Teufelshaken - Krimi-Cops - E-Book

Teufelshaken E-Book

Krimi-Cops

4,4

Beschreibung

Kriminalhauptkommissar Struhlmann, genannt Struller, ahnt Schlimmes. Im Keller der Traditionsbrauerei Uerige in der Düsseldorfer Altstadt wird der dienstälteste Köbes tot aufgefunden, ausgerechnet von einem Altbierfass erschlagen. Ein Unfall? Der Rücken einer männlichen Leiche im Mönchsgewand, die in einer unterirdischen Steinhöhle bei Lohausen gefunden wird, ist mit merkwürdig angeordneten kleinen Stichwunden übersät. Struller erkennt darin ein ihm unbekanntes Symbol. Kein Unfall! Als dann noch eine dritte Leiche mit glasigem Blick auf den dahin fließenden Rhein gefunden wird, braucht Struller Unterstützung. Er rekrutiert seinen alten Praktikanten Jensen, der in einem kleinen Polizeirevier auf dem Lande nahe der holländischen Grenze eingesetzt ist und dort - so Struller - sowieso nichts Gescheites lernt. Ihre Ermittlungen führen das ungleiche Team quer durch das alte und neue Düsseldorf ins Milieu der Glücksspieler, der Karnevalisten und schließlich sogar zur Bambi-Verleihung. Sie legen sich mit einer Motorradgang an und finden Stück für Stück heraus, worum es sich bei dem geheimnisvollen Symbol handelt, das alle Morde miteinander verbindet. Was sie entdecken, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil - Struller hatte es ja gleich geahnt!

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Die Krimi-Cops

Teufelshaken

Vom Autoren-Team bisher bei KBV erschienen:

Stückwerk

Teufelshaken

Umgelegt

Die Krimi-Cops sind: Carsten »Casi« Vollmer, Jahrgang 1967, aus Düsseldorf, Ingo »Inge« Hoffmann, Jahrgang 1978, aus Hilden, Carsten »Rösbert« Rösler, Jahrgang 1977, aus Düsseldorf, Martin Niedergesähs, Jahrgang 1977, aus Herongen an der niederländischen Grenze und Klaus »Stickel« Stickelbroeck, Jahrgang 1963, aus Kerken am Niederrhein. In ihren Büchern verarbeiten sie nach Feierabend mal komische, mal härtere Einsätze der zurückliegenden Schicht. Mit tatkräftiger Unterstützung der anderen Mitglieder der Dienstgruppe Anton der Polizeiinspektion Ost haben sie nun bereits den dritten Kriminalroman um den Düsseldorfer Kommissar Pit »Struller« und seinen Praktikanten Jensen verfasst.

www.krimi-cops.de

Die Krimi-Cops

Teufelshaken

Ein Struller- und Jensen-Krimi

1. Auflage 2009

2. Auflage 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Redaktion, Satz: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-940077-49-3

E-Book-ISBN 978-3-95441-073-6

»Wat kütt, dat kütt«

Karnevalsmotto des Comitee Düsseldorfer Carneval von 2004

Prolog

Hallo?« Franz Althoff fuhr herum.

Der dünne, milchige Lichtkegel seiner Taschenlampe strich über die mit weißem Kalk getünchten Wände des Kellers. Lange Schatten hetzten die abblätternde Farbe bis an die hohe, gewölbte Decke hinauf. Eine fette, schwarze Spinne verschwand vom Licht aufgeschreckt in einer Mauerspalte.

Althoff strich sich nervös über seine dunkelblaue Köbesschürze. »Ist da jemand?« Er lauschte in die Dunkelheit.

Nichts. Keine Schritte, kein Knacken, kein Atmen. Zu hören waren nur das monotone Brummen der Kühlanlage und durch die geschlossenen Oberlichter das gleichmäßige Stimmengewirr der Gäste draußen auf der Straße vor dem Lokal.

Er entspannte sich. Warum sollte ihm auch jemand hier in den hinteren der beiden Gewölbekeller nachschleichen? Und das dazu noch im Dunkeln? Oh ja, er selbst hatte seinen Grund, den Lichtschalter nicht zu betätigen. Er war nicht scharf darauf, dass man ihn hier unten erwischte.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die mit einem Mal noch trockener waren als sonst, und brachte den Lichtkegel der Lampe wieder in die richtige Richtung. Ganz nach hinten in den Keller musste er, dorthin, wo die großen 200-Liter-Fässer gestapelt waren.

Das gute Uerige.

»Eigentlich eine Schande«, murmelte Althoff leise vor sich hin. Seit ein paar Jahren war er gegen den leckeren Gerstensaft fürchterlich allergisch. Ärztlich bestätigt: zu viel Hopfen. Er spürte, wie ihm eine unangenehme Gänsehaut den Rücken hinaufkroch. Schon der Gedanke an einen kräftigen Schluck vom leckeren Dröppke erzeugte inzwischen in seinem Körper die ersten allergischen Reaktionen.

Und das, wo er ja praktisch an der Quelle saß. »Echt eine Schande«, grummelte er düster.

Da! Da war wieder etwas!

Er wirbelte herum. Der Kegel huschte über die kleineren Fässchen, die an den Seiten halbhoch gestapelt waren. Vorne die alte Schrotmühle, daneben die Maischepfanne, dahinter der Läuterbottich. »Hallo? Ist da wer? Verdammt. Was soll das?«

Zügig schritt er bis an den Lichtschalter heran, hob eine Hand, spreizte einen Finger. Dann zögerte er. Durch die schmalen Fenster unter der Decke würde das Licht der Leuchtstoffröhren grell nach draußen auf die Rheinstraße fallen. Seine Kollegen würden vielleicht aufmerksam. Und er hatte um diese Uhrzeit natürlich nichts im Braukeller zu suchen.

Offiziell.

Und was er wirklich hier wollte ...

Er lauschte angestrengt ins Dunkle. Gleichmäßig ließ er seine Taschenlampe langsam über die braunen Holzfässer und die großen Biertanks gleiten. Keine Schatten, keine Bewegung ... nichts. Hier war keiner!

»Verdammt«, murmelte er. Vielleicht hatte er einen guten Schluck dringender nötig, als er es sich eingestehen wollte.

Er drückte seinen hageren Körper durch, durchquerte entschlossen den kühlen Raum und erreichte die dicken, alten Fässer ganz am Ende an der Rückseite des Raums. Dorthin hatte der Chef sie stapeln lassen. Uerige Bier, Weizen und Sticke. Aber das Bier interessierte ihn nicht. Überhaupt nicht. Er bückte sich und griff hinter das am Boden stehende Holzfass. Ein gezielter Griff, dann hielt er sie in der Hand. Die edle, dunkelbraune Flasche. Hochprozentiger Weinbrand. Er hatte vom Altbier auf Weinbrand ausweichen müssen. Aus medizinischen Gründen, wenn man so wollte.

Er grinste zufrieden. Endlich.

Mit zittrigen, gierigen Fingern umfasste er den roten Verschluss. Zwei Mal schon hatten sie ihn mit einer Flasche erwischt. Der Chef hatte Klartext gesprochen.

»Beim nächsten Mal schmeiße ich dich raus, Althoff!«, hatte er vor versammelter Belegschaft gedroht.

Deshalb musste selbst er, der dienstälteste Köbes der alten Traditionsbrauerei, vorsichtig sein. Der Alte würde ihn auf die Straße setzen, wenn er noch einmal erwischt wurde, da kannte der kein Pardon. Drei oder vier schnelle, kräftige Schlucke mussten deshalb bis zum Feierabend reichen.

Mit einem Plopp öffnete er die Flasche. Er setzte den staubigen Flaschenhals an seine trockenen Lippen.

Da! Da war doch schon wieder was!

Diesmal war er sich absolut sicher. Da war auch ein Schatten. An dem Fass ganz hinten in der Ecke. Hastig wollte er die verräterische Flasche verschwinden lassen.

Irgendetwas surrte. Direkt neben ihm. Der Schatten. Über ihm knirschte es.

»Verdammt ...«

Der Fluch erstarb auf seinen Lippen. Die dunkelbraune Flasche noch in der einen Hand, riss er mit der anderen die Taschenlampe hoch und hielt seinem Gegenüber den schalen Lichtkegel ins Gesicht.

»Was soll das?« Dann erkannte Franz Althoff dreierlei:

Von oben geriet eines der schweren Bierfässer ins Rutschen. Es wackelte und rollte langsam über die stählerne Borde auf ihn zu.

Er entdeckte das böse Grinsen im Gesicht seines Gegenübers und fragte sich: Warum?

Die dritte Feststellung aber war die schmerzvollste, was ihn in Anbetracht eines auf ihn zustürzenden Fasses wunderte. Die Erkenntnis traf ihn mit ihrer ganzen, unausweichlichen Bitterkeit mitten in der Magengrube, unmittelbar bevor das schwere Fass ihn unter sich begrub.

Es wird wie ein Unfall aussehen, dachte er. Aber es war keiner.

1. Tag

Die Sonne lächelte breit und unschuldig vom Himmel, als Pit Struhlmann, genannt Struller, schwitzend mit seinem fünfzehn Jahre alten Opel Vectra ohne Klimaanlage die Münsterstraße runterkachelte und nach links in den Vogelsanger Weg abbog. Er friemelte während der Fahrt ein schickes, blau-weiß gestreiftes Stofftaschentuch aus seiner Jeans und wischte den Schweiß von der Stirn.

Eigentlich war heute sein freier Tag, aber der gesichtslose Sensenmann machte ihm mal wieder, grinsend sein Werkzeug schwingend, einen dicken Strich durch die Freizeitplanung, bei der er sich gänzlich auf seine Stammkneipe in Unterrath hatte konzentrieren wollen. Krake, ein bisschen Elvis Presley und eine ganz Menge Altbier – so hatte sein freier Tag eigentlich aussehen sollen.

Der Kriminalhauptkommissar der Düsseldorfer Mordkommission warf einen Blick in den Rückspiegel.

Na ja.

Den gestrigen Abend hatte Struller im Aquarium verbracht, und das hatte nachhaltige Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Das markante Kinn schimmerte unrasiert bläulich, seine blauen Augen waren leicht rötlich unterlegt. Mit sechsundvierzig verpackte man einen fröhlichen Abend mit Krake nicht mehr ganz so unbeschadet wie mit – zum Beispiel – fünfundvierzig.

Struller strich sich durch die schwarzen Haare. Die waren zwar noch alle da, aber er musste feststellen, dass sie sich ganz oben auf dem Kopf mit dem Wachsen ein wenig schwer taten. Um sie zu schonen, hatte er sich ein feines, grau-blau kariertes Pepitahütchen zugelegt.

Struller seufzte.

Krake hatte ihm gar nicht gefallen. Sein einarmiger Lieblingswirt war zwar allgemein nicht der Typ, der ständig ausschweifend auf dem Tisch tanzte, aber er hatte sich gestern eindeutig grüblerischer, ernster und stiller als sonst gegeben. Darum musste er sich kümmern. Es gab nichts Schrecklicheres als einen depressiven Wirt.

Aber:

»Alles zu seiner Zeit«, murmelte Struller, quetschte seinen Oberkörper halb aus dem geöffneten Seitenfenster und suchte nach der verschisselten, kleinen Seitenstraße, die angeblich fast am Ende des Vogelsanger Wegs links abging, und wo uniformierte Kollegen mit Streifenwagen und Blaulicht auf ihn warteten. Hierbei geriet er allerdings ein wenig auf den Fahrstreifen des Gegenverkehrs, worauf ihn ein entgegenkommender Fahrer wild gestikulierend und heftig hupend aufmerksam machte.

»Blödmann«, fluchte Struller und entdeckte plötzlich auf der linken Seite hinter einer hohen Hecke, die die Kleingartenanlage vom Rest der Welt abtrennte, ein Blaulicht. Da war sie ja endlich, die Seitenstraße.

Struller bremste hastig. Die Reifen eines Pkw hinter ihm quietschten, dann ertönte schon wieder ein lautes Hupen. Der Typ im 3er BMW zeigte Struller einen Vogel.

Die waren aber auch alle nervös heute ...

»War doch genug Platz«, murmelte Struller mit einem gelangweilten Blick in den Rückspiegel. Er schaute wieder nach vorne und machte geistesgegenwärtig einen wilden Schlenker nach rechts. Gerade noch rechtzeitig, um im allerletzten Moment einem Fahrradfahrer auszuweichen, der ihm in der engen Einfahrt aus dem Gartenbereich kommend mit seinem Rennrad entgegenstrampelte.

»Hier ist ja mehr Betrieb als zu Weihnachten auf der Schadowstraße«, knurrte Struller und beobachtete, wie der Radfahrer Strullers Fahrkünsten Tribut zollte, sich überschlug und in einem riesigen Brennnesselhaufen landete.

Aber Struller ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und fuhr ungerührt weiter. Ein Brennnesselbad sollte ja sehr gesund sein.

Er huggelte durch mehrere, fiese Schlaglöcher an einigen Feuerwehrfahrzeugen vorbei, bis er schließlich den Streifenwagen mit den wartenden Kollegen erreichte.

Struller stieg aus dem Opel und ging geradewegs auf eine den Kopf schüttelnde, uniformierte Kollegin zu, die direkt an den Gleisen der in Düsseldorf größtenteils oberirdisch fahrenden U-Bahn stand.

»Hallo, Kollegin. Struhlmann, vom KK 11. Schieß los, was versaut mir meinen freien Tag und zwingt mich hierhin ans Ende der Welt?«

»Eine Leiche«, grinste die Kollegin. »Bei der könntest du dich beschweren. Die liegt da unter dem Baum in einer kleinen Höhle. Da, wo die von der Feuerwehr alle stehen.«

Struller schaute verdutzt drein und entgegnete: »Wie, Höhle?«

»Höhle. Umschlossene Räumlichkeit unter der Erdoberfläche. Eine Höhle eben. Und da liegt die böse Leiche drin.«

»Das sehe ich mir mal an.«

»Deshalb hatten wir dich über die Leitstelle angefordert, du erinnerst dich? Das mit dem Angucken ist allerdings im Moment noch etwas schwierig.«

Struller runzelte die Stirn. Ganz schön frech, die Kleine! Er zog die linke Augenbraue hoch und fragte: »Wieso schwierig?«

»Unser eigentlicher Einsatzgrund war, dass ein dicker Ast auf die Hochspannungsleitung der Bahn gefallen ist. Den hat die Feuerwehr ganz schnell runtergesägt. Dann meinte der Einsatzleiter aber, dass der ganze Baum morsch sei. Darum musste er gefällt werden«, erklärte die Kollegin, die bei ihren Ausführungen mit den Fingern in ihrem blonden Pferdeschwanz spielte. »Also haben die Feuerwehrleute ein dickes Seil um den großen Baum gelegt und ihn mit einem ihrer schönen, roten Autos samt Wurzeln aus dem Erdreich gezogen. Das hat ein bisschen gedauert, wahrscheinlich war der Baum kerngesund, aber wenn die Feuerwehrleute einmal angefangen haben ... Schließlich kippte der Baum, aber unglücklicherweise krachte die Baumkrone wieder auf die Hochspannungsleitung und verhedderte sich jetzt so richtig in den Kabeln. Da liegt er jetzt ganz schlecht, weil noch Strom drauf ist. Mit dem kleinen Ast wurden die fertig, das ließ sich überbrücken, aber gleich der ganze Baum: Da muss sicherheitshalber geerdet werden! Die Feuerwehr hat aber kein Werkzeug zum Erden der Leitung dabei. Sie haben ein Spezialfahrzeug nachgefordert. Das kann aber noch was dauern.«

»Puh«, keuchte Struller, den Redefluss der Kollegin unterbrechend. »Ich guck mir das Ganze mal aus der Nähe an.« Das lief ja spitze. Er zündete sich eine Zigarette an und schlenderte langsam in Richtung Tatort.

Neben den Bahngleisen am Rande der Kleingartenanlage ragten riesige, alte, meist blattlose Bäume in den Sommerhimmel. Einer von ihnen lag schräg. Mehrere trockene Äste seiner Baumkrone hatten sich in die Stromleitungen geschoben und hielten die dicken Leitungen mit knochigem Griff auf Spannung.

Am anderen Ende des Baums ragte dichtes, mit Lehm, Mörtel und dunkelbraunen Steinresten durchsetztes Wurzelwerk aus dem Boden. Dort, wo die Feuerwehr die Wurzeln des Baums aus dem Erdreich gehebelt hatte, klaffte ein dunkles Loch.

Einen weiten Bogen schlagend tastete sich Struller vorsichtig an den ausgefransten Grubenrand und lugte hinunter. Viel war nicht zu erkennen, aber offensichtlich hatten die Feuerwehrleute bei ihrer Arbeit zufällig eine alte, mit Backsteinen von Menschenhand gemauerte, unterirdische Höhle entdeckt. Schemenhaft erkannte er außerdem im Halbdunkel einen leblosen Körper, der auf einem Steinblock lag. Da hatten Kollege Zufall und die Jungs von der Feuerwehr echt einen Volltreffer gelandet. Struller kniff die Augen zusammen. Augenscheinlich trug die Leiche einen braunen Leinensack. Ein Gesicht konnte er nicht erkennen.

»Sieht aus wie aufgebahrt«, kam es von der Seite.

Struller drehte sich um und erkannte den Polizisten mit dem lustigen Nachnamen, den er vor ein paar Monaten bei einem Tötungsdelikt in Ludenberg kennen gelernt hatte. Einer, der immer ewig viele Berichte, Anzeigen und Zusatzvermerke für die Sachbearbeitung schrieb.

»Hm. Was treibt dich denn in den Norden Düsseldorfs?«, fragte Struller, der den Kollegen in eine andere Polizeiwache eingeordnet hatte. Zeit für einen kleinen Plausch hatte er ja ...

»Ist doch alles umstrukturiert worden. Der Osten gehört jetzt zum Norden, der Westen zum Süden, die Mitte bleibt Mitte.«

»Ach ja, die Umstrukturierung, ich hab davon im Intranet gelesen«, murmelte Struller, der der größten Umorganisation der Düsseldorfer Polizei im vergangenen Jahr allerdings keine größere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Die Toten blieben immer gleich tot. Da konnte man umstrukturieren, wie man wollte. »Das mit der Hochspannungsleitung haben die Jungs von der Feuerwehr aber toll hinbekommen.«

Der Kollege grinste. »Das ist die Freiwillige Feuerwehr aus dem dörflichen Norden. Die kamen direkt vom Schützenfest in Wittlaer und haben, wenn du mich fragst, alle prima einen im Tee.«

»Das erklärt einiges.«

»Ich geh mal wieder rüber. Bis gleich«, verabschiedete sich der Uniformierte, ließ Struller am Grubenrand stehen und ging zurück zum grün-weißen Wagen, wo seine hübsche Kollegin mit flinken Fingern Kurznachrichten verschickte.

Struller zündete sich eine weitere Zigarette an, beugte sich über den zerbröselten Erdrand und versuchte genauer zu erkennen, was dort in der Höhle auf ihn wartete.

Klar, eine Leiche.

Ob er mal runterklettern sollte? Von hier oben sah es so aus, als hätte jemand den leblosen Körper wie auf einem Präsentierteller abgelegt. Und dann noch dieses merkwürdige Gewand. Karneval war schon etwas länger her, und für Halloween war es noch zu früh. Ein bisschen sah das aus wie in Der Name der Rose. »Bloß kein Ritualmord oder so eine Scheiße«, zischte Struller missmutig und blies einen Rauchkringel ins Loch. So was war immer ganz schlecht!

»Hey, Struller, das ist ein Tatort, hier darfst du nicht rauchen«, erklang es vorwurfsvoll von hinten.

»Na endlich«, begrüßte Struller Faserspuren-Harald, den Chef der Spurensicherung. »Ich dachte, ihr kommt nie mehr hier an.« Struller schnipste die Kippe in einem weiten Bogen Richtung Straße.

Ein Feuerwehrmann hastete hinter der Kippe her und trat sie aufgeregt aus.

»Spinnst du? Hier ist alles furztrocken. Das kann doch kokeln. Dann brennt bald der ganze Kleingartenverein, und uns fliegt eine Propangasflasche nach der anderen um die Ohren! So blöd kann man doch gar nicht sein!«

Struller überlegte kurz, dem Blaumann ins Knie zu schießen, ließ es aber bleiben. Das war hier ein Tatort, und eine Leiche reichte fürs Erste. »Sei doch froh, dass ich ein Feuerchen mache, dann braucht ihr es nicht wie sonst immer selbst zu legen!« Er drehte sich zu Harald. »Nirgendwo darf man rauchen. Ich sag es dir: Irgendwann kommt so ein Idiot auf die Idee und fordert ein Rauchverbot für Kneipen!«

Sein Kollege blinzelte irritiert. »Äh, gibt es schon, seit dem 1. Juli.«

»Was? Hier in Deutschland?«, fragte Struller entsetzt.

Faserspuren-Harald schüttelte wortlos den Kopf und ersparte sich eine Bemerkung, weil in diesem Moment mit großem Getöse und Blaulicht ein weiterer Einsatzwagen der Feuerwehr eintraf, wahrscheinlich der mit dem Erdungswerkzeug. Drei Feuerwehrleute luden einen Apparat ab, schlossen ein paar Kabel an und gaben einem vierten Kollegen ein Zeichen. Der startete den Feuerwehrwagen und zog den Baum von der Hochspannungsleitung.

Harald und ein weiterer Kollege nutzten die Zeit, sich in einen weißen Spurensicherungsanzug zu zwängen. Struller ließ sich nötigen, wenigstens ein Paar Einweghandschuhe über die Finger und zwei Plastiksäckchen über die Schuhe zu streifen.

»Alles andere ist mir zu heiß«, meinte Struller trotzig.

Harald drückte ihm wortlos eine schwere Taschenlampe in die Finger und winkte einen Kollegen heran. »Mike Giesler. Er macht Fotos.«

Die Höhle war etwa zwei Meter tief, schätzte Struller. Das Loch befand sich in Reichweite einer gemauerten Seitenwand, und mit ein paar weit gespreizten Tritten kam man ganz gut zu recht. Vorsichtig kletterten die drei nacheinander das Gemäuer hinab.

Giesler knipste jeden ihrer Schritte, um genau festzuhalten, wie sie durch ihr Einschreiten den Tatort veränderten. Struller nervte das Geknipse, aber er hielt sich zurück. Faserspuren-Harald war der Beste seines Fachs, und wenn irgendein Mike pausenlos Fotos machte, dann hatte das mit Sicherheit seinen Sinn und Zweck.

Unten angekommen wischte Struller einen Haufen Spinnweben aus seinem Gesicht und rümpfte die Nase. »Es stinkt hier.«

»Es wird ja jetzt gelüftet«, sagte Giesler und machte ein Foto.

Harald machte sich als Erstes über die Leiche her und stellte fest, dass es tatsächlich eine war. »Kalt, tot, keine Leichenstarre mehr. Sieht noch recht frisch aus. Todeszeit vor circa acht bis zwölf Stunden. Männlich, so um die dreißig Jahre alt. Aber genauer kann das natürlich erst Doc Stich nach der Obduktion sagen.«

»Das ist mir schon klar. Kannst du sonst noch was Ungewöhnliches sehen?«

»Hab ich eine Glaskugel? Ich bin ja kaum hier«, knurrte Harald und beugte sich über die Leiche, die auf einem etwa einen Meter hohen Steinblock lag, der quaderförmig geschnitten war und die Mitte des Raums einnahm.

»Wie ein Altar.«

»Oder eine Schlachtbank.«

Klick.

Harald ließ seine Taschenlampe über die Leiche gleiten. »Merkwürdiges Gewand. Leinen, würde ich sagen.« Er hob vorsichtig den im rechten Winkel vom Körper abstehenden, linken Arm an. »Guck dir mal die Handinnenfläche an. Eingeblutet. Merkwürdiger Blutaustritt. Mach mal ein Foto hier, Mike.«

Aber Mike hatte schon mindestens ein halbes Dutzend Mal geklickt und leckte sich erregt mit der Zunge über die Lippen, wie Struller irritiert feststellte.

»Hm.«

»Was ist?«

»Keine normale Einblutung, das ist mal klar.« Harald bog die Finger der Hand auseinander.

Klick.

»Mehrere strichförmige Ritze. Das ist nicht gut. Bin gespannt, wie das aussieht, wenn ich mit einem feuchten Tuch drübergegangen bin. Sieht aus wie ein Muster.«

Klick, Klick.

»Ein Kreuz mit Bommel dran.«

»Ein T und ein S, ineinander übergehend.«

Klick.

»Und irgendwas schlängelt sich drum herum«, stellte Struller fest. »Das wird eine Schlange sein. Es ist immer eine Schlange.«

»Oder ein Wurm«, schlug Giesler vor.

Struller verzog das Gesicht. »Würmer sind es nie.«

Harald legte die Hand zurück, hob den Toten am Rücken hoch, öffnete die geschnürten Schlaufen, die das Gewand hinten zusammenhielten, und legte so den Rücken des Toten frei. »Der Tote hat keine weiteren, offen sichtbaren Wunden.«

»Das ist nicht gut«, erklärte Struller, der seine üble Vorahnung hinsichtlich eines Ritualmordes bestätigt sah. Ritualmord ... Presse! Struller ahnte Schlimmes! Das hatte ihm noch gefehlt! Und das Ganze bei der Hitze. »Vielleicht ja doch ein natürlicher Tod ...«, murmelte er.

Harald verdrehte die Augen. »Nimm mal den Arm und zieh ihn zu dir rüber, damit wir den Bauchbereich sehen können.«

»Na prima. Meine Lieblingsübung.« Struller nahm den Arm der Leiche, der sich nicht so richtig bewegen ließ, und überstreckte ihn nach hinten, sodass sich der ganze Oberkörper in seine Richtung drehte. Er musste vorsichtig sein, damit er ihm nicht post mortem den Arm brach. Ohne große Kraftanstrengung ließ sich die Leiche jetzt drehen. Auch, weil sie auffallend leicht war.

»Sieht insgesamt ein bisschen blass aus der Bursche, meinst du nicht auch?«, versuchte Faserspuren-Harald die Situation etwas aufzulockern.

»Das wundert mich jetzt nicht, wo er doch tot ist.«

»Was wundert dich überhaupt?«, entgegnete Harald.

»Dienstwagen mit Klimaanlage würden mich wundern.«

Giesler klickte. Aber auf der Vorderseite war nicht viel zu klicken. Eine blasse, flache Brust, das war alles. Scheinbar nur schwach ausgebildete Muskulatur, dunkel gekräuselte Brustbehaarung, kein Sixpack. Der Tote war auf keinen Fall Brad Pitt.

»Hier müsste wesentlich mehr Blut sein. Selbst wenn die merkwürdigen Einschnitte in seiner linken Hand nicht tief sind, muss das ganz gut geblutet haben.«

»Er wurde nicht hier geritzt. Oder sie sind angebracht worden, als er schon tot war«, schlug Struller vor.

»Schon möglich. Der Typ wurde umgebracht. Man ließ ihn vorsichtig ausbluten, und sein Blut wurde in einer Schale aufgefangen. Und ...«

»Und was?«, fragte Mike Giesler sensationslüstern.

»Und für ein Opferritual genutzt. Okkultismus. Grausam. Ich habe so etwas schon einmal gehört. Oder gesehen? Im Kino? Ich bin mir nicht ganz sicher ...«

Struller stöhnte. »Du hast definitiv einen Thriller zu viel gesehen! Ausgeblutet … Ein Mordfall mit lauter verstrahlten Verdächtigen. Alle bekloppt! Bloß das nicht!«

»Dafür spräche allerdings auch diese komische, braune Kutte«, blieb Harald hartnäckig.

Struller verdrehte die Augen. »Such du die Spuren, Harald, und überlass den Rest mir!«

Was der auch grummelnd tat und in einer Nische einen kleinen, blauen Samtsack vom Boden pflückte. Drei schwarze Kerzen, die unmittelbar daneben lagen, versenkte er kommentarlos in einen zweiten Plastikbeutel.

Klick.

»Harald, ich hau ab«, erklärte Struller und drückte sich reckend sein Kreuz durch. »Doc Stich wird jeden Moment hier eintreffen, die Leiche muss zur Gerichtsmedizin in die Uni. Ihr macht das schon. Den Bericht und die Fotos brauche ich so schnell wie möglich und natürlich Fingerabdrücke, mit deren Hilfe wir den schweigsamen Gast möglicherweise ohne Ausweispapiere identifizieren können.«

Struller ließ die beiden im Halbdunkel zurück, verließ die Höhle auf dem gleichen Weg, wie er sie betreten hatte, und war sich sicher, dass er eine entscheidende Frage zu stellen vergessen hatte. Aber es war sehr warm, und es war ihm egal. Die ganze Sache stank zum Himmel, und an die zweifellos anstehende Pressekonferenz mochte er überhaupt nicht denken.

Ritualmord … So eine Scheiße! Spinner, die sich irgendwelchen okkulten oder anderen merkwürdigen Gesellschaften anschlossen, weil sie sich in der realen Welt nicht mehr zurecht fanden. Oder sich eigene Realitäten schufen. Im Internet zum Beispiel. Mit Religion hatte das meist wenig zu tun.

Automatische Schluckreflexe setzten ein, und es drängte ihn ganz erheblich an Krakes wohlbehüteten Tresen.

Er hatte es im Urin, welchen er, wieder in der Oberwelt angekommen, an einem Beerenstrauch ließ. Hier lag vielleicht nicht gerade ein in Vergessenheit geratener Tempelritter, der seit Hunderten von Jahren untot den heiligen Gral bewacht hatte, aber Struller rechnete fest damit, dass da eine ganz miese, üble Geschichte mit großen Schritten auf ihn zukam.

Schritte … Schuhe hatte die Leiche auch keine angehabt, fiel ihm auf. Oder Unterwäsche.

Er schloss den Reißverschluss seiner Jeans, ging um die Ecke und unterbrach die beiden im Streifenwagen angeregt miteinander plaudernden Uniformierten.

»Einzelheiten zu erklären, würde zu lang dauern. Der Tatort muss bis morgen früh bewacht und abgesperrt bleiben. Ich muss mir das morgen noch mal ansehen, wenn die ersten Spurenberichte vorliegen. Bis dahin darf hier keiner rumlatschen.«

»Toller Job«, knurrte die Kollegin.

»Das ist eine ganz dicke Sache, und ihr seid live dabei. Da könnt ihr demnächst euren gemeinsamen Kindern von erzählen.«

Struller schob sich im Dienstwagen sein neues Pepitahütchen über die Haare und warf den Motor an. Sein Hemd war durchgeschwitzt. Er entschied sich für ein frisches, kühles Alt und machte sich auf in Richtung Krake.

Krake war nicht nur Strullers Lieblingswirt, er war einer seiner besten Freunde, sie kannten sich schon ewig. Für Krake hätte Struller sein letztes Hemd hergegeben. Keine Frage. Umgekehrt galt dasselbe. Auch wenn Krakes Hemden nach einem Verkehrsunfall am Schillerplatz vor einigen Jahren keine linken Ärmel mehr nötig hatten. Die linken Ärmel schnitt Krake immer sofort ab, weil sie ihm bei der Arbeit ständig im Weg herumhingen. Er brauchte keine linken Ärmel, mit nur einem Ärmel, dem rechten, kam er sehr gut zurecht.

Krake wischte gerade über den Tresen, als Struller ins Aquarium stürzte und sich mit Schwung in einen Barhocker schwang.

»‘n Abend, Struller, haben sie dich ans Arbeiten bekommen?«

»Arbeit? Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Struller leicht verwirrt.

»Na, ist doch logisch. Wir haben Samstag, es ist später Nachmittag, und du hast mir gestern gesagt, dass du vorbeikommen willst. Wenn du nichts zu tun gehabt hättest, stünde schon ein ganzer Meter leerer Biergläser auf dem Tresen.«

»Genau, weil du nämlich unheimlich langsam mit dem Spülen bist. Aber du hast tatsächlich Recht. Ich komme direkt von einer Leiche und hatte noch nichts zu essen. Mach mir zügig ein Alt und gib mir zwei von deinen ranzigen Frikadellen!«

»Jawohl, der Herr, stets zu Diensten, der Herr! Kommt sofort!«, flötete ihm Krake entgegen und schob zwei braune Bremsklötze in die Mikrowelle. Dann stellte er ein frisch gezapftes Alt auf die Theke. Allerdings nicht vor Struller, sondern ihm direkt gegenüber auf die andere Seite des Tresens.

Struller räusperte sich leicht entrüstet: »Sag mal, seit wann bekommen Leute, die bei dir auf dem Scheißhaus sitzen, ihr Bier schneller als dein Lieblingsgast?«

Krake blickte sich hektisch um. »Lieblingsgast? Ich kann meinen Lieblingsgast gar nicht sehen. Ist der gerade heimlich reingekommen? Auf‘m Pott ist keiner, aber ich erwarte jede Sekunde einen treuen Stammgast und habe vorgearbeitet. Just in time. Der Typ mit der Frisur aus den Achtzigern, der sich seine Post hierhin bringen lässt. Vokuhila, kennst du doch.«

»Aha. So einen Service kann man hier kriegen? Bekomme ich jetzt endlich die Frikos und das Alt? Oder soll ich die Kneipe wechseln, wo das Bier dann auch schon für mich auf dem Tresen steht, wenn ich reinkomme und ich nicht wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt werde?«, maulte Struller.

»Schlecht drauf oder was?«

»Das ›oder was‹ kannste weglassen. Mach hin!«

Exakt drei Minuten und siebenundvierzig Sekunden später hatte Struller die Frikadellen verschlungen, sein Alt geleert und ein neues bestellt. »Aber gib mir bloß nicht das abgestandene von da drüben!«

»Ich versteh das gar nicht. Der ist jetzt seit bestimmt einem halben Jahr immer gegen fünf hier aufgetaucht. Gestern war er nicht da, und heute scheint er auch nicht zu kommen. Ob dem was passiert ist?«, murmelte Krake mit besorgtem Gesichtsausdruck.

»Also, wenn er deine Büffelfürze nicht probiert hat, dürfte es ihm noch ganz gut gehen.«

»Jetzt mal im Ernst, auch wenn es dir schwer fällt. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Vokuhila.«

Krakes sparsamer Gesichtsausdruck sprach Bände. Aha, dachte Struller, daher rührte gestern Abend dessen nachdenkliche Stimmung.

Krake beugte sich über die Theke: »Kannst du bei euch nicht mal nachforschen, ob was passiert ist?«.

»Nun mach dir mal nicht gleich ins einärmelige Hemd, Alter, und versuch dich zu beruhigen. Das ist ein erwachsener Mensch. Er redet nicht viel, wippt bei Elvis Presley mit dem Fuß im Takt und trinkt Altbier. So jemand kann auf sich selbst aufpassen!«

Krake klebte ein neues Bier auf die Theke. »Ich weiß nicht …«, murmelte er, nahm Vokuhilas abgestandenes Bier und kippte es seufzend in die Spüle. »Ich hab da so ein ganz unangenehmes Gefühl.«

Struller nippte am Glas. Mit so einem kummervollen Gesicht auf der anderen Seite des Tresens machte das Trinken selbst in der allerbesten Kneipe keinen Spaß. Er gab sich einen Ruck. »Ich hatte zwar einen echt beschissenen Tag, und eigentlich solltest du mein Kummerkasten sein und nicht umgekehrt, aber wir können das ja so machen: Sollte er bis morgen nicht wieder hier gewesen sein, werde ich mich umhören, versprochen!« Er leerte das zweite Glas. »Bekomme ich jetzt noch mein drittes Alt oder muss ich zur Konkurrenz wechseln?«

Erleichtert widmete sich Krake seiner Zapfanlage, als aus Strullers Handy eine Mundharmonika mit Spiel mir das Lied vom Tod ein Telefonat ankündigte.

»Struhlmann? … Wer hat gesagt, ich sei am Tatort fertig und auf dem Weg ins Präsidium? … Der? Der ist doch besoffen, ehrlich, der hatte eine Fahne, mit der hätte man eine Tür aufhebeln können. … Ja, sicher. Was? Ich bin in einer Vermisstensache tätig. … Ja, so ein Typ mit einer ziemlich altmodischen Frisur, das Ding ist quasi geklärt. … Ja, natürlich. Ich bin in ungefähr zwanzig Minuten da. … Okay, bis gleich.«

Struller drückte auf Off, schnappte sich das nächste Gläschen und wühlte gleichzeitig in seiner Hemdtasche einen Zehner ans Tageslicht, den er Krake hinhielt. »Halt mal ab, ich muss ins Präsidium. Mein neuer Boss will was von mir.«

»Am Samstagnachmittag? An deinem freien Tag?«

»Ein deutscher Polizist ist immer im Dienst!«, erklärte Struller. »Bei uns läuft rund um die Uhr eine Sonderkommission. Wahrscheinlich kommen die alleine nicht klar und brauchen mich.«

Krake nahm das mal so hin. »Aha, und wie is der Neue so?«

»Er ist Kriminaloberrat, heißt Ferdinand Hengstmann und war vorher Chef der Reiterstaffel. Noch Fragen?«

Krake grinste. »Wie passend. Macht für dich sechs Euro achtzig.«

»Mach sieben.«

»Mensch, so großzügig mit dem Trinkgeld heute? Tatsächlich zwanzig Cent? Was ein Glückstag! Was kaufe ich mir davon bloß?«, knurrte Krake.

»Vielleicht ein Akkordeon«, schlug Struller im Gehen vor und ignorierte den nassen Wischlappen, den Krake ihm hinterhergeschleudert hatte und der mit einem lauten Flatschen direkt neben der Eingangstür an der Wand landete.

Zwei Kippen später parkte Struller seinen Nobeldienstwagen auf dem Innenhof des Präsidiums und latschte die ausgetretenen Steinstufen hoch ins Rondell.

Drinnen kamen ihm zwei heftig kichernde Frauen entgegen, die aussahen wie Mutter und Tochter. Beide trugen ein Polizei-T-Shirt. Die jüngere von ihnen schwang grinsend eine Kelle, die ältere trug ein Polizeimützchen. Ganz dicht waren sie wohl beide nicht.

Struller ging hastig weiter. Sein Büro befand sich in der dritten Etage. Den Paternoster konnte er nicht nehmen, der hatte am Wochenende Pause und war ausgeschaltet. Es gab Überlegungen, das altersschwache Gerät ganz abzuschaffen, aber Struller fand, dass das gute Stück ins Präsidium gehörte wie der Präsident. Oder der Cola-Automat in der Kantine. Hier in diesem Bau waren ganz andere Sachen deutlich überflüssiger als das nostalgische Holzteil.

Struller legte im Büro nur kurz die drei Kerzen und das Säckchen vom Leichenfundort ab und ging gleich weiter in den Besprechungsraum am Ende des Flurs. Es war stickig, die Fenster geschlossen, und nur der neue Leiter der Mordkommission und eine junge Frau in einem dunklen Kostüm und mit hochgesteckten, blonden Haaren saßen am runden Besprechungstisch.

»Kollege Struhlmann«, begrüßte ihn Ferdinand Hengstmann. »Das ist …«

»Yvette de Baron, die Neue bei der Staatsanwaltschaft«, stellte sich die junge Frau selbst vor. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört«,

»Die meisten Vorwürfe haben sich als vollkommen haltlos herausgestellt. Der gemeine Bürger neigt dazu, Dinge zu dramatisieren. Gewalt gehört eben manchmal dazu«, erklärte Struller.

»Wo gehobelt wird, da fallen Späne«, stimmte die neue Staatsanwältin augenzwinkernd zu.

»Äh, ja …« stammelte Hengstmann irritiert.

Struller grinste seinen neuen Chef schief an. Seinen Vorgänger, Kriminaldirektor Brenner, hatte der Ruf des Innenministers ereilt, der quasi über Nacht eine Landesleitstelle ins Leben gerufen hatte. Warum genau, wusste Struller nicht. Auf jeden Fall trieb Brenner jetzt dort sein Unwesen.

Hengstmann war nach einem bösen Reitunfall von der Reiterstaffel zum Kriminalkommissariat 11 versetzt worden. Der eigentliche neue Chef war noch nicht auserkoren, und so führte der ehemalige Reiter das Dezernat für Tötungsdelikte. Er hatte in der kurzen Zeit allerdings schon mehrmals unter Beweis gestellt, dass er mehr von Warmblütern, Hufeisen und vom Tränken trächtiger Stuten verstand als vom Mörderfangen. Aber es hieß ja, dass man mit seinen Aufgaben wächst.

Struller sah sich suchend um. »Sonst keiner mehr da?«

Hengstmann strich sich über die blaue Krawatte und schüttelte den Kopf.

»Alle Kollegen sind in Sachen Soko Black Jack unterwegs.«

»Aha«, knurrte Struller, der genau das befürchtet hatte.

In der vergangenen Nacht hatten sich mehrere Zocker in einem illegalen Spielclub auf der Corneliusstraße auf finale Art mittels Messer und Blei die Spielsucht abgewöhnt. Bis auf ihn steckten alle Kollegen des Dezernats in dieser Soko. Struller hatte man bei der Alarmierung nicht erreicht, weil sein Telefon … nun ja, es war eben kein Telefonat zustande gekommen.

»Dann fassen Sie mal kurz zusammen, Kollege«, forderte Hengstmann Struller auf.

Das tat Struller dann auch. Hengstmann wechselte dabei mehrmals die Gesichtsfarbe, und auch die wirklich nette, neue Staatsanwältin blinzelte, als Struller die bisher nicht zu deutenden, tiefen Einkerbungen in der Handinnenfläche des Opfers erwähnte.

»Die Presse …«, murmelte Hengstmann.

»Um die kümmere ich mich«, erklärte die Baronin mit entschlossener Stimme. »Mir fällt schon was Brauchbares ein.«

Struller unterdrückte ein anerkennendes Augenzwinkern. Immerhin, die schien keine Muffen zu haben! Allerdings: eine Frau als leitende Staatsanwältin … Ging das überhaupt? Gut sah sie zweifellos aus. Das festzustellen musste erlaubt sein! Schließlich hatte sie mit dem Hobeln angefangen.

Leider verabschiedete sich die neue Staatsanwältin recht zügig. »Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Hier ist meine Visitenkarte mit Adresse und Handynummer. Scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen, wenn es neue Entwicklungen gibt. Ich bin jederzeit zu erreichen! Danke. Und viel Erfolg!«

Sie glitt vom Stuhl und schwebte aus dem Raum. Sie schwebte natürlich nicht wirklich, aber Struller blickte ihr anerkennend hinterher. Eine astreine Figur, stellte er fest und verfiel kurzfristig in lüsterne Fantasien. Dann versenkte er ihre Visitenkarte im Hemd.

Hengstmann räusperte sich. »Hallo, zur Sache, Kollege. Wir beide sind für den Fall übrig. Mehr ist leider nicht zu machen.«

Struller nickte. »Okay, ich komme klar. Ich habe jahrelang alleine gearbeitet, und es ist ja noch gar nicht raus, ob die Sache so heiß gegessen werden muss, wie sie irgendein Teufelsanbeter gekocht hat.«

Hengstmann blinzelte und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Sie verstehen mich falsch. Den Fall übernehmen wir beide. Sie und ich, als Team. Also genauer gesagt, natürlich ich und Sie. Das wird mein erster Mordfall. Leute befragen, Tatverdächtige vernehmen, andere festnehmen und so weiter, herrlich«, schwärmte Hengstmann.

Struller dachte, er sei im falschen Film, und spürte, wie ihn eine neuerliche Schweißattacke heimsuchte und wie sein gerade leicht angetrocknetes Hemd unter den Armen wieder feucht wurde. Ein Team, mit Häuptling Crazy Horse …

Alles sträubte sich in ihm, mit diesem äußerlich und offensichtlich auch innerlich verunfallten Reitersmann zusammenzuarbeiten. Hobbyreiter waren ihm schon immer suspekt gewesen. Alles irgendwie Einzelgänger, komische Leute. Und jemand, der das dann auch noch zum Beruf machte? Nee, das konnte nix werden.

Doch Hengstmann träumte mit funkelnden Augen von künftigen Heldentaten. »Kollege Struhlmann, ich muss sofort meine Frau anrufen und sagen, dass ich später nach Hause komme. Vielleicht die nächsten paar Tage und Nächte überhaupt nicht mehr. Ich habe noch nie im Büro übernachtet … Wir beide haben einen Mörder zu fangen.«

»Äh, für heute war es das erst mal. Wir müssen die Obduktion abwarten. Die Berichte der Spurensicherung sind noch nicht da und die Fotos vom Tatort noch nicht entwickelt«, stammelte Struller hilflos.

»Oh ja, Obduktion, ja natürlich, hm, hm, Kollege Struhlmann. Das wäre dann schon was für Sie alleine, Leiche aufschneiden und so…«, brummte Hengstmann beim Verlassen des Raums. Dann drehte er sich noch mal um, legte einen Finger an die Stirn und sagte: »Eine Frage habe ich aber noch, Kollege Struhlmann.«

»Das machen Sie schon sehr gut«, erklärte Struller.

»Was?«

»Schon gut. Ja, bitte«, knurrte Struller mit leicht genervtem Tonfall und lehnte sich müde gegen den Türrahmen.

Hengstmann wollte es Struller gleichtun und stützte sich lässig auf den Feuerlöscher an der Wand ab. Oh je, dachte Struller noch … Aber noch ehe er seinen Chef warnen konnte, gab das rote Löschgerät ob der ungewohnten Last nach und krachte nach einem kurzen Knacken aus der Halterung. Er rauschte abwärts und landete mitten auf dem rechten Fuß des Rittmeisters. Struller hörte förmlich den Fuß brechen, der nur in einer modischen Sandalette steckte. Er zog unschuldig seine linke Augenbraue hoch. »Was wollten Sie doch gleich fragen?«

Die Antwort war ein tonloses Schreien und Jaulen. Der Löscher kullerte ein paar Meter weit und blieb liegen. Der war hin, aber er war eh seit zwei Jahren nicht mehr überprüft worden und hätte längst ausgetauscht werden müssen. Hengstmann krümmte sich.

»Haben Sie starke Schmerzen?«

Hengstmann war nicht in der Lage, die offensichtliche Ignoranz seines Gegenübers wahrzunehmen. Mit geschlossenen Augen glitt er zu Boden und wimmerte.

Struller forderte einen Rettungswagen an und saß eine halbe Stunde später alleine im großen Besprechungsraum. Er ignorierte das Rauchverbot, das im Präsidium herrschte, steckte sich eine Ernte an und machte sich mit seiner Situation vertraut.

Er hatte einen unangenehmen Fall am Bein. Er ermittelte alleine. Ohne Hengstmann, denn wie es aussah, hatte der sich den Mittelfußknochen gebrochen. Mindestens sechs Wochen Ausfall. Das war niemandem zu gönnen, würde aber die anstehenden Ermittlungen wesentlich erleichtern. Das war mal sicher.

Genau genommen war er, Kriminalhauptkommissar Struhlmann, als dienstältester Beamter des KK 11 jetzt automatisch der neue Leiter des Kommissariats. Er nahm zufrieden einen tiefen Lungenzug. In seine Mundwinkel legte sich ein diabolisches Grinsen, denn das eröffnete natürlich zahlreiche Möglichkeiten …

Als Erstes würde er sich einen zweiten Mann an seine Seite holen. Nicht, dass er das Ding nicht alleine schaukeln könnte. Aber für die unangenehmen Laufarbeiten könnte er ganz gut jemanden gebrauchen. Er lachte und hatte auch schon eine Idee, wer das sein würde …

2. Tag

Struller warf einen Blick auf die GdP-Uhr an der Wand. 10.45 Uhr. Er hatte eine mehr als bescheidene Nacht und einen nicht minder doofen Sonntagvormittag hinter sich gebracht. Irgendetwas nagte hartnäckig in seinem Kopf. Er hatte etwas vergessen. Aber was?

Nach dem Wälzen zahlreicher Akten über vermisste Personen gab Struller entnervt auf. Auf diese Weise war der unbekannte Tote aus der Höhle in Mörsenbroich nicht zu identifizieren. Es gab keinen Vermissten, auf den die Beschreibung auch nur annähernd passte. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass Faserspuren-Harald in der Fingerabdruck-Datei fündig wurde.

Struller lehnte sich im altertümlichen Schreibtischstuhl zurück, legte die Beine auf den Holztisch und griff zur durchsichtigen Plastiktüte mit den drei pechschwarzen Kerzen. Als Kind hatte er ganz gut jonglieren können. Er pulte die Kerzen aus der Tüte und wirbelte eine davon durch die staubige Büroluft. Sicher fing er sie wieder auf. Das ging ja noch ganz gut. Es gab einfach Dinge, die verlernte man nie. Jetzt mit zwei Kerzen, in jeder Hand eine.

Na also …

Erst mit der dritten ging es schief. Die Kerzen fielen zu Boden und rollten über den Teppich. Struller krabbelte hinterher, stutzte und erkannte in noch gebückter Haltung die im Boden der einen Kerze eingestanzten Buchstaben.

»SVS. Was soll das denn heißen? Spielvereinigung Sülzbach?«

Viel Zeit zu überlegen hatte Struller allerdings nicht. Heute Nachmittag stand die Obduktion einer vor zwei Tagen unglücklich verunfallten männlichen Person an. Franz Althoff. Ausgerechnet dem dienstältesten Köbes einer Düsseldorfer Traditionsbrauerei war im Kellergewölbe ein gefülltes 200-Liter-Fass Altbier auf den Schädel gefallen. Nichts war so zynisch wie das Leben!

Außerdem wollte er sich den unterirdischen Gruseltatort in Mörsenbroich, der noch immer von den Kollegen der Schutzpolizei gesichert wurde, die darüber sicherlich begeistert waren, unbedingt noch mal angucken. Er war sicher, etwas übersehen beziehungsweise eine Frage nicht gestellt zu haben.

Sein Blick fiel auf das Telefon und wieder schlich sich das diabolische Grinsen in seine Mundwinkel. Er legte die Kerzen zurück in die Schublade, kramte sein altes Handy aus der Brusttasche des Hemdes, schaute ins Adressbuch und fand tatsächlich noch den Namen und die Telefonnummer, die er gesucht hatte.

Er griff zum Hörer.

Christian Jensen schubberte sich wohlig ins warme Daunenkissen. Oh, er liebte diese Wochenenden bei Oma. Nachts war hier auf dem platten, niederrheinischen Land die Hölle los, und morgens konnte man in Ruhe auspennen. Wenn er so richtig wach würde, ging es nach unten zu Oma, und die würde ihm eine schicke, hübsch fettige Hühnersuppe zubereiten.

Herrlich.

Seine Gedanken wanderten zurück zur letzten Nacht. Erst spät in der Nacht hatte ihn ein letztes Altbier vom Fass beim Herongener Marktfest nach Hause ins Bettchen befohlen. Honky Tonk Woman war das letzte Lied gewesen, das die tolle Band als gefühlte achtundzwanzigste Zugabe zum Besten gegeben hatte. Oh, sie waren klasse gewesen. Fast besser als das englische Original!

Okay, das natürlich nicht …

In der ersten Reihe hatte er mit seinen Kumpels gestanden und glatt den Ärger darüber vergessen, dass man ihm tags zuvor eröffnet hatte, sein neues Praktikum im Verkehrskommissariat einer kleinen, usseligen Landdienststelle antreten zu müssen, wo man ihm die Bedeutung der Unfallsteckkarte mit all ihren dunkelblauen und orangefarbenen, mittelgroßen Stecknadelköpfen nahe bringen wollte. Nach seinem doch recht erfolgreichen Auftritt in einem verzwickten Mordfall bei der Düsseldorfer Mordkommission hatte er auf etwas ähnlich Spannendes gehofft. Aber vermutlich meinten die Verantwortlichen, ihm etwas Gutes zu tun, indem sie ihn in seiner alten Heimat einsetzten.

Aber jetzt genoss er den anbrechenden Morgen. Das gleichmäßige Zwitschern der Vögel unter seinem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen. Die frische Luft, die durch das geöffnete Fenster in sein Schlafzimmer strömte. Und das gleichmäßige Zwitschern der …

Er schreckte auf.

Das war gar kein Vogelgezwitscher. Und schon gar nicht gleichmäßig! Und welcher Vogel zwitschert I wear my sunglasses at night? Verdammt, das Handy.

»Zur Hölle! Wer …?«

Jensen rollte aus dem Bett, ertastete seine Jeans, kramte das Handy heraus und murmelte: »Jensen?«

»Struller hier, zieh dich an, und sei um 12.30 Uhr in der Kleingartenanlage Vogelsanger Weg. Das ist in der Nähe vom Nördlichen Zubringer. Kurz vor der Bahnlinie geht eine schmale Stichstraße links ab, die ins Gartengelände hineinführt, da treffen wir uns an einem umgestürzten Baum mit Loch davor. Du kannst mich nicht verfehlen.«

Jensen rieb sich die Augen und hielt alles für einen Traum. Sicherheitshalber sagte er mal nichts.

»Hast du mich verstanden, Jensen, halb eins, in der Kleingartenanlage!«

»Struller, bist du das? Ich versteh nicht, was …«

»Es gibt viel zu tun, bis gleich und tschüss«, beendete Struller am anderen Ende das Telefonat und ließ einen vollkommen verdutzten Jensen in seinem Bettchen in Herongen zurück.

Struller? Vogelsanger Weg? Umgestürzter Baum? Ein Loch? Er fragte sich noch das eine und das andere und war erst richtig wach, als er geduscht und mit frisch geputzten Zähnchen in den Badezimmerspiegel guckte.

Okay, siebenundzwanzig, hellblaue Augen, mittellange, blonde Haare und eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Liam Gallagher von Oasis. Da konnte man zufrieden sein.