The Damaged One - Mimi Kylling - E-Book

The Damaged One E-Book

Mimi Kylling

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Beschreibung

Ich werde mir zurückholen, was mir gehört.
Alles davon.
Und dafür werde ich zerstören, was mich zerstört hat.
Auge um Auge.
Asche zu Asche.


Angels Leben hat bloß noch einen einzigen Sinn: Rache an dem Mann, der seine Familie zerstört hat. Er ahnt nicht, dass seine Wahrheit nur aus Lügen besteht. Und dass gerade die Tochter seines größten Feindes am Ende sein einziges Licht in der Dunkelheit sein wird.



Dark Romance, empfohlen ab 18 Jahren
Standalone, in sich abgeschlossen.
Kein Cliffhanger

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Inhalt

Inhalt

Impressum

Content Note

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Ein paar Worte über dieses Buch …

Dark Romance aus dem Rinoa-Verlag

 

Impressum

 

 

 

 

 

© 2024 Rinoa Verlag

c/o Emilia Cole

Kolpingstraße 31

47608 Geldern

 

ISBN: 978-3-910653-25-2

 

rinoaverlag.de

mimikylling.de

 

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit zu lebenden Personen ist rein zufällig.

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

Content Note

In diesem Roman gibt es Inhalte, die eventuell triggern - die Trigger enthalten Spoiler für das gesamte Buch.

 

Bitte beachte die folgenden Content Notes, damit du weißt, mit welchen potenziell triggernden Themen du in diesem Buch konfrontiert wirst.

Das Wichtigste ist deine eigene psychische und körperliche Gesundheit, deshalb bitten wir dich, die Content Notes ernst zu nehmen und nicht weiterzulesen, solltest du merken, dass es dir mit den Inhalten der Geschichte nicht gut geht.

 

Mimi und der Rinoa Verlag wünschen dir ein wundervolles Leseerlebnis.

 

 

Trigger

 

 

selbstverletzendes Verhalten, die Erinnerung an körperlichen und psychischen Missbrauch (Der Missbrauch findet nicht zwischen den Protagonist*innen statt), Stalking

 

 

 

 

 

Für alle, die nicht glauben können, dass

sie mehr sind als ihr Trauma.

Ihr seid genug.

Prolog

 

 

»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass heute ein guter Tag für eine Beerdigung ist. Es ist kalt an diesem Morgen. So kalt, dass es einem in die Knochen kriecht, während Reverend Tanner die Andacht für meine Mutter hält. Gott hab sie selig. Wer weiß, ob sie überhaupt in den Himmel gekommen ist oder ob der Teufel sich jetzt mit ihr herumschlagen muss.

Während mir bei dem Gedanken daran ein Schauer über den Rücken läuft, geht der Reverend behäbig um das Grab herum, nimmt eine Handvoll Erde und wirft sie auf den Sarg. Ich tue es ihm gleich, grabe die rechte Hand in die feuchte Erde und würde am liebsten den ganzen Eimer auf einmal leeren.

Vielleicht sollte ich es tun. Mom wäre es egal gewesen.

Sie war eine effiziente Frau, selbst im Sterben. Schnell und kompromisslos. Einmal gezuckt hat sie nur. In der nächsten Sekunde lag sie auf dem Küchenboden und fasste sich an die Stelle, an der normale Menschen das Herz haben.

Ich habe eine halbe Stunde auf den Krankenwagen gewartet und mich dafür gehasst, dass ich bloß neben ihr saß und in ihre toten Augen gestarrt habe.

Aber das ist der Lauf des Lebens, nicht?

Jeder hat seine Zeit.

Und irgendwann ist sie abgelaufen.

Während ich weiterhin Erde auf den Sarg schaufle, tritt der Reverend an meine Seite und legt seine Hand auf meinen Arm.

»Lass es gut sein, Junge.« Er schiebt mich sanft beiseite und dreht mich an den Schultern um wie eine leblose Puppe, dabei überrage ich ihn um mindestens einen Kopf. Ich fühle mich trotzdem, als wäre ich ein Kind, das man im Stich gelassen hat. Nicht heute, aber in all den Jahren davor.

»Mein Beileid«, sagt er leise.

Meins auch.

Ruhe in Frieden.

Wenigstens eine von uns.

 

 

Obwohl der Reverend längst gegangen ist, bleibe ich im einsetzenden Nieselregen auf dem Friedhof.

Weil ich unmöglich einfach so nach Hause gehen kann.

Weil ich mir diesen Moment anders vorgestellt habe.

Sie hatte furchtbare Angst vor dem Tod. Vor dem Alleinsein. Jetzt wird sie bis in alle Ewigkeit allein sein. In einer Holzkiste unter der Erde.

Du wirst mich vergessen, hat sie immer gesagt.

Als könnte man jemanden wie sie vergessen.

Und obwohl sie kaum wiederkommen wird, um mir vorzuwerfen, dass ich ihre Beerdigung zu früh verlassen habe, fühlt es sich an, als wäre ich ihr schuldig, bis zum Schluss zu bleiben. Also setze ich mich noch für einen Moment auf die nächste Bank und sehe dabei zu, wie ein kleiner Bagger das Loch in der Erde mit dunklem Mutterboden füllt. Ich wünschte, das Loch in meiner Brust könnte ebenso einfach gefüllt werden.

Ströme des dichten Regens laufen durch meine nassen Haare, meine Stirn hinab und versickern kalt in meinem Pullover.

Eine heilige Waschung. Die Reinigung von allen Sünden.

Wenn es nur so einfach wäre.

Als die Friedhofsarbeiter fertig sind und mit merkwürdigen Blicken an mir vorbeigehen – halb ungläubig nickend, halb spöttisch über meine tropfnasse Erscheinung –, stehe ich auf und mache mich auf den Weg nach Hause.

 

 

Im Flur erwarten mich der muffige Geruch schlecht gelüfteter Räume, dieselbe Trostlosigkeit, die mir seit Jahren im Nacken sitzt, und der Stapel mit unbezahlten Rechnungen. Vor ein paar Tagen waren die Gerichtsvollzieher hier. Sie haben Moms Schmuck mitgenommen, den alten Fernseher wollten sie nicht. Sollen sie kommen, sollen sie alles mitnehmen, was sie tragen können. Nichts von den Dingen in diesem Haus hat noch eine Bedeutung für mich.

Später wandere ich rastlos durch die Räume und versuche, mich an bessere Zeiten zu erinnern. Nebenan schreien die Nachbarn. Erst er, dann sie. Sekunden danach zerbricht etwas. Keine Ahnung, wie oft man uns schreien gehört hat. Vielleicht nicht oft genug.

Ich versuche, an die Mom zurückzudenken, die Kekse für mich gebacken hat. Die gescherzt und Weihnachtsbäume aufgestellt und mit Dad zusammen am Frühstückstisch gesessen hat. Aber die Erinnerungen sind zu blass, um sie wirklich scharf sehen zu können. Nachdem Dad gestorben ist, hat Mom nicht mehr gescherzt. Sie hat auch keine Weihnachtsbäume mehr gekauft.

Ich wandere weiter vom Wohnzimmer in die Küche und von dort ins Schlafzimmer, ohne wirklich zu wissen, nach was ich überhaupt suche.

Nachts werden die Schreie von nebenan lauter. Ich liege im Bett und versuche sie auszublenden, weil nichts von diesem fremden Streit mich betrifft, aber es geht nicht. Es ist wie ein Phantomschmerz, den man nicht loswerden kann, obwohl man weiß, dass er längst nicht mehr real ist. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich ohne Mom einsam fühlen könnte.

Irgendwann um kurz nach vier kehrt Ruhe ein. Und weil ich die genauso wenig aushalten kann wie den Lärm, schalte ich den Fernseher an. Ich zappe von Tierdokumentationen über Predigten auf Arabisch zu einer Verfolgungsjagd aus Illinois, die anscheinend am Nachmittag stattgefunden hat. Immer wieder zeigen sie eine Autobahn von oben und mehrere Streifenwagen, die hinter einem grauen Toyota herfahren.

Und nun bei uns in der Leitung, Police Officer Harrison McCarthy, sagt die blonde Frau mit dem Mikrofon, die am Bildschirmrand eingeblendet wird. Officer McCarthy, wissen Sie schon Genaueres?

Das Gesicht eines Mannes erscheint im Splitscreen. Erst verpixelt, dann immer klarer, je stabiler die Verbindung wird. Und dann …

Ich starre auf sein kurzes Haar, das jetzt grau ist, seine scharfen Gesichtszüge, diesen Blick, an den ich mich erinnere, als hätte ich ihn gestern zum letzten Mal gesehen.

Für einen Moment glaube ich, mein Herz bleibt stehen.

Das ist unmöglich.

Das kann nicht wahr sein.

Dieser Mann da, dieser Mann da in der Polizeiuniform, das ist mein Vater.

Mein Vater, der seit sechzehn Jahren tot sein sollte und niemals im Leben McCarthy hieß.

Kapitel 1

 

 

Ich hätte nicht gedacht, dass es einen Ort auf der Welt gibt, an dem die Nächte kälter sind als in Detroit. Jetzt bin ich in Aurora, Illinois, und kann mich hautnah vom Gegenteil überzeugen.

Kleine Atemwölkchen vermischen sich mit dem Rauch meiner letzten Zigarette und steigen in den Nachthimmel empor. Mit dem Bus wäre ich schon heute Mittag hier gewesen. Per Anhalter hat sich erst nach Stunden des Wartens ein Trucker erbarmt und mich mitgenommen.

Ich weiß nicht mal, wo ich die Nacht verbringen soll. Die Nacht und die nächsten Tage. Ich weiß nicht mal, wie ich mir das hier überhaupt gedacht habe.

Gar nicht. Ich habe gar nicht gedacht, nachdem ich diesen Fernsehbericht mit meinem Vater gesehen habe.

Die Erinnerungen an die letzten Tage sind in meinem Kopf nicht mehr als ein unzusammenhängendes Wirrwarr aus rasendem Herzschlag und dem Gefühl von Verrat. Totales Chaos, ohne Infos, ohne Plan.

Der abgerissene Briefkopf in meiner Tasche wiegt mit jedem Schritt schwerer. Ich habe alle Schubladen durchwühlt, jede Kiste, jeden Schrank. Es war der einzige Rückschluss auf seine Existenz, den ich in unserem ganzen Haus gefunden habe. Seine. Die meines Vaters.

Deshalb bin ich hergekommen. Weil ich wissen muss, was in diesem Brief gestanden hat. Und weil ich mit eigenen Augen sehen muss, dass mein Vater, der Mann, den ich mein ganzes Leben lang so schmerzlich vermisst habe, wirklich noch da ist.

Und wenn ich ihn gefunden habe, hoffe ich für ihn, dass er mir eine verdammt gute Erklärung dafür liefern kann, warum er uns hat glauben lassen, dass er tot ist. Eine Erklärung dafür, dass er uns im Stich gelassen hat, als wir ihn am meisten brauchten. Ich denke an Moms Tränen und an meine. An all den Schmerz, all den Kummer. An die vielen, vielen Jahre, in denen ich mich gefragt habe, warum es gerade er sein musste, den der Tod sich geholt hat.

Auf all das werde ich Antworten bekommen. Wenn ich endlich diese Adresse finde.

Während ich die Straßenseite wechsle, schaue ich über die Schulter, doch da ist nichts als Dunkelheit. Keine Autoscheinwerfer, keine Schritte außer meinen. Es ist beinahe gruselig einsam. Womöglich liegt es an der Uhrzeit. Oder an diesem eisigen Wind, der einem in jeden Winkel des Körpers kriecht.

Meine Füße sind müde, trotzdem laufe ich weiter. Wenn man einmal richtig kalt wird, erfriert man schneller. Und es gehört definitiv nicht zu meinem Plan, morgen früh steifgefroren und dämlich glotzend von der Straße gekratzt zu werden wie der alte Jameson letztes Jahr. Hat aus der Kneipe nicht heimgefunden, haben sie alle gesagt. Es war ein grausiger Anblick.

Also bleibe ich in Bewegung, gehe die Straße entlang, von einem Wohnviertel in das nächste. Und so kalt mir ist, so heiß brennen meine Rippen. Mit jeder Reibung des Pullovers auf meiner wunden Haut mehr. Es ist der Kollateralschaden aus der Nacht nach Moms Beerdigung, als mein ganzes Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Ich kann mir genau vorstellen, wie die Haut jetzt aussieht. Wie die pochende Röte der Entzündung sich um die harten, schwarzen Linien der Tattoos legt.

Während ich immer weiterlaufe, höre ich das ferne Echo von Moms Worten. Es waren immer dieselben. Jedes Mal, wenn sie mich dabei erwischt hat. Mach das nie wieder, Engel. Du bist zu schön, um dich so zu entstellen.

Alle paar Hundert Meter schultere ich meinen Seesack um. Obwohl ich so gut wie nichts besitze, ist das Teil scheiße schwer geworden über die vielen Stunden.

Als ich um die nächste Straßenecke biege und Schlangenlinien auf dem Bürgersteig laufe, werde ich von einem Kleinwagen angehupt. Vermutlich hält mich der Fahrer für einen besoffenen Penner. So falsch ist das nicht einmal. Wohnungslos bin ich heute Nacht. Fürs Besoffensein fehlt mir die Kohle.

Ein paar ziellose Runden über den Supermarktparkplatz später betrachte ich gerade mit knurrendem Magen die leer gefegte Auslage eines Straßencafés, als die Stille dieser trostlosen Nacht von einer Frauenstimme durchbrochen wird.

»Hey, was soll das?«

Ein dunkles Lachen folgt. Eine klappende Autotür. Ein »Lass das«, ohne vertrauten oder belustigten Unterton.

Es dauert einen Moment, bis ich ausmachen kann, wo die Geräusche herkommen.

Kurz darauf entdecke ich die kleine Frau, die vor dem heruntergekommenen Eingang einer Bar auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht. Sie fuchtelt mit ihrer Zigarette vor dem Gesicht eines größeren Mannes herum, der ihren Arm hält.

»Ach, komm schon.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich nichts von dir will. Ich steh nicht auf Kerle wie dich.« Sie will sich losreißen, aber er lässt es nicht zu. »Hör auf, meine Güte, lass doch los.«

Er macht es nicht.

Nichts von dem, was sie sagt.

Und obwohl es mich im Grunde nichts angeht, nehme ich Kurs auf die beiden, reibe im Gehen meine kalkweiß gefrorenen Hände aneinander und ziehe die Nase hoch. Meine Schritte klingen fester, als sie sich anfühlen.

»Komm schon, hm? Du weißt nicht, was du verpasst«, raunt der Typ und rückt noch näher an sie heran. Was für ein Idiot.

Sie scheint dasselbe zu denken, denn sie spuckt ihm statt einer Antwort ins Gesicht.

Das ist der Moment, in dem die Stimmung umschlägt.

»Du kleine Schlampe. Erst flirten und dann Nein sagen, oder was?«

Als ich ihr erschrockenes Keuchen höre, beschleunige ich meine Schritte und packe seinen Nacken. Gott sei Dank ist mein Griff fest genug, um ihn zusammenfahren zu lassen.

»He, was soll das?« Er versucht mich abzuschütteln, zuckt aber zurück, als sein Blick auf meinen trifft. Was er sieht, reicht wohl aus, um ihn einen Moment zu verwirren. Ich muss aussehen wie ein Dämon, den selbst die Hölle nicht haben wollte.

»Hi«, sage ich nur und dann landet meine Faust in seinem Gesicht. Ohne Vorwarnung. Es knackt.

Die Frau zuckt nicht einmal. Sie reibt sich nur über die Stelle am Arm, die der Typ eben noch festgehalten hat, und nickt mir zu, während er mit dem Hintern im Dreck landet und sofort seine Nase abtastet. Das warme Blut an seinem Kinn dampft im Gegenlicht.

»Scheiße, was soll das?«, jammert er, bleibt aber sitzen. Von mir aus muss er auch gar nicht mehr aufstehen.

Ich ignoriere seine Heulerei im Hintergrund und werfe lieber einen Seitenblick auf die Frau. »Alles klar bei dir?«

Sie nickt und dreht sich zu dem Typen hin, der sich ächzend hochrappelt. »Und du sieh zu, dass du dich verpisst. Ich hab dir drinnen schon gesagt, dass ich nichts von dir will.«

Er kommt schwankend auf die Füße, ist allerdings nicht klug genug, um sofort das Weite zu suchen. Stattdessen taumelt er einen Schritt auf sie zu und fixiert ihr zartes Gesicht dabei mit einem solchen Wichserblick, dass mein Blut trotz der Kälte langsam wieder auf Betriebstemperatur kommt. Bevor er erneut nach ihr greifen kann, schneide ich ihm den Weg ab, sodass sie hinter meinem Rücken verschwindet.

»Du hast sie gehört, verzieh dich.«

»Ha«, macht er und sieht für einen kurzen Moment aus, als wollte er sich ernsthaft an mir vorbeidrängen. »Scheiß Weiber. Erst schöne Augen machen und dann rumzicken.«

Sein Ernst? Sein Ernst? Meine Hand fährt in meine Hosentasche. »Wenn ich du wäre, würde ich gut überlegen, ob ich so was laut ausspreche.«

Sekunden später schnappt mein Springmesser auf. Er starrt die blanke Klinge an, ich starre ihn an.

Dann macht er endlich einen Schritt rückwärts. »Whoa, cool bleiben, ja?«

»Verzieh dich. Jetzt.«

Er nickt, macht einen weiteren Schritt rückwärts und fährt sich noch ein letztes Mal über den Mund, an dem das Blut langsam trocknet. Sekunden später ist er in der Dunkelheit verschwunden.

Ich schaue derweil auf die Frau hinab, die jetzt neben mir steht und tief durchatmet. »Wirklich alles okay bei dir?«

»Klar«, sagt sie so locker, als hätte ich mir die letzten paar Minuten nur eingebildet. »War nett, dass du rübergekommen bist. Hätte aber nicht notgetan. Ich kann für mich selbst sorgen.«

»Hm-mh. Habe ich gesehen.«

»Du hast dem Typ die Nase gebrochen.«

»Wäre dir lieber, er hätte sich deine vorgenommen?«

»Sag nicht, du machst jetzt auch Sprüche, Kleiner?« Sie grinst dünn und zündet eine neue Zigarette an. Dann deutet sie auf das Messer, das ich nach wie vor in meiner Hand halte. »Und pack dein kleines Spielzeug ein, bevor sie dich einbuchten. Die Officer hier diskutieren nicht lange.«

»Dann haben wir ja was gemeinsam.«

»Gott, so einer bist du, ja?« Zum ersten Mal schaut sie mir direkt ins Gesicht und lässt ihre Aufmerksamkeit über meine abgerissenen Klamotten schweifen. Ich kann es kaum aushalten, wie forschend ihr Blick dabei ist. So, als könnte sie Dinge sehen, die sie nichts angehen.

Ich wende mich ab, komme aber nicht weit, weil sie den Ärmel meines Hoodies packt.

»Wo willst du hin, hm?«

Ich antworte nichts.

»Ich würde dir einen Drink spendieren, Ritter in Schwarz. Du siehst aus wie einer, der es gebrauchen kann.« Sie deutet auf den Laden, vor dem wir stehen, und wirft anschließend ihre halb gerauchte Zigarette auf den Bürgersteig. »Also? Was ist?«

Es ist wirklich eine Bar. Harpers Inn. Die Außenbeleuchtung ist defekt, deshalb konnte man es von der anderen Straßenseite nicht lesen. Durch das Fenster ist kaum etwas zu erkennen, so sehr ist es beschlagen. Finster und schummrig. Warm. Meine Zehen stechen bei dem Gedanken daran.

Ich nicke nur und folge ihr durch die Tür. Sie schwingt ihre schwarzen Haare über die Schulter, die in dichten Wellen ihren Rücken hinabfallen und sie verwegen aussehen lassen. Wild und dunkel irgendwie.

Drinnen bestellt sie ein Bier für sich und einen Kaffee für mich. Der Barkeeper scheint sie zu kennen, denn er spricht sie mit Vornamen an. Zahra.

Es ist nicht viel los. Mit hässlichen Stoffen bezogene Holzstühle reihen sich an alte, verschrammte Tische.

Hier und da sitzen ein paar Typen, die abwesend auf ein Footballspiel starren, das im Röhrenfernseher in der Ecke gezeigt wird.

Der Wirt stellt das Bier und den Kaffee ab. Die Tasse hat einen Sprung. Trotzdem habe ich selten ein kostbareres Gefühl gespürt als in diesem Moment, in dem sich meine Hände um das heiße Porzellan legen. Es prickelt über die Haut in meine Knochen. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als wäre ich das Opfer der Schlägerei geworden.

Zahras Blick fällt auf meine Fingerknöchel. »Sieht übel aus«, kommentiert sie die aufgeplatzte Haut. Dass es in dem Ausmaß nicht allein von dem einen Schlag eben stammen kann, fällt ihr vielleicht gar nicht auf.

»Das ist nichts.«

»Vergiss es, das muss gereinigt werden.« Sie streckt die Hand aus und drückt auf meiner Haut herum, die jetzt wieder durchblutet wird und furchtbar sticht. Vom einsetzenden Blutfluss und der Wunde gleichermaßen.

»Bist du auf dem Weg irgendwo hin?«

Ich schüttle den Kopf, aber ihr Blick wird immer eindringlicher. Forschend, wo es nichts zu erforschen gibt. Es ist unangenehm, es geht sie nichts an.

»Verstehe ich nicht.«

»Musst du auch nicht«, antworte ich und will aufstehen. »Danke für den Kaffee.«

»Was? Du hast nicht mal ausgetrunken. Warte doch.« Wieder hält sie mich im letzten Moment am Ärmel zurück. »Setz dich hin und trink wenigstens aus. So viel Zeit hast du doch wohl?«

Ich weiß nicht einmal, warum ich mich überhaupt dagegen wehre. Vielleicht aus Gewohnheit. Also kämpfe ich die Gegenwehr in meinem Inneren nieder und lasse mich auf den Stuhl zurücksinken. Ganz tief in die Sitzfläche, die Arme vor der Brust verschränkt.

Zahras Blick hängt noch immer auf meinem Gesicht. »Also, unbekannter Retter in der Not. Frage eins: Wo kommst du her, wo willst du hin? Und wie heißt du überhaupt?«

»Das sind drei Fragen.«

»Meine Güte.« Sie verdreht die Augen, schmunzelt aber. »Nimmst du es immer so genau? Sag schon, wo kommst du her?«

»Ich bin aus Detroit.«

»Gelaufen?«

»Anhalter.«

»Name?«

Ich überlege einen Moment. »Angel.«

»Angel? Kleiner, du siehst eher nach Devil aus.« Wieder deutet sie auf meine Hände und schweift mit dem Zeigefinger in der Luft über die schwarze Sweatshirtjacke bis zu meinem Kinn.

»Ich bin Zahra. Ich wohne hier ein paar Straßen weiter. Soll ich dich nachher ins Krankenhaus begleiten?«

»Nein.«

»Nein?«

Ein Kopfschütteln.

Sie grinst. »Auf der Flucht oder keine Kohle?«

Gott allein weiß, warum sie keine dieser Optionen beängstigend findet. »Beides.«

»Wenn du willst, kann ich dir die Hände auch zu Hause verbinden.«

»Meinst du wirklich, das ist eine schlaue Idee nach der Nummer eben?«

Aber sie winkt bloß ab. »Wenn wir immer nur tun würden, was schlau ist, würden wir beide heute Nacht nicht hier sitzen.«

 

 

Später gehe ich mit Zahra an meiner Seite die gleiche Strecke zurück, die ich gekommen bin. Nur, dass sie Wege kennt, die ich gar nicht gesehen habe. Sie klettert über Zäune und nimmt Abkürzungen über verlassene Grundstücke. Ganz selbstverständlich, als würde der Boden, über den sie wandelt, bloß ihr gehören. Eine Königin in ihrem stillen Königreich.

Ich folge ihr, die Luft fühlt sich nach diesem Kaffee und der Wärme der Bar nicht mehr annähernd so tödlich an.

»Was hattest du eigentlich vor?«, fragt Zahra in die Dunkelheit hinein, das Gesicht zu mir emporgereckt. Ihre Augen funkeln und ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis ich bereue, dass ich überhaupt mit ihr mitgegangen bin. Das hier gehört nicht zu meinem Plan. Nichts davon.

»Ich suche jemanden.«

»Und wen?«

»Geht dich nichts an.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Bist du von zu Hause ausgerissen?«

»Was?«

Sie lacht. »Wie alt bist du, Angel?«

»Einundzwanzig.«

»Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst.«

»Was?« Ich bin mir nicht sicher, wie oft ich das heute schon gesagt habe. Vermutlich reden wir hier gerade katastrophal aneinander vorbei.

»Du hast so ein Babyface. Vielleicht passt Angel doch ganz gut«, sagt sie und stupst mich in die Seite, die sofort darauf in Flammen aufgeht. »Ich bin letzte Woche dreißig geworden.«

»Toll. Glückwunsch.«

»Meine Güte, bist du immer so leicht zu begeistern?«

Ich glaube, sie findet das hier amüsant. Entweder ist sie völlig durchgeknallt oder hängt nicht sehr an ihrem Leben. Oder beides.

»Soll ich dir jetzt noch erzählen, was ich heute Abend überhaupt in dieser Bar wollte oder willst du das auch nicht wissen?«

»Nein, will ich nicht.«

»Tja, ich sage es dir trotzdem, denn ich gehe jeden Montag in die Bar und trinke ein Bier. Gut, heute waren es ausnahmsweise zwei.« Sie hält kurz an, um einen Bauzaun zu öffnen, der über ein weiteres verlassenes Grundstück führt. Das Einzige, was hier herumsteht, sind ein paar verwitterte Autokarossen, die so sehr von Pflanzen bewuchert wurden, als hätte sich die Natur mit der Zeit ihre Gerippe wieder holen wollen.

»Du gehst jede Woche in diese Bar?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Trevor wollte nie. Jetzt mache ich all die Dinge, zu denen er keine Lust hatte. Vielleicht, um mir meine Freiheiten vor Augen zu führen. Was weiß ich.«

»Wer ist Trevor?«

»Mein Freund. Ex-Freund. Na ja, und dann kam da vorhin dieser Kerl. Und dann kamst du.«

»Ich weiß nicht, ob das besser ist. Vielleicht bin ich ein Psychokiller.«

»Na, na«, macht sie und schaut zu mir hoch. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass mit dir alles okay ist. Du bist kein Psychokiller, Angel.«

»Meinst du, ja?«

»Ja.«

»Und woran machst du das aus?«

Sie bleibt stehen, hebt die Hand und lässt sie über meine verkrustete Schläfe gleiten. Es ist der gleiche Schmerz, der auch auf meinem Rippenbogen tobt.

»Weil nur ehrliche Menschen ihre Ängste so gut lesbar auf der Haut tragen.«

 

 

Als wir in der schäbigen Wohnsiedlung etwas außerhalb ankommen, setzt leichter Schneeregen ein.

»Gerade rechtzeitig«, murmelt Zahra und schließt die Tür eines heruntergekommenen Wohnblocks auf. Vor dem Eingang stehen ein kaputtes Set Klappstühle und ein Pflanzkübel, in dem verblühte Blumen auf ihre Schneedecke warten. Drinnen ist es nicht viel besser. Es riecht muffig. Nach Schimmel und feuchter Wärme. Erschreckend heimelig.

»Angel?«

Ich schaue hoch, direkt in Zahras große Augen.

»Alles okay bei dir?« Sie hat ihre Jacke bereits ausgezogen und steht in einem geblümten Strickkleid vor mir, das im Gegensatz zu meiner Kleidung so schreiend bunt ist, dass es beinahe in den Augen wehtut.

Doch statt ihr zu antworten, lasse ich den Blick über die Einrichtung gleiten. Abgewetztes Resopal reiht sich an blinde Fenster und vergilbte Gardinen. Es ist weder sauber noch aufgeräumt. Der winzige Esstisch ist übersäht mit Zetteln, ich nehme einen davon in die Hand. Es ist ein Notenblatt.

»Hey, nicht spannen. Da arbeite ich noch dran.« Mit einer schnellen Handbewegung nimmt mir Zahra den Zettel wieder ab. Lesen konnte ich ohnehin nichts. Die Frau hat eine Handschrift, die diesen Titel nicht verdient.

»Bist du Musikerin?«

»Sängerin.«

»Cool.«

»Hm. Finde ich auch. Und du? Ziehst du dich irgendwann noch aus oder bleibst du da so stehen? Brauchst du vielleicht Hilfe?« Sie zwinkert kokett, dreht sich weg und füllt Wasser in einen kleinen Teekessel, den sie auf dem Herd platziert.

»Ich dachte, du trauerst um deinen Ex-Freund.«

Sie stockt in der Bewegung, wirft einen Blick über ihre Schulter und zieht die Augenbrauen so hoch, dass sie gefühlt ihren Haaransatz berühren. »Er ist doch nicht tot.«

»Lässt sich ändern.«

Mit einem Kopfschütteln wendet sie sich wieder der Küchenzeile zu. »An deinem Witz solltest du vielleicht noch ein bisschen feilen.«

Einige Momente lang sehe ich dabei zu, wie Zahra irgendwelche Tücher zurechtschneidet, während ich meine Stiefel von den Füßen trete. Die Hoodiejacke lasse ich an und ziehe bloß die Ärmel über meine demolierten Handflächen.

Anscheinend braucht Zahra das heiße Wasser gar nicht für Tee, denn sie gießt es in eine Schüssel, die sie anschließend mit kaltem Wasser auffüllt.

Abwesend deutet sie auf den Tisch. »Schieb den Scheiß einfach zur Seite.«

Mache ich. Dabei fällt mein Blick auf unbezahlte Rechnungen und Werbung, Songtexte und offizielle Dokumente.

Ich denke an all die unbezahlten Rechnungen, die noch in meinem Hausflur in Detroit auf mich warten, und fahre mir über die geschlossenen Augen. Die Wärme dieser Wohnung und die friedliche Stille, die von Zahra ausgeht, machen so schrecklich müde.

Sie setzt sich mir gegenüber, betrachtet mein Gesicht und streckt die Hand aus. Ein warmer Lappen berührt meine Fingerknöchel. Es brennt.

»Tut mir leid«, sagt sie. Ganz weich. »Es hört gleich auf.«

Aber das ist eine Lüge.

Es hört nie auf. Egal, wie vorsichtig man ist.

»Wer hat die Tattoos gemacht?«, fragt Zahra leise und ist jetzt dazu übergegangen, meine Knöchel mit einer Salbe einzureiben. Sie streicht weiter hoch, bis über meine Handgelenke, an denen sie ein zartes Blütenmuster freilegt.

»Ich.«

»Du?«

Ein Nicken.

»Alle?« Ihre Fingerspitzen fahren zwischen den filigranen Linien auf meinem Handgelenk und meinem Unterarm weiter zu den viel zu tief vernarbten Kritzelstrichen auf meinem Handrücken, die kaum noch zu lesen sind. Weil ich wieder und wieder darübergegangen bin. Fester und fester.

»Warum?« Wieder sieht sie hoch. Wieder hat sie diesen Blick. Wieder kann ich ihr nicht in die Augen sehen, also zucke ich bloß mit den Schultern.

»Gibt es mehr davon?«

»Was glaubst du denn?«

»Hast du die alle selbst gemacht?«

»Ist mein Job.«

»Du bist Tätowierer?« Sie schraubt die Cremetube zu und beginnt ganz vorsichtig, meine Hände zu verbinden. »Machst du mir auch eins? Irgendwann?«

Während sie beschäftigt ist, schaue ich in ihr zartes Gesicht und fahre die Konturen davon im Geist nach, damit ich sie später noch mal wiedergeben kann. Mit Stift und Papier.

»Ich habe nicht vor, länger als nötig in dieser Stadt zu bleiben.«

»Schade.« Mit flinken Handgriffen rollt sie den Rest der Bandage zusammen. Anschließend sieht sie hoch und deutet auf den verschorften Schriftzug an meiner Schläfe. »Was ist mit dem da? Soll ich das auch eincremen?«

»Ist alt.«

»Es sieht aber wirklich übel aus. Es wäre besser, da käme Salbe drauf.« Sie rutscht ein Stück näher und hebt mein Kinn an, um die Wunde genauer zu betrachten. Der Ausdruck in ihren Augen wird dabei sekündlich mitfühlender.

»Will ich wissen, wie das passiert ist?«

Nein. Willst du nicht.

»Ich habe die Kontrolle verloren.«

»Das geht uns allen ab und an so, Angel. Ist nur wichtig, dass man sie wiederfindet.«

»Ich habe noch nie was wiedergefunden, was ich verloren habe.«

Ihr ohnehin schon nachsichtiger Blick wird noch eine Spur weicher. »Keine Sorge, Kleiner. Das brauchst du heute Nacht auch nicht.«

Bei ihr klingt es, als würden hier sonst welche Wunderwerke auf mich warten. Und selbst wenn es so wäre, ich will sie nicht haben.

Bevor Zahra noch zudringlicher werden kann, schiebe ich ihre Hand beiseite und will aufstehen. »Es reicht jetzt.«

Leider lässt sie sich davon nicht beirren, sondern hält weiterhin mein Handgelenk fest und schüttelt den Kopf. »Jetzt werde nicht panisch. Lass mich das wenigstens noch eincremen.«

»Nein.«

»Doch. Komm schon, danach wird es besser. Ich behalte meine Hände auch bei mir, versprochen. Ist bloß ’ne medizinische Behandlung.« Ehe ich weiter protestieren kann, drückt sie mich zurück in eine sitzende Position und fixiert mich mit ihrer freien Hand an der Schulter.

Ihre Fingerspitzen verteilen die Salbe ganz vorsichtig. Ich wünschte, sie wäre gröber. Ich wünschte, sie würde richtig reiben. Ich kann diese Zartheit nicht ertragen. Schon so lange nicht mehr, dass ich mich nicht mal erinnern kann, ob es jemals anders gewesen ist.

Kapitel 2

 

 

Jemand ruckelt an meinem Arm. »Hey, schläfst du immer noch?«

Ich schrecke hoch, stelle fest, dass ich auf Zahras abgeranzter Couch liege und habe Schwierigkeiten, mich innerhalb der letzten Tage zu orientieren.

Der Regen und die Trauer, die Totengräber und der mitleidige Blick des Reverends.

Das Gesicht meines toten Vaters, erschreckend lebendig auf einem Fernsehbildschirm.

Meine Haut steht in Flammen, weil ich zu verwirrt bin, um das Gefühl von Zahras Hand auf meinem Arm zu kontrollieren.

»Fass mich nicht an.«

»Hey, ruhig. Angel.«

Die Hand verschwindet und mit ihr schüttle ich auch die Bilder dieser Fernsehübertragung ab, bis sich die Realität vor meinen Augen formt. Zahra sitzt auf der Kante des Sofas und schaut auf mich herab. In einer Latzhose und mit meiner Hoodiejacke. Darunter trägt sie nur ein abgeschnittenes Top.

»Was soll das? Die gehört dir nicht.«

Auf mein wütendes Grollen hin lächelt sie nur, schließt den Reißverschluss noch ein Stück weiter und zuckt mit den Schultern. »Ist aber gemütlich.«

Ich lasse den Hinterkopf zurück in die Kissen sinken.

»Du hast geschlafen wie ein Baby, Kleiner. Hat nur noch gefehlt, dass du nach Mommy gerufen hättest.«

Mit einem Ruck komme ich wieder hoch und packe sie am Arm. »Wenn du noch einmal über meine Mutter …«

»Mein Gott, bleib locker, Schatz.«

»Ich bin nicht-«

»Natürlich nicht.« Sie macht eine wegwerfende Geste. »Wie auch? Darf ich dir trotzdem Kaffee anbieten oder erwürgst du mich dann?«

Es macht mir Angst, wie unkontrollierbar ich mich fühle. Weil alles durcheinandergeht, was womöglich noch nie eine Ordnung hatte. Ich muss Dad finden.

Vorsichtig betaste ich den Verband, der um meine Hände gewickelt ist, und ignoriere den viel größeren Schmerz auf meinen Rippen.

Zahra bedenkt mich mit einem wissenden Blick. »Ja, tut scheiße weh, oder? Wenn du wieder bei dir bist, kannst du mir gern noch eine Erklärung nachliefern für diese Metzelei, die du dir da angetan hast.«

Lieber sterbe ich.

Einen Atemzug lang schaut sie mich noch an, als würde sie abwägen, ob sie hier gerade Nächstenliebe oder den Fehler ihres Lebens zelebriert, ehe sie sich erhebt und zur Küchenzeile hinübergeht.

»Und jetzt weih mich doch vielleicht in deinen Plan ein, Kleiner. Was wird mit dir? Bleibst du? Gehst du?«

Ich schüttle den Kopf.

»Vielleicht mit Worten?«

»Ich gehe.«

»Na dann.« Mit einem Seufzen deutet sie auf die schmale Tür neben sich. »Willst du vorher wenigstens noch duschen? Ist nicht gerade ein Wellnesspalast, aber zum Sauberwerden reicht es.«

Während sie sich wieder der Kaffeemaschine widmet, schäle ich mich aus dem Deckenberg und stolpere den ersten Schritt, weil der alte Dielenboden so uneben ist. Ich kann genau die Blicke spüren, die Zahra mir über die Schulter hinweg zuwirft. Sie sind so nachdenklich, dass ich mich frage, was sie eigentlich in mir sieht, wenn sie mich betrachtet.

Den Nichtsnutz, der nicht mal seine eigene Mom retten konnte?

Den Wahnsinnigen, den Pitbull zuletzt in mir gesehen hat?

Den Jungen, der schon so lange in meinem Inneren verschwunden ist, dass ich ihn offiziell für tot erklärt habe?

»Geht’s?«

Zahras Gesicht verschwimmt für einen Moment mit Moms.

»Angel?«

Ich schlucke trocken und schüttle alles ab. Zahras Hand, die schon wieder auf meiner Schulter gelandet ist, obwohl ich ihr gesagt habe, dass sie das lassen soll, die beißende Erinnerung und die Sehnsucht nach einem so tief vergrabenen Gefühl, das ich es fast vergessen hätte. Trotzdem höre ich Dads Schreie und Moms Weinen.

Vertrau mir. Alles wird gut. Ich lass dich nicht allein.

»Angel, was ist los mit dir?«

Ohne eine weitere Erklärung stürze ich ins Bad, reiße den Wasserhahn auf und halte meine Hände unter das eiskalte Wasser.

Während ich meiner Haut dabei zusehe, wie sie sich von der Kälte rötet, arbeite ich mich durch all den Wust in meinem Kopf. Ich schiebe Gedankenberge beiseite und versuche, mir das Aufeinandertreffen mit dem Mann vorzustellen, der mich um sechzehn Jahre meines Lebens betrogen hat. Ich erinnere mich noch immer genau an das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe. Ihn gehört habe. Ich erinnere mich noch genau an die letzte Nacht, in der alles eskaliert ist.

Er ist gestorben. Das hat Mom am nächsten Morgen gesagt, als ich sie mit aschfahler Haut und roten Augen auf dem Sofa gefunden habe. Dieser Mann ist gestorben.

Ich hatte solche Angst davor, dass sie auch irgendwann sterben und mich allein lassen würde.

Ich hatte ja keine Ahnung.

Jetzt zu wissen, dass er die ganze Zeit irgendwo da draußen war, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was er mir damit eigentlich angetan hat, ist unerträglich.

Wie?

Wie konnte er?

Wie konnte er mir das antun?

Nachdem ich das Wasser abgedreht habe, straffe ich die Schultern, ignoriere meine Augenringe im Spiegelbild und kehre zurück in den einzigen Wohnraum dieses Apartments.

»Hast du dich wieder beruhigt?« Zahra sitzt am Tisch, rührt in einer Blümchentasse mit Kaffee und isst in aller Seelenruhe einen Pancake. Einen von diesen Fertigpancakes, die man im Supermarkt kaufen kann. Anschließend schenkt sie eine zweite Tasse Kaffee ein, ohne dass ich sie darum gebeten habe.

»Willst du Milch?«

Ein Kopfschütteln.

»Schwarz wie die Seele, was?«

Seele. Als hätte ich noch eine Seele.

»Kann ich meinen Rucksack bis heute Nachmittag hierlassen? Danach bin ich weg.«

»Warum?«

»Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Sie mustert mich genau. Doch gerade, als ich denke, dass sie weitere Fragen stellen wird, weiter bohren und nachforschen, seufzt sie bloß getragen und nickt. »Natürlich, warum auch nicht. Lass nur alles hier, was solls schon.«

»Danke. Weißt du zufällig, wo die Rochester Lane ist?«

Das ist der erste Moment, in dem Zahras Gesicht ehrliche Verwirrung zeigt. »Was willst du in der Rochester Lane?«

»Geht dich nichts an. Also?«

»Du stehst in meiner Wohnung, Kleiner. Mich geht alles was an, wenn es hier passiert.«

Sie hebt die Augenbrauen, ich habe dem nichts hinzuzufügen. Sie hat recht. Und weil jede weitere Diskussion Verschwendung wäre, stehe ich auf, schnappe meinen Rucksack und halte auf ihre Garderobe zu.

»Angel, warte. Ich denke, du wolltest deinen Kram hierlassen?«

Ich ignoriere sie und ziehe stattdessen meine Stiefel an.

»Herrgott, es war doch nicht böse gemeint. Bist du immer so empfindlich?«

»Gib mir meine Jacke.«

Sie steht ebenfalls auf, noch immer in mein Sweatshirt gehüllt. »Angel.«

»Gib. Mir. Die. Jacke.«

Mit einem weiteren Seufzen öffnet sie den Reißverschluss. Darunter trägt sie noch immer bloß das fadenscheinige Top über einem blasslila Spitzen-BH.

Sie kommt mit wiegenden Schritten auf mich zu, die Jacke am ausgestreckten Arm. »Willst du jetzt wirklich so raus in die Kälte?«

Ich schnappe die Stoffjacke, streife sie über, bekomme eine Gänsehaut von der Restwärme, die zwischen den Fasern klebt, und drehe mich zur Tür. Sekunden später stehe ich im finsteren Treppenhaus.

Zahra kommt mir nicht nach.

Vermutlich sollte ich die Tatsache akzeptieren, dass ich niemand bin, dem man hinterherläuft.

 

 

Wie auch gestern klettere ich über Zäune und nehme Abkürzungen über Privatgrundstücke. Wenn Zahra mir nicht sagen will, wo diese scheiß Rochester Lane ist, finde ich es eben selbst heraus. Mit kalten Fingern fische ich nach dem abgerissenen Briefkopf, der noch immer in meiner Hosentasche steckt.

Wieder und wieder lese ich die Adresse, als müsste ich mich vergewissern, dass mein Hirn sie in der Zwischenzeit nicht vergessen hat.

Ich laufe Straßenzug um Straßenzug, aber an keiner Kreuzung kommt das richtige Schild.

Ewig lange nicht. Bis das Universum ein Einsehen mit mir hat und mich am Rathaus vorbeischickt, in dessen Schaukasten eine Straßenkarte hängt. Das Glas der Abdeckung ist schon ganz milchig geworden von den vielen Fingern, die hier tagtäglich ihr Ziel suchen. An manchen Stellen ist die darunterliegende Karte kaum noch zu erkennen. Als ich nach Minuten des Suchens endlich die Rochester Lane finde, löst es trotzdem weniger Euphorie in mir aus, als ich erwartet hätte. Vielleicht liegt es daran, dass es sich am Ende eben doch nur um einen Namen auf Papier handelt. Um schwarze Buchstaben, die in der richtigen Reihenfolge das richtige Wort ergeben.

Wenn ich erst mal dort bin, wird das anders sein. Wenn ich wirklich da stehe und das Haus, ihn, mit eigenen Augen sehe.

Ich ziehe die Schultern hoch, präge mir den Weg ein und stapfe ein weiteres Mal los. Mit einem Ziel vor Augen kommen mir die Straßen kürzer und der Wind längst nicht mehr so eisig vor.

Mein Adrenalinspiegel steigt mit jedem weiteren Schritt in die richtige Richtung. Als ich endlich in der Rochester Lane ankomme, vibriert es bereits richtig in der Brust und durch jede meiner Adern, prickelt bis in meine kalten Fingerspitzen. Es lässt mich schwitzen, obwohl ich zittere.

Keine Ahnung, ob ich klingeln soll. Was ich sagen soll. Was er sagen wird.

Wie er sich erklären wird.

Ich hänge noch mitten in diesem Gedankengang fest, als ein Polizeiwagen um die Ecke biegt und langsam in meine Richtung fährt.

Fuck. Nicht schon wieder. Nicht jetzt.

Mit einer unauffälligen Bewegung ziehe ich die Kapuze tiefer ins Gesicht, doch die Cops halten gar nicht an. Sie sind nicht wegen mir hier. Sekunden später biegt der Wagen ganz langsam und gemächlich in eine der Einfahrten ein. Ich war vor lauter Panik viel zu abgelenkt, um weiter auf die Hausnummern zu achten. Erst in dem Moment, in dem ich hochsehe und die Nummer auf dem Briefkasten vor mir mit der vom Briefkopf abgleiche, wird mir klar, wessen Polizeiwagen da gerade wirklich an mir vorbeigefahren ist.

Das kann nicht sein, oder?

So einfach funktioniert das Schicksal nicht.

Ich denke an den Fernsehbericht. An ihn in dieser Uniform. Daran, was für ein verdammter Witz es ist, dass Menschen wie er Polizisten sein können.

Als ich zwei Autotüren zufallen höre, bleibe ich stehen, atme und bereite mich vor.

Eine Sekunde, noch eine. Ich will mich gerade umdrehen, dann ist da seine Stimme.

Und während mir der vertraute Tonfall auch Jahre später noch eiskalt über den Rücken läuft, wird mir zum ersten Mal wirklich klar, was das hier eigentlich bedeutet.

Er ist nicht tot.

Er lebt hier ein neues Leben.

Hier, in dieser Straße.

Und obwohl ich nichts lieber tun würde, als zu ihm zu laufen und ihm mein Gesicht zu zeigen, darauf zu warten, dass er mich erkennt, bin ich wie eingefroren.

All mein Schmerz, all meine Ängste kanalisieren sich auf diesen einen Augenblick.

Er war hier.

Er war die ganze Zeit über hier. In dieser scheiß Vorortsiedlung, in diesem friedlichen Paralleluniversum, während ich zurückgeblieben bin und damit klarkommen musste, was er mir angetan hat. Jeden Tag wieder. Jeden verdammten Tag und jede verdammte Nacht.

Verräter.

Die Stimme in meinem Kopf ist schrill, es fühlt sich an, als würde der Dämon hinter meiner Stirn sich in seinen ganz eigenen Rachefantasien winden.

Verräter, Verräter.

»Ach, nein, Dad. Das mache ich später irgendwann. Ich denke, du wolltest am Wochenende zum Spiel gehen«, erwidert eine zweite Stimme auf etwas, das mein Vater gesagt haben muss.

Dad? Dad?

Ich schaue über meine Schulter und sehe jetzt, dass ein blonder junger Mann neben meinem Vater steht. Neben meinem Vater.

»Hast du Karten?«

»Na sicher.« Der junge Mann lacht. Voll und laut und verstörend fröhlich. Es fühlt sich an, als würden meine Gedanken in Flammen aufgehen.

Dad.

Er hat noch einen Sohn.

Einen neuen, einen besseren.

Erst hat er mein Leben in Schutt und Asche gelegt und dann hat er es gewagt, sich selbst ein neues aufzubauen.

Eins, in dem man zu Sportveranstaltungen geht und gemeinsam heimkehrt.

Bevor diese Erkenntnis wirklich in meinem Hirn angekommen ist, verschwinden die beiden ins Haus.

Ich schlucke trocken und schleiche im Schatten der Büsche die Einfahrt hoch, näher heran an die Hausfassade. So nah, dass ich ins bodentiefe Fenster des Esszimmers sehen kann.

Mein Blick schweift über warmweißes Licht, ordentliche Möbel und hübsche Wandfarben.

Wie kann das sein?

Wie kann das hier alles echt sein?

An den Wänden hängen Bilder, alle in Reih und Glied. Es sind Menschen darauf, die ich aus dieser Entfernung nicht erkennen kann. Als die Tür geöffnet wird und mein Vater zusammen mit dem blonden Typen den Raum betritt, brennt mein Herz so lichterloh, dass es mir fast ein Loch in die Brust schlägt. Ich sehe ihr Lächeln, ihre strahlenden Augen, seine Lippen, die sich bewegen und Worte formen, die an diesen fremden jungen Mann gerichtet sind.

Er sieht ihm kein bisschen ähnlich.

Ohne Umschweife setzt er sich an den Kopf der Tafel, als wäre er der beschissene König der Welt.

Ihn nach all den Jahren endlich wieder von Angesicht zu Angesicht zu sehen, ist wie ein elektrischer Reiz auf meiner Haut. Er baut sich immer mehr auf, macht mich kribbelig und nervös. Ich will etwas tun, irgendetwas machen, damit das hier aufhört, aber ich weiß nicht wie. Wie? Das ekelhafte Gefühl frisst sich weiter von meinem Herzen direkt in den Magen. Es macht meine Lunge eng und meine Hände zittrig.

Die Menschen drinnen spüren davon nichts.

Der junge Mann setzt sich neben meinen Vater, eine Frau kommt dazu. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter und küsst seine Wange. Dann sitzen sie bloß da wie diese Familien aus der Fernsehwerbung. Rein und glücklich. Ohne jegliche Probleme. Wie der perfekte zweite Versuch, nachdem man sich des fehlerhaften ersten entledigt hat.

Sie reden. So viel, dass mir der Kopf schwirrt, obwohl ich sie nicht einmal hören kann. Der junge Mann ist der, der am meisten zu besprechen hat.

Groß ist er, mit breiten Schultern und einem klaren Blick, so als könnte ihm nichts und niemand etwas anhaben. Sein Feinstrickpullover ist sauber und sein blondes Haar ordentlich. Keine Ahnung, ob er älter ist als ich oder jünger.

In diesem Moment hasse ich meinen Vater.

Ich hasse ihr sorgloses Lachen und ihre glücklichen Augen und die Einfachheit der Szene. Ich wünschte, sie würden aufspringen. Streiten und schreien. Irgendetwas tun, das mir zeigt, dass sie sind wie ich. Fehlbar und schlecht.

Aber sie tun es nicht. Die Frau legt nur immer wieder ihre Hand auf den Arm des jungen Mannes und ich würde meine Hand abhacken, wenn ich hören könnte, was sie sagen. So, wie sie ihn ansieht, muss sie seine Mutter sein. Da liegt ein solcher Stolz in ihrem Blick, dass ein Stich durch mein Herz geht.

Der Schmerz ist weder unerwartet noch neu. Trotzdem kann ich es nicht länger ertragen hinzusehen. Ich kann nicht mehr ertragen, das auszuhalten. Aushalten, aushalten, immer nur aushalten, obwohl man längst weiß, dass es niemals besser werden wird.

Er muss büßen, flüstert die Stimme in meinen Gedanken, diesmal ist sie weder verzerrt noch beängstigend. Sie ist glasklar und honigsüß. Er soll leiden. Lass ihn leiden. Leiden, leiden, so wie du gelitten hast.

Kapitel 3

 

 

»Weißt du, Kleiner, ich habe nachgedacht. Die Wohnung gegenüber steht leer. Wenn du willst, frage ich Becky, ob sie dir die vermietet. Die läuft hier rum und kümmert sich um alles. Wohnt mit ihrem kleinen Jungen eine Etage drüber.«

Wieder sitze ich an Zahras altem Esstisch, wieder ist es dunkel draußen. Nachdem alles an diesem Tag den Bach runtergegangen ist, bin ich ewig in der Kälte umhergelaufen. Ich hatte gehofft, die Wut auf die Lebensentscheidungen meines Vaters würde etwas abflachen, dabei ist sie mit jedem weiteren Schritt und jedem weiteren Gedanken nur immer mehr angewachsen. Heute Morgen war ich mir noch sicher, dass ich nach Detroit zurückkehren würde. Jetzt frage ich mich bloß noch, wie das jemals möglich sein sollte. Wie könnte ich zurückkehren und weiter vor mich hinleben, wenn ich weiß, dass der Mensch, der für all die Risse in meiner Seele verantwortlich ist, hier in dieser Idylle lebt und glaubt, das Schicksal würde ihn nicht einholen?

Aber da hat er sich getäuscht. Das Schicksal ist schon hier und es führt dieses Mal ein scharfes Schwert. Jemand wie er hat gar keine Gnade verdient. Kurz stelle ich es mir bildlich vor. Was ich alles tun könnte, wie er mich ansehen würde, wenn er wüsste, dass es diesmal er ist, der keine Chance mehr hat, zu entkommen.

»Also, willst du?«

Als ich aufschaue, sehe ich nur Zahras fragenden Blick.

»Was?«

»Ob du die Wohnung nebenan haben willst.«

Ich schüttle den Kopf. »Hab kein Geld, um das zu bezahlen.«

»Gar nichts?«

»Gar nichts.«

Sie überlegt. »Du hast doch gesagt, dass du die Tattoos selbst gemacht hast. Du hast eine Maschine dabei. Hier in der Gegend gibt es immer Leute, die zu viel Zeit haben und ihr Geld gern für unsinnige Sachen ausgeben. Ich erzähl es rum, dann hast du bald genug Geld, um die paar Kröten Miete zu bezahlen. Wirst sehen.«

»Hast du meine Sachen durchwühlt?«

Sie lacht. »Sicher. Glaubst du, ich will hier einem Massenmörder auf der Flucht Unterschlupf gewähren?«

»Keine Angst, bin ich nicht.«

»Oder einem Bankräuber. Wobei. Wenn der Raub schon erfolgreich war, würde ich mich vielleicht an ihn heranmachen und mitflüchten.« Kurz sehen wir uns an, dann zwinkert sie verschwörerisch.

»Du spinnst doch.«

»Du auch, Kleiner. Also, was ist?«

 

 

Nach dem spartanischen Abendessen verfrachtet sie mich aufs Sofa und sagt, dass ich warten soll. Ich habe keinerlei Erinnerung daran, wann ich eingeschlafen bin, aber als ich aufwache, ist es draußen finster. Zahra scheint nicht da zu sein, denn es ist still, also ziehe ich den Deckenzipfel ein bisschen höher und versuche erneut, gegen den Nebel in meinem Kopf anzudenken. Das Dunkel hinter meinen Lidern ist mir viel zu vertraut. Wenn ich nichts sehe, bin ich nicht da.

Irgendwann, womöglich Stunden später, reißt Zahra die Tür der Wohnung auf. Sie schwingt einen Schlüsselbund um ihren Zeigefinger und wirft ihn mir zu, als sie sieht, dass ich wach bin.

»So, mein Schatz«, sagt sie. »Ich habe deine Miete bezahlt. Kannst du gern bei mir abarbeiten.«

»Was?«

»Hast du irgendein Lieblingsmotiv?«

Als mir klar wird, was sie meint, atme ich durch. Scham fließt durch meine Adern. Scham und Wut, dass ich diese ganze Situation nicht wie ein Mann nehmen kann. Dass ich die jämmerliche Kreatur geblieben bin, die ich schon immer war.

Sie setzt sich auf die Sofakante. »Oder geht das nicht ohne Vorbereitung?«

»Das Tattoo?«

»Nein, der Heilige Gral.«

»Jetzt?«

»Warum nicht?« Sie lächelt und tippt an meine Schläfe. »Aber so eins. Und nicht so ein Massaker wie das hier.« Ihr Finger wandert über den Verband.

»Keine Angst, das …« Passiert nur bei mir selbst.

»Ich weiß schon. Dann mal los. Brauchst du dazu irgendwas?«

 

 

Kurze Zeit später habe ich mir einen sauberen Platz geschaffen, ihre Hautstruktur begutachtet und eine Lampe so platziert, dass ich bessere Sicht habe.

»Also?«, frage ich und fahre mit den Fingern prüfend über ihren glatten, straffen Rücken. »Was darf’s sein?«

Sie überlegt. Nicht die beste Option für etwas, das man sein Leben lang mit sich trägt, aber ich habe mir abgewöhnt, zu fragen. Anfangs war ich ziemlich idealistisch, doch mit jedem Jahr in diesem Geschäft hat das abgenommen. Die Leute wollen, was sie wollen. Ich war niemand, der es sich leisten konnte, potenzielle Kunden abzuweisen. Also habe ich gestochen, was sie mir mitgebracht haben.

Hässliche Internetvorlagen und dämliche Witztattoos. Bei jedem Namen in einem Herz habe ich innerlich geschmunzelt, bei jeder Doppelacht habe ich weggesehen.

Mit vierzehn habe ich angefangen, nachdem ich bei Pitbull Collins in den Laden gestolpert war. Mir haben so dermaßen die Knie geschlottert, dass ich dachte, ich bekomme einen Herzinfarkt. Und da stand er, der Kerl, vor dem jeder bei uns in der Straße Respekt hatte. Von oben bis unten übersäht mit seinem Lebenswerk in den buntesten Farben. Breit und massiv, seines Namens mehr als würdig.

Er hat mich ausgelacht, aber ich habe mich nicht abschütteln lassen. Keine Ahnung, woher ich damals den Mut hatte. Irgendwann durfte ich zugucken. Später selbst stechen. Es war am Anfang grausig, aber das hat niemanden gekümmert. Die Wyoming Avenue ist kein Ort, an dem man sich mit optischer Schönheit herumschlägt.

Kurz darauf hatte ich einen Ruf in der Gegend. Es waren gute Jahre, in denen ich ständig gearbeitet habe und wenig zu Hause war. Mom konnte damals schon kaum noch das Haus verlassen und wir brauchten das Geld. Seit sie nicht mehr arbeiten konnte noch mehr. Ihre Behandlungen waren teuer und trotzdem war es nie genug.

Du vergisst mich, hat sie gesagt. Irgendwann wirst du mich vergessen haben. Ich weiß bis heute nicht, wie sie jemals ernsthaft glauben konnte, dass das möglich wäre.

 

 

Stunden später hat Zahra die erste Session hinter sich. Die Outlines stehen. Sie hat sich während der ganzen Prozedur absolut nichts anmerken lassen. Nicht, als ich die Nadel das erste Mal aufgesetzt habe, und auch nicht, als es schon so lange gedauert hat, dass sie Schmerzen gehabt haben muss. Gerade die Bereiche an den Rippen und an den Seiten sind empfindlich. Stattdessen hat sie nur die ganze Zeit fröhlich vor sich hingeplappert. Sie hat erzählt, wie sie an die Wohnung gekommen ist, wo sie vorher gewohnt hat und dass sie ihren Ex-Freund Trevor am meisten wegen seiner fantastischen Kochkünste vermisst. Nichts davon hat mich interessiert. Also habe ich mich auf meine Arbeit konzentriert.

Jetzt ist es Zeit, das frische Tattoo einzupacken.

»Fertig?«, fragt Zahra und reckt sich schon wieder übertrieben, um ihren ganzen Rücken in dem bodentiefen Spiegel betrachten zu können, der neben der Tür steht. »Mein Gott, ist das schön geworden.«

»Ist bloß Technik.«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Angel. Das da, das ist Kunst.«

Nachdem sie endlich den Blick von sich selbst losgerissen hat, schaffe ich es, das Tattoo mit der selbstklebenden Folie abzudecken.

»Keine Sonne, kein Chlorwasser, kein Sport«, sage ich mechanisch, aber sie lacht nur.

»Klar, Schatz. Den nächsten Sonnenstrahl gibt’s in diesem Höllenloch ohnehin erst in einem halben Jahr.« Sie zieht den Pullover über, das großflächige Motiv verschwindet. »Soll ich dir dann helfen, deinen Scheiß nach nebenan zu bringen, oder schläfst du heute noch mal hier? Ich meine, du kannst auch bleiben, wenn du willst.«

Ich schüttle den Kopf. »Das gestern war eine Ausnahme.«

»Dass du bei Fremden auf dem Sofa schläfst?«

Alles daran.

Kapitel 4

 

 

Manie ist nur schädlich, wenn du dich von ihr in die falschen Bahnen lenken lässt. Das hat Pitbull Collins immer gesagt. Ich habe nie verstanden, was er damit meinte. Als würde sich dieser Wahnsinn, der in meinem Kopf herrscht, irgendwie lenken lassen. Wenn, dann lenkt er mich.

Seit ich in Aurora bin, drehen sich meine Gedanken um nichts anderes mehr als um den Mann, der mein ganzes bisheriges Leben in eine Hölle verwandelt hat. Um ihn und das Bild dieses Abendessens, das sich so dermaßen tief in meine Netzhaut gebrannt hat, dass ich es ständig vor mir sehe. Ihn, diese strahlende Frau, diesen lachenden jungen Mann.

Mit Macht unterdrücke ich die aufkommende Wut, während ich die Nadel über den fleischigen Oberarm des Mannes vor mir führe. Er gibt ein unterdrücktes Stöhnen von sich. Tut er schon die ganze Zeit. Nicht so wie Zahra, die meine Behandlung an sich hat abprallen lassen, als wäre das nichts. Als könnte sie den Schmerz abkoppeln. Falls sie es kann, beneide ich sie darum. Ich konnte Schmerz bisher immer nur mit noch mehr Schmerz überdecken.

»Wie lange noch?«, fragt der Glatzkopf.

»Dauert.«

»Können wir vielleicht heute nur die Outlines machen?«, keucht er und wirft mir einen Seitenblick zu.

»Es sind vielleicht noch zwei Stunden.«

»Zwei Stunden packe ich nicht mehr.«

Ich erwidere darauf nichts, sondern mache mit den Linien weiter, die zu einer maritimen Szene werden. Vermutlich hat der Kerl mit der See so viel zu tun wie dieses Drecksloch an Wohnung mit einem Zuhause. Ist mir egal, ich bin nicht zum Wohlfühlen hier.

»Hey! Ich hab gesagt, ich brauche eine Pause.«

»Es sind noch ein paar Minuten für die Outlines. Das wird wohl gehen.«

Er sagt nichts mehr, kneift aber theatralisch die Augen zusammen.

Als wir fertig sind, lässt er mich das Tattoo einpacken und zieht seinen Hoodie über.

»Wann machen wir die zweite Sitzung?«, fragt er, während er an seinem Portemonnaie rummacht.

»Wenn ich da bin, bin ich da.«

Er holt einen Fünfzig-Dollar-Schein raus, knüllt ihn übertrieben und drückt ihn mir in die Hand. Es fühlt sich einfach nur erniedrigend an. Alles daran.

Erst als er gegangen ist, fällt mir auf, dass er nicht ein einziges Mal in den Spiegel gesehen hat.

 

 

Ewigkeiten später bin ich noch immer dabei, die Maschine zu desinfizieren. Die Einwegartikel schmeiße ich in den Müll, die kleine Tüte mit dem Tape und der Folie räume ich in meinen Rucksack. Als mein Blick auf den zerknüllten Schein fällt, der einsam und verlassen auf meinem winzigen Esstisch liegt, baut sich in meinem Magen ein ekelhaftes Gefühl auf. Ich gehe in Gedanken den Moment durch, in dem der Mann ihn mir in die Hand gedrückt hat. Das chaotische Durcheinander, das dabei in meinem Körper gewütet hat, lässt sich nur mit Mühe im Zaum halten.

Aus einem Impuls heraus nehme ich den Schein und versuche ihn glattzustreichen. Es gelingt nicht. Ich muss an Moms altes Bügeleisen denken. Daran, wie akribisch sie immer jedes unserer Kleidungsstücke gebügelt hat. Ohne dass ich es will, beginnt die Brandnarbe an meiner Hüfte zu schmerzen. Wie ein Echo aus der Vergangenheit. Ich sehe Mom vor mir, wie sie summend und mit guter Laune vor dem Bügelbrett steht, rieche den Geruch des Bügeleisendampfs und schiebe den Schmerz beiseite, während ich meine Stiefel anziehe und mich auf den Weg zu Zahra mache.

Sie öffnet mir, in einen dicken Strickpulli gehüllt, die Tür und lässt mich ohne große Worte hinein.

»Willst du einen Tee?«, fragt sie und kehrt zur Küchenzeile zurück.

»Ich wollte dir Geld bringen.«

Sie bleibt mit dem Rücken zu mir stehen, ihre langen Locken wallen über den groben Strick. Ruhig und routiniert gießt sie zwei Teebecher voll. »Ja, ich habe den Typen eben im Treppenhaus gesehen.«

Ich streiche den Schein ein letztes Mal glatt, ehe ich ihn auf den Tresen lege. Sie kommt mit den Teebechern an mir vorbei, stellt sie auf den Tisch und greift nach dem Geld. Auf dem Weg zurück zum Herd knüllt sie es ebenso achtlos zusammen wie der Mann vorhin.

Das Knistern des Papiers bereitet mir körperliche Schmerzen.

»Setz dich ruhig. Ist Früchtetee.«

»Ich habe keine Zeit.«

Sie legt den Kopf schräg. »Ach, nein? Was hast du denn so Dringendes vor?«

Ich weiche ihrem Blick aus, schaue über die mit Wandteppichen und Siebzigerjahre-Tourplakaten dekorierten Wände, weiter über das Bett mit der ausgewaschenen Bettwäsche.

»Hab Dinge zu erledigen.«

Ich muss herausfinden, was mit diesem jungen Mann ist, der da bei meinem Vater am Esstisch saß. Mit seinem zweiten Sohn. Was er tut und wann. Wo er sich aufhält und mit wem. Warum er so ein glückliches Leben haben darf, obwohl meins bloß noch ein Scherbenhaufen ist.

»Willst du was mitessen?«

Die Frage trifft mich völlig unvorbereitet. Zahra steht mit verschränkten Armen vor der winzigen Arbeitsfläche der Küche und betrachtet mich. »Wie lang hast du nichts gegessen?«

Ich schaue weg, direkt auf den Berg an Arbeitsmaterialien, der sich auf ihrem Bett türmt. »Darf ich deinen Computer benutzen?«

»Nur, wenn du mit mir isst.«

»Von mir aus.«

Ich brauche diesen Computer als Tor zur Außenwelt. Nachdem ich in der Rochester Lane das Abendessen dieser Familie beobachtet habe, ist mir klar geworden, wie wenig ich über das jetzige Leben meines Vaters weiß.

In Gedanken sehe ich Visionen von ihrem Familienalltag. Davon, wie sie miteinander reden und welche Erinnerungen sie teilen. Ob sie ahnen, dass ein Verräter unter ihnen ist?

»Angel?«

Ich reiße den Blick hoch. Zahra steht mit zwei dampfenden Suppenschalen vor mir. Ich brauche einen Moment, bis ich wieder im Hier und Jetzt bin.

»Darf ich deinen Computer benutzen?«, frage ich erneut.

»Iss auf, dann sehen wir weiter.«

»Ich will jetzt eine Antwort.«

Sie stellt die Schalen zu den Teebechern auf den Tisch. »Und ich möchte, dass du mir nicht verhungerst. Ich bin eine, die sich schnell an Leute gewöhnt, also enttäusch mich besser nicht.«

 

 

Nach dem Essen rückt Zahra tatsächlich ihren uralten Minilaptop raus. Die Tasten sind abgenutzt und die Webseiten brauchen ewig, um zu laden. Aber es macht nichts. Während ich warte, betrachte ich Zahra beim Abwasch. Sie singt und schwingt die Hüften so lasziv nach links und rechts, dass man immer wieder ihre Unterwäsche sehen kann.

»Den Song habe ich neu geschrieben. Kannst ja mal mit zu einer Bandprobe kommen, wenn du willst.«

»Vielleicht.«

Endlich öffnet sich die Suchmaschine.

»Dann kommst du mal ein bisschen raus. Und du kannst Werbung für dich machen. Die Mädels würden sich bestimmt auch was von dir stechen lassen.«

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Laptop zu und tippe den Namen meines Vaters in die Suchleiste. Es gibt haufenweise Treffer von irgendwelchen Jobportalen und von Menschen, die denselben Namen teilen.

»Du würdest die Mädels aus der Band sicher mögen.«

Ich klicke zurück zur Startseite und gebe Polizeistation Aurora in die Suchmaschine ein. Eine billig gestaltete Homepage zeigt Ausschnitte aus der Polizeiarbeit und Schnappschüsse vom letzten Sommerfest. Ich klicke den verlinkten Artikel an und arbeite mich durch die Buchstabenketten. Weiter unten ist eine Fotogalerie, durch die ich ebenfalls scrolle. So lange, bis ich auf einem der Bilder endlich dieses Teufelsgesicht finde, nach dem ich gesucht habe. Auch dieses Mal steht der falsche Name darunter. Wieder ist aus Harrison Keeley ein Harrison McCarthy geworden.

Lügner.

Elender Lügner.

Ich kopiere seinen Namen, Zahra klappert im Hintergrund mit dem Geschirr herum. Als die Suche geladen hat, ist der erste Treffer ein uralter Zeitungsartikel. Aurora trauert um Officer McCarthy. Ich klicke darauf und bekomme Bilder eines Verkehrsunfalls präsentiert. Und das Portrait eines Mannes, den ich noch nie zuvor gesehen habe.

Am Mittwoch, 9pm Ortszeit, ereignete sich auf der Interstate ein tragischer Verkehrsunfall. Das Opfer wurde im Dienst von einem entgegenkommenden Fahrzeug erfasst und verstarb noch an der Unfallstelle.

Weiter unten ist eine Traueranzeige verlinkt.

John McCarthy, geliebter Ehemann, Bruder, Vater, Freund.

Viel zu früh bist du von uns gegangen. Wir lieben dich bis in alle Ewigkeit. Deine Frau Heather, Emma und Trevor.

»Wo bist du denn da gelandet?«, fragt Zahra hinter mir.

Ich knalle den Laptop zu. Frustriert, weil mir das hier absolut gar nichts gebracht hat.

»Der Artikel ist einfach aufgegangen.«

»Ach.«

Ich schiebe den Stuhl zurück, sie seufzt.

»War tragisch damals. Officer McCarthy war hier so was wie ein Lokalheld. Der hat mal eine Kindergartengruppe aus einem Brand gerettet. Seitdem haben ihn alle verehrt.«

»Tja, hat den Tod wohl nicht aufgehalten.

---ENDE DER LESEPROBE---