Gibt es Zeugen?“, fragte Ackermann. „Falls ja, verpflichten Sie die zu absolutem Schweigen. Die Öffentlichkeit wird so lange wie möglich rausgehalten. Man hört immer wieder von Familientragödien, aber machen wir uns nichts vor, ein Mord an einer Mutter und ihrem Baby wird einen Sturm der Entrüstung in den Medien auslösen. Die Presse wird uns gnadenlos auf die Pelle rücken. Je sensibler unsere Informationspolitik, desto geringer der Schaden für die Polizei.“
Ackermann wischte sich mit einem gefalteten Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn und fuhr fort:
„Bitte bedenken Sie, dass die Bevölkerung in der heutigen Zeit bei Gewaltverbrechen dieser Art schnell überreagiert. Immer mehr Menschen neigen zu Übertreibungen und dramatisieren ihre Follower bzw. ihre Community. Eine Influencerin kann in Münster mehr Schaden anrichten als die Bild-Zeitung. Da sind Sie gefragt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es darf nichts an die Öffentlichkeit durchsickern.“
In Carstensens Büro roch es stickig. Einige Kollegen hatten bereits zwanzig Stunden Schicht hinter sich. Zu verständlich, dass sie nach einer Gelegenheit suchten, um sich von Ackermanns übertriebener Besorgnis um den Ruf der Polizei abzulenken. Da kam Fey Amber in ihrem engen Kostüm gerade richtig. Allerdings hatte bisher niemand eine Schnitte bei ihr gekriegt und ein einziger Blick in ihr Gesicht würgte auch der zartesten Versuchung die Hoffnung ab.
Ackermann warnte vor einer Flut von Hinweisen, die auch aus hysterischer Angst zustande kämen, und dennoch von der Polizei respektvollen Umgang verlangten. Das kostete wichtige Ressourcen. Der Druck auf die Staatsanwaltschaft und die Polizei, einen Täter präsentieren zu müssen, könnte bei der Ermittlungsarbeit zu voreiligen Schlüssen führen. Bei einem brisanten Fall wie diesem müsse absolute Professionalität walten.
Fey kannte Ackermanns notorische Abneigung gegenüber der Presse und schenkte seinem Gerede keine besondere Aufmerksamkeit. Für sie hatte der Fall bereits Sonderstatus. Der Mord an einer Mutter und ihrem Baby ragte aus dem normalen Tagesgeschäft heraus. Zwar trug jeder Fall seine eigene Handschrift und hatte vor allem entsprechende Konsequenzen für die Ermittlungsarbeit, aber hier tat sich eine neue Dimension auf. Der Tatbestand von einer getöteten Mutter und ihrem Kind erforderte eine völlig andere Einordnung, was ihr trotz ihrer Erfahrungen nicht auf Anhieb gelingen wollte. Ihre emotionale Verfassung versperrte schlichtweg der Ratio den Weg. Von Kriegsschauplätzen hörte man solch brutale Verbrechen, aber in Münster und Haltern gab es keinen Krieg. Konnte es überhaupt ein Motiv für eine Tat geben, die jenseits aller Vorstellungskraft lag? Wenn sie nach Antworten suchte, dann weit weg von aller Routine.
Das Gefühl der Betroffenheit wollte nicht weichen. Mutter und Kind, hämmerte es in ihrem Kopf. Mutter und Kind symbolisieren Liebe und Leben. Ihnen galt ganz automatisch ein Schutz, tief verwurzelt in der Natur aller Lebewesen und besonders des Menschen. Waren die Morde also ein Angriff auf das Menschliche im tieferen Sinn?
Sie fühlte sich erleichtert, doch langsam in den Fall einzutauchen. Es kam vor, dass Kinder in Familientragödien getötet wurden, aber die fanden fast ausschließlich in den eigenen vier Wänden statt. Dass ein amoklaufender Vater oder eifersüchtiger Ehemann Mutter und Kind am Baggersee umbrachte, passte nicht ins klassische Muster. Der Täter trug eine Waffe bei sich. Demnach hatte er die Tat geplant. Ihm ist nicht die emotionale Sicherung durchgeknallt. Also war da ein Irrer am Werk. Aber wie verrückt konnte man sein? Panisch, manisch oder einfach nur meschugge? Nein, es waren gezielte Morde. Das zeigte allein die Ausführung der Tat: Schüsse in Kopf und Brust. Es sah nach Hinrichtung aus. Eine Kurzschlusshandlung in Rage? Aus Rache? An einem Baby? Unglaubwürdig.
Sie hörte Ackermann reden. Er warnte vor Patzern bei der Ermittlungsarbeit, denn es wäre abzusehen, dass auch das LKA sich in den Fall einmischen würde und man gefälligst tadellose Vorarbeit zu leisten habe.
Ackermann politisierte den Fall. Ihr wurde die Situation im Büro zuwider. Wie konnte man nur die Opfer aus dem Blick verlieren. Sie dachte an ihre Schwester und ihr Baby, das wohl just in diesem Moment getauft wurde. Ihre eigene Ehe war kinderlos geblieben und da sie seit einiger Zeit getrennt von ihrem Mann lebte, war sie nun froh, nicht alleinerziehende Mutter zu sein. Das Thema Mutter war allerdings nicht eine einmal abgehakte Sache, denn sie wäre gerne Mutter geworden, aber sie hatte ihrer Arbeit immer die Priorität eingeräumt. War sie deswegen so berührt von diesem neuen Fall? War ihre Trauer um das Schicksal von Mutter und Kind auch ein Zeichen für ihre eigenen unterdrückten Muttergefühle? So oder so, die Weichen waren gestellt, zumindest in ihrem Privatleben. Es ging hier um Fakten in einem brutalen Mordfall und nicht um längst verspätete Selbstzweifel. Mord war die eine Sache, aber in diesem Fall waren es die Opfer selber, die immer wieder ein quälendes Warum auf den Plan riefen. Zwanzig Jahre hatte sie in mörderische Abgründe geschaut. Ein Baby kam darin nicht vor. Warum war es nicht einfach lebend zurücklassen worden? Es kam doch als Zeuge nicht infrage. Blieb nur der Schluss, dass sein Tod zum teuflischen Plan des Täters gehörte. Welcher Mensch konnte einem unschuldigen Kind in die Brust schießen? Da kam nur blanker Hass infrage, wie bei einem Amoklauf. Oder war es gar ein Auftragsmord? Ein vollkommen Fremder liefert gegen Bezahlung. Sie brauchte mehr Informationen und wandte sich wieder den Kollegen zu.
Carstensen hatte das Wort übernommen. Die Opfer wurden zwanzig Meter vom Ufer des Baggersees aufgefunden. Ein wanderndes Ehepaar hatte die Leichen entdeckt und sofort die Polizei alarmiert. Außer den Schusswunden hatte die erste Untersuchung keine anderen Spuren von Gewaltanwendung ergeben. Die Schusswaffe wurde nicht gefunden, was einen Selbstmord ausschloss, dennoch könnte es sich um ein Familiendrama handeln.
Sie musste unbedingt zum Tatort, um sich selber ein Bild zu verschaffen. Die Spurensicherung würde noch vor Ort sein. Die Leichen wären wahrscheinlich bereits auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Nach Carstensens Einschätzung gab es zwei Täter. Die Schuhabdrücke im feuchten Sand des Ufers würden darauf hindeuten. Die Spuren reichten bis zum Wasser. Was aber war dort geschehen?
Wieder drängte sich die Frage nach dem Motiv auf. Beziehungsprobleme wären ein klassischer Grund. Dann kam der Täter aus dem Freundes- oder Familienkreis. Andererseits könnte die Frau etwas gesehen haben, was nicht für ihre Augen bestimmt war und wurde kurzerhand zum Schweigen gebracht. Aber wieso auch das Kind?
Carstensen kam zum Ende seiner Ausführungen. Fey sah auf die Uhr. Sie verspürte das Bedürfnis, sich aus dem Dunstkreis ihrer Kollegen zu entfernen und ging hinaus. Carstensen folgte ihr.
„Mensch, Frau Amber“, grollte er frustriert. „Ich habe sie anfangs nicht erreicht. Da musste ich selber los zum Tatort.“
„Nun, vor Ackermann haben Sie keine schlechte Figur gemacht“, meinte Fey nicht ganz ohne Ironie. Sie fürchtete das Schlimmste. Ihr Kollege Mörris war für drei Wochen auf Reisen im Himalaya. Würde sie etwa zusammen mit ihrem Chef den Fall bearbeiten müssen? Sie versuchte sich zu positionieren.
„Herr Carstensen, ich muss zum Tatort. Die Zeit läuft mir davon. Wer wird mein Partner in dem Fall?“
„Vorerst arbeiten Sie allein. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um Ihnen einen fähigen Kollegen zur Seite zu stellen. Sie sind meine beste Kraft. Ich vertraue fest auf Ihr feines Gespür. Wir werden all unsere Kräfte bündeln müssen. Der Fall ist ein Buch mit sieben Siegeln. Egal, die Presse wird uns die Hölle heiß machen.“
Fey war erleichtert, dass Carstensen ihr den Fall zunächst allein überlassen wollte.
„Der Baggersee. Ich brauche die Koordinaten!“
„Schicke ich Ihnen sofort.“
Fey drehte sich zum Gehen um. Carstensen rief ihr nach.
„Tut mir leid, das mit der Taufe.“
Fey stieg in ihren Dienstwagen und als sie ihr Handy aus dem Handschuhfach nahm, erinnerte sie sich an die Vorfreude auf die Feierlichkeiten zur Taufe. Alles hatte so schön angefangen. Sogar die Sonne schien. Gegensätzlicher konnte das Leben nicht sein. Nun jagte sie einen Mörder, der eine barbarische Tat begangen hatte. Mutter und Kind bedeuteten für alle Menschen das gleiche unantastbare Gut der Liebe. Welches Wesen besaß die Bosheit, ja die Niederträchtigkeit, dieses größte aller Werte zu zerstören?
Sie fuhr auf der A 43 Richtung Haltern. Die Gedanken rissen nicht ab. Sie öffnete das Seitenfenster, nahm sich die Klammern aus den Haaren und ließ sich vom Fahrtwind kühlen. Die Frage, ob die Mutter mitansehen musste, wie ihr Kind erschossen wurde, ging ihr nicht aus dem Kopf. Links und rechts der Autobahn rauschten gelbe Rapsfelder hinter roten Backsteinhäusern an ihr vorbei. Ein faszinierendes Gelb, dachte sie, und atmete tief durch. Der sogenannte Silbersee lag in einem Waldgebiet nahe Haltern-Sythen. Viele kannten die idyllisch-bizarre Landschaft, die an Wochenenden tausende Besucher aus dem Ruhrgebiet anlockte.
Sie hatte gerade Hausdülmen hinter sich gelassen, da sah sie auch schon einen uniformierten Kollegen, der offensichtlich Mühe hatte, Schaulustige zum Weiterfahren zu bewegen. Sie fuhr auf den Parkplatz und sah den Wagen der forensischen Abteilung. Sie war froh, im Kofferraum ihres Wagens ein Paar Turnschuhe zu finden und gegen ihre hohen Hacken einzutauschen. Wenigstens an den Füßen bequem. Nicht weit entfernt sah sie einige Kollegen in Ufernähe nach Spuren suchen. Irgendwie war sie froh, dass die beiden Leichen bereits abtransportiert waren. Harry, Chef der KTU, schaute auf.
„Wenn die Umstände nicht so traurig wären, würde ich jetzt deine flotte Berufskleidung kommentieren. Schöne Frau, wir warten hier eigentlich nur auf dich.“
„Wie weit seid ihr?“, rief sie ihm entgegen.
Harry klappte den Koffer zu und erhob sich.
„Die Patronenhülsen stammen von einer 8-mm-Kleinkaliber-Handfeuerwaffe. Wahrscheinlich eine Ruger.“ Er zeigte auf die Schildchen im Sand. „Dort die Fundstellen der Hülsen. Hier, an dieser Stelle wurde die Frau getötet. Etwa 10 Meter entfernt die zweite Hülse. Da starb das Baby. Die Leiche der Frau war noch nicht vollständig ausgekühlt. Mit ziemlicher Sicherheit trat der Tod zwischen Mitternacht und 1 Uhr ein. Dr. Degenhardt hat am Körper des Babys keine Wunden, Hämatome oder andere Verletzungen feststellen können. Bei der Frau derselbe Befund, keine Kampfspuren. Allerdings ist mir etwas bei der Leiche der Frau aufgefallen. Es mag ohne Belang sein, aber ihre Bluse war falsch geknöpft. Das dritte Knopfloch von oben wurde beim Zuknöpfen ausgelassen. Würde einer Frau das passieren?“
„Kaum. Trug sie einen BH?“
„Weiß, mit Spitze. Die Haut war tadellos in Ordnung. Ich glaube nicht an ein Sexualdelikt.“
„Was liest du aus den Spuren?“
„Keine lupenreine Geschichte. Mir fehlen die konkreten Zusammenhänge. Die Abdrücke waren nur im nassen Sand halbwegs identifizierbar. Schau dich um, überall undeutliche Fuß- und Schuhabdrücke von den Badegästen. Eine Zuordnung ist da nahezu unmöglich. Dort in Wassernähe fanden wir jedoch einige gut umrissene Fußabdrücke. Zwei Schuhgrößen: 43 und 45.“
„Du sprichst von zwei Tätern?“
„Ziemlich sicher. Dort am Ufer weisen die Spuren zwei Paar Männerschuhe und ein Paar Damenschuhe auf. Die Abdrücke der Damenschuhe stammen von der Toten. Die Spuren weisen darauf hin, dass die drei Personen mit Schuhen ins Wasser gegangen sind. Sie sind auch mit Schuhen wieder herausgekommen. Anhand der Abdrücke ist zu erkennen, dass die Frau unregelmäßig ging, als wäre sie betrunken gewesen oder von den Männern bedrängt oder gezerrt worden. Komm ich zeig’s dir.“
Sie gingen ein paar Schritte zum Wasser.
„Siehst du die Spuren hier. Ein Damenschuh mit runder Spitze, ohne Absatz.“
„Ballerinas.“
„Wenn du es sagst.“
„Tu mir einen Gefallen“, bat Fey, „und ahme die Trittfolge nach! Ich möchte sehen, wie die Frau gegangen ist. Fang am Ufer an und geh parallel zu den originalen Abdrücken.“
„Das ist nicht dein Ernst. Wo ist eigentlich Mörris? Der kann das machen oder tu’s selbst. „Bitte, ich kann mir hier vor allen nicht den Rock über die Schenkel ziehen. Los, Harry! Ich muss es sehen, solange der Tatort authentische Spuren aufweist.“
„Das gehört nicht zu meinem Job.“
Harry zögerte, grinste hämisch und ging dann doch schlaksig zum Ufer, wo er die Schrittfolge der Frau nachzustellen versuchte. Frustriert gab er auf.
„Klappt nicht alleine. Ich denke, sie wurde gestützt.“
„Wir versuchen es gemeinsam“, schlug Fey vor. „Du die Frau, ich einer der Männer.“
Mit einem aufmunternden Augenaufschlag ließ Harry sich überreden. Sie fassten sich an die Hand und gingen parallel zu den originalen Fußabdrücken. Die Beamten, die den Tatort sicherten, sahen ihnen aus der Ferne zu und amüsierten sich. Fey glättete den Sand und sie machten einen zweiten Versuch und verglichen ihre Spuren mit den originalen Abdrücken von der Tat. Diesmal hatte sich Fey gegen ihren Kollegen gewehrt. Er hatte sie am Handgelenk festgehalten und mit sich gezogen.
„Das passt“, urteilte Fey. „Schau doch! Die Abdrücke sind unregelmäßig, manche sind tiefer andere fallen aus der Reihe. Genau wie dort. Ich habe mich gewehrt, aber nicht mit aller Kraft. Du hast mich gezogen, aber nicht so, dass ich Blessuren davongetragen hätte. Auf der anderen Seite ging der zweite Mann. Die Frau befand sich in der Mitte und das Baby lag wahrscheinlich irgendwo im Sand.“
„So könnte es gewesen sein“, bestätigte Harry. „Sie hat sich nicht mit aller Kraft widersetzt. Das würde anders aussehen.“
„Oder der zweite Mann gab ihr Halt. Die Trittfolge weist nur von einem Mann weg.“
Harry schaute ungläubig.
„Du meinst, es gab einen bösen Mann und einen guten?“
„Um eine Mutter und ihr Baby umzubringen, braucht es nicht zwei Männer. Da reicht ein Monster.“
„Wo du recht hast, hast du recht, aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Ich sehe keine weiteren Anhaltspunkte für deine Gut-Böse-Theorie.“
„Was bleibt mir bei der Beweislage anderes übrig, als zu spekulieren? Habt ihr gründlich den Sand durchwühlt? Die Frau könnte absichtlich etwas fallen gelassen haben.“
„Ist wohl doch dein enger Rock, der mich irritiert.“ Harry ging zum Koffer. Die Schnallen schepperten auf wie Flipperkugeln zwischen zwei Elektroden. Er holte mit bedauerndem Blick ein Plastiktütchen hervor.
„Entschuldige. Hatte ich total vergessen. Diesen Anhänger haben wir beim Durchharken im Sand gefunden.“
Fey nahm das Tütchen und sah sich den Inhalt an. Es handelte sich um ein kleines, rechteckiges, silbernes Kästchen, so groß wie eine Walnuss. Es bestand aus sehr feinem Drahtgeflecht. An der Seite befand sich ein Verschluss. Sie klemmte ihren Daumennagel dazwischen und klappte das Kästchen auf. Innen las sie auf einem Schildchen die Buchstaben: vL.
Fey fuhr zurück nach Münster. Die Identität der Mutter wurde anhand der Gravur in einem ihrer Ringe ermittelt. Sie stammte aus Münster. Die Akte mit den Angaben zur Person lag auf Feys Schreibtisch. Glücklicherweise war Anneliese nicht auch im Himalaja. Eine gute Sekretärin konnte zwar den Kollegen Mörris nicht ersetzen, aber sie verstand sich blendend mit Anneliese und das machte vieles leichter. Sie schlug die Mappe auf und las:
Es handelt sich um eine alleinerziehende Mutter, wohnhaft in Münster, gebürtig in Oldenburg. Ihr Name ist Karin Thomalla. Geboren: 12.3.1982.
Nach dem Studium der Anglistik in Münster arbeitete sie in diversen Instituten als Fremdsprachenlehrerin.
Von Mai 2011 bis Dezember 2012 leitete sie in Frankfurt Sprachkurse für Offiziere der Nato in Afghanistan. Danach Anstellung als Dozentin für angewandte Sprachwissenschaften an der Uni Münster.
Ihr Sohn Oliver wurde am 29.4.2014 geboren. Ob es sich bei dem Säugling tatsächlich um ihren Sohn handelt, wird die DNA-Analyse ergeben.
Die Eltern von Frau Thomalla leben in Oldenburg.
Fey las weiter, konnte sich aber nicht wirklich konzentrieren. Es war schrecklich, wenn Kinder vor ihren Eltern starben. Diesmal waren es Tochter und Enkelkind. Die Morde standen gegen den Lauf der Welt, als drehte sich die Uhr verkehrt herum. Unvermittelt musste sie an das Symbol der vielen Madonnenstatuen denken. Die Gottesmutter und das Jesuskind repräsentierten den Fortbestand der Menschheit in Frieden und Liebe. Standen die Morde tatsächlich für einen spirituellen Akt, für den Angriff auf das Symbol von Mutter und Kind? Was sagte das über die Täter? Religiös motivierte Fanatiker? Das gab allerdings die Beweislage zu diesem Zeitpunkt noch nicht her.
Sie klappte die Mappe zu. Die Tür zum Flur stand offen, kein Laut war zu hören, nur das ewige Summen des Kaffeeautomaten. Carstensen kam in sein Büro zurück. Es stand die Entscheidung über ihren neuen Partner aus. Sie brauchte verlässliche Rahmenbedingungen, um die Ermittlungen zu forcieren. Sie ging zu ihm ins Büro.
„Haben Sie einen männlichen Kollegen für mich gefunden? Ich bin im Moment ratlos, nichts passt zu bekannten Fällen. Ich brauche einen Partner mit Verstand und Sinn für Abstraktionen, einen kühnen Querdenker mit intuitiver Ader für das Absonderliche.“
Fey wartete einen Moment. Carstensen starrte vor sich hin, als wäre er in Trance verfallen.
„Wissen Sie, Frau Amber, ich zerbreche mir seit Stunden den Kopf über genau diesen Mann.“
Fey konnte gerade noch rechtzeitig ein prustendes Lachen unterdrücken. Carstensen hatte mit Sicherheit keine Ahnung, welche Qualitäten sie meinte, dennoch schien er etwas anzuvisieren.
„Dass Sie keinen von der Stange brauchen, ist mir klar, aber finden Sie heute mal einen, der Ihren Ansprüchen genügt. Männer mit extravaganten Tugenden kommen nicht von der Polizeischule. Die kommen von einem anderen Stern. Allerdings …“
Es sah so aus, als wollte er das Gespräch absichtlich in die Länge ziehen, um sie vorzubereiten.
„Raus damit, wen haben sie im Sinn?“
Wieder eine Pause, auf die sie gerne verzichtet hätte.
„Nun mal langsam“, sagte Carstensen, sichtlich bemüht, schwere Kost zu verkaufen. „Ich habe niemanden konkret gefragt, nur eine Idee. Verstehen Sie. Ich muss erst vorfühlen.“
„Um Himmels willen. Wer ist es?“
Sie tippte mit den Fingernägeln auf die Schreibtischunterlage, schaute gereizt an die Decke und wäre am liebsten explodiert.
„Okay, dann eben jetzt. Sie können sich bestimmt an Ihren Vorgänger Hanno Albers erinnern.“
„Um Himmels Willen. Nicht Ihr Ernst. Albers. Ein in die Jahre gekommener Rentner. Ich verzichte lieber ganz. Er ist zwar ein Urgestein, aber für den aktiven Dienst viel zu lange raus.“
1977 hatte man Albers in den Beraterstab von Hans-Jürgen Wischnewski berufen. Damals ging es um die Flugzeugentführung in Mogadischu. Die RAF bestand aus relativ jungen Mitgliedern. Albers sollte mit frischen Ideen das Team um Wischnewski bereichern. Die Geiselnahme lief glimpflich ab. Kanzler Schmidt hatte Albers damals eine Auszeichnung verliehen. Carstensen wandte sich an sie, als hätte er jetzt schon etwas gut zu machen.
„Sind Sie damit einverstanden, dass ich Albers anrufe?“
„Einen Moment, Chef. Ich bin etwas von der Rolle. Sie machen Scherze. Albers, ein greiser Veteran.“
„Nicht der Idealste, wenn es um standardisierte Kriterien geht, aber der Beste, wenn es um einen unkonventionellen Querdenker geht, der so wie Sie mit Leidenschaft bei der Sache ist.“
„Im Team mit einer Frau. Kennt er das?“
„Wenn die Frau mit seiner bodenständigen Ehrlichkeit klarkommt, habe ich da keine Bedenken.“
„Sie meinen, mir würde kein Zacken aus der Krone brechen, wenn ich mich der Herausforderung stelle?“
„Genau.“
„Stimmt Albers zu, könnte das auch bedeuten, dass er nur sein ödes Pensionsleben aufpeppen will. Ich brauche einen Profi mit Ausdauer.“
„Ich werde ihm die Situation schildern. Willigt er ein, kommt eine markante Figur der alten Garde. Da ist dann Ihre Intuition als Frau gefragt. Aber das haben Sie drauf, Frau Amber. Geben Sie ihm eine Chance, dann bekommen Sie auch eine von ihm. Davon bin ich überzeugt.“
Fey spürte ihr Herz klopfen, obwohl sie eigentlich keinen Grund dafür sah. Wie ein kleines Mädchen, dachte sie. Seite an Seite mit dem legendären Albers, eine gewagte Nummer.
Am Nachmittag diesen Tages erhielt Fey die Nachricht von einem weiteren Mord, nur wenige Kilometer vom Tatort Silbersee entfernt. Sie war gerade auf dem Weg zu Dr. Degenhardt in die Pathologie, als sie die Details erfuhr. Ein Mann wurde von einem Jogger in einem Waldstück nahe des Hausdülmener Landwegs tot aufgefunden. Die Dienststelle in Dülmen war von dem Jogger informiert worden und hatte den Vorfall an sie weitergeleitet.
Fey trat aufs Gaspedal. Wieder lagen 30 km bis zum Tatort vor ihr. Wichtige Zeit ging nutzlos verloren.
Nach dem Vater des ermordeten Babys wurde bereits gefahndet. In der Wohnung von Frau Thomalla waren Fotos und Identität des Vaters anhand von Briefen und Tagebüchern sichergestellt worden.
Ihr kam der Gedanke, dass es sich bei dem dritten Opfer um den Vater handeln könnte. Selbstmord. Das wäre plausibel und Albers brauchte nicht mehr einzuspringen, was sie plötzlich irgendwie bedauerte. Der Vater brachte erst Mutter und Kind um und dann plagte ihn der gellende Aufschrei seines Gewissens. Seine Schuld bäumte sich zu einer unerträglichen Druckwelle auf und so erschoss er sich.
Auf ihrem Handy konnte sie sehen, dass die Luftlinie zwischen den beiden Tatorten schätzungsweise 5 km betrug. Fey bog von der Bundesstraße ab. Ein schmucker Bauernhof stand gebieterisch inmitten großzügiger Felder. Sie liebte die münsterländischen Höfe mit ihren Sandsteinfensterbänken und den weißen Sprossenfenstern, alles eingefasst von rotbuntem Klinker. So stellte sie sich ihr späteres Ruhedomizil vor, nur viel kleiner, wie eine Nordsee Kate, aber eben münsterländisch.
Dass es sich um ein Familiendrama handelte, rückte nun in den Vordergrund. Verletzungen aus der Kindheit oder einer zerrütteten Ehe saßen tief und buhlten mit dem Verstand um ein Entkommen. Doch wenn es keine Lösung gab, kam es irgendwann zu einem Supergau der Gefühle. Dann lagen die Nerven blank und alles war egal, wenn das Grauen nur endlich aufhörte. Schön und gut, dachte Fey, aber was war eigentlich mit der Liebe? Die Familienmitglieder liebten sich doch, zumindest liebten sie sich irgendwann einmal. Konnte die Liebe sie nicht retten? Offensichtlich tat sie es nicht.
Würde sich ihr Verdacht bestätigen, dass der Mörder von Mutter und Kind Selbstmord begangen hatte, könnte sie vielleicht später am Abend noch zur Tauffeier fahren und dort ein Glas Champagner trinken. Einen Augenblick fand sie ihren Wunsch geschmacklos, aber wenn sie ehrlich war, wollte sie jetzt bei ihrer Familie sein. Sie erschrak ein wenig bei dem Gedanken an ihre Familie, denn davon war nur ihre Schwester geblieben.