Teuflische Saat - Andrew Brown - E-Book

Teuflische Saat E-Book

Andrew Brown

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Beschreibung

Nach einem geheimen Drohnenangriff auf ein ziviles Ziel im Südsudan erfährt George Bartholomew, Leutnant der britischen Luftwaffe, dass ein verräterisches Stück Schrapnell am Einschlagort zurückgeblieben ist. Er versucht alles, es zurückzubekommen, doch er ist nicht der Einzige mit diesem Vorhaben. Zur gleichen Zeit reist auch der englische Botaniker Gabriel Cockburn in die Region, auf der Suche nach einer Pflanze, die wesentlich ist für seine Forschung. Dort trifft er auf Alek, eine junge Frau, die sich bereit erklärt, ihn zu Forschungszwecken in gefährliches Gebiet zu führen, doch insgeheim ihre eigenen Pläne verfolgt. Die Schicksale der drei sind auf unheilvolle Weise miteinander verknüpft. Und das hat explosive Folgen ...

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Zum Buch

Nach einem geheimen Drohnenangriff auf ein ziviles Ziel im Südsudan erfährt George Bartholomew, Generalleutnant der britischen Luftwaffe, dass ein verräterisches Stück Schrapnell am Einschlagsort zurückgeblieben ist. Er versucht alles, es zurückzubekommen, doch er ist nicht der Einzige mit diesem Vorhaben. Zur gleichen Zeit reist auch der englische Botaniker Gabriel Cockburn in die Region, auf der Suche nach einer Pflanze, die wesentlich ist für seine Forschung. Dort trifft er auf Alek, eine junge Frau, die sich bereit erklärt, ihn zu Forschungszwecken in gefährliches Gebiet zu führen, doch insgeheim ihre eigenen Pläne verfolgt. Die Schicksale der drei sind auf unheilvolle Weise miteinander verknüpft. Und das hat explosive Folgen …

Zum Autor

ANDREW BROWN, 1966 in Kapstadt geboren, war während der Apartheid u. a. in der United Democratic Front aktiv und wurde mehrere Male in Haft genommen. Eine mehrjährige Gefängnisstrafe konnte durch ein Berufungsverfahren am Cape High Court abgewendet werden. Am selben Gericht ist Andrew Brown inzwischen als Anwalt tätig. Als Reservepolizist ist er jede Woche auf den Straßen Kapstadts und in den Townships im Einsatz. »Schlaf ein, mein Kind« wurde mit dem wichtigsten Literaturpreis Südafrikas ausgezeichnet und stand in Deutschland auf der KrimiWelt-Bestenliste. Sein Roman »Würde« war auf der Shortlist für den renommierten Commonwealth Writer’s Prize. Andrew Brown gilt als die neue Stimme in der Literatur Südafrikas. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

ANDREW BROWN BEI BTBSchlaf ein, mein Kind. Roman Würde. Roman Trost. Roman

ANDREW BROWN

TEUFLISCHE SAAT

THRILLER

Aus dem südafrikanischen Englisch von Mechthild Barth

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Devil’s Harvest« bei Zebra Press, Penguin Random House, Kapstadt.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung August 2018,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2014

by Andrew Brown und Zebra Press

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © plainpicture/NaturePL/Neil Aldridge

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-16941-1V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Mo

Zuerst kommt immer das Schlachten … Man kann dem Spanferkel einen Apfel ins Maul schieben und es auf einem Silbertablett servieren, jedermann kann Fliege oder hochhackige Schuhe tragen und Beifall klatschen – aber zuerst musste sich immer das Schwein in Todesangst vor dem Metzger winden.

Etienne van Heerden, 30 Nächte in Amsterdam

Die jüngsten Informationen … verweisen darauf, dass die sudanesische Regierung weiterhin eine bewusste Strategie der Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung betreibt … Den erhobenen Daten zufolge kam es zu einem deutlichen Anstieg von … Angriffen in den Wochen vor den Pflanzungs- und Erntezeiten.

Arbeitsgemeinschaft Sudan: Eine Zusammenfassung des Gipfeltreffens der Afrikanischen Union, Mai 2013

Hier bin ich nun und mache weiter mit dem, was man so Leben nennt.

Aisha Mundwa Justin Waja, ehemalige Geflüchtete, im Gespräch mit dem Autor

PROLOG

Northern Bahr al-Ghazal, Südsudan

Es ist nicht das wilde Solo einer Handtrommel, deren fest gespannte Ochsenhaut mit leuchtenden Augen geschlagen wird. Es ist auch nicht der Staub auf den freundlich wirkenden Füßen, ockergelb und aufsteigend wie dichter Nebel. Es gibt keine federnden Schritte, um diesem Tanz Ausdruck zu verleihen.

Es ist der Takt, der die Dämonen ankündigt, wenn sie ihre Höhlen verlassen, so wie er auch die Toten unter der ausgedörrten Erde ruft. Es ist dieser Pulsschlag, der sie herauslockt – Bad-a-bad-a-bad-a-bäh – und in die Welt schickt. Der Boden zittert bei ihrer Ankunft, der Rhythmus rollt drohend voran, kommt als riesige Welle von den Hügeln herab. Betrunkene Hände, die einen Holzstab bearbeiten – Bad-a-bad-a-bad-a-bäh. Wie prasselnder Hagel auf dürftigen Blechdächern. Die Apokalypse offenbart sich mit stampfenden Hufen und schnaubendem Atem. Dschandschawid. Die Teufel auf Pferderücken.

Eine Großmutter blickt von ihrer Wäsche unter einem Anabaum auf. Sie hört den schlagenden Galopp im Wind. Die dichten Wirbel ihrer Narbenmuster ziehen sich auf ihrer Stirn zusammen, als sie diese überrascht runzelt. Ein älterer Mann umfasst sein zertrümmertes Knie, während er aufzustehen versucht. Doch sein Stock ist in der Hitze rutschig geworden, und er vermag es nicht, sich daran festzuhalten. Seine Enkelin kichert, als er mit einem Seufzen zurücksinkt – Aaahh –, ehe er etwas vor sich hin murmelt und es noch einmal probiert.

Alek beginnt sich zu erheben, noch ehe die Reiter zu sehen sind. Sie weiß, was droht – wie sich auf einmal die Luft mit einem metallischen Geruch erfüllt, wie sie in ihrem Mund Blut schmeckt. Schweißperlen rinnen ihr über die Stirn, als sie vom Rand des versandeten Reservoirs aufsteht. Sie hört das ferne Schnauben der Pferde. Als sie hochblickt, bemerkt sie flatternde Tauben, die eine Schlucht hinauffliegen. Bad-a-bad-a-bad-a-bäh. Vor ihrem inneren Auge sieht Alek die Staubwolken, die wie Rauchschwaden aus einer Lok hinter ihnen aufsteigen und vom heißen Wind über die wilde Landschaft getragen werden. Sie muss nicht erst den toten Ausdruck in den Augen der Reiter erkennen. Für sie sind diese Männer Geister, die von ihren Gräbern auferstanden sind, um all jene zur Rechenschaft zu ziehen, die es wagten, ohne sie weiterzuleben. Der Teufel ist unter ihnen und trommelt mit seinen dürren Fingern auf imaginierte Tischplatten. Bad-a-bad-a-bad-a-bäh.

Neben ihr fällt ein Eimer um. Das Wasser ergießt sich über die Erde wie Öl. Oder wie Blut. Zu zögern hieße zu sterben. Sie sind wegen ihres Vaters gekommen. Aber in seiner Abwesenheit wird sie für ihn herhalten müssen. Sie wendet dem Dorf den Rücken zu, läuft vorbei an den Luaak voller Langhornrinder und rennt hinaus in die raue Landschaft. Ihre Oberschenkelmuskeln ziehen sich zusammen, und ihre Knöchel sind schon bald zerschrammt, als sie sich barfuß über die Felsen kämpft. Die rotbraune Erde hinterlässt auf ihrer Haut Flecken wie von Pollen. Hinter sich hört sie das Donnern der Hufe, das immer lauter wird und das Blöken der zweifarbigen Ziegen und das Muhen des Bullen übertönt, der die Kühe in ihren Luaak umkreist. Die Felsen sind scharf und wacklig. Sie reiben aneinander und zerkratzen die empfindliche Haut ihrer Zehen. Alek klettert schräg wie eine Krabbe mit Händen und Füßen in das schlammige Wadi-Bett hinunter, wo die Dorfbewohner ihre Kudra und Maniok anbauen.

Dann hört sie Rufe des Entsetzens. Hilflose Warnschreie. Doch sie hält keine Sekunde lang an, sondern hastet tiefer in die verlassene Schlucht hinein. Erst als sie das Dröhnen des ankommenden Todes vernimmt, das Aufheulen des Ungeheuers, als es sein erstes Opfer verschlingt, wirft sie sich zu Boden. Sie kriecht zwischen die Gesteinsbrocken und sucht dort Schutz. Reglos liegt sie da und hält sich die Ohren zu, sich nach Stille sehnend. In ihrer Brust schlägt ihr Herz in einem Rhythmus, den sie nicht unterdrücken kann. Bad-a-bad-a-bad-a-bäh. Die Laute des Entsetzens dringen immer durch, sosehr ihr Inneres auch Ruhe verlangt.

Ein Schatten schiebt sich über die Sonne. Er schwächt das Licht und verstärkt die Hitze – wie ein Deckel, der auf einen gusseisernen Topf gelegt wird. Ein Mann ragt über ihr auf, sein Gesicht eine Silhouette. Sie sieht nur noch einen Adler, der die rote Sonne in seinen Klauen davonträgt. Ein Auge, das kein einziges Mal blinzelt. Das Auge des Horus. Das Auge, das alles sieht, vor dem sie nicht zu entkommen vermag. Zu dem sie zurückkehren muss.

Al Babr ist da.

EINS

Bristol, Südwestengland

Wenn er gedanklich in seine Vergangenheit zurückkehrte, fiel es ihm schwer, den genauen Moment auszumachen, als sein ruhiges Leben zum ersten Mal ernsthaft erschüttert wurde. Es war kein plötzlicher Vorgang gewesen, das wusste er – sondern ein unaufhaltsames, allmähliches Auflösen des Geflechts, das seine Welt zusammengehalten hatte, bis er Mitte vierzig war. Es hatte sich bis dahin wohl um ein vergleichsweise unauffälliges Leben gehandelt. Vielleicht machte das die Auflösung umso überraschender, denn der Stoff schien so genau und so scheinbar fest gewebt gewesen zu sein.

Wer oder was hatte als Erstes an den losen Fäden gezogen? »Die Dinge liefen nicht nach Plan.« Diesen Ausdruck hatte sein Vater gern verwendet, wenn er resignierte. »Nicht nach Plan« betraf das ganze Spektrum menschlicher Katastrophen – vom Zusammenbruch des selbst gebauten Gewächshauses im Hintergarten bis hin zu dem schrecklichen Missbrauch des kleinen Jeffrey Hope durch den Vikar der Gemeinde. Doch in seinem Fall bezeichneten »die Dinge« sein ganzes Leben ab Mitte vierzig, wobei der ursprüngliche »Plan« genauso gut schuld daran haben konnte wie alles andere. Vielleicht fehlte es ihm an Ehrgeiz, oder er war zu schnell im Dickicht der Naturwissenschaften verschwunden. Er wusste es nicht. Das Gewebe hatte sich wahrscheinlich ernsthaft am Tag seiner jährlichen öffentlichen Vorlesung aufzulösen begonnen, kurz nachdem er sich den ersten morgendlichen Kaffee geholt hatte.

Privatdozent Gabriel Cockburn war sich bewusst, dass er mit den Plastikwäscheklammern, die seine sorgfältig gebügelten Hosenbeine unten festhielten, keine sonderlich imposante Figur abgab. Doch die Radfahrt zur Arbeit bedurfte nun einmal gewisser praktischer Arrangements, ob das nun imposant sein mochte oder nicht.

Sein üblicher Umweg auf der Strecke zur Universität von Bristol, um seinen morgendlichen Kaffee zu holen, führte ihn von Clifton Village auf die Queens Road, wo er am Studentenwerk vorbeikam. Das Studentenwerk galt als das hässlichste Gebäude in ganz Großbritannien. Es strahlte etwas Faschistisches aus, wobei die rechteckigen Blöcke zugleich an sowjetische Mietskasernen in Sofia oder Belgrad erinnerten. Doch nun wurde es zumindest äußerlich verändert und damit hoffentlich ein wenig verbessert. Hier ging es meist sanft bergab, vorbei an den Victoria Rooms des Musikinstituts, die von einer Statue Edwards VII. bewacht wurden, die ziemlich theatralisch über ihren leeren Brunnen blickte, umgeben von einer protzigen Ansammlung von Fischen, Muscheln und nackten Frauen.

Gabriels Fahrt an diesem Morgen wurde durch einige Studenten mit wild zerzausten Haaren unterbrochen, die sich gerade für eine Demonstration vor dem Verwaltungsgebäude der Universität zu versammeln begannen. Er bremste nach und nach ab, bis er sich schließlich gezwungen sah, ganz anzuhalten, als ihm einer aus der bunten Menge ein gelbes Flugblatt unter die Nase hielt.

»Stoppt die Drohnenkriege!«, rief der junge Mann, obwohl Gabriel direkt vor ihm stand und sich sonst kein weiterer Unbeteiligter in der Nähe befand.

Auf der oberen Seite des Flugblatts war ein verschwommenes Bild von unglücklichen Menschen zu erkennen, die auf einem Haufen Trümmern saßen. Handgeschriebene Transparente wiesen darauf hin, dass die Demonstranten gegen eine Konferenz protestierten, die gemeinsam mit BAE Systems, Rolls-Royce und Thales geplant war und von dem universitären Institut für Flug- und Ingenieurwesen mitorganisiert wurde. Gabriel war einen Moment lang in Versuchung, dem Studenten zu raten, sich doch lieber einen Job zu suchen. Aber er hielt sich zurück. Ihm fiel sein Vater ein, der einige Jahre zuvor diesen Satz von sich gegeben hatte, während er eine TV-Dokumentation über geistig Kranke sah, die unter den Brücken von Manchester lebten. Stattdessen ignorierte Gabriel nun das hingestreckte Flugblatt und schob sein Rad ungerührt weiter durch die Menge.

Am Clifton Triangle lehnte er es unabgeschlossen an die hintere Wand eines Bushäuschens. Jemand hatte eine Comicfigur an das Plexiglas gesprayt: ein kleines Mädchen mit einem Luftballon in Form einer Bombe in der Hand, der an der Schnur zerrte. Darüber stand in zerlaufenen Buchstaben »Bristol gegen Waffenhandel«. Die Stadt wurde immer mehr von Graffitisprayern verunstaltet, von denen einige versuchten, den berühmten Banksy nachzuahmen, während andere die Wände einfach nur mit anstößigen Malereien bedeckten. Gabriel kam das alles höchst antisozial vor. Aber die Stadtverwaltung war zu zaghaft, um sich die Studentenschaft vorzunehmen und durchzugreifen. Vielmehr hatte man eine ganze Gegend im Stadtzentrum für die Übeltäter reserviert, wo sie sich »ausdrücken« durften, als sei es eine Form von Kunst oder eine Therapie. Lokalpolitiker handhabten diesen Vandalismus geradezu wie eine originelle Touristenattraktion.

Die leuchtend roten Schirme der Espressobar beruhigten seine angespannten Nerven. Im Laden standen bereits einige Studenten und Geschäftsleute, die darauf warteten, bedient zu werden. Er reihte sich in die Schlange ein und wappnete sich innerlich gegen die unnötige Nähe der anderen – gegen die unangenehmen Gerüche von Körperausdünstungen und Deodorant. Er versuchte, eine undurchdringliche Aura um sich herum aufzubauen, so wie man das in der Metro tat, und balancierte dabei auf den Fersen vor und zurück. Dann starrte er auf die spinnenwebartigen blondgrauen Haarsträhnen, die sich von der Frau vor ihm auf seinem Revers gesammelt hatten. Musste diese Person denn mit ihren Haaren derart um sich werfen? Er hatte schon genug Zeit an diesem Morgen damit verbracht, sein Jackett mit Klebeband zu bearbeiten, das er um seine Finger gewickelt und mit dem er Katzenhaare und solche Haare entfernt hatte, die von seinem eigenen Kopf zu kommen schienen.

Der Bürgermeister hatte am Tag zuvor eine Rede gehalten und betont, wie wichtig es sei, dass nun alle Briten »zusammenrückten«. Die wiederholten Störungen (die rechtsgerichteten Zeitungen verwendeten das Wort »Aufruhr«, während der Guardian darauf beharrte, es »zwischenzeitliche soziale Unruhen« zu nennen) hatten offenbar eine neue Solidarität zwischen den Bessergestellten in Bristol hervorgerufen. Die Mittelschicht sah sich attackiert, der Thatcherismus bedurfte einer Wiederauffrischung (obwohl Dame Margaret Thatcher schon lange das Zeitliche gesegnet hatte) und die Einwanderungsgesetze sollten dringend überholt werden. Mit wem denn zusammenrücken, fragte sich Gabriel. Mit Mr. und Mrs. Worthington, die nachts ihren Müll in seine Tonne schmuggelten? Mit den Greens gegenüber, deren Rotzbengel mit halb heruntergelassenen Hosen auf seinem Skateboard einen Höllenlärm veranstaltete? Mit Vater und Sohn Kahn, die mehr Zeit damit verbrachten, ihren Ford Escort zu frisieren und seine Karosserie zu bearbeiten, als ihn tatsächlich zu fahren, und deren Gehupe bis tief in die Nacht zu hören war? Patriotismus war schön und gut, solange man noch nicht seine Nachbarn kennengelernt hatte.

Da standen sie sozusagen alle, so vereint, wie das selten im Laufe eines Tages möglich war. Doch die Bedürfnisse jedes Einzelnen führten nur zu Reibungen. Das leichte Gedrängel wurde begleitet von angestrengtem Lächeln und höflichen, aber bestimmten Einmischungen. Trotz der geteilten Erfahrung einer Anreise durch einen frühmorgendlichen englischen Nebel gab es wenig Kameraderie. Der Beginn des Tages würde sich für alle durch eine erste Injektion Koffein auszeichnen. Bis dahin misstraute jedoch jeder jedem. Die Hölle waren die anderen, die ganz nach britischer Manier für ihren ersten Espresso in der Schlange standen.

»Yeah! Yeah! Einen schwachen ›Why bother‹ im Henkelbecher, das will ich hören!«, rief der Barista. »Oder einen großen Schaumigen mit einem Doppelten. Yeah, legen wir los! Oh ja! Ja!«

Es brauchte immer eine gewisse Zeit, bis die Trends aus London auch Gabriels Ecke erreicht hatten. Die gesamte Kultur war seinem Wesen diametral entgegengesetzt – die Taktlosigkeiten, die Exaltiertheit, die unenglische Art des Enthusiasmus in der Espressobar mit ihren klaren Linien, der lateinamerikanischen Musik und den sexy pseudoitalienischen Namen. Doch es war zu einer Gewohnheit für ihn geworden, hierherzukommen – trotz der Gefühle des Unbehagens und der Verletzlichkeit, die er empfand, wenn er sich von den schwarzen Baristas beschimpfen ließ, spaßhaft und laut in der stillen Kälte des frühen Morgens. Gabriel ging stets zu Fuß von der Kaffeebar zum Biologie-Institut. Er genoss es, seinen Atem weiß in die Luft steigen zu sehen, erhitzt vom Kaffee und der Körperwärme. Während er mit einer Hand sein Rad schob und in der anderen den Becher mit dem Logo und dem Trinkdeckel hielt, fühlte er sich kosmopolitisch und kühn. Jetzt, da er hier stand, wartete er ebenso ungeduldig wie die anderen um ihn herum auf die Wirkung des Koffeins, das bittere Aroma des Arabica, das er mit einem kleinen Stück dunkler Schokolade genoss. Schokolade am Morgen – was hätte seine Mutter dazu gesagt.

»He, Brothers, da wartet eine schöne Lady auf unseren Service!«

Der Barista flirtete mit einer perfekt gestylten Frau, die vor Gabriel stand. Die Haut des Barista schimmerte seidig, und seine Lippen hatten eine natürliche dunkelrote Färbung. Jedes Mal, wenn er die Bestellungen rief, öffnete er seinen Mund weit, und sein rosafarbener Gaumen und die Zunge ließen seine Zähne noch strahlender wirken. Es war unpassend erotisch für diese frühe Stunde. Gabriel wollte seinen Kaffee, aber die Managerin vor ihm machte ein Riesenbrimborium mit ihrer komplizierten Bestellung aus fettfreier Milch und dem Verhältnis von Kaffee und Schaum. Ihre Waden waren straff, gekleidet in eine hellbraune Strumpfhose, und steckten zur Hälfte in halbhohen Stiefeln. Gabriel beobachtete, wie sich die Muskeln zusammenzogen und entspannten, während sie redete, eine unfreiwillige Pumpbewegung wie bei einem fressenden Weichtier. Vieles an ihr hatte etwas Gieriges. In Gedanken wanderte er zu dunkleren Stellen. Ihr perfekt frisiertes Haar war jetzt leicht zerzaust. Gabriel wandte den Blick ab, leicht angewidert von dem ungewollten Bild, das sich ihm da zeigte. So war sie, die stete Versuchung der Männer.

»Was soll’s ’n sein, Mann?«

Die schlanke Blondine war zur Seite getreten, um noch mit ihrem Americano oder was auch immer sie bestellt hatte, herumzuhantieren. Der vertraute Umgangston des Barista klang jetzt weniger jovial, und einen Moment lang vermochte sich Gabriel nicht an die pseudoitalienische Bezeichnung zu erinnern, die er brauchte. Zunehmend panisch durchsuchte er die Tafel über dem Kopf des Barista.

»Oh je, Brothers, hier ha’m wir mal wieder einen von den lahmen Kandidaten«, witzelte der Barista mit seinen Kollegen, die daraufhin gemeinsam einen lauten Pfiff ausstießen. »Wenn ein Mann eine Lady beobachtet, denkt er an nichts anderes mehr als an die Lady. Stimmt’s oder hab ich recht?« Weiteres Pfeifen und ein gerufener Kommentar in einer Sprache, die Gabriel nicht identifizieren konnte – frankofon und nasal.

»Macchiato. Ein Zucker«, entgegnete er knapp. Er verspürte einen Moment lang Ärger über den fehlenden Respekt, diese Annahme, dass Jugendlichkeit und eine erotische Ausstrahlung einen dazu berechtigten, das Establishment zu verspotten.

»Hast du vor, dafür zu bezahlen, mein Freund? Denn das geht garantiert nicht auf Kosten des Hauses, das kann ich dir sagen.«

Gabriel zog sein Portemonnaie heraus. Sorgfältig zählte er die Münzen ab und schob sie dann mit spitzen Fingern über die feuchte Theke. Heute würde es kein Trinkgeld geben.

»Lass es dir schmecken, Bruder.« Das klang ein wenig zu jovial, ihm zögerlich hinterhergeworfen, als er sich bereits umgedreht hatte und den Laden verließ.

Der Macchiato war heiß und befriedigte seine erste Gier. Doch schon bald war er ausgetrunken, der Becher leicht und nur noch von braunen Schaumresten durchzogen. Bis Gabriel mit seinem Fahrrad die Kreuzung an der Queens Road erreicht hatte, stellte der Becher nicht mehr eine Lifestyle-Aussage dar, sondern war bloß ein Stück Müll, der jahrzehntelang in irgendeiner Müllkuhle im Avon River verrotten würde. Jedes Vergnügen ist ein vorübergehendes, und es bleiben nur die Folgen, dachte er mit einer gewissen Befriedigung. Genau deshalb musste man an dem festhalten, was solide und empirisch nachweisbar war, was der Verschwommenheit von Meinung und Gefühl entgegenstand. Allein die Naturwissenschaft lieferte Sicherheiten. Vielleicht sollte er so etwas in seine öffentliche Jahresvorlesung einarbeiten – ein kleiner Seitenhieb gegen den philosophischen Fachbereich. Doch er merkte, wie seine Begeisterung nachließ, als er an den Inhalt seiner vormittäglichen Vorlesung dachte. Ihn störte die Tatsache, dass seine wichtige Arbeit darunter litt und er Zeit verschwendete, indem er irgendwelchen Formalien folgen und den abwesenden Spendern und provinziellen Bürokraten den Bauch kitzeln musste. »Barrierefreiheit« war das neue Schlagwort – als ob die naturwissenschaftliche Fakultät eine Gewerkschaft oder eine Regierungsorganisation wäre. Diejenigen, die das Ausmaß seiner Forschungen verstanden, erhielten zu allem, was sie benötigten, Zugang. Sie würden ohnehin nicht die Vorlesung besuchen. Nein, er würde zu denjenigen sprechen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie ihr Nichtwissen leugneten und tölpelhaft Meinungen von sich gaben, indem sie aufgeblasene rhetorische Fragen stellten. Wie sehr er diese Idioten verachtete, die öffentliche Vorlesungen aufsuchten und nickend dasaßen, bis sie in völliges Unverständnis abdrifteten.

Dementsprechend richtete er, ein Ritter mit gezücktem Schwert, seinen akademischen Zorn auf die imaginativen Zuhörer vor ihm, als er auf den Zebrastreifen der Queens Road trat, sein Fahrrad wie ein treues Haustier neben ihm. Ein schriller Ruf erklang, dessen Echo am Ziegelbau des Wills Memorial Tower widerhallte. Einige Tauben flogen mit stromlinienförmigen Flügeln wie auf ein vereinbartes Zeichen hin auf. Doch der Alarmschrei vermochte nicht in Gabriels Träumereien einzudringen, er machte zwei weitere Schritte, selbstvergessen und bereits mitten auf der Straße, bevor er ein zweites Geschrei vernahm. Da blickte er auf, als ob er gerade erwachen würde. Sein nächster Schritt war langsamer. Er bemerkte nun eine Bewegung zu seiner Linken und ein Geräusch, das bis zu diesem Moment in seiner Wahrnehmung einfach nur Teil des städtischen Dröhnens gewesen war.

Das Auto befand sich bereits vor ihm – eine weiße Limousine mit Rost auf beiden Seiten der Windschutzscheibe. Die Fenster waren heruntergelassen, und jeweils ein Jugendlicher hockte auf dem Rand, hielt sich am Dach fest und ließ zugleich mit der anderen Hand halb zerfetzte Flaggen im Wind flattern. Wie gestrandet stand Gabriel mit seinem Fahrrad in einer Teerwüste und brauchte einen Moment, um sich zu konzentrieren. Die Zeit schien stillzustehen. Die Kühlerhaube war voller violetter und grauer Vogelexkrementflecken, halb verdauten Feigen und kleinen Körnchen, die auf dem Metall klebten.

Ich werde von einem Auto voller Vogelkacke getötet, dachte Gabriel verwirrt. Warum nur hatten die Kerle nicht ihren Wagen gewaschen?

In den Sekunden vor dem erwarteten Knall richtete er den Blick von der schmutzigen Kühlerhaube auf den Fahrer. Der Mund des jungen Mannes stand seitlich offen, und er schien den Kopf zu neigen, als wäre er völlig perplex. War das Speichel auf seinen Lippen? Wer erlaubte es einem zurückgebliebenen Jugendlichen, sich hinters Steuer zu setzen? Die Muskeln in Gabriels Beinen waren erstarrt. Im allerletzten Moment, gerade als er glaubte, auf die Kühlerhaube zu prallen, riss der Fahrer das Lenkrad nach links und verschwand einen Augenblick lang aus Gabriels Blickfeld. Der Wagen geriet ins Schleudern und schwankte mit seinen alten Aufhängungen wie ein Fischerboot, das auf einmal von einer Flutwelle erfasst wurde. Die Reifen quietschten laut, während sie auf dem Teer entlangschlitterten. Es war unglaublich, sich in einer solchen Nähe zu all dieser Kraft und dieser Reibung und dieses Lärms zu befinden. Gabriel glaubte, er könnte wie in Zeitlupe die Hand ausstrecken und die physikalischen Gesetze erklären, die hier ins Spiel kamen – fast wie an der Uni. Er war sich nicht sicher, ob das Auto ihn überfahren oder einfach auf ihn zuschlittern würde, bis es ihn traf. So oder so würde er über die Queens Road segeln und seine öffentliche Vorlesung nicht halten können. Das war der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss.

Gerade als es nach einem unvermeidlichen Zusammenprall aussah, drehte der Fahrer das Lenkrad offenbar scharf herum, denn der Wagen schlingerte in die andere Richtung. Sein Gewicht drückte auf den Boden, und die Passagiere an den Fenstern wurden durchgeschüttelt wie Puppen. Er donnerte etwa zehn Zentimeter an Gabriel vorbei. Deutlich konnte dieser seine Hitze und den Wind spüren, der das Auto begleitete.

»Alter Wichser!«, vernahm er den Ruf einer jugendlichen Stimme.

Als das hintere Ende des Wagens an ihm vorbeibrauste, hob der Passagier, der dort aus dem Fenster hing, seine flache Hand und verpasste Gabriel eine schallende Ohrfeige.

Er spürte den Schlag des Jugendlichen, den furchtbaren Abdruck der Hand eines anderen Mannes auf seiner Wange. Das Rad verfing sich an der hinteren Stoßstange und wurde ihm entrissen. Zuerst tat die Ohrfeige nicht weh, vielmehr warf sie ihn wie ein Hieb zur Seite, und er verlor das Gleichgewicht. Gabriel war fassungslos, als er stürzte und es dabei kaum schaffte, seinen Arm auszustrecken, um sich zumindest noch etwas abzufangen. Er gab einen hässlichen gutturalen Laut von sich, eine Explosion aus Speichel und Kaffee, während er auf dem Boden aufschlug.

Dann lag er still da. Es fiel ihm schwer zu atmen. Vielleicht erlitt er gerade einen Herzinfarkt, auch wenn er beim letzten Check-up die volle Punktzahl erreicht hatte. Was um Himmels willen war gerade passiert? Er führte die Hand zu seinem Gesicht. Seine Wange pochte inzwischen, und die Haut fühlte sich rau an, als wäre sie verbrannt worden. Sein Gesicht war feucht und klebrig. Er ließ die Finger über seinen Mund und unter sein Kinn wandern. Blut, dachte er, das bereits mein ganzes Gesicht verschmiert hat. Er hielt sich die Hand vor Augen. Um seine Knöchel zeigte sich schmieriger brauner Schaum, die Überreste seines Macchiato befanden sich auf dem Teer neben ihm. Sein Rad lag in einiger Entfernung, das Vorderrad geknickt.

»Oh, mein Gott«, sagte eine weibliche Stimme – die Frau mit den schlanken Waden aus der Espressobar.

Gabriel blickte auf und sah, wie sie sich über ihn beugte. Ihr Gesicht war blass vor Schreck. Sie erschien ihm unwirklich und zugleich weniger schmierig und damit begehrenswerter, auf eine mütterliche, warme Weise. Er versuchte zu lächeln, doch ein Schmerz durchfuhr seine Wange, und Tränen schossen ihm in die Augen. Ein Streifenwagen raste die Queens Road entlang und schaltete einen Gang herunter, als er an Gabriel vorbeikam, ehe er den Verkehrsrowdys nachsetzte.

»Ich habe laut gerufen, um Sie zu warnen, aber Sie haben überhaupt nicht reagiert«, sagte die Frau mit einem gewissen Tadel in der Stimme. »Ich hatte Angst, die fahren Sie tot.«

Gabriel blieb auf dem Boden sitzen, unfähig, sich zu orientieren. Seine neue Flamme kniete sich neben ihn, und er roch ihre nach Holz duftenden Kosmetika, die subtil maskulin und selbstbewusst wirkten. Mit einer Serviette wischte sie ihm das Gesicht ab. Der Zellstoff fühlte sich rau wie Sandpapier an, und er zuckte zusammen. Der Schaum hatte die Serviette braun gefärbt, und er sah zu seiner Befriedigung einen dünnen Streifen Blut. Wo kam das her? Wieder tastete er sein Gesicht ab. Neben seinem linken Nasenflügel bemerkte er ein leichtes Stechen, als er mit der Fingerkuppe darüberstrich.

»Man hat Sie zerkratzt, Sie Armer.«

Zerkratzt? Er blickte zu ihr auf. Ein blasses Gesicht, umgeben von stark blondierten Haaren. Aus der Nähe bemerkte er, dass die Haarwurzeln in Wirklichkeit mattbraun waren. Zerkratzt!

Als sie weitersprach, konnte Gabriel ihre Füllungen sehen – wie ein metallischer Graben, der bis weit in ihren Rachen reichte. »Diese verdammten Nigerianer«, seufzte sie. »Ich wünschte, man würde sie dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen sind. Die machen nur Probleme. Nur Probleme.«

Gabriel musste die Stirn gerunzelt haben, denn sie richtete sich mit einer leicht herablassenden Miene auf.

»Da können Sie sagen, was Sie wollen«, fuhr sie erregt fort. »Aber die sind doch zu nichts zu gebrauchen, und wir brauchen sie garantiert nicht hier.«

»Es ist bloß … Ich glaube nicht, dass das Afrikaner waren«, erwiderte Gabriel. Er hievte sich zuerst auf seine Knie hoch und vermochte dann ganz aufzustehen. Eher pakistanische Fußballproleten der dritten Generation, die aus den Sozialsiedlungen kamen, war seine Vermutung. »Aber danke für Ihre Hilfe. Es ist alles wieder gut«, schwindelte er und tastete mit dem Handrücken seine Nase ab.

»Nun, ich finde jedenfalls, dass man etwas gegen diese Leute tun sollte.«

Sie drückte ihm die schmutzige Serviette in die Hand und wandte sich auf ihrem Absatz um, ganz offensichtlich enttäuscht von seinem fehlenden Enthusiasmus. Was hatte sie erwartet? Dass er seine männliche Potenz demonstrierte, indem er den Jugendlichen von seinem beweglichen Thron stieß und ihn zu Boden riss? Ihn persönlich ins Flugzeug setzte und nach Kaschmir oder Lagos schickte? Ihre Enttäuschung quälte ihn ein wenig, doch er verspürte kein Bedürfnis, sie zurückzurufen. Stattdessen beobachtete er, wie sie mit ihren hohen Absätzen über das Kopfsteinpflaster davonklapperte. Das Verhalten von Menschen brachte ihn immer wieder erneut aus der Fassung. Er hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, sich um seine Pflanzen im Gewächshaus zu kümmern.

Gabriel begutachtete seine Gesichtsverletzung in der Angestelltentoilette des Instituts. Die Angestellten hatten eigene Schlüssel zu diesen Räumlichkeiten. Die Tür blieb verschlossen, um die Horden unerzogener Studenten davon abzuhalten, diese Örtlichkeit zu verwüsten. Trotzdem war das Waschbecken schmutzig, feuchtes Klopapier verstopfte den Abfluss, und der ganze Ort verströmte den Geruch abgestandener Ausdünstungen und kalten Rauchs. Der geflieste Boden war rutschig und nass – von Wasser und danebengetropftem Urin. Die Universitätsangestellten mochten der lebhaften Jugend ihre fehlende Genauigkeit vorhalten, aber in diesem Fall war die Verwüstung wohl eher auf die älteren Professoren mit ihren Prostataproblemen zurückzuführen, die versucht hatten, noch das Letzte aus ihren schlaffen Penissen herauszumassieren.

Gabriel vermied es, den Rand des Waschbeckens zu berühren, als er sich vorbeugte und sein Gesicht in dem fleckigen Spiegel begutachtete. Er war wenig beeindruckt. Von seiner leuchtend roten Wange und dem feuchten linken Auge einmal abgesehen, schien er unverletzt zu sein. Das Blut unter seiner Nase war getrocknet und erinnerte nun eher an Rotz. Er probierte es wegzuwischen, aber es war bereits verkrustet. Draußen lag sein verkrüppeltes Fahrrad, wie immer an den Ständer gesperrt. Insgesamt war der Unfall recht unbefriedigend ausgefallen.

Er überlegte, ob er seine Frau anrufen sollte. Doch Jane würde ihn vermutlich auslachen und zwar ohne Mitgefühl. Da war er sich ziemlich sicher. Ihre Beziehung zeichnete sich immer weniger durch gegenseitige Empathie, sondern zunehmend durch ein Konkurrieren aus. Er genoss die Reibereien, wenn er glaubte, als Sieger vom Platz gehen zu können. Aber in Momenten der Schwäche sehnte er sich nach mehr Zuneigung. Seine Frau war von Natur aus nicht zärtlich. Allein die Tatsache, dass sie ihren Mädchennamen Easter behalten hatte, signalisierte, was die Ehe für sie bedeutete: eine kommerzielle und gesellschaftliche Partnerschaft. Nichts weiter. Ihr von dem Kratzer unter seiner Nase zu erzählen, hätte bei ihr keinerlei Besorgnis, sondern eher eine spöttische Bemerkung ausgelöst.

Gabriel quälte immer wieder die Angst, sein Leben würde durch irgendeinen Schicksalsschlag, der ihn erwartete, in eine Richtung gelenkt, die er nicht beeinflussen konnte. Er glaubte, dass irgendeine demütigende Geschichte die Menschen aus der Bahn warf – zum Beispiel indem sie als Kinderschänder beschuldigt wurden und so für immer einen Makel mit sich trugen, der sich nicht mehr tilgen ließ. Oder wie seine Tante, deren übergewichtiger Ehemann sie auf dem Bett niedergedrückt hatte, nachdem er mitten im Geschlechtsakt einen Herzinfarkt erlitt. Oder wie Sheila aus Manchester, die sich bei ihrer Graduiertenfeier auf die Schuhe des Universitätsrektors übergeben hatte. Oder Maddy Tinkler, die ein halbes Jahr verheiratet war, als sie ihren Mann und den Klempner in flagranti erwischte, beide oben bekleidet, unten aber nicht mehr.

Diese perverse Faszination für Demütigungen – seine eigenen und die anderer – hielt ihn gefangen wie ein Muskelkrampf. Er fragte sich ständig, was ihm in dieser Hinsicht wohl eines Tages selbst zustoßen würde. Immer wieder erinnerte er sich an peinliche Momente: unpassende Kommentare, eine dumme Miene auf einem Foto oder ein sonstiges unwürdiges Verhalten. Mehr war bisher nicht geschehen. Und jetzt das: keine Fraktur, nichts brauchte genäht zu werden, es gab nicht einmal blaue Flecken im Gesicht. Nur dieser unbedeutende Kratzer unter der Nase und ein ruiniertes Vorderrad.

Gabriel öffnete die Toilettentür. Für die Studenten war es noch zu früh und der Korridor mit dem Linoleumboden ausgestorben. Es war ein altes Gebäude, dessen Gänge mit Notausgängen aus Metall und Glas und dessen Labore und Seminarräume mit schweren Türen versehen waren, die man zusperren konnte, was aber nie jemand tat. An den Wänden hingen Poster über grüne Energiealternativen, dazwischen abgenutzte Korkwände mit Hinweisen auf studentische Saufpartys und WG-Zimmer. Das Leben der Studenten schien sich um Alkohol und bequeme Betten zum Bumsen zu drehen – ein Hedonismus, den Gabriel gleichsam abstoßend wie anziehend fand.

Diese innere Zerrissenheit traf auch auf das Universitätsgebäude zu, wobei geplant war, das gesamte Institut in den neuen Bau in der Tyndall Avenue zu versetzen. Dort gab es helle, lichte Labore, ergonomische Sitzmöglichkeiten und einen modernen architektonischen Minimalismus aus Beton, Glas und Stahl. Gabriel würden die Gerüche und das National-Health-Feeling des Gebäudes in der Woodland Road fehlen. Zugleich rangelten er und seine Kollegen bereits um einen Raum mit einem Blick den Hügel hinunter zum Hafen. Ein grausamer Witzbold hatte intern eine Mail versandt und erklärt, das Gebäude habe keine Zwischenwände und er solle sich seinen Arbeitsplatz aussuchen. Gabriel, oftmals leichtgläubig, war entsetzt ins Verwaltungsbüro gestürmt und erst dort auf seinen Fehler aufmerksam gemacht worden.

Er ging nach oben in die Einsamkeit seines Zimmers. Mrs. Thebes (ihr Vorname lautete möglicherweise Beryl, aber er hätte sie sowieso nie damit angesprochen) war noch nicht eingetroffen. Er teilte sich ihre tyrannische Art mit dem anderen Privatdozenten des Instituts, mit Vikum Sharma. Vikum hatte allerdings gerade ein Sabbatical, sodass Mrs. Thebes ihre gesamte bissige Unfreundlichkeit auf Gabriel richten konnte. Vikum neigte zum Stottern, und sein natürliches Lispeln verstärkte sich, wenn er sich an Mrs. Thebes wandte. Zweifelsohne rührten seine eifrigen Bemühungen, ein Sabbatical zu nehmen, nicht nur von dem Wunsch her, den Zwängen der Institutsarbeit zu entkommen, sondern auch eine Weile die Sekretärin nicht sehen zu müssen.

Bisher hatte Gabriel nicht herausfinden können, ob Mrs. Thebes verbohrt rechtsnational oder eine rigide Gewerkschaftlerin war. Selten äußerte sie eine Meinung, die nicht vor Hass sprühte, und sie musterte jeden, der ihr über den Weg lief, mit einer misstrauischen Verachtung. Ihre stahlgrauen Haare waren nicht gefärbt und in einer immer gleichen, unbeweglichen Form frisiert. Sie trug kein wahrnehmbares Parfüm – sie schien sogar überhaupt keinen menschlichen Geruch auszuströmen – und hegte offenbar keinerlei Bedürfnis, sich zu waschen. Jeden Tag machte sie von genau dreizehn Uhr bis dreizehn Uhr fünfundvierzig ihre Mittagspause, wobei Gabriel in dieser Zeitspanne ihr noch nie irgendwo auf dem Campus begegnet war oder gesehen hatte, wie sie auch nur einen Krümel zu sich nahm. Aber Mrs. Thebes war eine perfekte Organisatorin. Es gab niemanden – keinen Angestellten der Stadtverwaltung, keinen Mitarbeiter der Telefongesellschaft, keinen Kollegen –, der ihrer eisigen Entschlossenheit etwas entgegenzuhalten vermochte. Sie zu bitten, jemanden zu kontaktieren, gab ihm immer das Gefühl, einen bissigen Bullterrier von der Leine zu lassen, sodass Gabriel zweimal nachdenken musste, wann es nötig war, ihr eine Aufgabe zu übertragen, und wann er es besser selbst erledigte.

Er ging an ihrem Schreibtisch vorbei – ein leerer, blitzblanker Ort, der auf ihr Eintreffen zu warten schien. Einen Moment lang überkam ihn das kindische Verlangen, etwas Klebriges auf die Schreibtischplatte zu schmieren. Aber Mrs. Thebes war ein lebendes Beispiel dafür, dass die Heftigkeit einer Sanktion abschreckend wirken konnte, ja dass die Todesstrafe durchaus seine Richtigkeit hatte. Vor ihr einzutreffen, gab ihm eine gewisse Befriedigung, obwohl sie dazu nur ein »Schon früh da« sagen würde, als ob er eine Indiskretion begangen hätte.

Sein eigener Schreibtisch bot ein Chaos aus ungeöffneter interner Post und ungelesenen Dokumenten. Administrative Arbeiten gehörten nicht zu seinen Stärken, das wusste er. Aber Mrs. Thebes weigerte sich, dieser Schwäche Vorschub zu leisten. »Die Post liegt auf Ihrem Schreibtisch«, bemerkte sie eher anklagend als hilfreich. Normalerweise machte er einen Anfang und öffnete den ersten Umschlag, aus dem er den Übersichtsplan für die nächste Senatssitzung oder ein Protokoll über das letzte Meeting zum Thema Fördermittel herauszog. Dann gab er auf. Die Korrespondenz, die ihn interessierte, war klar zu erkennen – entweder durch das Logo der Annals of Botany auf dem Umschlag oder durch einen Stempel »unzustellbar« auf der Rückseite. Den Rest ließ er zu einem immer größer werdenden Stapel ungeöffneter Briefe in einer Ecke seines Schreibtisches anwachsen.

Gabriel bewegte seine Maus, um den Desktop-Computer aus seinem Schlummer zu wecken. Der Bildschirm wurde farbig und zeigte eine herrliche Nahaufnahme von einer Arabidopsis. Er klickte auf seinen Mail-Eingang und scrollte kurz durch die Liste ungelesener Mails. Nichts erregte seine Aufmerksamkeit, und er verkleinerte das Fenster, kehrte zu dem Blumenbild zurück.

Einer seiner Master-Studenten hatte ihm einen Becher mit dem Slogan »Keep Calm and Carry On« in Rosa geschenkt. Der Spruch aus dem Zweiten Weltkrieg, wieder ausgegraben vom Premierminister, als in London mehrere Bomben detonierten, hatte inzwischen Kultstatus erreicht und war zigmal auf T-Shirts, Taschen, Tassen und Kühlschrankmagnete gedruckt worden. Gabriel hatte »Keep Calm and Make a Cup of Tea«, »Keep Calm and Roll a Joint« sowie die stumpfsinnige Variante »Keep Calm and Have a Cupcake« gesehen, die aber vermutlich nicht so harmlos war, wie sie auf den ersten Blick erschien. Er hatte den Fehler begangen, sich positiv über die typisch britische Art der stoischen Entschlossenheit zu äußern, die sich in diesem Spruch widerspiegelte. Doch seine Studenten hatten ihm erklärt, dass es in Wirklichkeit Ausdruck all dessen sei, was mit diesem Land nicht stimmte, eine spöttische Klage über seine Isolation und Ausgrenzung.

Gabriel berührte seine Wange. Stoizismus war nicht das Gleiche wie Distanzierung. Es war die Folge von Stärke und Willenskraft. Qualitäten, die Großbritannien zu einem Land machten, mit dem man rechnen musste.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und versuchte sich darauf zu konzentrieren, was an diesem Morgen passiert war. Hatte man ihn überfallen? Angegriffen? Wie sollte er das Ganze nennen? Sollte er es überhaupt weiter erwähnen? Alle redeten von »Unruhen«, kritisierten die Polizei für ihr geringes Durchgreifen, beklagten die Gewaltbereitschaft der Jugend und die Plündereien. Doch bisher hatten es alle nur in den Abendnachrichten gesehen: die vertrauten Szenen dunkler Gestalten, die durch regennasse Straßen rannten, getaucht ins orangefarbene Licht der Streifenwagen. Gelegentlich gab es ein Interview mit einem streitlustigen Jugendlichen oder einem Polizeikommissar. Aber sie wiederholten nur die üblichen Drohungen oder erstbesten Plattitüden, die ihnen einfielen. Gabriel hörte selten zu. Für ihn hätte das genauso gut in Birmingham sein können. Oder Mogadischu, wenn er es recht bedachte.

Doch plötzlich, als er an einem ruhigen Dienstagmorgen auf dem Weg zur Universität an seinem Kaffee nippte, betraf es nun auch ihn.

ZWEI

RAF-Luftstützpunkt Waddington, Lincolnshire, England

Die Operationszentrale war geräumt worden. Nur drei Männer saßen noch vor einem kleinen Videobildschirm, den sie aufmerksam beobachteten. Der erste war der Hauptmann, ein früherer Tornadopilot, der jetzt der 39. Fliegerstaffel und dem ISTAR-Programm des Verteidigungsministeriums zugewiesen war. Er, der ein Faible für Scherze und Anzüglichkeiten hatte, redete normalerweise gerne, doch die Gegenwart der zwei ranghöheren Offiziere ließ ihn verstummen. Sie und die angegebene Flugbahn des GPS-Systems auf dem Bildschirm vor ihnen.

Oberst Frank Richards stand mit gespreizten Beinen hinter ihm und beobachtete den Bildschirm über seine Schulter hinweg. Er war ein imposanter Mann mit kurz geschnittenen sandfarbenen Haaren und einer breiten Brust. Theoretisch fungierte er für den Flug als Koordinator, obwohl die Richtlinien verlangten, dass der Koordinator kein Angehöriger der Luftwaffe sein sollte. Für die Mission gab es zudem keinen Fliegerleitoffizier. In Kombination ergab das eine grundlegende Abweichung von den Regeln und hätte zu einem Disziplinarverfahren geführt, wäre da nicht der dritte Mann im Raum gewesen: Generalleutnant George Bartholomew.

Bartholomew stand etwas abseits, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Aufmerksam beobachtete auch er, wie sich die GPS-Werte veränderten. Der RAF-Luftstützpunkt war der Knotenpunkt von ISTAR – dem Programm der Luftwaffe zur Nachrichtengewinnung, Überwachung und Zielaufklärung –, und Generalleutnant Bartholomew der direkte Ansprechpartner für das Verteidigungsministerium. Er hatte bereits das Kabinett direkt informiert, als die ersten Spione eingesetzt worden waren, um die Landstreitmächte in Afghanistan zu unterstützen und die »von Piloten bedienten kinetischen Interventionen auf fliehende Zielpunkte«, auch bekannt als Drohnen, zum Einsatz zu bringen. Das Kabinett machte das Ganze zu einer dringenden Angelegenheit und bewilligte bedeutende Summen für die Finanzierung. Seine einzige Bedingung: die schrecklichen Begriffe zu ändern.

Bartholomew näherte sich der Pensionsgrenze, ein alter Soldat mit einem zunehmend komplexen Aufgabengebiet, wo man Befehle nicht über das Donnern des Militärfahrzeugs und fernes Maschinengewehrgeknatter hinweg brüllte, sondern indem man sie in eine Tastatur eintippte oder einen Touchscreen benutzte. Sein Haar war dünn und fast farblos weiß geworden, wodurch seine von feinen Venen geröteten Wangen einen noch stärkeren Kontrast als zuvor bildeten. Alter und Wetter ließen ihn wie einen Alkoholiker wirken, obwohl er in Wahrheit kaum einen Tropfen zu sich nahm. Insgeheim befürchtete er, sein Aussehen könnte seine Autorität mindern, da ihn seine jüngeren Untergebenen fälschlich für einen ermüdenden Besoffenen hielten.

»Zwölf Minuten, Sir«, sagte der Hauptmann, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Soll ich Creech über unsere Position in Kenntnis setzen, Sir?« Creech war der Luftwaffenstützpunkt der USA in Nevada und stand mit Waddington über das ISTAR-Programm in Kontakt.

»Die wissen Bescheid.« Bartholomew hatte durchaus bemerkt, dass dem Hauptmann die veränderte Vorgehensweise nicht passte. Dennoch ärgerte ihn die Frage seines Untergebenen. Richards hatte dem Mann bereits erläutert, dass es bei dem Flug um eine Operation mit beschränktem Zugang ging. Allein die Tatsache, dass die Operationszentrale geräumt worden war, machte das offensichtlich. Er war das Werkzeug, nicht der Schöpfer, und seine Unfähigkeit, das anzuerkennen, irritierte Bartholomew. Der Hauptmann schien es für nötig zu halten, bei jedem Handlungsschritt sich erneut der unorthodoxen Vorgehensweise zu versichern.

»Ich bin gleich zurück«, erklärte Bartholomew, drehte sich um und ging zur Tür. Er legte seinen Daumen auf das Sicherheitsfeld und hörte, wie das Schloss entriegelt wurde. Er stieß die Metalltür auf und blieb dann im Korridor stehen, wo er darauf wartete, dass sie sich wieder schloss und automatisch versperrte.

Die Toiletten befanden sich ganz in der Nähe und waren zum Glück leer. Nicht nur die Kabinen und Pissoirs, sondern auch die Toilettenschüsseln und Wasserkästen hatte man aus schimmerndem Metall gefertigt. Nur die Klobrillen aus Kiefernholz durchbrachen die Sterilität des Raums.

Das entsprach wohl der Vorstellung eines Designers, wie es in der Armee zuging, dachte Bartholomew, während er seine Hose herunterließ. Das Ganze erinnerte ihn an die Tate Modern. Was war an gewöhnlichem britischen Beton und Emaille bitte schön falsch? Wie in vielen Bereichen des Militärs hatte auch hier die Funktionalität Platz gemacht für Komitee-Entscheidungen und unerträgliche Political Correctness. Es war schon schlimm genug, dass normale Soldaten neben Schwulen und Lesben arbeiten mussten. Vermutlich, brummte er vor sich hin, während er sich niederließ, war diese erbärmliche Latrine von irgendeinem Homosexuellen entworfen worden, der damit öffentliche Gelder verschwendete.

Die Klobrille war kalt, immerhin. Es gab nichts Unangenehmeres als eine vorgewärmte Brille vom Vorgänger. Er begann sich anzuspannen, und seine Schenkel wurden automatisch hart. Bartholomew litt unter Verstopfung. Sein Allgemeinarzt Maurice hielt sie für rein psychologisch, meinte, dass er unbewusst »zurückhielt«, da er befürchtete, ansonsten seine Hämorrhoiden zu reizen. Eine von ihnen sei schon teilweise zu erkennen, wie er mit einer gewissen Schadenfreude feststellte. Bartholomew hatte sich nicht in der Lage gesehen, mit heruntergelassener Unterhose angemessen zu antworten. Würde war etwas, was heutzutage für ihn selten ins Spiel kam, wenn er seinen Arzt aufsuchte. Maurice hatte ihm eine Operation vorgeschlagen, und Bartholomew hatte zugestimmt, obwohl er im Grunde lieber so weitergemacht hätte wie bisher, so unangenehm das auch sein mochte.

Er stellte sich seine neuen Gebilde als zwei blaurote Trauben vor, die am Eingang zu seinem Anus pulsierten, wobei er nie das Bedürfnis verspürte, sich über einen Spiegel zu hocken und sie zu betrachten. Er wusste, dass seine Verkrampfungen das Ganze nur schlimmer machten, aber es gelang ihm nicht, seine Darmtätigkeit in den Griff zu bekommen. Allmählich entwickelte es sich zu einer Quelle unablässiger Frustration. Er nahm genügend Abführmittel, um die Eingeweide eines Mammuts durchzuspülen, doch selbst an einem guten Tag schaffte er es nicht, mehr als ein paar Kerne, die ihn an trockene Nüsse erinnerten, herauszudrücken. Ansonsten hatte er meist einen aufgeblasenen Bauch und das dringende Verlangen, sich zu erleichtern, was allerdings zu Blähungen führte. Er schob das Ganze auf die Prostataoperation, die er ein Jahr zuvor hatte machen lassen. Aber tatsächlich hatte er bereits unter Verstopfung gelitten, lange bevor sich Maurice mit seinen unteren Regionen zu beschäftigen begann und dort mit einem »Oh« und »Ah« seinen Zeigefinger hineingesteckt hatte.

Bartholomew drückte erneute, und die Muskeln an seinen Hüften und Innenschenkeln fingen an, sich schmerzlich zusammenzuziehen. In der Metallkabine hallte ein Furz wider. Er drückte erneut, doch nichts weiter geschah. Einen Moment lang wartete er und lauschte auf irgendeinen Hinweis, dass jemand seine Flatulenzen gehört haben könnte. Dann erhob er sich und schloss seine exakt gebügelte Hose. Trotz seiner Erfolglosigkeit auf der Toilette wusch er sich die Hände mit Seife und warmem Wasser, wobei er den Blick auf das laufende Wasser gerichtet hielt, um sich nicht im Spiegel anschauen zu müssen. Die Bilder auf seinem Kaminsims zu Hause zeigten einen finsteren, gefestigt aussehenden Offizier, der vielleicht nicht die körperliche Statur eines Frank Richards hatte, aber doch fit und schlank war. Nachdem er vier Jahrzehnte seines Lebens der Armee gewidmet hatte, erkannte er sich kaum mehr selbst wieder – die herabhängenden Wangen und die labbrige Haut an seiner Brust, die braunen Flecken auf seinen Beinen. Seit der OP hatte ihn seine Libido im Stich gelassen, wobei sich Lilly nicht beklagte oder es auch nur erwähnte. Es schien so, als ob sie beide, ohne darüber jemals zu sprechen, akzeptiert hätten, dass das Körperliche vorbei war. Das arme alte Mädchen, dachte er, letztlich hatte er ihr kein sonderlich interessantes Leben geboten. Er hoffte, dass seine Verhandlungen mit den Saudis in dieser Hinsicht etwas ändern würden, dann könnten sie sich zumindest nach seiner Pensionierung ein paar echte Annehmlichkeiten leisten.

Nichts hatte sich in der Operationszentrale geändert, als er dorthin zurückkehrte. Bartholomew fragte sich, ob Richards inzwischen überhaupt geblinzelt hatte. Der Mann schien aus Stahl zu sein. Zumindest präsentierte er sich so. Als junger Pilot hatte er zuerst in Afghanistan und dann in Syrien gekämpft, und tatsächlich stellte er mit seinem kantigen, glatt rasierten Kinn und den harten Augen die wahre Verkörperung eines RAF-Piloten dar. Er machte den Eindruck, ständig schwerwiegende Entscheidungen auf seinen Schultern zu tragen, auch wenn er in Wirklichkeit nicht viel nachdenken mochte. Sein Benehmen hatte etwas Irritierendes. Er strahlte eine selbstgefällige Arroganz aus, als ob er sich zu einer höherwertigen Sorte von Soldat zählte, wobei ihn Bartholomew vor allem für einen nützlichen, wenn auch ziemlich beschränkten Wachhund hielt, für einen Mann, von dem er hoffte, dass er seine Pflichten erfüllte, ohne allzu viele sinnlose Fragen zu stellen. Im Grunde zeichnete ihn eher seine physische Präsenz aus, als dass er als Stratege eingesetzt werden konnte.

Der Raum war voller Bildschirme, auf denen grüne und rote Lichter blinkten, der Hauptserver lieferte eine Reihe von Ereignissen auf der ganzen Welt. In der Operationszentrale fühlte sich Bartholomew am wohlsten, allerdings kam er mittlerweile eher selten hierher. Seine Präsenz an diesem Ort signalisierte ihm, dass er noch immer eine Rolle spielte, selbst wenn er nicht mehr im Cockpit saß oder eine M16 mit sich herumschleppte. Hier konnte er eine Operation leiten, jenseits der Sitzungssäle der Politiker, der gedämpften Unterhaltungen im Club oder der vorsichtigen Interaktionen mit dem stellvertretenden Minister. Hier konnte er wieder Soldat sein. Er hatte das gleiche Gefühl der Abgeschiedenheit auf der Kommandobrücke der HMS Illustrious während der Operation Southern Watch verspürt, als er 1991 die Flugverbotszone im Irak überwacht hatte. Es war eine seltsame Zufriedenheit, die ihn erfasste, wenn er von den Waffen und der ausgefeilten Technologie umgeben war – als ob sein Kopf von allem Gerümpel befreit wäre und sich ganz auf die Aufgabe konzentrieren durfte. Das Surren der Maschinen beruhigte ihn, und die Entscheidungsfindung wurde reduziert auf eine Zahlenreihe auf dem Bildschirm und die Umsetzung eines größeren Plans.

»Wir erreichen die Zielzone, Sir«, sagte der junge Hauptmann. »Flughöhe wird auf Angriffsposition gebracht. Klare Sicht, Sir.«

»Lassen Sie das SAR ausgeschaltet und geben Sie mir Infrarot- und Schwarzweiß-Stream.« Bartholomew trat näher an den Bildschirm, so dass ihm das auffallende Aftershave des Hauptmanns in die Nase stieg. Das Bild flackerte, und dann sah man eine verschwommene Schwarzweißaufnahme. Der Hauptmann tippte auf die Tasten vor ihm, und das Bild zoomte heran. Man konnte eine Reihe von dunklen Schatten und helleren Rechtecken erkennen, die vorüberzogen, gelegentlich unterbrochen von kleinen Gebäuden und Straßen – wie das Puzzle eines Kindes, das noch nicht ganz zusammengesetzt war. In Schwarzweiß wirkte die Landschaft trostlos und abweisend. Dennoch bevorzugte Bartholomew es, mit Schwarzweißbildern zu arbeiten. Er hatte den Farbstream einer Nimrod R1 über Bosnien während der Beschießung von Sarajevo gesehen und festgestellt, dass ihn die grünen Felder nur unangenehm ablenkten.

Sie beobachteten schweigend den Bildschirm. Dabei folgten sie einer Art von Straße, auf der sich aber kaum etwas bewegte. Manchmal sah man einen Flecken Körperwärme, der durch zusammengetriebenes Vieh in Einfriedungen entstand. Doch ansonsten wurde das gedämpfte Grau kaum durchbrochen. Dann zeigten sich ein paar runde Schatten, eine Durchkreuzung von Wegen, was wie ein Spinnennetz aussah. Eine Nachricht leuchtete am unteren Ende des Bildschirms auf.

»Wir nähern uns dem Ziel, Sir«, erklärte der Hauptmann unnötigerweise – als wollte er seinen Vorgesetzten bei jedem Schritt zur Übernahme der Verantwortung zwingen.

»Das sehen wir, Hauptmann«, erwiderte Richards.

Bartholomew verhärtete die Muskeln seines Kiefers. »Anvisieren und angreifen.«

Das war der Armee-Ausdruck dafür, seinen Job zu erledigen und die anderen nicht weiter zu behelligen. Bartholomew verspürte ein Jucken in seinem Anus. Sein Magen gab ein leises Knurren von sich. Das rechte Ohr des Hauptmanns war genau in der Position, dass er das Geräusch gehört haben musste. Wieder dieses Jucken und das plötzliche Bedürfnis zu drücken. Bartholomew überlegte, ob er noch einmal den Raum verlassen sollte. Aber er wusste, dass er nicht rechtzeitig zurück wäre. Also kniff er seine Pobacken zusammen und wippte auf seinen Fersen vor und zurück.

»Das Zielfahrzeug ist stehen geblieben, Sir.« Die rechteckige Form eines Autos wanderte über den Bildschirm und hielt neben einem einfachen Quader an, einem Gebäude. Ein gepunktetes Fadenkreuz zeigte sich nun in der Mitte des grauen Vehikels. Perfekt zu sehen. Doch ehe Bartholomew den Befehl geben konnte, tauchte eine kleine Gestalt aus dem Haus auf und trat neben das Zielobjekt. Das Infrarot signalisierte Körperwärme. Jemand befand sich jetzt direkt bei der Zielvorgabe.

Der Hauptmann zögerte. Er war sich nicht sicher, was er nun tun sollte.

»Befugnis erteilt, Hauptmann. Angriff.« Frank Richards’ Stimme klang tief und autoritär. Zugleich schwang eine gewisse Verachtung mit, wobei nicht sicher war, ob diese dem Piloten, dem Angriffsziel oder beidem galt.

In der Mitte des Bildschirms blinkte es. Dann füllte sich dieser Bereich bei der Explosion mit einem breiter werdenden dunklen Ring, das Infrarot schaltete sich kurzfristig automatisch aus. Ziel und Gebäude wurden von Dunkelheit ergriffen, und einen Moment lang schien der ganze Bildschirm verschleiert zu sein. Dann zeigten sich wieder die Ränder, und im Zentrum war eine hellere Wolke aus Staub und Rauch zu erkennen. Bartholomew brauchte nicht mehr zu sehen. Der Auftraggeber würde zufrieden sein.

»Danke. Fahren Sie es jetzt runter.« Bartholomew nickte Richards zu, der ungerührt wie zuvor wirkte. Vielleicht würde wieder dieselbe Toilette frei sein, dachte Bartholomew, während er aus der Operationszentrale eilte.

DREI

Bristol, Südwestengland

Gabriel saß an seinem Schreibtisch, erstarrt vom Anblick des ordentlichen Stapels ungeöffneter Briefe und interner Memoranden, die Mrs. Thebes – zweifelsohne mit einer gewissen Schadenfreude – vor ihn hingelegt hatte. Er schob die Klinge eines Brieföffners in den ersten Umschlag und schlitzte ihn vorsichtig auf, als wäre es ein zarter Fischkörper. Er sah eine Fotografie und stöhnte, während er den Umschlag umdrehte. Die Adresse vorn lautete »An den Schädlingsexperten, Institut für Botanik«, und als Absender war eine Adresse in Chipping Sodbury angegeben. Diese verdammte Mrs. Thebes, dachte er düster und zog das verschwommene Bild eines Zitronenbaums heraus, der einer gewissen Mrs. Pilkington gehörte und offenbar von der Mehligen Citrusschildlaus befallen war.

Man nahm allgemein an, dass Botaniker gerne in irgendwelchen Gärten herumhingen, mit vernünftigen Schuhen und Anorak ausgestattet, wie sich das gehörte. Immer wieder kamen Leute auf die Idee, Gabriel Ableger ihrer Rosen voller Läuse oder Schildläuse zu schicken, damit er ihnen eine Lösung für den Befall präsentieren konnte. So als würde man einen Herzspezialisten bitten, sich doch mal eine Warze am Zeh anzusehen. Botanik und Gärtnerei waren nicht das Gleiche. Sie sind nicht einmal näher miteinander verwandt, dachte Gabriel wütend.

Als er und Jane nach Clifton gezogen waren – ein gentrifiziertes, altes Wohnviertel auf dem Hügel –, hatte er sich noch ein wenig für die abwechslungsreiche und ungewöhnliche Flora der Felsschluchten am Avon River interessiert. Die Breitblättrige Mehlbeere, Zistrosengewächse und der Kugelköpfige Lauch waren alle dort in den Spalten der Felsen vertreten, die sich von den schlammigen Flussufern erhoben. Man nahm automatisch an, dass Gabriel leidenschaftlich für die Bewahrung dieser Arten und gegen die Ausbreitung der Steineichen eintreten würde, die sich dort an den steilen Abhängen vermehrten. In Wahrheit verspürte er aber eine gewisse Trauer beim Anblick der abgeholzten Stumpen und zusammengetragenen Späne, die das Ableben dieser großen Bäume symbolisierten, deren Wurzeln noch aus dem nackten Boden schauten. Die Eichen waren nur in einem historischen Sinn »artenfremd«. Außerdem – was konnte man schon als wirklich ursprünglich bezeichnen? Oder wen? Sicher nicht den Asphalt der Joggingwege oder die Dependancen von Havana Coffee, die jetzt Clifton Village übersäten, voller Ausländer.

Jane hatte vor Kurzem mit Joggen begonnen, und das war ihre Route: von Clifton den Observatory Hill hinauf, durch den Ort und wieder nach Hause. Gabriel hatte sie einmal begleitet und war ins Hecheln gekommen, während sie vor ihm herlief. Er war sich sicher, dass sie für sein Debüt absichtlich eine längere Route gewählt hatte, indem sie zuerst die Hängebrücke über die Schlucht genommen, dann zurück und den Zickzackpfad hinuntergerannt war. Gabriel hatte in der Nähe des Schlagbaums auf der Brücke eine Pause gebraucht und seinen Kopf an das Schild der Samaritans Care gelehnt, einer Notrufnummer für potenziell Lebensmüde, die der Mischung aus Abgrund und Daseinsqualen kaum zu widerstehen vermochten. Jane wartete ungeduldig auf ihn, wobei sie von einem Fuß auf den anderen sprang.

»Mach schon, Lahmarsch«, spottete sie, ohne dass auch nur die Andeutung eines Lächelns über ihre Lippen gekommen wäre.

Ihr Hohn gab ihm das Gefühl, schwerfällig zu sein, vor allem als sie dann noch den Pfad in Richtung Hotwells ohne ihn einschlug. Gabriel beschloss, sich stattdessen auf eine Bank zu setzen und auf ihre Rückkehr zu warten, während er sich innerlich gegen ihre verächtliche Attacke über seine fehlende Fitness wappnete. Ein paar Leute mit Hunden und einige Radfahrer nickten ihm grüßend zu, ehe Jane wieder auftauchte, schwitzend und keuchend von der Anstrengung, den Hügel hinaufgelaufen zu sein. Gemeinsam joggten sie weiter durch die Kopfsteinpflastergassen von Clifton Village, vorbei an den noch geschlossenen Feinkostläden und Bäckereien, aus denen jedoch bereits der Duft nach heißen Öfen und Teig drang. Die Läden im Dorf waren putzig und überteuert, doch das Gefühl einer Gemeinschaft, das sie vermittelten, zeichnete sich durch die herrliche Separation vom Rest der Stadt aus – zusammen mit den steilen Straßen, die sich durch den exklusiven Vorort am Hügel zogen.

Sie lebten in der Percival Road in Clifton, in einer älteren, angeblich charmanten zweistöckigen Doppelhaushälfte mit Schieferdach und einer Kieseinfahrt für den großen Vauxhall, der noch immer an die nie realisierten Pläne erinnerte, sich einen Hund oder vielleicht sogar Kinder zuzulegen. Das Haus war nicht so imposant wie die einzeln stehenden, deren Dächer sich durch viele Schornsteine auszeichneten, je nach Anzahl der offenen Kamine im Inneren. Aber zu zweit hatten sie mehr als genug Platz. Die Rohrleitungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg waren eine Katastrophe, und sie zitterten jedes Mal, wenn man oben das heiße Wasser andrehte. Dennoch war Gabriel mit ihrem Haus zufrieden, wobei ihm bewusst war, dass ihm vielleicht der Drang fehlte, ihre Wohnsituation zu verbessern. Jane hingegen fehlte dieser Drang nicht, auch wenn sie immer wieder betonte, dass es ihr keineswegs um das Jammern an sich ging. Aber Gabriel verspürte trotzdem stets eine Schwere, wenn sie wieder darüber zu sprechen begann, wie man »das alles kultivieren könnte«. Was musste man kultivieren? Genauer betrachtet, verringerte sich »alles« auf ein paar banale Dinge und letztlich auf Gabriels geringe Beteiligung am Haushalt, um schließlich mit einem »Bring wenigstens am Donnerstag den Müll raus« zu enden. Zurück blieb eine schwelende Unzufriedenheit, das merkte er, aber er hatte nicht vor, genauer nachzuhaken.

Jane war eine herbe Blondine, deren Akribie etwas Beängstigendes hatte. Allein die Art, wie sie ihre Haare exakt frisierte, die einen leicht metallischen Schimmer hatten. Sie blieb schlank, obwohl sie nie einem strikten Diätregime folgte, wohingegen Gabriel in der Mitte etwas auseinanderzugehen begann. Er fragte sie, warum sie auf einmal das Bedürfnis verspürte, sich fitzuhalten, und ihre Antwort fiel charakteristisch distanziert aus: »Es wundert mich, dass wir als Nation so hohe Ansprüche an unsere Soldaten und Sportler haben, aber so geringe an uns selbst.« Damit ließ sie ihn am Morgen vor dem Fernseher sitzen.

Da ist etwas Wahres dran, hatte Gabriel gedacht, während er der Wiederholung des Cricketspiels zusah. Der Captain der englischen Mannschaft fiel dem geschickt gedrehten Ball eines Bowlers aus Sri Lanka mit einem unaussprechlichen Namen zum Opfer. Er sah sich nicht viel Sport an, aber die subtilen Intrigen im Cricket faszinierten ihn. Sein Interesse an dem Spiel – Begeisterung wäre zu viel gesagt – speiste sich aus der Möglichkeit, dass der weltbeste Schlagmann jederzeit durch einen einzigen, gut gespielten Ball eines Teenagers, der das erste Mal auf dem Feld stand, schachmatt gesetzt werden konnte. Im Gegensatz dazu erschien ihm Fußball schwerfällig. Es war lächerlich, wie diese rüpelhaften Spieler angeblich so leicht stürzten und so taten, als wären sie tödlich verletzt worden, nur um sich kurz darauf wieder ins Getümmel zu werfen und einem anderen auf den Knöchel zu steigen. Das Spiel zeichnete sich in seinen Augen durch eine unangemessene, beinahe geckenhafte Dramatik aus. Dass zudem jemand so viel Geld verdienen konnte und es dennoch nicht schaffte, ein Ziel von der Größe eines Scheunentors zu treffen, war ihm völlig unverständlich.

Das Joggen am frühen Morgen gehörte zu einer Reihe von bemerkenswerten Änderungen in Janes Leben, dachte Gabriel, während er das Foto von Mrs. Pilkingtons befallenem Zitronenbaum wieder in den Umschlag schob. Offenbar angetan von der nun sichtbar werdenden Muskulatur ihrer Beine, hatte Jane auch begonnen, sich nach dem Motto »Weniger ist mehr« zu kleiden. Außerdem hatte sie ihre Unterwäsche aus dem Kaufhaus durch spitzenbesetzte Teile ausgetauscht, obwohl ihr gemeinsames Schlafzimmer – wie ihre Ehe – ein kühler Durchgangsraum blieb.

Der Hörsaal war bereits überraschend voll. Gabriel warf einen Blick auf seine Armbanduhr, ob er sich vielleicht verspätet hatte. Einige Studenten warteten draußen und genossen den Bodensatz ihres Take-away-Kaffees oder die letzten nikotingefüllten Züge ihrer Zigaretten. Er war stark angespannt, als er sich durch die Menge schob, und fühlte sich plötzlich klaustrophobisch. Ein junger Mann in einer Strickjacke starrte ihn an. Gabriel sah in seiner Miene etwas, das ihn an den Fahrer der weißen Limousine erinnerte, und seine Finger wanderten automatisch zu der kleinen Wunde unter seiner Nase. Der Student wandte sich ab und begann mit einem Freund zu reden. Gabriel spürte, dass man ihn bewusst ignorierte, während er zugleich alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

Er vermochte nicht genau zu sagen, woher diese Unruhe in ihm kam, schritt weiter durch das Amphitheater des Hörsaals und merkte erst unten im Raum, wie die für ihn untypische Panik nachließ und er wieder freier atmen konnte. Die langen Reihen von Tischflächen und Klappstühlen waren hintereinander gestaffelt, vom Podium bis nach oben reichend, wobei in der Mitte ein Gang hindurchführte. Der stellvertretende Rektor wartete bereits am Podium auf ihn, wobei er immer wieder dümmlich in die Menge nickte. Es war ein schwächlich wirkender Mann mit einer pockennarbigen Haut und Gesichtszügen, die von jemand wesentlich Größerem genommen und auf seine zierliche Gestalt gesetzt worden zu sein schienen. Seine großen Ohren standen weit ab, was ihm einen verblüfften Ausdruck verlieh. Der seltsamen Erscheinung hätte eine Generalsanierung nicht schlecht getan.

Der stellvertretende Rektor begrüßte Gabriel enthusiastisch, wobei seine Ohren zu wehen schienen, als er ihm erklärte, wie sehr er sich auf die Vorlesung freue. Er hatte einen Master in Marketing oder etwas vergleichbar Geschmackloses, sodass Gabriel bezweifelte, dass er auch nur ein Wort verstehen würde. Bei dem Gedanken, wie ihn der Mann gleich dem Publikum vorstellen würde, graute ihm, und er blickte zu Boden, um langsam Luft zu holen. Nachdem die Doppeltür oben geschlossen war, sprang der stellvertretende Rektor auf und strahlte vor selbstgefälliger Zufriedenheit, als er die versammelte »Gemeinde« zu einem weiteren »wunderbaren« Vortrag begrüßte. Es gelang ihm, Gabriels Titel richtig zu nennen und auch seinen Nachnamen nicht falsch auszusprechen. Doch die Beschreibung des Themas, um das es gehen sollte, war ein Stück dramatischer Marketingposse.

»Privatdozent Dr. Cockburn gewährt uns einen kurzen Einblick in die neuesten Untersuchungen, die nun bald weltweit Niederschlag finden werden. Unsere Vorstellung von der Evolution, dem Anfang alles Lebens, wird nach dieser Vorlesung eine andere sein. Wir entschlüsseln das größte Geheimnis des Lebens auf dieser Erde …« Gabriel war sich nicht sicher, woher das »Wir« kam. »… und setzen uns mit den fundamentalen Fragen unseres Ursprungs sowie den Bedrohungen unserer Existenz auseinander.«