Texte zur Erziehung - Jean-Jacques Rousseau - E-Book

Texte zur Erziehung E-Book

Jean Jacques Rousseau

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Beschreibung

Ohne "Emile" ist die Pädagogik nicht denkbar. Aber Rousseau hat darüber hinaus wegweisende Gedanken zur Erziehung formuliert. Der Band versammelt und kommentiert die wichtigsten pädagogischen Texte, von der "Denkschrift für Herrn de Mably über die Erziehung seines Herrn Sohns" über den "Brief an Christophe de Beaumont" bis zu den zentralen Ausschnitten aus der "Neuen Heloise", dem "Emile" und dem "Gesellschaftsvertrag". Eine Einführung in Rousseaus pädagogisches Denken leitet den Band ein. Eine unentbehrliche Anthologie für das Lehramts- und Pädagogikstudium. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 387

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Jean-Jacques Rousseau

Texte zur Erziehung

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962093-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014045-1

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung: Rousseaus pädagogisches Denken im Kontext der französischen Aufklärung

1Rousseaus Kulturkritik und hypothetische Anthropologie als Grundlagen seines pädagogischen Denkens

2Die natürliche und negative Erziehung

3Geschlechtsspezifische Erziehung

4Erziehung zum Staatsbürger und/oder Menschen

Denkschrift für Herrn de Mably über die Erziehung seines Herrn Sohns

Abhandlung über die Wissenschaften und Künste

Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen

[Einleitung]

Erster Teil

Abhandlung über die politische Ökonomie

Julie oder Die neue Heloise

Emile oder Über die Erziehung

[Aus dem 1. Buch]

[Aus dem 2. Buch]

[Aus dem 3. Buch]

[Aus dem 4. Buch]

[Aus dem 5. Buch]

Brief an Christophe de Beaumont

Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts

1. Kapitel. Gegenstand dieses ersten Buches

2. Kapitel. Von den ersten Gesellschaften

6. Kapitel. Vom Gesellschaftsvertrag

8. Kapitel. Vom bürgerlichen Stand

Anmerkungen

Denkschrift für Herrn de Mably über die Erziehung seines Herrn Sohns

Abhandlung über die Wissenschaften und Künste

Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen

Abhandlung über die politische Ökonomie

Julie oder Die neue Heloise

Emile oder Über die Erziehung

Brief an Christophe de Beaumont

Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts

Zeittafel

Textnachweise

Literaturhinweise

[7]EinleitungRousseaus pädagogisches Denken im Kontext der französischen Aufklärung

»In diesem Jahrhundert der Aufklärer ist der allgemeine Ruf, dass wir Menschen erziehen müssen«1, schrieb ein Korrespondent im Journal de la ville de Troyes in der Ausgabe vom 30. Juni 1784. Als siècle des lumières (›Jahrhundert der Aufklärer‹) bezeichneten bereits Zeitgenossen in Frankreich und Europa das 18. Jahrhundert. Mit dieser Metaphorik brachten sie zum Ausdruck, dass durch das ›Licht‹ der Vernunft die ›Dunkelheit‹ der Vorurteile und Intoleranz, des Aberglaubens und Unwissens sowie der Bevormundung und Unmündigkeit überwunden und zu einer selbstbestimmten und vernunftgeleiteten Ordnung der Welt fortgeschritten werden könne.

Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783), der zusammen mit Denis Diderot (1713–1784) eines der Hauptwerke der Aufklärung – die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–80) – herausgegeben hat, gehörte als Aufklärer zu einer Gruppe von Intellektuellen, die sich von religiöser und staatlicher Bevormundung emanzipierten. Jenseits von traditionellen Institutionen wie den Universitäten traten sie als Sprachrohr einer im regen Austausch stehenden République des Lettres (›Gelehrtenrepublik‹) auf. D’Alembert bemerkte, dass der Gebrauch der Vernunft im 18. Jahrhundert bereits zu weitreichenden Fortschritten in verschiedenen Bereichen geführt habe. In den Wissenschaften und der Religion, in der Metaphysik und Ästhetik, in der Musik [8]und Moral, bei theologischen Streitfragen sowie bei Fragen der Wirtschaft und des Handels, in der Politik sowie im Völker- und Zivilrecht. Wie Ebbe und Flut, resümiert d’Alembert, habe der Gebrauch der Vernunft manch Neues ans Ufer gespült und anderes von ihm losgerissen.2

Dieses Losreißen von Althergebrachtem resultierte aber nicht nur aus der Erfahrung neuer Erfindungen und Entdeckungen sowie aus der hiermit verbundenen Möglichkeit technisch versierter Naturbeherrschung, sondern auch aus dem durch konfessionelle Spaltung und europäische Religions- und Bürgerkriege ausgelösten Autoritätsverlust religiöser Wahrheiten und Ordnungsvorstellungen. Weder die Ständeordnung noch die Auffassung vom Gottesgnadentum der Monarchie ließen sich angesichts des Legitimationsschwunds traditioneller Autoritäten durch konfessionelle und politische Konflikte auf Dauer halten. Mit diesem »Selbstverständlichkeitsverlust der traditionellen Ordnung des Handelns, Wissens und Glaubens«3 im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts gewann auch zunehmend die Frage an Bedeutung, wie und zu welchem Zweck der Mensch erzogen werden müsse.

Der Genfer Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen Buch Émile ou De l’éducation (1762) das pädagogische Denken in Europa nachhaltig beeinflusste, erklärte, dass sich angesichts dieser »Wandelbarkeit der Umstände« (S. 168) das Verhältnis zwischen den Generationen dahingehend verändert habe, dass die künftige Bestimmung des zu Erziehenden nicht mehr nur ihm selbst unbekannt sei, [9]sondern auch für die erziehenden Bezugspersonen ungewiss werde. »Wir sind einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen nahe«, stellte Rousseau fest. »Wer garantiert euch dafür, was dann aus euch wird?«4

Neben den revolutionären wissenschaftlichen Entdeckungen und den politischen Umbrüchen in Europa gehörte zu diesen gesellschaftlichen Transformationsprozessen im 18. Jahrhundert auch der sozioökonomische Aufstieg des Bürgertums sowie die sich verändernde Struktur des familialen Zusammenlebens. Das Bürgertum grenzte sich als eine heterogene soziale Gruppe von anderen Ständen ab, da in ihr zumindest tendenziell sozialer Rang und Status nicht mehr geburtsständisch bestimmt, sondern an individuellen Leistungen oder Qualifikationen gemessen wurde. Kaufleute und Manufakturunternehmer, Reeder und Verleger, Bankiers und Fabrikanten gewannen so durch ihre wachsende Wirtschaftskraft an Einfluss und Bedeutung. Akademiker wie Juristen, Ärzte, Pfarrer, Professoren und Lehrer fanden als fachlich qualifizierte Funktionseliten Anstellungen auf allen Ebenen staatlicher und kirchlicher Organisationen – im Verwaltungsapparat, im Militärwesen, in der Justiz sowie im Bildungs- und Finanzwesen.

Mit dieser Leistungsorientierung war zugleich eine Sorge um die Aufzucht, Gesundheit und Ausbildung der eigenen Kinder verbunden: »Väter, die reich geworden sind oder die den Aufstieg ihrer Familien betreiben«, heißt es in der Encyclopédie unter dem Stichwort père (›Vater‹), »lieben ihre Kinder zärtlicher, zweifellos weil sie sie unter zwei gleich interessanten Gesichtspunkten ansehen: als ihre Erben und als ihre Geschöpfe.«5 Bis weit ins 18. Jahrhundert fand in Frankreich die [10]Aufzucht, Erziehung und Unterrichtung von Kindern aus wohlhabenden Elternhäusern getrennt von der Familie statt. Nach der Geburt wurden die Säuglinge einer Amme übergeben, zur Unterweisung stellte man Hauslehrer, Hofmeister oder Gouvernanten ein, und im Jugendalter wurden Kinder auf Internate und Kollegien geschickt. Auch Rousseau wirkte wie viele Gelehrte im 18. Jahrhundert als Hauslehrer. Für einige Monate arbeitete er in der wohlhabenden und einflussreichen Familie des Generalprofos Jean Bonnot de Mably (1669–1761) in Lyon, wo Rousseau mit der Erziehung der beiden Söhne beauftragt wurde. Seine erzieherischen Pläne und Erfahrungen hielt er in seiner Mémoire présenté à M. de Mably sur l’éducation de M. son fils (›Denkschrift für Herrn de M[ably] über die Erziehung seines Herrn Sohns‹, 1740) fest.

Mit der zunehmenden Trennung von Arbeits- und Familienleben sowie der Möglichkeit zur Abgrenzung privater Räumlichkeiten von der Öffentlichkeit bot die Familie im 18. Jahrhundert einen emotionalen Intimraum, in dem sich eine veränderte Einstellung zur Kindheit entfalten konnte. Die Aufmerksamkeit, die man Kindern und ihrer Besonderheit zuteilwerden ließ, drückte sich aber nicht in bloßer ›Hätschelei‹ aus – bei der Eltern »ihren Kindern nur insofern Beachtung schenken, als sie ihnen Zerstreuung und Vergnügen bereiten«6. Kinder wurden vielmehr zu Subjekten elterlicher Fürsorge und Erziehung.7 In Diderots Drama Le père de famille (›Der Hausvater‹, 1758) offenbart der Vater seinem Sohn: »Ich habe dich nicht der Sorge eines Mietlings [d. h. eines Hofmeisters oder [11]Hauslehrers] übergeben. Ich habe dich selbst gelehrt zu reden, denken und zu empfinden. So wie du an Jahren zunahmst, habe ich deine Neigungen ausgeforscht; diesen gemäß habe ich den Plan deiner Erziehung entworfen, und ihn ohne Unterlass befolgt. Wie viel Mühe habe ich mir gegeben, um dir Mühe zu ersparen?«8

Da gesellschaftliche Krisen und Veränderungen das pädagogische Denken und Handeln verunsicherten, die Aufzucht des Nachwuchses sich nicht mehr unmittelbar aus der tradierten Erziehungspraxis herleiten und begründen ließ, wurde Erziehung über die rein praktische Herausforderung hinaus zu einem öffentlichen, gesamtgesellschaftlichen Anliegen und einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion. Mit der Aufklärung intensivierte sich der öffentliche Austausch über pädagogische Themen, an dem sich Experten und Laien, Theologen und Gelehrte, Ärzte und Philosophen beteiligten. Die Verbreitung wissenschaftlicher Beobachtungen sowie die Zirkulation pädagogischer Ideen war einer sehr regen pädagogischen Publizistik zu verdanken, die dank verbesserter Drucktechniken, sinkender Buchpreise und eines sich etablierenden Verlagswesens eine breite Leserschaft erreichte. Neben Schriften über Erziehung wurden auch Medien für den pädagogischen Gebrauch – wie Schul-, Lese- und Kinderbücher – produziert. In Frankreich, das neben England als ein »Kernland«9 der europäischen Aufklärung bezeichnet werden kann, erschienen neben zahlreichen Aufsätzen in Zeitschriften im Verlauf des 18. Jahrhunderts rund 180 Bücher zu [12]pädagogischen Themen. Etwa ein Drittel dieser Bücher wurde noch vor Rousseaus Émile veröffentlicht.10 Pädagogische Ratgeberliteratur für Eltern und Erzieher, die sich schon im 17. Jahrhundert finden lässt und die auch im 18. Jahrhundert weiterhin verfasst und vertrieben wurde, behandelte größtenteils praktische Fragen der standesgemäßen Verhaltensformung, des Benehmens, der Ehrerbietung und der geschlechtsspezifischen Erziehung. Im Vordergrund standen Themen wie Autorität und Gehorsam, Tugenderziehung sowie Charakter- und Gewissensbildung. Daneben kamen ab dem 17. Jahrhundert didaktische Werke auf, die sich mit Fragen der Unterweisung und Unterrichtung sowie mit ihrer institutionellen Organisation befassten. Religiöse Ordensgemeinschaften wie die Oratorianer, der Orden von Port Royal und insbesondere die Jesuiten – die bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts allein in Frankreich über 600 Schulen unterhielten –, waren maßgeblich an der Gestaltung von Erziehung und Unterricht beteiligt.

Die pädagogische Literatur im 18. Jahrhundert zeichnete sich jedoch dadurch aus, dass sie sich zunehmend um eine philosophische und wissenschaftliche Grundlegung des pädagogischen Denkens bemühte. Autoren wie der Abbé de Saint-Pierre (1658–1743), Claude-Adrien Helvétius (1715–1771) oder Étienne-Gabriel Morelly (1717–1778) diskutierten praktische und organisatorische Fragen zur Pflege und Aufzucht sowie Erziehung und Unterrichtung von Heranwachsenden nicht mehr ausschließlich im Kontext christlich-religiöser Glaubensgrundsätze oder entlang antiker Vorbilder, sondern auch im Lichte zeitgenössischer philosophischer Debatten über Freiheit, Moral, Gerechtigkeit und Glück sowie vor dem Hintergrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entdeckungen.11

[13]Thematische Schwerpunkte bildeten hierbei die Verhältnisbestimmung von Erzieher und Zögling, die Vermittlungsproblematik von individueller Existenz und bürgerlicher Koexistenz sowie Fragen zur Institutionalisierung von Erziehung jenseits der Familie. Die wesentlichen Innovationen bei der Bearbeitung dieser Problemstellungen basierten auf der Rezeption der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung zwischen Empirismus und Rationalismus sowie auf der hiermit verbundenen Formulierung sensualistischer Theorien des Lernens und der Kindheit sowie der Expansion der Zugänge zu Wissen angesichts eines Strukturwandels der Öffentlichkeit.12

1Rousseaus Kulturkritik und hypothetische Anthropologie als Grundlagen seines pädagogischen Denkens

Rousseaus pädagogisches Denken ist in den wenigsten Fällen Ausgangspunkt, sondern in der Regel Kulminationspunkt oder Synthese gewesen.13 Sein innovatives Gedankengut erweist sich als Produkt einer mehr oder weniger originellen Rekombination und Transformation von überlieferten Ideen, bei dem Konzepte epikureischer und stoizistischer, rationalistischer und empirisch-sensualistischer Provenienz in eine ebenso spannungsreiche wie produktive Konstellation überführt wurden. Eindrucksvoll stellt Rousseau diese Komposition in seinem im Mai des Jahres 1762 veröffentlichten Buch Émile ou De l’éducation unter Beweis. Es ist eine Abhandlung über den Menschen, ein pädagogisches Traktat und ein Roman. Es [14]enthält eine Kurzfassung von Rousseaus politischer Schrift DuContrat social ou Principes du droit politique (›Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechts‹, 1762), eine mehr als provokante Abhandlung über Religion und eine Kritik der französischen Salon-Gesellschaft. Bereits mit der ersten Zeile kehrte Rousseau einen christlichen Glaubensgrundsatz in sein Gegenteil um und bezweifelte zugleich das fortschrittsoptimistische Denken der Aufklärer: »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen« (S. 157).

Mit dem ersten Teil widerspricht Rousseau dem christlichen Glaubensgrundsatz der Erbsünde, die nach der Lehre des Kirchenvaters Augustinus (354–430) jedem Menschen seit dem Sündenfall in die Wiege gelegt sei und ihn erlösungsbedürftig mache. Für Augustinus erwies sich die Kindheit als ein Symbol der Sündhaftigkeit des Menschen. Dieser zu überwindende, vom Erwachsenensein völlig getrennte Zustand sei geprägt durch unkontrollierte Affekte, körperliche Schwäche und fehlende Vernunft: »Wie also sündigte ich damals?«, fragt Augustinus mit Blick auf seine eigene Kindheit und schreibt: »Dadurch etwa, daß ich mit Geschrei nach der Mutterbrust verlangte? Würde ich jetzt zwar nicht nach Säuglingskost, sondern nach der meinem Alter zustehenden Speise dermaßen verlangen, würde man mich mit Fug und Recht verspotten und schelten. […] Nein, schwach und darum unschuldig sind nur die kindlichen Glieder, nicht des Kindes Seele. […] Was nun dies mein frühestes Lebensalter anlangt, Herr, an das ich mich nicht mehr erinnere, von dem ich nur durch Aussagen anderer etwas weiß und durch Vermutungen, aus Beobachtung anderer Kinder geschöpft […], so scheue ich mich fast, es zu diesem meinem zeitlichen Leben hinzuzurechnen.«14

[15]In seinem Brief an den Erzbischof von Paris (Lettre à Christophe de Beaumont, 1763), der den Émile als irrig, blasphemisch und gottlos bezeichnet hatte, erklärte Rousseau, dass seinen Schriften die Annahme zugrunde liege, dass der Mensch von Natur aus weder böse, sündhaft noch lasterhaft sei. Die Kindheit ist für Rousseau kein Ausbund der sündhaften Natur des Menschen, sondern ein verlorener Zustand der Unschuld und Ganzheit. In seiner postum erschienenen Autobiographie, die er in Anlehnung an Augustinus’ Schuld- und Glaubensbekenntnis ebenfalls Confessions (›Bekenntnisse‹, 1780) nannte,15 blickt Rousseau auf seine eigene Kindheit zurück: »Ich hatte die Unarten meines Lebensalters: ich war ein Plappermaul, ein Vielfraß und manchmal auch ein Lügner. Ich würde Früchte, Süßigkeiten und Leckerbissen gestohlen haben, niemals aber habe ich Vergnügen daran gefunden, Böses zu tun, Schaden anzurichten, andere zu bezichtigen oder arme Tiere zu quälen. Nichtsdestoweniger entsinne ich mich, einmal in den Kochtopf einer unserer Nachbarinnen, die Frau Clot hieß, gepißt zu haben, während sie in der Kirche war. […] Das ist die kurze und wahrhaftige Geschichte aller meiner kindlichen Missetaten.«16

Mit dem zweiten Teil seines einführenden Satzes aus dem Émile – »alles entartet [frz.: dégénère] unter den Händen des Menschen« – zieht Rousseau die aufklärerische Auffassung in Zweifel, dass technischer, wissenschaftlicher und kultureller Fortschritt mit einer Humanisierung der Welt einhergehe. Er widerspricht damit Aufklärern wie Diderot, welcher in der von ihm herausgegebenen Encyclopédie das gesamte Wissen der Menschheit sammeln, ordnen und allgemein zugänglich machen wollte, damit nachfolgende Generationen »nicht nur [16]gebildeter, sondern zugleich tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben.«17 Rousseau, der selbst Artikel zur Encyclopédie beisteuerte, hielt jedoch an seinen kulturkritischen Einwänden fest, die er bereits in seinem Discours sur les sciences et les arts (›Abhandlung über die Wissenschaften und Künste‹, 1750) formuliert hatte. Auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur moralischen Verbesserung der Menschheit beigetragen habe, antwortete er provokativ mit Nein. Die Pflege der Wissenschaften und Künste erzeuge vielmehr Phänomene der Dekadenz. Sie führe zur Herabwürdigung »der ungelehrten Gelehrtheit der einfachen Seele«18, zur Anmaßung von Erkenntnis ungeachtet der eigenen Erkenntnisgrenzen und zu einer éducation insensée (›wahnwitzigen Erziehung‹), bei der unnützes Wissen vermittelt und die Kunst geübt werde, in Unkenntnis von Wahrheit oder Irrtum wortreiche Debatten zu führen. Schon als Hauslehrer kritisierte Rousseau im Mémoire beiläufig, dass man Kinder darin übe, »sich weitschweifig auszudrücken, und […] dabei folgendermaßen vor[geht]: Nachdem man ihnen den Gedanken eines Autors vorgegeben hat, trägt man ihnen auf, diesen Gedanken zu verunstalten, indem sie ihn mit so vielen nutzlosen Worten, wie sie nur finden können, ausschmücken« (S. 38).

Im Vorwort zu seiner Komödie Narcisse ou l’amant de lui-même (›Narziss oder Wer sich selbst liebt‹, 1752) versicherte Rousseau jedoch, dass er kein Gegner der Wissenschaft an sich sei, sondern die folle science des hommes (›verrückte [17]Wissenschaft der Menschen‹)19 ablehne, die sich durch hohle Gesten der Gelehrsamkeit auszeichne, sich geltungssüchtig vom Lob der Zeitgenossen abhängig mache und keinen Nutzen für das Gemeinwohl verspreche. Durch die Wertschätzung ihrer Vertreter entstehe, so Rousseau, ein Gefälle zwischen ›schöngeistigen‹ Talenten, die sich im Wetteifer um wechselseitige Anerkennung verstellen und täuschen, und den einfachen, aber nützlichen und authentischen Mitgliedern einer Gesellschaft.20

Die Entwicklung dieser sozialen Ungleichheit und Abhängigkeit beschreibt Rousseau auch in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (›Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen‹, 1755) zum einen als einen geschichtlichen Prozess der Vergesellschaftung des Menschen, zum anderen als ›Degeneration‹, als Herausfallen aus einem hypothetisch angenommenen Naturzustand jenseits der Geschichte. Zur Bestimmung dieses Naturzustandes, den es faktisch vielleicht nie gegeben hat, abstrahiert Rousseau von allen gesellschaftlichen Einflüssen und historischen Entwicklungen und fragt wie in einem Gedankenexperiment danach, »was aus dem Menschengeschlecht hätte werden können, wenn es sich selbst überlassen geblieben wäre«21 (S. 92). Bei dieser fictio Pufendorfiana – den Menschen in Anlehnung an den deutschen Rechtsphilosophen Samuel von Pufendorf (1632–1694) in einem zivilisations- und kulturlosen Zustand zu denken – gelangt Rousseau zu der Annahme, dass der Mensch im Naturzustand mit allen Anlagen ausgestattet sei, um unabhängig von anderen leben zu können.

[18]Von Natur aus sei der Mensch lediglich an seiner Selbsterhaltung, der Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse und an seinem Wohlergehen interessiert. Rousseau bezeichnete diesen Trieb nach Selbsterhaltung und Wohlbefinden als l’amour de soi (›Selbstliebe‹). Der Mensch habe zudem einen natürlichen Widerwillen, fühlende Wesen und insbesondere andere Menschen leiden oder sterben zu sehen. Diesen vorreflexiven, unmittelbaren Impuls nennt Rousseau pitié (›Mitleid‹). Während die Selbstliebe ausschließlich auf die eigene Selbsterhaltung ausgerichtet ist, tritt das Mitleid in der Beziehung zu anderen auf und trägt mit seiner Hemmung der Selbstliebe zur Erhaltung der menschlichen Gattung bei. In dieser Hemmung drückt sich die unausgesprochene Handlungsmaxime aus: »Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich.«22 Vom Tier unterscheide sich der Mensch in seinem Naturzustand durch die qualité d’argent libre (›Handlungsfreiheit‹) und die Fähigkeit, »mit Hilfe der Umstände alle anderen allmählich [zu] entwickeln«23. Diese unbestimmte Lernfähigkeit, die Rousseau perfectibilité (›Perfektibilität‹) nannte, ermögliche es, unter sich wandelnden Umständen solche Fähigkeiten und Techniken zu entwickeln, die der Selbsterhaltung, der Befriedigung elementarer Bedürfnisse sowie dem eigenen Wohlbefinden dienlich sind. Sie ermöglicht es aber auch, solche Fähigkeiten zu entfalten, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, die erst durch das Verhältnis zu anderen Menschen erzeugt werden. Diese Bedürfnisse nach Wertschätzung, Achtung und Anerkennung, die erst im Prozess der Vergesellschaftung des Menschen auftreten, bezeichnet Rousseau als l’amour-propre (›Eigenliebe‹ oder ›Selbstsucht‹), die mit Gefahren verbunden sei. Das Verlangen nach Reputation, Ehre [19]und Auszeichnung mache aus Menschen nicht nur potentielle Konkurrenten und Rivalen, sondern sorge auch dafür, dass man im permanenten Vergleich mit anderen und im Streben nach ihrer Anerkennung sich seine eigenen Handlungen von ihren Werten und Präferenzen diktieren lasse.

Perfektibilität und Eigenliebe sind für Rousseau daher ambivalente Eigenschaften des Menschen: Die Disposition, frei handelnd und kontextbezogen Fähigkeiten zu entfalten, ermöglicht dem Menschen zwar im Verlauf seiner kollektiven Geschichte durch die Erfindung der Wissenschaften und Technik, Schutz vor den Unbilden der Natur zu finden und sie zu seinem Nutzen zu beherrschen. Auch führt sie zu Prosperität durch Arbeitsteilung und gemeinwohlorientierte Kooperation. Andererseits bringt der Mensch auf dieselbe Weise in seiner Geschichte wechselseitige Abhängigkeit, Unfreiheit und gesellschaftlich bedingte Ungleichheit hervor. Rousseau leitet seinen Contrat social daher mit den Worten ein: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten« (S. 250).

2Die natürliche und negative Erziehung

Ausgehend von seiner Hypothese, dass der Mensch von Natur aus mit allen Anlagen ausgestattet sei, um autark gut leben zu können, und dass diese Anlagen unter den geschichtlich gewordenen Bedingungen der Vergesellschaftung dazu beigetragen haben, soziale Ungleichheit und Abhängigkeit zu produzieren, stellt sich für Rousseau die Frage, ob und wie sich ein solcher Prozess der Selbstentfremdung abwenden lassen könne. Im Émile spielt Rousseau in einem Gedankenexperiment24[20]eine mögliche Antwort auf diese Frage am Beispiel der Erziehung durch: Wie müsste eine Erziehung verfahren, um Heranwachsende zu befähigen, unter den Bedingungen der Vergesellschaftung ganz sie selbst bleiben zu können, unabhängig und frei vom Können, Wollen und Urteilen anderer zu sein und ihre natürliche Güte und Freiheit zu bewahren?

Eine erste Antwort auf diese Frage hatte Rousseau bereits in seinem erfolgreichen Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (›Julie oder Die neue Heloise‹, 1761) angedeutet: Die Natur will, heißt es hier, »dass die Kinder Kinder sind, bevor sie zu erwachsenen Menschen werden. Wenn wir diese Ordnung umwerfen wollen, werden wir frühreife Früchte hervorbringen, die weder Reife noch Geschmack haben und nicht lange brauchen, bis sie verderben: wir werden junge Doktoren und alte Kinder vorfinden« (S. 157). Eine solche ›natürliche‹ oder ›naturgemäße‹ Erziehung, die sich an den Entwicklungsschritten der Heranwachsenden orientiert, übt zunächst spielerisch ihre sinnlich-leiblichen Fähigkeiten – und verfeinert hierbei ihre Erkenntniswerkzeuge –, bevor sie sie mit moralischen, religiösen und politischen Problemstellungen konfrontiert.

Diese erkenntnis- und lerntheoretischen Überlegungen stehen nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem aufklärerischen Projekt einer »Rehabilitation der Sinnlichkeit«25, das den von René Descartes (1596–1650) eingeführten radikalen Ausschluss der Leiblichkeit und Sinnlichkeit aus dem Prozess der Erkenntnis zu relativieren versuchte. Im Bekenntnis des savoyischen Vikars im vierten Buch des Émile schreibt Rousseau: »Existieren ist für uns fühlen; es ist unbestreitbar, dass wir sensibel sind, bevor wir Intelligenz besitzen, und wir haben vor unseren Gedanken bereits Gefühle gehabt.«26 Rousseaus [21]Augenmerk für Gefühle und Empfindungen darf aber weder als ein romantischer Irrationalismus missverstanden werden,27 noch geht es Rousseau darum, im Erkenntnisprozess bloß den Verstand durch die Sinne zu vertauschen. Rousseau betont vielmehr, dass der Mensch nicht nur als leiblich-sinnliches Wesen zur Welt kommt und die sinnliche Wahrnehmungstätigkeit der begrifflichen Urteilsfähigkeit vorausgeht. Verstandesurteile entstehen schrittweise, so Rousseau, aus der Koordination und Verknüpfung verschiedener sinnlicher Wahrnehmungen.28

Die ›natürliche‹ oder ›naturgemäße‹ Erziehung bezeichnet Rousseau später auch als negative Erziehung. »Als negative Erziehung bezeichne ich diejenige«, erklärt er in seinem Brief an Beaumont, »die bestrebt ist, die Sinnesorgane als Werkzeuge unseres Wissens zu vervollkommnen, noch bevor man uns dieses Wissen vermittelt hat, und die den Verstand mithilfe einer Schulung der Sinne vorbereitet. Die negative Erziehung ist hierbei nicht untätig, ganz im Gegenteil. Sie vermittelt keine Tugenden, doch sie bewahrt vor den Lastern; sie lehrt nicht die Wahrheit, doch sie bewahrt vor dem Irrtum. Sie befähigt das Kind zu allem, was es zum Wahren führen kann, sobald es dieses zu verstehen vermag; und zum Guten, sobald es dieses zu lieben vermag« (S. 244). Negative Erziehung schirmt Heranwachsende vom Willen, Können und Urteilen anderer Menschen ab und gestaltet pädagogische Szenarien, in denen sie durch listig arrangierte Dinge oder Umstände zum Selber-Denken, Selber-Urteilen und Selber-Tun aufgefordert werden.

Paradigmatisch für diese pädagogische Inszenierung einer »klug geregelte[n] Freiheit« (S. 190) ist das sogenannte Stockbeispiel am Ende des dritten Buchs im Émile: »Wenn ein Kind [22]zum ersten Mal einen ins Wasser getauchten Stock sieht, sieht es einen gebrochenen Stock« (S. 208). Statt diese Illusion aufzuheben, den Stock aus dem Wasser zu ziehen, das Kind über die Sinnestäuschung aufzuklären und es über das physikalische Gesetz der Lichtbrechung zu belehren, geht es Rousseau darum, dass die Lernenden über das Phänomen staunen und sich irritieren lassen, genaue Beobachtungen anstellen, Annahmen und Hypothesen formulieren und ihre für wahr erachteten Schlüsse experimentell überprüfen, um zu einem Urteil zu gelangen. Rousseau gesteht, dass solche pädagogisch inszenierten Umwege zeitaufwendig sind und viel Geduld in Anspruch nehmen, ihre Abkürzung aber den Lernenden der eigentlich bildenden Erfahrung beraubt. Daher lautet die wichtigste und nützlichste Regel der Erziehung: »Zeit verlieren und nicht gewinnen« (S. 193).

Die Beispiele, an denen Rousseau das Prinzip der »klug geregelte[n] Freiheit« (S. 190) erläutert, lassen deutlich werden, dass der fiktive Erzieher Jean-Jacques alle Umwelteinflüsse auf Emile sowie jeden menschlichen Kontakt, den er eingeht, kontrolliert, damit er nur die Erfahrungen machen kann, die er auch machen soll: Lasst euren Zögling »immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. […] Zweifellos darf [das Kind] tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne dass ihr wisst, was es sagen will«.29 Es wäre daher nichts verfehlter, »als Rousseaus Pädagogik für eine Vorstellung von Erziehung in Anspruch zu nehmen, die das Kind oder den Jugendlichen nach [23]eigenen Interessen ›sich selbst verwirklichen‹ lässt.«30 Denn hinter allen Ereignissen verbirgt sich stets ein pädagogisches Kalkül, und der Heranwachsende ist nicht in der Lage, das verborgene Schalten und Walten seines Erziehers hinter den Geschehnissen zu vermuten oder ihnen gar zu entkommen.

In der Forschung wurde darüber diskutiert, ob sich Rousseaus Konzept negativer Erziehung und kluggeregelter Freiheit lediglich auf die Erziehung von Heranwachsenden bis zur Pubertät beziehe. Der deutsche Religionspädagoge Martin Rang (1900–1988) war der Auffassung, dass die negative Erziehung im Jugendalter durch eine positive Erziehung abgelöst werde. »Erst im Jugendalter«, schreibt Rang, »beginnt die ›positive‹ Erziehung als direkte pädagogische Einwirkung des Erziehers auf das Gefühlsleben, auf die moralischen Vorstellungen und auf die Willensbildung Emils.«31 Plausibler erscheint jedoch die Annahme, dass Rousseau mit der negativen Erziehung ein Prinzip pädagogischen Handelns skizziert, das frei von äußeren Ansprüchen allein auf der Subjektivität des Heranwachsenden aufbaut und sich jeweils neu am Verhältnis von Wollen und Können des Heranwachsenden ausrichtet. Während die pädagogischen Szenarien von der Kindheit bis zur Pubertät durch Sachzwänge und Verwendungszusammenhänge der Dinge bestimmt waren, orientiert sich die negative Erziehung im Jugendalter an der Verarbeitung emotionaler Erfahrungen des Heranwachsenden im Bezug zu anderen empfindsamen Wesen. Dieser Wechsel im pädagogischen Handeln, den Rousseau hier anspricht, ist kein »Wechsel der Methode, sondern ein Wechsel der Inhalte der Erziehung.«32

Mit Beginn des Jugendalters, das Rousseau als eine »zweite [24]Geburt« (S. 216) des Heranwachsenden beschreibt, wird die physische Geschlechtsreife erreicht und damit die »Möglichkeit leidenschaftlicher Zuwendung zum Du«33 erlangt. Der Heranwachsende überschreitet seine Selbstzentriertheit, begreift sich zunehmend als Geschlechts- und Gattungswesen und »fängt an, Interesse an denen zu nehmen, mit denen man lebt, man beginnt zu fühlen, dass man nicht dazu geschaffen ist, allein zu leben« (S. 232). Indem andere Menschen zu einem Bedürfnis werden, steigt jedoch für den Heranwachsenden die Gefahr, sich durch den Vergleich mit ihnen in eine Abhängigkeit zu begeben. Um zu verhindern, dass hieraus exzessive Formen der l’amour-prope erwachsen – wie Eifersucht, Selbstzweifel, Eitelkeit oder Hass –, empfiehlt Rousseau, das »erste Beziehungsgefühl«34, das natürliche Mitleid, anzuregen und zu kultivieren. Aus diesem natürlichen Unwillen, andere empfindsame Wesen leiden zu sehen, könne dann Empathie werden, um Menschenverachtung zu verhindern und vor Selbstverlust zu schützen.

3Geschlechtsspezifische Erziehung

In der Forschung wurde die geschlechtsspezifische Ausrichtung in Rousseaus pädagogischem Denken oft ausgeblendet oder zumindest dahingehend relativiert, dass das Prinzip negativer Erziehung »sowohl für die Erziehung des Menschen als auch für jene des Mannes«35 Geltung beanspruche. Im fünften Buch des Émile erklärt Rousseau aber, dass sich die Natur der [25]Frau von der Natur des Mannes grundsätzlich unterscheide. Eine ›naturgemäße‹ Mädchenerziehung müsse daher anders verlaufen als die im Émile illustrierte Knabenerziehung. Einen wesentlichen Unterschied sieht Rousseau darin, dass die Frau anders als der Mann auf die Eigenliebe angewiesen, von der öffentlichen Meinung abhängig und der Wertschätzung durch andere bedürftig sei. Diese Abhängigkeit zwinge sie dazu, dem Mann gefallen zu wollen und ihn an sich zu binden, indem sie sich ihm unterwerfe: »Da die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen, muss sie sich dem Mann liebenswert zeigen und ihn nicht herausfordern, ihre Macht liegt in ihren Reizen, und mit ihnen muss sie ihn zwingen, seine eigene Kraft zu entdecken und zu gebrauchen« (S. 238). Die Erziehung der Mädchen habe sich daher, so Rousseau, an den Erwartungen und Bedürfnissen von Männern auszurichten und sie an Zwang und Folgsamkeit zu gewöhnen.

Bereits bei zeitgenössischen Leserinnen stießen diese Überlegungen auf Kritik. Rousseaus Gönnerin Louise d’Épinay (1726–1783) wies die geschlechtsspezifische Erziehung zurück und übertrug in Les Conversations d’Émilie (›Gespräche mit Emilie‹, 1774) das Konzept der negativen Erziehung auf die Mädchenerziehung. Auch die englische Philosophin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft (1759–1797) setzte sich in A Vindication of the Rights of Woman (›Verteidigung der Rechte der Frau‹, 1792) kritisch mit Rousseau auseinander. Die Rousseau-Forschung im späten 20. Jahrhundert äußerte den Vorwurf, Rousseau reduziere die Frau auf eine »Appendixfunktion«36 des Mannes und legitimiere damit ihre gesellschaftliche Unterdrückung. Diese »Repressionsthese«37 wurde in der jüngeren Forschung jedoch relativiert. Denn Rousseau beschrieb [26]das Geschlechterverhältnis nicht als einseitige Unterdrückung, sondern vielmehr als eine »gegenseitige Abhängigkeit« (S. 241). Die Ehe beschreibt Rousseau als ein Vertragsverhältnis, in dem beide Partner gerade wegen ihrer geschlechtlichen Ungleichheit zugleich zu Herrschenden und Beherrschten werden. Es liege zwar in der Ordnung der Natur, dass die Frau den Befehlen des Mannes gehorche, die Frau regiere den Mann jedoch durch Sanftmut, Geschicklichkeit und Gefälligkeit. Ihre »Anordnungen sind Schmeicheleien, ihre Drohungen sind Tränen. Sie soll im Haus regieren wie ein Staatsminister, indem sie sich befehlen lässt, was sie tun will«.38 Für Rousseau ist die Ehe eine protopolitische Vereinigung. Der Ehevertrag stellt für Rousseau daher eine Vorstufe zum Gesellschaftsvertrag dar.

4Erziehung zum Staatsbürger und/oder Menschen

Kontrovers wurde in der Forschung diskutiert, welches Ziel Rousseaus Erziehung letztlich verfolge. Zu Beginn des Émile schreibt er, wenn man einen Menschen nicht für sich selbst erziehen wolle, sondern »für die anderen«, dann könne kein Einklang gefunden werden: »Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutionen zu kämpfen, muss man sich für den Menschen oder den Staatsbürger entscheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen« (S. 162). Das Ideal des citoyen (›Staatsbürger‹) verkörperten für Rousseau die Bürger antiker Stadtstaaten, deren Identität im politischen Gemeinwesen gänzlich aufging. Der natürliche Mensch hingegen, den Rousseau in seinem anthropologischen Gedankenexperiment als autark lebenden Solitär beschrieb, ist »sich [27]selbst alles. Er ist die ungebrochene Einheit, das absolute Ganze« (S. 163).

Der deutsche Philosoph Robert Spaemann (1927–2018) sah in dieser Gegenüberstellung von einer Erziehung zum Menschen und einer Erziehung zum Staatsbürger bzw. im Dualismus von privater und öffentlicher Erziehung einen unauflöslichen Widerspruch, der sich in Rousseaus Schriften – augenscheinlich – fortsetze.39 Während sich Rousseau im Émile und in Julie ou la Nouvelle Héloïse für die Erziehung des Menschen ausspreche, plädiere er sowohl in seinem Aufsatz zur Économie politique (›Politische Ökonomie‹, 1755) als auch in seinen Considérations sur le gouvernement de Pologne (›Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform‹, 1772) für eine öffentliche Erziehung.

Der Religionspädagoge und Erziehungswissenschaftler Martin Rang (1900–1988) war hingegen der Auffassung, dass private/häusliche und öffentliche/staatliche Erziehung »zwei sich zwar ausschließende, aber nicht sich widersprechende Erziehungsformen«40 seien. Sie schlössen einander aus, da sie für verschiedene historische Epochen und Staatsformen konzipiert seien, widersprächen sich aber nicht, da beide das Ziel verfolgten, Individuen zu erziehen. Die private Erziehung sei, so Rang, der moderne Weg, um dasselbe Ziel zu erreichen, das in den antiken Stadtstaaten durch die staatliche Erziehung erreicht worden sei. Diese Deutung ist jedoch wenig überzeugend, denn zum einen sieht Rousseau die Aufgabe der öffentlichen Erziehung darin, Heranwachsende dazu zu erziehen, »nur zu wollen, was die Gesellschaft will« (S. 117) – also den allgemeinen Willen als den eigenen zu erkennen –, und nicht, wie [28]Rang behauptet, den Zögling »um seiner selbst willen«41 zu bilden. Zum anderen wies Rousseau in seinem Verfassungsentwurf für Polen der öffentlichen Erziehung einen zentralen Stellenwert zu und erachtete sie damit keineswegs als historisch überwunden.

Um den vermeintlichen Widerspruch von öffentlicher und privater Erziehung zu verstehen, ist entscheidend, dass Rousseau öffentliche Erziehung zwar unter den Bedingungen der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft und der absolutistischen Herrschaft des ancien régime für unmöglich hielt, denn unter diesen Bedingungen »verlässt ein jeder die Schule, so ist er ganz zurecht gemodelt für die akademischen Würden, das heißt für die Knechtschaft.«42 Diese »lächerlichen Anstalten« (S. 165), wie Rousseau schreibt, brächten weder Staatsbürger noch Menschen hervor, sondern bloß Menschen von heute, die Rousseau abfällig als bourgeois (›Bürger‹) bezeichnet.

In einer gerechten Gesellschaft hingegen, deren Prinzipien Rousseau in seinem Contrat social entfaltet, wäre eine öffentliche Erziehung aber durchaus möglich. Ein gerechtes Gemeinwesen zeichnet sich für Rousseau vor allem durch eine legitime Herrschaft aus. Sie könne in einem Gemeinwesen dadurch realisiert werden, indem alle Gesellschaftsmitglieder sich freiwillig einander die gleichen Rechte einräumen und somit ihre Freiheit nicht dem Willen eines Einzelnen (volonté particulière) unterwerfen, sondern sich stets nur selbst gehorchen, indem sich alle dem allgemeinen Willen (volonté générale) unterordnen. Der Gesellschaftsvertrag macht sie damit zugleich zu Herrschenden und Beherrschten. Der allgemeine Wille ist hierbei für Rousseau nicht die Summe der Einzelwillen (volonté de tous), sondern ein regulatives Prinzip, das die [29]gesellschaftliche Praxis am Wohlergehen und Fortbestand des Gemeinwesens als politische Körperschaft ausrichtet. Öffentliche Erziehung verfolgt in einem solchen republikanisch verfassten Gemeinwesen das Ziel, Heranwachsende darin zu üben, den allgemeinen Willen als ihren eigenen zu erkennen. Diese Erziehung zum Staatsbürger ist kein reiner »Anpassungs- und Integrationsvorgang«43, wie Spaemann behauptet. Es geht nicht um eine Erziehung zum Gehorsam um des Gehorsams willen, sondern darum, aus dem von Natur aus bloß an seinem eigenen Wohlergehen Interessierten einen sich einsichtsvoll und freimütig um das Gemeinwohl Sorgenden zu machen. Diese dénaturation (›Entnaturierung‹) – also die Überwindung des natürlichen Egoismus und der Selbstliebe – im Rahmen öffentlicher Erziehung widerspricht keineswegs der Zielsetzung privater Erziehung, die im Émile beschrieben wird.

Emile, dessen Erziehung ihn dazu befähigen soll, unabhängig vom Willen, Können und Urteilen anderer Menschen zu sein und unter den Bedingungen der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ganz er selbst bleiben zu können, vereinigt auch alle Eigenschaften und Fähigkeiten, um in einem republikanisch verfassten Gemeinwesen die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags erfüllen zu können. Rousseau geht es darum, den von ihm aufgeworfenen Dualismus von Staatsbürger und Mensch in der Figur eines »Menschen-Bürger[s]«44 zu überwinden, der über die Fähigkeiten verfügt, die nötig sind, um den allgemeinen Willen seiner Gemeinschaft als den seinigen anzunehmen, ohne sich aber selbst aufgeben zu müssen. Wäre dies möglich, »die beiden Erziehungsziele, die uns vorschweben, in einem einzigen zu vereinigen, dann würde man die [30]menschlichen Widersprüche tilgen und ein großes Hindernis zu seiner Glückseligkeit beiseite räumen« (S. 166).

Der Émile nimmt damit im Gesamtwerk eine zentrale Scharnierstelle ein zwischen Rousseaus kulturkritischen und anthropologischen Arbeiten auf der einen Seite und seinen politischen und staatsphilosophischen Schriften auf der anderen Seite.45 Aus dem Zustand der Entfremdung, in den sich der Mensch im Verlaufe seiner Geschichte hineinmanövriert habe, befreie laut Rousseau eine gänzlich ›andere‹ Erziehung, die zugleich die Möglichkeit für ein politisches Gemeinwesen unter den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags schaffe. Der Mensch müsse naturgemäß erzogen werden, damit er seine natürliche Güte bewahre und solche Kräfte und Fähigkeiten entwickele, um als Bürger ganz er selbst bleiben und in den Gesellschaftsvertrag eintreten zu können. Gleichwohl bleibt Rousseau skeptisch, was die Etablierung eines gerechten Gemeinwesens angeht: Auf seiner Bildungsreise durch Europa entdeckt Emile am Ende des fünften Buchs, dass es kein politisches Gemeinwesen gibt, das den Ansprüchen des Gesellschaftsvertrags genügt. Eine veränderte pädagogische Praxis allein ist für Rousseau also kein Garant für die Etablierung eines gerechten Gemeinwesens.

Die Auswahl der folgenden Texte und Textauszüge versucht den hier skizzierten systematisch-argumentativen Zusammenhang in Rousseaus Denken abzubilden, den Otto Hansmann im Titel seines gleichnamigen Buches als Dreischritt »Vom Menschen – Über Erziehung – Zum Bürger« zum Ausdruck brachte.46

[31]Denkschrift für Herrn de Mably über die Erziehung seines Herrn Sohns

(1740)

In Lyon arbeitete Rousseau einige Monate als Hauslehrer bei der wohlhabenden und einflussreichen Familie des Generalprofos Jean Bonnot de Mably (1669–1761), dem ältesten Bruder des Philosophen Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780). Von April 1740 bis Mai 1741 war Rousseau mit der Erziehung der beiden Söhne von Mably betraut: François-Paul-Marie Bonnot de Mably, genannt Monsieur de Sainte-Marie, war fünfeinhalb Jahre alt, sein kleinerer Bruder Jean-Antoine Bonnot de Mably, genannt Monsieur de Condillac, war viereinhalb Jahre alt. Im Mémoire présenté à M. de Mably sur l’éducation de M. son fils, das vermutlich im Dezember des Jahres 1740 entstanden ist, entwirft Rousseau sein pädagogisches Vorhaben und reflektiert seine Erfahrungen. Ob Mably es je von Rousseau erhalten hat, ist ungeklärt. Bekannt ist nur, dass dieser das Manuskript später an Louise Dupin (1706–1799) übergeben hat, für die er im Jahre 1743 als Sekretär tätig war. Rousseau verfasste überdies ein Projet pour l’éducation de Monsieur de Sainte-Marie (›Plan für die Erziehung des Herrn de Sainte-Marie‹), das dem Mémoire sehr ähnlich ist, aber deutlich kürzer ausfällt. Welcher Text zuerst entstanden ist, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Im Folgenden ist die längere Version abgedruckt.

 

––––––

 

Sie haben mir die Ehre erwiesen, mein Herr, mir die Unterweisung Ihrer Herren Söhne anzuvertrauen. Es ist nun an mir, darauf mit aller Sorgfalt und dem ganzen Umfang des mir zur [32]Verfügung stehenden Wissens zu antworten; und ich dachte, dafür müsse mein erstes Ziel sein, die Geschöpfe gut kennenzulernen, mit denen ich zu tun haben werde: Darauf habe ich hauptsächlich die Zeit verwendet, die in Ihrem Hause zu verbringen ich die Ehre habe, und ich glaube, in dieser Hinsicht hinreichend zum Kern vorgedrungen zu sein, um ihren Erziehungsplan festlegen zu können. Es ist nicht nötig, mein Herr, dass ich Ihnen ein Kompliment dafür mache, was ich dabei an Vorteilhaftem bemerkt habe, vielmehr wird sich die Zuneigung, die ich für Ihre Söhne empfinde, in verlässlicheren Beweisen niederschlagen als in Lobhudeleien, und einen so zärtlichen und hellsichtigen Vater, wie Sie es sind, muss man nicht über die schönen Eigenschaften seiner Kinder belehren.

Jetzt bedarf ich noch, mein Herr, der Aufklärung durch Sie selbst hinsichtlich der besonderen Ansichten, die Sie über jeden Einzelnen von ihnen haben, über das Maß an Autorität, das Sie mir zu gewähren beabsichtigen, und über die Grenzen, die Sie meinen Befugnissen setzen werden.

Da Sie mir die Gunst erwiesen haben, mein Herr, mir in Ihrem Hause eine ansehnliche Besoldung und schmeichelhafte Auszeichnungen zuzubilligen, ist anzunehmen, dass Sie von mir Ergebnisse erwarten, die diesen so vorteilhaften Bedingungen entsprechen. Man sieht deutlich, dass weder solch hohe Kosten noch derartige Umstände nötig wären, um Ihren Herren Söhnen einen gewöhnlichen Hauslehrer zu geben, der sie die Grundlagen, die Orthographie und den Katechismus lehrt. Ich beabsichtige auch, mit meinem ganzen Können die ersprießlichen Hoffnungen zu rechtfertigen, die Sie in meine Person gelegt haben, und ich fühle mich sicher genug, um im Voraus zu antworten: Sie werden niemals feststellen, dass ich auch nur einen Augenblick nachlasse in Eifer und Zuneigung, welche ich meinen Schülern schulde.

Doch mein Herr, welche Sorgen und Mühen ich auch auf [33]mich nehmen mag, so hängt der Erfolg natürlich längst nicht von mir allein ab. Zwischen uns muss vollkommene Übereinstimmung herrschen, das Vertrauen, das Sie geruhen mir zu schenken, und die Autorität, die Sie mir über meine Schüler gewähren, wird über das Ergebnis meiner Arbeit entscheiden. Ich glaube, mein Herr, es ist ganz offensichtlich für Sie, dass ein Mann, der keinerlei Rechte über Kinder hat – sei es, um seine Anweisungen angenehm zu gestalten, sei es, um diesen Gewicht zu verleihen –, niemals Einfluss auf Gemüter haben wird, die im Grunde, für wie frühreif man sie auch halten mag, bis zu einem gewissen Alter ihre Handlungen von ihren Sinneseindrücken bestimmen lassen. Sie werden auch einsehen, dass ein Lehrer, der verpflichtet ist, alle Fehler eines Kindes zur Anzeige zu bringen, sich wohl – sofern er kann – hüten wird, sich unbeliebt zu machen, indem er unaufhörlich aussichtslose Klagen vorbringt. Übrigens entwischen einem tausend kleine entscheidende Gelegenheiten, eine Ermahnung vorzubringen oder zur rechten Zeit ein Lob zu äußern, wenn Vater oder Mutter abwesend sind oder wenn es unmöglich wäre, sie störend zu unterbrechen. Später kann man nicht mehr darauf zurückkommen, denn dann können sich die Ideen eines Kindes wiederum so verändert haben, dass das, was ihm zuvor zuträglich gewesen wäre, ihm nun zum Schaden gereichen könnte. Schließlich ergreift ein Kind, das ohne Zögern die Machtlosigkeit seines Lehrers ihm gegenüber erkennt, sogleich die Gelegenheit, dessen Verbote und Weisungen geringzuschätzen und für immer den Einfluss zu zerstören, den jener andere sich bemüht auszuüben. Sie sollen nicht glauben, mein Herr, dass ich so spreche, weil ich mir das Recht herauszunehmen suche, Ihre Herren Söhne durch Schläge zu misshandeln: Ich fand diese brutale Methode immer entsetzlich, ich verabscheue sie mehr denn je, und sicherlich bin ich nicht dafür geschaffen, sie auszuüben. Nicht einmal deren Androhung wird, wenn man [34]mir das glauben möchte, Herrn de Sainte-Marie zu Ohren kommen, und ich wage zu hoffen, bei ihm nunmehr mit weniger harten und geeigneteren Mitteln alles zu erlangen, was man fordern kann – sofern Sie den Plan billigen, den ich die Ehre habe Ihnen vorzuschlagen. Im Übrigen, um ganz ehrlich zu sein: wenn Sie denken, mein Herr, dass es für Ihren Herrn Sohn eine Schmach wäre, von fremden Händen geschlagen zu werden, so finde auch ich meinerseits, dass ein rechtschaffener Mann seinen Händen kaum eine schändlichere Bestimmung geben könnte, als sie für die Misshandlung eines Kindes zu verwenden. Doch im Hinblick auf Herrn de Sainte-Marie mangelt es uns nicht an Möglichkeiten, ihn durch Strafen zu kasteien, die bessere Wirkungen zeitigen werden: Denn in einem so lebhaften Geist wie dem seinen wird der Gedanke an Schläge sogleich mit dem Schmerz verschwinden, wohingegen der Gedanke an eine ausdrückliche Geringschätzung, eine überzeugende Argumentation oder eine empfindliche Entbehrung weit länger nachwirken wird.

Ein Lehrer muss gefürchtet werden; aus diesem Grund muss der Schüler völlig davon überzeugt sein, dass jener das Recht hat, ihn zu bestrafen. Vor allem aber muss er geliebt werden, und welches Mittel kommt einem Hauslehrer schon zu, damit ein Kind – dem er nie etwas anderes vorschlagen kann als dessen Neigung widerstrebende Beschäftigungen – ihn lieb hat? Er sollte die Möglichkeit haben, dem Kinde einige kleine Annehmlichkeiten zu gewähren, die kaum Ausgaben oder einen Zeitverlust bedeuten, und für die, wenn sie ihm beizeiten verschafft werden, das Kind unendlich empfänglich ist und die es seinem Lehrer sehr zugetan machen. Ich werde diesen Punkt indes nur recht wenig hervorheben, da ich – nach den ersten Wirkungen meiner Bemühung zu urteilen – zu behaupten wage, dass Herr de Sainte-Marie mir seine Freundschaft nicht verweigern würde und ich alles in allem glaube, dass sich ein Vater [35]ohne Nachteil das ausschließliche Recht bewahren kann, seinem Kinde Gunstbezeugungen zu gewähren – vorausgesetzt, er wendet folgende Vorkehrungen an, die vor allem bei Herrn de Sainte-Marie notwendig sind, dessen Lebhaftigkeit und Hang zur Zerstreutheit mehr Ergebenheit erfordert.

Bevor man ihm ein Geschenk macht, soll man vom Erzieher heimlich erfragen, ob dieser Anlass hat, mit dem Betragen des Kindes zufrieden zu sein. Dem jungen Manne ist zu erklären, dass er, sollte er um Verzeihung bitten müssen, dies durch den Mund seines Lehrers zu tun habe, und wenn es ihm widerfährt, dass er aus eigenem Antrieb bittet, dies allein genügen wird, ihm die Bitte abzuschlagen. Dabei ist die Gelegenheit wahrzunehmen, bisweilen den Hauslehrer zu tadeln, dass er zu gut sei, dass dieses Übermaß an Nachgiebigkeit dem Fortschritt seines Schülers schaden werde, und dass es seiner Umsicht obliege, das zu korrigieren, was dem Kind an Mäßigung fehlt. Im Übrigen wird es keinesfalls nötig sein, dem jungen Kinde bei dieser Gelegenheit zu erklären, dass man ihm eine Gunst gerade deshalb erweist, weil es seine Aufgabe gut erfüllt hat. Dagegen ist es besser, es bemerkt selbst, dass Freuden und Annehmlichkeiten die natürlichen Folgen von Beflissenheit und gutem Betragen sind. Das Kind sollte diese Freuden nicht als willkürliche Belohnung betrachten, die von einer Laune abhängen können – daher dürfen diese im Grunde niemals im Gegenzug zu Studium und Tugend angeboten werden.

Dies sind die Rechte, die Sie mir über ihren Herrn Sohn mindestens übertragen müssen, wenn Sie ihm eine gelungene Erziehung zukommen lassen möchten, die auch den schönen Anlagen entspricht, welche er in vielerlei Hinsicht zeigt. So zutreffend dies ist, sind diese jedoch derzeit durch viele schlechte Gewohnheiten getrübt, die frühzeitig korrigiert werden müssen, bevor die Zeit es unmöglich macht. Sosehr dies zutrifft, sowenig muss man beispielsweise gegenüber Herrn de [36]Condillac Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Er muss im gleichen Maße vorwärtsgebracht wie der andere zurückgehalten werden, und ich werde wohl dafür meinen gesamten Einfluss geltend zu machen wissen. Doch bei Herrn de Sainte-Marie ist es für seine Erziehung von großem Nutzen, wenn man ihm Zügel anlegt, die er spürt und die in der Lage sind, ihn zurückzuhalten. So wie die Dinge liegen, mein Herr, hängen die Gefühle, von denen Sie wünschen, dass er sie mir gegenüber hegt, weit mehr von Ihnen ab als von mir selbst.

Wir nähern uns dem Jahresende. Sie könnten keine einfachere Gelegenheit wählen als den Beginn des neuen Jahres, um eine kleine, seinem Alter gemäße Rede an ihren Herrn Sohn zu richten, in der Sie ihm die Vorteile einer guten Erziehung und die bedauernswerten Folgen einer vernachlässigten Kindheit vor Augen führen. Dies wird ihn dazu veranlassen, sich bereitwillig dem zu widmen, was wir in Kenntnis seines wohlverstandenen Interesses fortan von ihm erwarten. Anschließend werden Sie die Güte haben, mir in seiner Gegenwart zu erklären, dass Sie mich als Vertreter Ihrer Autorität über ihn einsetzen, und dass Sie mir uneingeschränkt das Recht einräumen, ihn durch alle mir passend erscheinenden Mittel zu verpflichten, seine Aufgaben zu erfüllen. Befehlen Sie ihm sodann, mir zu gehorchen wie Ihnen selbst, da Sie sonst überaus verärgert wären: Diese Erklärung, die nur den Zweck haben soll, mehr Eindruck auf ihn zu machen, wird im Übrigen nur Wirkung zeigen entsprechend dem, was Sie mir im Besonderen gedenken vorzuschreiben.

Dies, mein Herr, sind unerlässliche Vorbereitungen, um zu gewährleisten, dass die Sorgfalt, die ich Ihrem Herrn Sohn gegenüber aufwenden werde, keine verlorene Mühe sein wird. Ich möchte nun seine Erziehung entsprechend des Planes skizzieren, den ich erstellt habe auf der Grundlage dessen, was ich bisher über seinen Charakter und Ihre Ansichten weiß. Ich [37]schlage ihn keineswegs als Regel vor, an die man sich halten muss, sondern als Entwurf, der noch auf Basis Ihrer Erkenntnisse und denen des Herrn Abbé de M. einer Umarbeitung und Korrektur bedarf und der allein dazu dienen soll, dem Herrn Abbé eine Vorstellung zu geben vom Geiste des Kindes, um welches es hier geht.

Das Ziel, das man sich für die Erziehung eines jungen Mannes vornehmen muss, ist, sein Herz, seine Urteilskraft und seinen Geist zu formen – und zwar in der Reihenfolge, in der ich sie aufzähle. Die Mehrheit der Erzieher, vor allem die Pedanten, betrachten den Erwerb und die Anhäufung von Wissen als einzigen Gegenstand einer vortrefflichen Erziehung, ohne zu bedenken, dass, wie Molière sagt, häufig gilt:

Ein gelehrter Dummkopf ist ein größerer Dummkopf als ein unwissender Dummkopf.

Andererseits gibt es viele Väter, die alles, was man Studien nennt, erheblich geringschätzen und sagen, dass sie aus ihren Kindern keine Doktoren machen wollen. Sie kümmern sich nur darum, ihre Kinder in Leibesübungen und in dem, was man Kenntnis der Welt nennt, zu vervollkommnen: Zwischen diesen beiden Extremen werden wir die Mitte einnehmen, um Ihren Herrn Sohn anzuleiten. Die Wissenschaften dürfen nicht vernachlässigt werden, ich werde davon gleich noch sprechen, doch dürfen sie auch nicht die guten Sitten überwiegen – dies gilt vor allem für einen von Feuer nur so blitzenden Geist, der bis zu einem gewissen Alter kaum der Aufmerksamkeit fähig ist und dessen Charakter sich sehr früh herausgebildet hat. Wozu dient einem Mann das Wissen eines Varro, wenn er im Übrigen nicht klar zu urteilen vermag? Wenn er das Unglück hatte, sein Herz verderben zu lassen, sind die Wissenschaften in seinem Kopf ebenso wie Waffen in den Händen eines [38]Rasenden. Von zwei dem Laster gleichermaßen zugetanen Personen wird stets die weniger geschickte weniger Unheil anrichten. Selbst die spekulativsten und dem Anschein nach sonderbarsten Wissenschaften vermögen den Geist zu schulen und ihm Kraft zu geben – jedoch kann man diese Kraft im alltäglichen Leben leicht missbrauchen, wenn man ein schlechtes Herz hat.