The 99 Boyfriends of Micah Summers – Ein Märchen in Chicago - Adam Sass - E-Book
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The 99 Boyfriends of Micah Summers – Ein Märchen in Chicago E-Book

Adam Sass

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Beschreibung

Ein Like für die Liebe Micah hatte noch nie ein echtes Date, dafür ist er viel zu schüchtern. Stattdessen zeichnet er seine Traumtypen und postet sie auf Instagram. 99 imaginäre Jungs später bringt ein Fremder in der U-Bahn sein Herz gewaltig zum Stolpern: unwiderstehliches Lächeln, Wuschellocken, sprühend vor Charme. Ganz klar, das ist Schwarm 100! Die Luft knistert, doch bevor beiden Nummern tauschen können, ist der Fremde wieder verschwunden. Zurück bleibt nur seine Jacke und Micahs Entschluss, seinen Crush zu finden. Die Suche führt in quer durch Chicago – doch manchmal ist die wahre Liebe näher, als man denkt. »Wahnsinnig komisch, originell und überraschend!« Sophie Gonzales, Autorin von »If This Gets Out«

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Adam SassThe 99 Boyfriends of Micah SummersAus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt

Wird Crush 100 der Eine sein?

Micah hatte noch nie ein echtes Date, dafür ist er viel zu schüchtern. Stattdessen zeichnet er seine Traumtypen und postet sie auf Instagram. 99 imaginäre Jungs später bringt ein Fremder in der U-Bahn sein Herz gewaltig zum Stolpern: unwiderstehliches Lächeln, Wuschellocken, sprühend vor Charme. Ganz klar, das ist Crush 100! Die Luft knistert, doch bevor beiden Nummern tauschen können, ist der Fremde wieder verschwunden. Zurück bleibt nur seine Jacke und Micahs Entschluss, seinen Schwarm zu finden. Die Suche führt in quer durch Chicago – doch manchmal ist die wahre Liebe näher, als man denkt.

Cinderella mit einem Twist! Diese märchenhafte Friends-to-Lovers Rom-Com ist sehnsüchtig verträumt, weise und wunderbar witzig!

Buch lesen

Viten

Für David, der in diesem Buch so sehr um den richtigen Boyfriend gekämpft hat.

Woher ich weiß, dass es Liebe ist? Weil ich mich schon zweimal übergeben musste. Und dabei habe ich ihn noch nicht mal nach einem Date gefragt. Auch wenn meine Freund*innen gern auf diese Info verzichtet hätten, sind alle der Meinung, dass meine angstbedinge Übelkeit die perfekte Ausrede bietet, um die Schule zu schwänzen und zum ersten Mal in meinem Leben einen Jungen nach einem Date zu fragen.

Und wer könnte sich an einem solchen Tag schon auf imaginäre Zahlen oder die Korruptionsskandale der 1920er-Jahre konzentrieren? Die Zeichen, dass ich endlich den ersten Schritt wagen sollte, sind überall: Die typische graue Suppe über Chicagos Skyline hat sich verzogen und der wolkenverhangene Himmel ist einem hoffnungsvoll strahlenden Blau gewichen. Es ist der erste warme Tag seit einem halben Jahr, perfekt für meine Mission, weil ich mein schwarzes Lieblingstanktop anziehen kann – darin sehen meine Arme richtig muskulös aus (Spoiler: Sie sind es nicht!). Ich fühle mich nicht mal schlecht, weil ich schwänze. Die Klausuren sind alle geschrieben, damit ist mein vorletztes Schuljahr so gut wie vorbei, und der halbe Abschlussjahrgang wird heute sowieso fehlen.

Darunter auch Andy McDermott.

Den ganzen Mai über habe ich, mit der Entschlossenheit eines Hais, der einen ertrinkenden Seemann belauert, meine Kreise um Andy gezogen. Fast ein Jahr lang war er mit diesem Mädchen aus meinem Kunstkurs zusammen gewesen, aber dann ist sie in den Frühlingsferien fremdgegangen und sie haben sich getrennt. Danach tauchte Andy plötzlich bei den Treffen des LGBTQ+-Clubs unserer Schule auf.

Da ich der Schriftführer des Clubs bin, lautete der einzige Protokolleintrag an diesem Tag: OHMEINGOTTANDYISTHIER.

Hannah, meine beste Freundin (und beste Spionin), hat herausgefunden, dass Andy heute den Unterricht schwänzt und in den Grant Park geht, um TikToks für seine Band aufzunehmen. Deshalb bin ich jetzt auch dorthin unterwegs, und zwar so schnell, wie mich mein Pennyboard durch die Straßen befördert.

Das winzige knallpinke Skateboard kippelt unter der Last meines übervollen Schulrucksacks, aber ich finde ohne Probleme das Gleichgewicht wieder. Schließlich bin ich nur ein dünner Lauch, der mit siebzehn noch so aussieht, als wäre er zwölf. Der Frühlingswind weht mir ins Gesicht, während ich über die rostbraune Brücke rolle, die von meinem Zuhause an der sogenannten Goldküste (wo die Reichen wohnen) zum Loop führt, dem Innenstadtviertel von Chicago.

Am See angekommen, stelle ich fest, dass die gesamte Stadt heute blaumacht: Auf dem Wasser sind jede Menge Segeljachten unterwegs, und der Park ist voller Menschen, die Rad fahren, joggen und picknicken. Alle wollen unbedingt die ersten warmen Sonnenstrahlen seit Oktober genießen.

Aber nicht mal der kühlende Wind kann meinen brodelnden Magen besänftigen.

Heute ist der Tag, an dem Micah Summers zum ersten Mal einen Jungen nach einem Date fragt. Sieg oder Niederlage.

Und es sollte besser nicht mit einer Niederlage enden!

Als ich mein Board endlich vor den Steinpollern am Parkeingang abbremse, lande ich sofort einen Glückstreffer: Andy McDermott ist schon da. Und er ist allein unterwegs. Dabei kommt es fast nie vor, dass man Andy ohne seine einschüchternde Freundes-Clique antrifft.

Doch jetzt steht er ohne die anderen in der Warteschlange vor einem Hotdog-Wagen.

Andy sieht aus wie aus einem Märchen – aber von der düsteren Sorte, wie in dem Disneyfilm Descendants – die Nachkommen. Er hat dunkle, lockige Haare, die an den Spitzen blau gefärbt sind, supersüße Sommersprossen auf den leicht gebräunten Wangen, einen Ohrstecker, Ringe an jedem Finger, und um seine Taille ist ein Flanellhemd geknotet. Der perfekte Retro-Musikvideo-Vibe.

Nach einem langen, tiefen Atemzug fahre ich mir mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen, schnalle mein Board hinten an meinen Rucksack und stelle mich zu Andy in die Schlange.

Er hat mich noch nicht gesehen. Mein hämmerndes Herz will sich gar nicht mehr beruhigen.

Die Hotdog-Verkäuferin – eine ältere weiße Frau, die von Kopf bis Fuß in Chicago-Bulls-Merch gekleidet ist – winkt Andy heran, um seine Bestellung entgegenzunehmen.

Wie soll ich bloß ein Gespräch mit ihm anfangen? Und selbst wenn ich das schaffen sollte: Wie frage ich ihn beiläufig nach einem Date, um ihn nicht abzuschrecken, aber auch eindeutig genug, um nicht in der Friendzone zu landen?

Im echten Leben sind Jungs nun mal keine Märchenprinzen; sie sind Furcht einflößende, unverständliche Wesen, aus den dunklen Wäldern im Land der Rätselhaftigkeit.

Keine Zeit, um zu atmen. Für seelischen Beistand fische ich mein Handy aus der Tasche und schreibe Hannah: Notfall! McDermott steht vor mir in der Schlange bei den Hotdogs. Was soll ich tun?

Ihre Antwort kommt sofort: Frag ihn nach einem Date!

Fast hätte ich mein Handy zerquetscht. Seit der siebten Klasse ist Hannah mit einem gut aussehenden, beliebten Jungen nach dem anderen zusammen – und immer war sie diejenige, die zuerst nach einem Date gefragt wurde. Keine Ahnung, warum ich denke, sie könnte ausgerechnet mir einen brauchbaren Ratschlag geben – einem schwulen Jungen, der noch nicht mal das Dating-Level eines Mittelstuflers erreicht hat. Danke, Hannah, aber wie?, antworte ich.

Frag ihn, ob er mit dir einen Hotdog essen will. Aber betone »Hotdog« so, dass eindeutig was ANDERES damit gemeint ist …

Das ist ein echter Notfall und du machst dich über mich lustig!

Lad ihn auf den Hotdog ein!

Endlich ein konkreter, umsetzbarer erster Schritt! Hannah ist echt die Beste.

»– und bitte mit allem«, sagt Andy mit seiner rauen Stimme zu der Hotdog-Verkäuferin.

»Das macht dann vier fünfzig«, sagt die Frau.

Ich stürze einen Schritt nach vorn und halte ihr die Kreditkarte hin, bevor Andy seinen Geldbeutel rausholen kann. »Ichzahldas«, platzt es in einer einzigen zusammengepressten Silbe aus mir heraus.

Andy weicht zurück, einen erschrockenen Ausdruck auf seinem hübschen, leicht unrasierten Gesicht.

Oh nein. Das war zu schnell.

»Sorry!« Aus einem mir unbekannten Grund hebe ich ergeben die Arme. »Ich, äh, zahle das?«

Andys lange Wimpern flattern und auf seinem erstaunten Gesicht breitet sich ein verschmitztes Lächeln aus. Gott sei Dank. Endlich dringt wieder Sauerstoff in meine Lungen. »Oh, hi«, sagt er. »Du bist doch Micah, oder? Von diesem Club in der Schule?«

Er erkennt mich!

»Äh, ja …«, sage ich und gebe der Verkäuferin meine Karte. Mein Blick huscht wild durch die Gegend und landet überall, nur nicht auf Andy. Der Plan geht wirklich verdammt schnell in die Hose. Was soll Andy bloß von mir denken, wenn ich einfach so aus dem Nichts auftauche und nicht einmal erkläre, warum.

»Willst du auch einen Hotdog, Kleiner, oder bezahlst du nur seinen?«, fragt die Frau.

Alles dreht sich. Ich könnte keinen Bissen runterkriegen. »Nur seinen«, murmele ich.

»Oh, dann vielen Dank«, sagt Andy. Nicht mal sein freundlicher Ton kann mich beruhigen.

Mit unmenschlicher Anstrengung begegne ich seinem Blick, seine Augen sind dunkelbraun mit goldenen Sprenkeln. Er lächelt.

Viel zu viel Aufmerksamkeit.Sofort zieht sich mein Magen zusammen.

Lächeln, Micah. Ich gehorche. Zu viele Zähne! Ich kneife die Lippen zusammen. Jetzt siehst du aus, als wäre dir schlecht. Mir ist schlecht! Andys Lächeln verblasst schon wieder. Du verlierst ihn!

»Ich weiß nicht, was du heute Abend vorhast«, platzt es aus mir heraus.

Andy zieht eine gepiercte Augenbraue in die Höhe. »Du … weißt nicht, was ich heute Abend vorhabe?«

Der Satz sollte eigentlich so klingen: Ich weiß nicht, was du heute Abend vorhast, aber falls du Zeit haben solltest, hättest du dann Lust, mit mir ins Kino oder essen zu gehen, oder sonst was in der Art? Aber natürlich habe ich vor dem entscheidenden Teil den Schwanz eingezogen und klinge deshalb wie ein Irrer!

»Hier ist deine Karte, Kleiner«, sagt die Verkäuferin, dann reicht sie Andy den in Alufolie gewickelten Hotdog und eine Tüte Chips. Die Frau hinter mir schiebt ihre Kinder vor, um eine Bestellung aufzugeben, und Andy und ich treten gemeinsam aus der Warteschlange.

Was mache ich hier eigentlich? Will ich ihm den ganzen Tag wie ein Schoßhündchen hinterherlaufen?

»Ich meine, wenn du heute Abend nichts vorhast … äh …«, stottere ich.

Zum Glück begreift Andy, worauf ich hinauswill. Er windet sich ein bisschen und beugt sich zu mir. »Hey, Micah … ich fühle mich echt geschmeichelt, aber –«

»Kein Ding!«, ächze ich. »Guten Appetit und schöne Ferien, tschüs!«

Mit der Energie einer Gazelle, die sich jeden Moment in das Mittagessen eines Jaguars zu verwandeln droht, sprinte ich in die entgegengesetzte Richtung davon. Und erst, als sich die giftige Säurebrühe in mir allmählich beruhigt, werde ich langsamer.

Mein Herz schrumpft in meiner Brust zusammen. Ich habe es wieder nicht geschafft.

Sobald ein sicherer Abstand von mehreren Häuserblocks zwischen Andy und mir liegt, lasse ich mein Pennyboard fallen und skate zum Millennium Park – da sind zwar immer viele Tourist*innen, aber wenigstens kann ich in der Menge verschwinden. Und das brauche ich jetzt dringend. Nachdem ich von meinem Board gehüpft bin, setze ich mich im Schneidersitz vor das Cloud Gate – eine riesige spiegelnde Kunstinstallation, die verblüffende Ähnlichkeit mit einer Bohne hat.

Ich öffne meinen Rucksack und ziehe einen Kohlestift und mein Skizzenbuch heraus. Sobald das raue Papier meine Fingerspitzen berührt, spüre ich die Demütigung wieder in jeder Faser meines Körpers.

Ich habe mich getraut – also, zumindest fast – und eine Abfuhr bekommen – also,auch fast.

Was für ein Flop. Zeit, meiner Schwärmerei ein Ende zu setzen und mir Andy aus dem Kopf zu zeichnen.

Mit breiten, groben Strichen skizziere ich Andy McDermott, aber nicht so, wie er wirklich aussieht, sondern so, wie sich meine Verknalltheit angefühlt hat. Ich übertreibe bei seinem Aussehen: Aus den Haaren mit den blau gefärbten Spitzen wird eine schulterlange Mähne; seine Augen werden leuchtende goldene Monde, sein Flanellhemd verwandelt sich in einen zerrissenen, wogenden mittelalterlichen Schottenumhang.

Er ist ein Pirat, so wie Westley in Die Brautprinzessin. Oder ein Wolf-Gestaltwandler wie in den Liebesromanen, die ich früher immer vom Nachttisch meiner Mutter geklaut habe.

Ein Wolfspirat.

Ich füge noch ein paar Details hinzu, wie die Tätowierung eines mondbeschienenen Waldes an seinem linken Arm, eine große Kreole statt seines Ohrsteckers, und zwei kleine Fangzähne linsen unter einem buschigen Schnurrbart hervor.

Meine Zeichnung hat keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem echten Andy McDermott. In meiner Fantasie entführt mich der Wolfspirat Andy weit weg in seine Hütte mitten in einem unheimlichen Wald. Dort brauche ich nicht stotternd nach einem Date zu fragen. Ich bin einfach nur der willige Gefangene eines wilden Kämpfers – und kein siebzehnjähriger Schüler, der noch nie ein Date hatte …

Anders als meine Freund*innen bin ich nie zu alt für Märchen geworden. Ich finde sie nicht kindisch oder fake. Für einsame kleine, schwule Jungs können sie so echt sein wie das Leben – in meiner Fantasie umso mehr, weil ich hier das Sagen habe. In der Realität bin ich ein Versager. Ich bringe kein Wort heraus und kann meinem Schwarm nicht einmal in die Augen schauen. Ich habe rein gar nichts unter Kontrolle. Aber in einem Märchen ist die Liebe so romantisch und perfekt, wie ich es will. Ich kann alles sein.

Wenn ich zeichne, bin ich ganz ich selbst.

Ich öffne Instagram und mein Herz wird ganz weit vor neuer Energie. Obwohl mein Account – @InstaLovesInChicago – die ganze Woche wegen meiner Abschlussprüfungen geruht hat, ist meine Followerzahl um weitere tausend gestiegen. Ich bin jetzt fast bei 50k! Ich versuche, die Kommentare nicht zu lesen, deshalb weiß ich nicht, ob sie positiv oder negativ sind – aber allein der Gedanke daran, dass so viele Menschen meine Zeichnungen sehen, tröstet mich nach dem heutigen Korb.

»Ich fühl mich echt supergeschmeichelt, aber …« Ich konnte Andy nicht mal aussprechen lassen, als wäre die Abfuhr weniger schlimm, wenn ich ihn unterbreche. Egal, ob das Ende des Satzes nun gelautet hätte: aber ich bin nicht interessiert oder aber ich bin noch nicht bereit nach meiner Trennung – er scheint meine Gefühle ohnehin nicht zu teilen. Wie ein Schnürsenkel, der sich aus der Schleife löst, entwirrt sich dieses Gefühl, das ich für Liebe gehalten habe – und offenbart das, was es wirklich ist: eine einseitige Schwärmerei. Liebe dagegen beruht auf Gegenseitigkeit.

Tja. Ein weiterer Fehlschuss für Micah Summers.

Wie bei den neunundneunzig anderen Fehlschüssen (oder Beinahe-Treffern, wie ich sie optimistisch nenne) lebt der Geist meiner Schwärmerei in meiner romantischen Zeichnung weiter.

Als ich das Skizzenbuch vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt bekam, hatte es 208 leere Seiten. Heute sind neunundneunzig davon gefüllt mit den Zeichnungen von meinen Instaloves-Boyfriends. Mit Sprühkleber versiegelt. Auf Insta gepostet. Alles perfekt.

Neunundneunzig Boyfriends.

Gut, dass niemand weiß, wer hinter diesem Account steckt. Vor ein paar Jahren wurde über meine Familie eine Reality-Show gedreht (und wirklich jeder Mensch in dieser Stadt kennt meinen Dad), deshalb darf auf keinen Fall das gesamte Internet mitbekommen, wie viele erfolglose Schwärmereien Micah Summers schon hinter sich hat. Weil Instaloves anonym ist, geht es nur um die Zeichnungen darin, nicht um irgendwelche Klatschgeschichten. Dadurch kann ich einfach herumprobieren und meinen eigenen künstlerischen Stil finden.

Kurz überfliege ich die DMs – eine endlose Reihe ungelesener Nachrichten von Fans. In dem winzigen Vorschaufenster stellen alle die gleiche Frage in verschiedenen Variationen:

Wo ist Crush 100?

Wann wirst du Crush 100 posten?

Crush 100, WANN?

Wann wird mein Prinz kommen?

Meine Brust zieht sich zusammen. Neunundneunzig Schwärmereien, und ich habe null Komma null von ihnen, nicht einen, nach einem Date gefragt.

Die ganze Woche über dachte ich, Andy wäre Crush 100 – der Schwarm, aus dem endlich mehr wird. Aber das Schicksal hat entschieden, dass Crush 100 immer noch da draußen herumschwirrt und auf mich wartet – so wie ich auf ihn.

Der Wolfspirat wittert deine Angst und erträgt dein Unbehagen nicht. »Du musst nichts sagen«, flüstert er. »Ich kenne einen Ort, wo wir allein sind.« Du schaust in seine goldenen, animalischen Augen und fühlst dich sofort sicher. Dieser gut aussehende Fremde weiß genau, was du brauchst. Er sorgt sich um deine Gefühle und ist doch unerschrocken genug, um dich aus der Reserve zu locken.

Ihr besteigt sein Schiff und segelt übers Meer zu einem Schloss, dem Ahnensitz seiner Familie. Dort angekommen, schlagt ihr euer Lager in den Bergen auf. Er serviert dir heißen Cider in einem Krug, den er selbst getöpfert hat. Neben dir kauert sein treu ergebener Wolfshund.

Ich schließe Insta wieder, ohne die Zeichnung zu posten.

Andys Hände sehen viel zu groß aus. Sie stimmen einfach nicht.

Nichts stimmt!

Sonst fühlen sich meine Instaloves-Bilder immer richtig und echt an, weil ich mich selbst raushalte. Diejenigen, die meine Zeichnungen sehen, können selbst in die Fantasiegeschichten eintauchen und sie in ihren Träumen miterleben.

Die Bilder beruhen zwar alle auf einem real existierenden Schwarm von mir, aber es ist meine Aufgabe, diese Gefühle so auszudrücken, dass andere Menschen das Gleiche fühlen können wie ich. Doch diesmal stemmt sich ein unsichtbarer schwerer Stiefel in meinen Bauch, als Andy mir mit seinen missglückten Händen aus dem Skizzenbuch entgegensieht. Irgendwie fehlt sein Zauber.

Warum habe ich es diesmal nicht richtig hinbekommen?

Ich seufze. Dieser gescheiterte Date-Versuch tut echt weh. Dabei dachte ich, ich hätte was in seinen Augen gesehen, eine Spur von Interesse. Vielleicht leide ich schon unter Wahnvorstellungen. Vielleicht ist er ja wirklich interessiert, aber noch zu verletzt von der Trennung. Oder vielleicht hätte er doch Lust gehabt, sich mit mir zu treffen – wenn ich es nicht so spektakulär vermasselt hätte.

Mein Handy summt, die Nachricht ist von Hannah: UUUUUnd? Als ich ihr einen Daumen runter zurückschicke, erwidert sie: In 20 Min. im Audrey’s? Elliot macht dir einen Chai.

Elliot.

Dauernd will sie, dass ich mich mit diesem Typen anfreunde. Aber Schwule müssen nicht unbedingt mit anderen Schwulen befreundet sein, nur weil beide schwul sind! Am liebsten hätte ich mit einem zickigen No thx geantwortet, aber sie ist einfach zu nett zu mir. Während ich mit meinem Pennyboard durch die Stadt cruise, versengt mir der erste heiße Sommertag in Chicago den Nacken. Gott, wie habe ich das vermisst! Bestimmt werde ich mich im Juli wieder nach Oktober sehnen – aber im Moment kommt die Wärme genau richtig, um meine Laune zu heben.

Das und einen Chai im Audrey’s.

Audrey’s Café ist meine neueste Obsession. Hannah hat mich genau zum richtigen Zeitpunkt mit diesem Laden bekannt gemacht. In meinem früheren Lieblingscafé, dem Intelligentsia, kann ich mich leider nicht mehr blicken lassen.

Dort arbeitet nämlich ein anderer ehemaliger Instaloves-Boyfriend von mir – Nr. 59.

Und tatsächlich, als ich an dem Café vorbeifahre, werkelt Nr. 59 im Schaufenster herum und tauscht die Menütafeln für die Sommer-Karte aus. Fast meine ich, eine Fünf und eine Neun über seinem Kopf aufpoppen zu sehen. Er entdeckt mich über die Straße hinweg, obwohl ihm sein langer, dunkler Pony in die Augen hängt. Er lächelt, aber ich bin von meiner letzten Niederlage noch zu erschüttert, um das Lächeln zu erwidern. Dann zeigt er mir ein Peace-Zeichen, und wie durch ein Wunder schaffe ich es, im Weiterfahren ebenfalls die Hand zu heben.

Bevor ich das Audrey’s betrete – ein gemütliches Café im französischen Stil –, ziehe ich mein Skizzenbuch heraus und schaue mir den Wolfspiraten Andy noch mal an.

Die Härchen in meinem Nacken kräuseln sich. Aber ich spüre nichts. Dieser Typ, von dem ich so sicher war, er würde die Liebe meines Lebens werden, schaut mich aus meinem Skizzenbuch an und sieht genauso bescheuert aus, wie ich mich fühle.

Ich möchte mehr als nur einen flirtenden Blick. Ich möchte eine echte Verbindung.

Crush 100 muss etwas Besonderes sein. Ein richtiges Date, nicht bloß eine weitere Enttäuschung. Andy war anscheinend einfach nicht der Richtige. Crush 100 sollte niemand sein, bei dem ich mir nur einbilde, er würde mich mögen, weil er mich mal kurz angelächelt hat. Es sollte schon ein stärkeres Zeichen von ihm ausgehen – und die Gefühle müssen auf Gegenseitigkeit beruhen.

Umringt von Leuten, die mit fröhlichen Gesichtern ihre Latte macchiatos schlürfen, schneide ich die Seite mit der Zeichnung aus meinem Skizzenbuch heraus. Mit einem entschlossenen Raatsch landet der Wolfspirat Andy im Mülleimer.

»Möge er in Frieden ruhen«, sagt Hannah. Als wäre sie aus einer Rauchwolke aufgetaucht, steht plötzlich meine beste Freundin – klein, schick, Schwarz, mit schimmernder Haut – neben mir. Zusammen starren wir in den Mülleimer auf die Zeichnung.

»Wer war das?«, fragt sie.

Hannah erkennt Andy nicht von der Zeichnung, aber ich rieche auf einmal wieder den Duft nach Senf, frisch gebratenen Zwiebeln und Andys moschusartigem Parfüm und seufze. »Der Junge meiner Träume.«

Hannah kichert und hängt ihren Arm in meinen. »Schon wieder.«

»Na ja. Eines Tages werde ich das sagen und dann wird es auch wahr sein.«

Sobald ich in das hektische Gedränge im Café eintauche, verfliegt das unangenehme Gefühl in mir. Die Leute hier wissen nicht, wie schrecklich ich mich eben erst vor Andy McDermott blamiert habe, und es wäre ihnen auch egal.

Weiter hinten, inmitten einer Schar anderer verlorener Seelen, die auf ihre Milchkaffees warten, steht meine Schwester Maggie an eine raue Backsteinwand gelehnt und winkt uns zu. Offenbar hat sie schon für uns bestellt. Obwohl unsere Familie genügend Geld hat, um uns mit einer abwechslungsreichen Garderobe auszustatten, tragen Maggie und ich die meiste Zeit die gleichen Sachen – wie Zeichentrickfiguren. Maggie hat fransige braune Haare und steckt wie immer von Kopf bis Fuß in Sportklamotten. Ich trage meine weiße schwule Uniform: schicke Jogginghosen und ein billiges schwarzes Tanktop voller Farbflecken. Hannah dagegen ist weitaus stilbewusster und hat sich mal wieder in ein Instagram-taugliches Ensemble geworfen: eine mit Glitzersteinen besetzte Hornbrille, dazu einen Bleistiftrock in Petrol mit einer passenden kurzärmeligen Bluse.

Hannah und ich schieben uns durch die dicht gepackte Menge zu Maggie, um gemeinsam mit ihr zu warten. »Warum habt ihr zwei da draußen in den Mülleimer gestarrt?«, will meine Schwester wissen.

»Ein weiterer aussortierter Crush 100«, erklärt Hannah mit einem mitleidigen Blick.

Enttäuschung zieht über Maggies Gesicht. »Und was hat dir an dem schon wieder nicht gepasst? Such dir einfach einen Crush aus und poste ihn. Die Menschen, die dir folgen, langweilen sich, wenn sie noch ewig warten müssen.«

Ich erstarre. Maggie startet demnächst mit dem zweiten Jahr ihres Sportmedizin-Studiums – sie ist also alles andere als eine Künstlerin oder Influencerin.

»Wieso schaust du mich so an?« Ihr Mund wird schmal. »Oh, verstehe, ich soll mich lieber um meinen eigenen Kram kümmern.«

Schulterzuckend winke ich ab und versuche, ihr das möglichst feinfühlig zu erklären: »Mir geht es darum, den Richtigen zu finden. Ich kann mir nicht einfach irgendeinen beliebigen Schwarm aussuchen.«

Maggie hält die Hände hoch in einer »Gut, dann mach es eben auf deine Art«-Geste, und Hannah schleicht sich die Theke entlang zu ihrem Freund Elliot, ein kleiner weißer Barista mit strähnigen, strohfarbenen Haaren, die nur ein paar Töne dunkler sind als seine Haut. Er ruft das nächste Getränk aus – »Cold Brew mit Zimt!« –, während die Leute sich über die lange Wartezeit beschweren. Mehrere von ihnen meckern lautstark, dass der Cold Brew lange nach ihren Getränken bestellt wurde, die viel einfacher zuzubereiten wären. Offenbar alles Kaffee-Expert*innen.

Während Elliot eine leise Entschuldigung murmelt und zu seinem Milchaufschäumer zurückkehrt, entdecke ich den Becher mit meinem Namen in einer langen Reihe von Bechern, die sich den ganzen Tresen entlang bis zur Kasse zieht.

Der Arme. Diese Schlange ist endlos. Hoffnungslos.

Maggie dreht sich mit hochgezogener Augenbraue zu mir um. »Lass mich raten«, sagt sie, »du hast die Zeichnung weggeschmissen, ohne sie Hannah oder sonst wem zu zeigen?«

Ich werfe ihr einen Kussmund zu und bete insgeheim, dass sie nicht die ganze Geschichte aus mir rausquetscht. Zum Glück war ich nicht lange genug in Andy verknallt, dass es außer Hannah jemand mitbekommen hätte.

»Ich kapier echt nicht, warum du niemandem deine Skizzen zeigst«, meckert Maggie.

»Da bin ich eben eigen«, verteidige ich mich. »Was denkst du, warum ich im letzten Jahr privaten Zeichenunterricht hatte?«

Maggie zuckt nur mit den Schultern. »Ich weiß, seitdem ist noch nicht wirklich viel Zeit vergangen. Aber jetzt, wo Instaloves so durch die Decke geht, dachte ich, du hättest deine Scheu davor überwunden, anderen Leuten deine Bilder zu zeigen.«

»Deine Instaloves-Fans wissen aber nicht, dass die Bilder von mir sind.«

Maggie und ich führen diese Diskussion mindestens einmal im Monat. Entweder leidet sie unter selektiver Amnesie, oder sie möchte mich einfach langsam weichklopfen.

Hannah winkt mich zu sich, und ich lasse Maggie stehen, die sich ohnehin lieber damit beschäftigt, ihre Laufzeiten in ihrer Insta-Story zu posten. »Nervt dich Maggie mal wieder?«, fragt Hannah mit einem leisen Lächeln.

»Und wiiieeee!«, stöhne ich. »Sie hackt immer darauf herum, dass ich niemandem meine Zeichnungen zeigen will.«

»Sie will nur, dass du dir ein dickeres Fell zulegst – damit du endlich einen von diesen Jungs ansprichst.«

Mein Magen zieht sich wieder zusammen, und ich spüre, wie mein Gesicht bleich wird. Hannah hat einen Röntgenblick dafür, wenn mich mal wieder dieses Gefühl überkommt, denn sie nimmt meine Hand.

»So schlimm?«, fragt sie.

Ich seufze. »Ich hab’s einfach nicht geschafft. Fast wäre ich so weit gewesen, aber … Ich weiß echt nicht, wie ich es hinkriegen soll, mich ganz normal mit einem Jungen zu unterhalten. Es ist fast so, als würde mein Körper einfach streiken.«

Hannah stellt sich auf Zehenspitzen und küsst mich auf die Stirn. Ein angenehmer Schauer zieht über meinen Rücken. »Tut mir leid, dass ich da keinen Rat für dich habe«, sagt sie. »Du weißt – ich bin keine Jägerin. Ich werde gejagt. Komm doch auf meine Seite!«

»Das versuch ich ja!«

Wir lachen und seufzen dann. Wenigstens haben wir uns.

Während wir warten, taucht irgendwann Elliots Chefin hinter ihm aus der Küche auf. Sie ist eine energische, sonnenverbrannte weiße Frau in einem adretten, ordentlich zugeknöpften Hemd. Ihr Pferdeschwanz ist so extrem straff gezogen, dass man fast Angst hat, ihr könnten demnächst die Haare alle ausfallen. »Wann hast du Pause, Elliot?«, fragt sie.

»In zehn Minuten«, erwidert er, ohne in seinem geschäftigen Tun innezuhalten. Die Chefin sagt nichts. Sie mustert die übrigen Angestellten, aber alle sind zu gestresst, um für Elliot einspringen zu können.

»Also, ich kann meine Pause auch ausfallen lassen und einfach weitermachen«, sagt Elliot ergeben.

»Danke, dass du so ein guter Teamplayer bist«, sagt die Chefin und klopft Elliot auf so eine aufgesetzt freundliche Art auf die Schulter, als wäre sie seine beste Freundin. Als sie wieder in der Küche verschwindet – ohne ihre Hilfe anzubieten – , wirft Hannah ihr einen Todesblick hinterher.

Angesichts der endlosen Schlange an Bechern und Tassen, die immer noch darauf warten, gefüllt zu werden, erschaudere ich. Allein der Anblick erschöpft mich um Elliots willen. Schon so viele Gäste, und dabei sind die Besucherzahlen noch lange nicht so hoch wie während des The-Taste-of-Chicago-Festivals.

In etwas über einem Monat beginnt das legendäre alljährliche Food-Festival am Seeufer, das alle Leute von ihren Klimaanlagen weglocken wird, damit sie Kostproben von den angesagtesten Köchen des Landes genießen können. Das Festival ist großartig, wenn man wegen des Essens kommt. Aber für alle, die in der Gastronomie arbeiten, ist es der reinste Albtraum, weil sich die Bevölkerung einer glühend heißen, wütenden Stadt über Nacht wie durch Zauberhand verdreifacht.

Diese Wochen werden den armen Elliot in den Wahnsinn treiben.

Obwohl er sich im Moment von dem Chaos kein bisschen aus der Ruhe bringen lässt. Oder vielleicht ist er immer so ausgeglichen. Keine Ahnung. Er wohnt noch nicht lange hier, und wir gehen auf verschiedene Schulen, deshalb kennen wir uns hauptsächlich als Hannahs anderer schwuler bester Freund. Ehrlich gesagt werde ich immer etwas eifersüchtig, wenn sein Name erwähnt wird.

Dabei hat er eigentlich nichts getan, um meine Abneigung zu verdienen. Hannah und er haben sich letzten Sommer bei einem Praktikum in einer Tierklinik kennengelernt. Ihr haben die vielen kranken und heimatlosen Tiere emotional ziemlich zugesetzt, aber weil es Elliots Traumjob ist, hat er sie unterstützt, wenn es zu schwierig wurde. Nach nur einem Monat waren sie genauso unzertrennlich, wie sie und ich es schon von Geburt an sind.

Von Hannahs beiden besten Freunden ist er definitiv der nettere. Er würde sich niemals so anstellen und sich weigern, ihr seine Zeichnungen zu zeigen.

Und genau deshalb hat Elliot einen Freund und du nicht.

Meine Fingerspitzen werden ganz kribbelig und taub. Um mich von der heutigen Blamage abzulenken, öffne ich Instaloves und scrolle durch meine alten Skizzen. Da ist der Kopfhörer-Junge, der allein an einer S-Bahn-Station vor sich hin tanzt, und meine schöne Geschichte über ihn: das Boheme-Apartment in Boystown, wo wir zwei zusammenwohnen und uns jeden Tag neue Musik und Kunst ausdenken. Dann war da noch der Junge aus meinem Bio-Leistungskurs mit den raspelkurzen Haaren, dem ich zufällig nach seinem abendlichen Basketballtraining begegnet bin. In meinem Post ist sein Sport Skifahren, und ich habe mich von ihm in ein Chalet in den Alpen entführen lassen – wo er mit traumwandlerischer Sicherheit mit mir die Hänge runterrast.

Ursprünglich habe ich Instaloves nur für mich selbst angefangen, aber überraschenderweise haben ziemlich bald andere Leute die Posts entdeckt und Gefallen an den skurrilen Zeichnungen gefunden. Die Leute sehnen sich offenbar nach solchen Fantasiegeschichten – vor allem in einer Welt wie der unseren, in der die Liebe oft zu kurz kommt. Queere Menschen müssen häufig ihre eigenen Märchen erfinden, und ich will gerne meinen Beitrag dazu leisten, ihnen beim Träumen zu helfen.

Denn eine kalte Welt braucht Träume.

»Vielleicht hat Maggie ja recht«, meint Hannah. »Hol doch die alte Zeichnung wieder aus dem Müll und überarbeite sie noch mal. Ich fände es schön, wenn dein Erfolg eine Weile anhält. Die Leute freuen sich schon so auf Crush 100!« Sie ist so laut und selbstbewusst, dass man die Worte sogar durch das Zischen von Elliots Milchaufschäumer hört. Ein paar Leute drehen sich neugierig zu uns um.

»Nicht so laut«, flüsterte ich und ziehe den Hals wie eine Schildkröte zwischen die Schultern. »Elliot soll nicht hören, dass ich das bin.«

»Oh nein …«, verlegen schaut Hannah zu Elliot, der gerade einen Cappuccino macht. »Ich hab’s ihm schon gesagt.«

»Hannah.«

»Ich wusste ja nicht, dass das keiner wissen soll.«

»Was ist jetzt wieder los, mein Baby Buh-Buh?«, fragt Maggie und stellt sich zu uns. Ich erstarre, als ich ihren Lieblingsspitznamen für mich höre – Micah, die Heulsuse, macht mal wieder buh-buh. Ich beachte sie nicht.

Elliots Hände huschen geschmeidig tänzelnd zwischen den Bechern hin und her. Ohne innezuhalten, schaut er kurz zu mir und flüstert: »Das bleibt unser Geheimnis! Deine Instaloves-Zeichnungen sind super – Glückwunsch.«

Mir wird ganz warm. Widerstrebend lächele ich. »Danke, Elliot.«

»Brandon ist der Kunstkritiker von uns beiden, aber ich finde sie toll.«

Mein Lächeln erstirbt. Übersetzt heißt das: Ich habe sie auch meinem Freund gezeigt und er findet sie scheiße.

Ich versuche, ruhig zu bleiben. Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn der nette, perfekte, fehlerlose Elliot davon weiß.

Er kippt Eiswürfel in vier große Eiskaffees, doch als er die Bestellung aufruft, kippelt das Tablett. Er richtet es wieder waagrecht aus und pustet sich seufzend eine Strähne aus den Augen. Während er die Getränke erneut ausruft, schiebt sich ein großer Mann mit Schnurrbart grob durch die Menge und hält ihm einen Kaffeebecher unter die Nase. »Der ist kalt!«, schnauzt der Typ und Elliot erschrickt. Wieder kippelt das Tablett, aber Elliot fängt es noch rechtzeitig ab.

»Tut mir leid, Sir«, sagt er geduldig. »Ich kann Ihnen einen neuen machen.«

»Damit ich noch mal eine halbe Stunde warten muss?« Mit einem verächtlichen Schnauben sieht sich der Mann in der Menge um, als würde er erwarten, dass wir mit ihm zusammen Elliot zur Schnecke machen. »Wie wär’s, wenn du ihn gleich beim ersten Mal richtig heiß servierst?«

»Ich schenke Ihnen gleich einen neuen ein. Nur eine Sek– «

»Gib mir einfach mein Geld wieder.« Wieder streckt der Mann Elliot seinen Kaffeebecher hin.

Elliot weicht zurück.

Seine Hände flattern.

Das Kaffeetablett fällt zu Boden.

Hilflos müssen wir mit ansehen, wie die vier Eiskaffees auf die Fliesen knallen und ein Becher nach dem anderen wie eine Wasserbombe zerplatzt. Alle springen zurück, auch Elliot, der beim Anblick des Chaos um sich herum die Hände vor den Mund schlägt. Der Boden um den Tresen ist ein Schlachtfeld aus milchigem Kaffee, Eiswürfeln und enthaupteten Bechern.

»Ich bin klatschnass!«, bellt der schnurrbärtige Mann, obwohl gerade mal ein paar hellbraune Spritzer auf seiner Hose zu sehen sind. Was für eine Drama-Queen.

An der Kaffeemaschine war Elliot total souverän und wirbelte nur so herum. Jetzt steht er völlig perplex da und alle starren ihn verärgert an. Und das nur, weil dieser unhöfliche Mistkerl ihn erschreckt hat.

Wieder taucht die Chefin aus der Küche auf. Mit geblähten Nasenflügeln geht sie auf Elliot los. »Mach das sauber – ich übernehme die Theke.« Während sie eine milchfleckige Schürze anzieht, rennt Elliot davon und holt den Wischmopp.

»Der Junge muss mir die Reinigung bezahlen!«, ruft der Mann.

Die Managerin nickt, während sie Milch aufschäumt. »Wir kümmern uns darum, Sir.« Mit schmalen Augen fährt sie zu Elliot herum, der einen Eimer von hinten nach vorne schiebt. »Elliot, das ist jetzt schon zum x-ten Mal passiert. Wenn das so weitergeht, ziehe ich dir die zusätzlichen Kosten vom Lohn ab.«

Elliot schweigt. Seine Unterlippe zittert.

Mir zerspringt fast das Herz. Noch vor einer Stunde habe ich genauso ausgesehen wie er und stumm das Universum angefleht, mich bitte, bitte schnell im Boden versinken zu lassen.

Wut steigt wie ein Ballon in mir auf.

Wegen dieses Idioten hat Elliot die Kaffees fallen gelassen und jetzt soll er noch dafür bezahlen?

Ich trete vor in das Meer aus verschüttetem Kaffee und Eiswürfeln und halte Mr Schnurrbart zwei Zwanzig-Dollar-Scheine hin. »Hey, das war ein Unfall. Die Reinigung geht auf mich. Und beim nächsten Mal gehen Sie mit Ihrer schlechten Laune woandershin. Mal sehen, ob Sie da mit so was durchkommen. Oh, und übrigens war Ihr Kaffee kalt, weil Sie Milch reingekippt haben. Dazu ist Milch nämlich da.«

Ich schwöre, der Schnurrbart des Mannes wird weiß, als ein paar Kund*innen hinter ihm bei meinen Worten Befall klatschen. Er rupft mir die Scheine aus der Hand, stolziert davon und murmelt: »Blöde Millennials …«

»Wir sind die Generation Z!«, rufe ich ihm hinterher.

Hannah und Maggie sehen mich verblüfft an und ich staune selbst ein bisschen über mich.

Ich habe einem Fremden die Meinung gesagt! Das ist noch nie vorgekommen.

Elliot schuftet echt zu schwer, um sich so was anhören zu müssen, aber selbst wenn es nicht so wäre, hätte er das nicht verdient. Niemand verdient so was. Elliot lächelt mir zu, dann geht er mit dem Eimer und einem Achtung, Rutschgefahr-Schild um die Theke herum. »Danke«, flüsterte er beim Wischen.

»Schwule Solidarität«, flüsterte ich zurück. »Keine Ursache.«

»Dann bist du also doch ein Märchenprinz, was?«

Ein Prinz?

Als Elliots Kompliment bei mir ankommt, fangen meine Finger an zu kribbeln. Aber ich trete nicht verlegen von einem Fuß auf den anderen oder wippe vor und zurück. Stattdessen stehen meine Schuhe ungewohnt fest auf dem Boden.

Unwillkürlich muss ich lächeln.

In diesem Moment, in diesem Raum voller Menschen, habe ich in mir etwas gefunden, das mir Kraft gegeben hat.

Ist es Selbstvertrauen?

Und auf einmal ergibt alles einen Sinn. Ich kann nicht der Gejagte sein wie Hannah. Wenn ich darauf warte, dass ein anderer den ersten Schritt macht, werde ich ewig warten müssen. Ich muss selbst ein Märchenprinz sein – nicht der nervöse Micah Summers, wenn ich Crush 100 nach einem Date frage. Ich darf mir keine Sorgen machen, was die Leute von mir denken. Zumindest kann ich so tun, als ob.

Auf Instaloves spiele ich auch eine anonyme Rolle, warum also kann ich dann nicht in meinem Kopf zu einem anderen werden, wenn mir das hilft, bei meinem nächsten Date-Versuch weniger nervös zu sein. Wobei es nicht darum geht, mich als jemand auszugeben, der ich nicht bin. Ich will nur einen kleinen Schalter in meinem Kopf umlegen, zur Stärkung meines Selbstbewusstseins.

Wer du auch bist, Crush 100, und wo du auch bist – mach dich bereit, dem Prinzen zu begegnen!

Zwei Wochen nach meiner Katastrophe im Grant Park ist mein vorletztes Schuljahr zu Ende (wer war noch mal Andy??). Seit Ferienbeginn hat meine neue Persona – der Märchenprinz – total selbstbewusst einen Typen nach dem anderen nach einem Date gefragt. Nur dass mit »Typ« mein eigenes Spiegelbild gemeint ist.

Bisher bin ich kein bisschen weiter, diesen Crush 100 zu finden, der mich tatsächlich dazu bewegen könnte, nicht mehr nur mit meinem Spiegelbild zu flirten. Crush 100 muss etwas Besonderes sein, und vor allem sollte es jemand sein, bei dem ich eine Chance hätte. Ich kann nicht wieder zurück und weiter nur in meinen Zeichnungen leben. Andy McDermott anzusprechen war eine Katastrophe, aber eigentlich nur, weil ich die falsche Antwort bekommen habe. Ich stehe so kurz vor einem Ja!

Unglücklicherweise haben diese Anforderungen an Crush 100 dazu geführt, dass ich schon seit über drei Wochen nichts mehr auf Instaloves gepostet habe. Maggie und Hannah beharren darauf, dass ich zu wählerisch bin und so meinen Insta-Fame gefährde.

Aber obwohl ich meinen Prinzen noch nicht gefunden habe … kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken.

Wer er ist. Wie er aussieht.

Die Gefühle habe ich schon in meinem Herzen. Jetzt muss ich nur noch den passenden Jungen dazu finden.

Um mich von der Suche abzulenken, mache ich einen Abendspaziergang nach Old Town, um neue Stifte zu kaufen. Old Town Chicago, mit den knorrigen Bäumen und den kantigen alten Backsteinhäusern – kaum ein Wolkenkratzer zu sehen –, fühlt sich an wie ein Land, in dem der Herbst nie zu Ende geht. Als ich Rhapsody in You betrete, meinen Lieblingsladen für Künstlerbedarf, und die Acrylfarben rieche, verfliegen alle Gedanken an Jungs sofort.

Ich suche mir eine neue Packung Kohlestifte und ein kleines Notizbuch aus. Sobald ich den Laden verlassen habe, schreibe ich Das kleine Buch der ersten Male vorne auf den Einband. Auf die erste Seite schreibe ich Mein erstes Date und lasse daneben eine Seite frei für ein Datum in der Zukunft, an dem das passieren wird.

Das kleine Büchlein liegt in meinen Fingern und pulsiert förmlich vor mystischer Macht. Irgendwann wird es vollgeschrieben sein – das erste Date, der erste Kuss, die erste gemeinsame Nacht und so viel mehr. Wie ich gehofft hatte, ermutigt mich das kleine Büchlein, und meine deprimierenden Zweifel weichen neuer Hoffnung. Natürlich kann ich es schaffen, einen Jungen anzusprechen und nach einem Date zu fragen.

Selbst wenn dabei mein Herz explodiert und ich in dem Moment, wenn ich ihn frage, tot umkippe.

Anschließend setze ich mich in die L – das ist die berühmte Chicagoer Hochbahn, deren Strecke auf erhöhten Gleisen in einem Ring um den Loop herumführt. Ich möchte ein bisschen durch die Stadt fahren, um mich inspirieren zu lassen – und der Sonnenuntergang ist die beste Tageszeit dafür. Während der Zug Richtung Downtown und zum Fluss rattert, erhasche ich ein Blick auf mein Gesicht, das mich von einer Anzeigentafel anstrahlt.

In Wirklichkeit ist es gar nicht mein Gesicht, sondern das meines Vaters.

JEREMY SUMMERS, DER KÖNIG VON CHICAGO! RADIO WNWC – UND TOR!

Diese Werbetafeln zu sehen ist ein bisschen, als würde ich in den Spiegel schauen: Mit den braunen Augen, der geraden Nase und den leicht rosa angehauchten Gesichtszügen bin ich meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Niemand kann Jeremy Summers entkommen. Sein Gesicht ist in Straßenbahnen zu sehen, auf Bussen, Parkbänken, Gebäudewänden. Und natürlich auf den signierten Autogrammkarten, die in sämtlichen Imbissen, Pizzaläden und Autowaschanlangen hängen, die er je besucht hat.

Wahrscheinlich ist es mein Schicksal, ein Märchenprinz zu sein. Schließlich ist mein Vater ein König.

Auf diesem Werbeplakat hat jemand seinen Vorderzahn geschwärzt und ihm ein blaues Auge gemalt. Vermutlich in liebevoller Erinnerung an seine Eishockey-Glanzzeiten, die ihm erst eine olympische Silbermedaille in Vancouver einbrachten, dann ein Porträt auf Cornflakes-Packungen und schließlich noch eine Bronzemedaille in Sotschi. Und das alles wiederum führte zu Pass den Puck, einer einjährigen Reality-Show, in der das Leben von Jeremy Summers und seiner entzückenden Familie mit Kameras begleitet wurde.

Tragischerweise war Pass den Puck auch die Geburtsstunde von Baby Buh-Buh. Der Spitzname meiner Schwester für mich blieb hängen und diente irgendwann sogar als Inspiration für ein Trinkspiel.

Ein Schnaps, wenn Micah grundlos rumheult!

Daher auch mein Widerstreben, irgendjemanden wissen zu lassen, dass ich hinter Instaloves stecke. Solche Fantasien können schnell ziemlich erbärmlich wirken, wenn die Leute rausfinden, wer sie zeichnet.

Die Skyline vor dem Fenster vertreibt alle schlechten Erinnerungen. Man kann in Chicago keine Sterne sehen, aber wenigstens haben wir wunderschöne Sonnenuntergänge. Zu dieser Tageszeit sieht die Stadt besonders magisch aus. Noch so hell, dass sich die Fenster der Bahn nicht in Spiegel verwandeln, aber dämmrig genug, dass man in die Sonne schauen kann. Einfach ein Zug, der sich durch das Labyrinth der Wolkenkratzer schlängelt, während die untergehende Sonne durch die Lücken zwischen den Gebäuden scheint. Meine Schultern sacken ein, und die Anspannung, die ich vorher noch gar nicht gespürt habe, löst sich.

Alle hier im Zug sehen schön aus. Das orangegelbe Licht macht alles hübscher, was es berührt. Sein Schein lässt die Gesichter leuchten und zaubert ein goldenes Funkeln in die Augen.

Der perfekte Augenblick für eine zufällig Begegnung mit …

Nein, Micah, bitte vergiss Crush 100, wenigstens einen Abend lang!

Unser Zug nähert sich der Haltestelle an der Harold Washington Library. Mit der roten Backsteinfassade und dem verzierten kupfergrünen Dach sieht Chicagos Bibliothek aus wie ein knackiger Herbstapfel.

Ein Palast. Die perfekte Kulisse für …

NEIN, Micah. Hör auf, nach ihm zu suchen. Crush 100 taucht dann auf, wenn er auftaucht.

Der Zug bremst quietschend ab und bringt mehrere stehende Fahrgäste aus dem Gleichgewicht. Ich packe den Griff an meinem Sitz und ziehe meinen bronzefarbenen Kaschmirschal zurecht. Trotz der Hitze trage ich einen Schal über dem T-Shirt für den Boho-Künstlerlook. Außerdem ist er federleicht und schmiegt sich weich an meine Haut. Und er betont meine hellbraunen Augen, sodass sie wie Sahnebonbons aussehen.

Mein Outfit heute ist schon sehr süß. UNDWENNICHNUNZUFÄLLIG –

Letzte Warnung, Micah!

Da geht die Tür auf.

Und er kommt herein.

Er ist so groß, dass er den Kopf einziehen muss, um durch die Türöffnung zu passen, hat wuschelige schwarze Locken und volle olivbraune Wangen mit Grübchen.Er hat den Körper eines Mannes, aber ein jugendliches Gesicht.

Das einzige Wort, das mir in den Sinn kommt, ist Schicksal. Es ist, als hätte ich plötzlich übersinnliche Fähigkeiten entwickelt. Das kleine Buch der ersten Male scheint seinen Zauber schon wirken zu lassen! Ich kann die Energie in der Luft buchstäblich spüren.

Während sich noch mehr Leute in den Waggon schieben, schleppt erzwei Tragetaschen durch den überfüllten Gang. Die Taschen sind so voll mit Büchereibüchern, dass er sich echt abmühen muss – obwohl sich muskulöse Oberarme unter den Ärmeln seiner schwarzen Lederjacke abzeichnen. Eine Lederjacke im Sommer? Tja, offenbar sind wir beide bereit, für einen guten Look zu leiden.

Er plagt sich so mit seinen Büchern ab, dass ich lächeln muss.

»War ’n langer Tag. Ich schwöre, normalerweise tue ich mich nicht so schwer«, sagt der Junge plötzlich mit einer erstaunlich tiefen Bassstimme.

Hat er mit mir geredet? Er schaut mich jedenfalls an. Bestimmt hat er gemerkt, dass ich lächele.

Tu was, Micah! Meine Füße sind plötzlich tausend Tonnen schwer.

Der Junge stemmt demonstrativ die beiden Büchereitaschen in die Höhe. Seine schimmernden Augen treffen meine. Ich zwinge mich, nicht wegzusehen, aber durch den Blickkontakt fühle ich mich so verwundbar, dass ich Gänsehaut bekomme.

Er grinst, und seine Augen verschwinden hinter seinen süßen, vollen Wangen.

Kein Zweifel, er schaut mich an.

Sag was! Meine Lippen sind plötzlich ganz spröde und trocken.

Ein vertrautes Brodeln regt sich in meinem Magen.

Denk dran, du bist nicht der trottelige Micah Summers, der sich fast auf den letzten Jungen übergeben musste, den er nach einem Date gefragt hat. Du bist der Märchenprinz und du kannst ALLES schaffen!

Wenn ich diesen Moment verstreichen lasse, ohne mich zu öffnen, ohne eine mögliche Abfuhr zu riskieren, werde ich mich nie trauen. Es gibt kein größeres Zeichen als das hier, jetzt, in diesem Augenblick: Ich sitze in einer überfüllten Bahn neben einem Jungen, der aussieht wie eine coole Ausgabe von Prinz Eric aus Arielle, die Meerjungfrau und mich schon mehrmals angelächelt hat. Ich muss handeln, sofort.

»Nimm doch meinen Platz!«, höre ich mich viel zu laut sagen – während ich unbeholfen aufspringe. »Oh, nein, das passt schon. Ist ja nicht so, als wäre ich schwanger oder so.« Mein Prinz Eric ist über einen Kopf größer als ich, die Büchereitaschen hängen schwer an seinem Arm. Ob er mich auch noch tragen könnte? Viel mehr als eine Tasche voller Bücher dürfte ich nicht wiegen. Ich wette, er könnte das schaffen.

Oh Gott, jetzt wünsche ich mir, dass er das tut.

»Also, wo ich jetzt sowieso schon aufgestanden bin, kannst du dich auch einfach hinsetz– uups.«

Eine ältere Frau in einem neonblauen Jogginganzug schlüpft hinter mir vorbei und schnappt sich den freien Sitzplatz, bevor Prinz Eric und ich unseren höflichen Streit fortsetzen können. Unbeeindruckt zieht die Frau ein Taschenbuch heraus und fängt an zu lesen.

Prinz Eric zuckt die Schultern. »Sieh nur, was du angerichtet hast! Jetzt müssen wir uns weiterunterhalten.«

»Unterhalten? Wie ätzend! Puhh!« Die Rostlaube von Bahn erwacht ganz plötzlich wieder zu Leben und ich werde vorwärtskatapultiert. Mein Gesicht landet direkt an dem gebräunten, muskulösen Hals des Jungen und ich könnte auf der Stelle sterben vor Verlegenheit. Seine rechte Hand, an der immer noch eine Büchertasche hängt, packt meine Schulter, und endlich finde ich das Gleichgewicht wieder. Kribbelnde elektrische Stoßwellen gehen von der Stelle aus, an der er mich berührt hat. Sein Griff war fest, aber sicher.

Niemals hätte er zugelassen, dass ich falle.

»Entschuldige.« Ich lache. Ein frischer Duft geht von ihm aus und weht mir von meinem Ausflug an seine Brust hinterher. Es tut fast weh, mich von seinem Körper zu lösen und ihm wieder in die Augen zu sehen, nachdem mein Gesicht eben schon an seinem muskulösen Hals lag. Als hätten wir was ausgelassen und wären direkt zu Date Nr. 3 übergegangen.

Er lacht. Tief. Seine Bassstimme vibriert in meinen Ohren. »Ah, der alte ›Uups, jetzt bin ich ganz aus Versehen mit dir zusammengestoßen‹-Trick, was?«

ERFLIRTETMITMIR.

Ich hole leise Luft und suche seine Augen. »Na ja, die Klassiker funktionieren eben immer.«

Ich wage es nicht zu blinzeln. Er muss spüren, dass ich zurückflirte. Prinz Eric erwidert meinen Blick – auch er blinzelt nicht. Okay, das hier ist ganz offiziell kein Hetero. Seine mondgroßen Augen schauen mich direkt an, seine Lippen sind leicht geöffnet.

Er gibt mir ein Zeichen.

Gleich kriege ich einen Herzinfarkt.

Durch seine lockere, herzliche Art und diese warme Energie zwischen uns fällt es mir so leicht, ihn anzusehen und mit ihm zu reden. Das ist mir noch nie passiert. So fühlt es sich also an, begehrt zu werden.

Aus der Nähe ist die Lederjacke des Jungen gar nicht schwarz. Blutrote und orangefarbene Fäden ziehen sich in einem zarten, verschlungenen Muster über die Ärmel. »Sind das … Ranken?«, frage ich.

»Ja, schau mal.« Prinz Eric dreht sich um und zeigt mir seinen breiten Rücken. Hier ist das Muster besser zu erkennen: ein Kürbis. Unzählige Ranken schlängeln sich von dem Kürbis weg und ziehen sich über die Jackenärmel nach vorne. Es sieht aus, als hätte er den Herbst genommen und ihn punkig gemacht.

»Cool! Dann fängt die Kürbissaison für dich schon im Juni an?«

»Scheint so.« Lachend dreht er sich wieder zu mir. Wieder erscheinen Grübchen auf diesen zuckersüßen Wangen. Als unser Zug in einer Kurve um den Loop fährt, dringt ein heller Sonnenstrahl durch die Gebäude draußen und hüllt uns beide in ein goldenes Licht.

Okay, Sonne, ich hab’s kapiert.

Das ist Crush 100.

»Diesen ganzen Kürbis-Kram finde ich sonst meistens ziemlich kitschig«, sage ich. »Wobei ich nichts gegen Kitsch habe – ich liebe Kitsch! Aber die Lederjacke sieht echt cool aus.«

»Danke! Das ist übrigens veganes Leder. Nicht dass du was Falsches von mir denkst.«

»Was anderes hätte ich auch nicht erwartet.«

»Keinem muhenden Lebewesen wird durch meine Liebe zur Mode Schaden zugefügt. Abgesehen von diesem Finger, der mit drei Stichen genäht werden musste.« Seufzend stemmt er seinen linken Arm, inklusive Tasche, in die Höhe und zeigt mir seine offene Hand: In der Kuppe seines Mittelfingers prangt eine fiese Kerbe.

Staunend deute ich auf die Jacke: »Du hast die gemacht?«

Er grinst.

Er ist kreativ – so wie ich! Und wahnsinnig talentiert noch dazu.

Einen langen Moment schauen wir uns an, und die Luft zwischen uns ist so gespannt wie ein Gummiband, das jeden Moment zu reißen droht. Seine Lippen bewegen sich leicht, ohne dass ein Ton herauskommt – ganz so als würde er etwas sagen wollen.

Sag es.

Sag es, damit ich es nicht sagen muss.

Frag mich nach meiner Handynummer.

Sag mir deinen Namen.

Der Moment verstreicht. Wir haben zu lange gewartet. Der Zug hält an und Dutzende Menschen hasten um uns herum aus dem Waggon. Wenn er jetzt auch aussteigt, gehe ich mit ihm. Ich würde einfach so tun, als müsste ich hier ebenfalls raus. Mir egal.

Aber mein Crush geht nicht.

Stattdessen lässt er mit einem erleichterten Seufzen die Büchertaschen auf den Boden plumpsen. »Hey, freie Plätze«, sagt er und zeigt auf eine frei gewordene Reihe. Mit einem Schnaufen schiebt er mit dem Fuß die Taschen zu der Bank, dann winkt er mich zu sich. Eine kurze Handbewegung nur, aber das ist das Signal – er will, dass ich mich zu ihm setze! Ebenso gut hätte er mich am Fuß einer breiten Schlosstreppe in Empfang nehmen und mir die Hand küssen können.

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Über drei Plätze hinweg breiten wir uns nebeneinander aus. Jetzt, wo wir den Loop verlassen und Richtung Norden fahren, gibt es mehr als genug freie Sitze. Mir bleibt aber nicht viel Zeit, seine wuscheligen, seidigen Locken zu bewundern, denn sein Handy vibriert, und sein Gesicht verdunkelt sich. Er wirkt besorgt. Schlechte Nachrichten.

»Alles okay?«, frage ich mit einem Kloß im Hals.

»Sorry, aber … da muss ich ran. Das ist das Studierendenwohnheim und ich warte schon eine Woche auf den Anruf –«

»Klar, geh ran –«

»Tut mir leid, das ist so unhöflich –«

»Achtung, du verpasst noch deinen Anruf –«

»Du steigst doch noch nicht so bald aus, od–? Hallo?« Crush 100 nimmt den Anruf an, bevor er den Satz beenden und diese extrem wichtige Frage stellen kann. Er dreht mir den Rücken zu, sodass ich das gestickte Kürbismuster in voller Pracht bestaunen kann, und redet leise in sein Handy.

Der Kloß in meinem Hals verdreifacht sich.

Soll ich einfach nur hier sitzen und warten? Wirkt das nicht uncool? Ich will auf keinen Fall irgendwie verzweifelt rüberkommen. Aber ich will auch nicht, dass er sich gedrängt fühlt, den Anruf schnell zu beenden und sich wieder mir zu widmen.

Obwohl es schon echt cool wäre, wenn er das täte.

Wenn ich jetzt mein Handy raushole, wirke ich gelangweilt. Oh Mann. Warum hüpft mein Knie so auf und ab? Das wirkt doch so, als wäre ich total nervös! Mir ist, als hätte ich hundert Cold Brews getrunken. Ich muss mich mit irgendwas ablenken, das mich auf lässige Weise interessant wirken lässt …

Meine Hand schwebt zu meinem Rucksack. Sobald meine Finger die kühle Metallschnalle berühren, beruhigt sich meine Knie wieder. Ich zeichne ihn einfach! Dann sieht er, dass ich auch kreativ bin, und sobald er sein Telefonat beendet hat, haben wir ein neues Gesprächsthema: meine Skizze von ihm. Noch nie habe ich einem Crush eine meiner Zeichnungen gezeigt. Die Bilder habe ich ja immer erst auf Instaloves gepostet, sobald sich meine Schwärmerei längst wieder erledigt hatte. Aber diese Angst muss ich überwinden, um den Bann zu brechen und meine Pechsträhne ein für alle Mal zu beenden.

»Tut mir leid«, flüstert mir Crush 100 fast lautlos zu, während eine gedämpfte Stimme am anderen Ende der Leitung auf ihn einredet.

Sein genervtes Gesicht, die Enttäuschung darin, boostet mein Selbstbewusstsein. Denn das ist der Beweis: Er will lieber mit mir reden, er will meine Nummer, er will mit mir ausgehen, er will mich küssen.

Nein, du Idiot, er wird nur wieder sagen: »Ich bin echt geschmeichelt, ABER …«

Wenn er das sagt, dann ist es eben so, aber ich muss es wenigstens versuchen.