The Diary - Isabel Ludschoweit - E-Book

The Diary E-Book

Isabel Ludschoweit

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Beschreibung

Zwei Polizisten, Kim und Noah, stoßen bei ihrem Fall auf einen Serienkiller und decken so noch mehr Mordfälle auf. Zudem finden sie bei einer Leiche ein Tagebuch, in das die Opfer zuvor ihre grausamen Morde hineinschreiben mussten. Die Beiden kommen dem Mörder immer näher und müssen früher oder später feststellen, dass dieser mit ihnen spielt und sie nur das finden lässt, was er möchte. Kim und Noah bemerken, dass sie viel mehr mit dem Killer verbindet als die Morde.

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Wir wünschen euch ein schönes Leseerlebnis!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Pressekonferenz zum Nachlesen

Kapitel 7

Hochzeitsplanung

Hallam Avenue 72

Epilog

Danksagung

Über die Autorinnen

Triggerwarnung

Folgende Bücher

Leseprobe

Prolog

Liebes Tagebuch,

Ich hörte Schritte. Die Gleichen wie immer. Er kam zurück. Er kam wieder. Damit hätte ich rechnen müssen, hatte mir aber doch innig gewünscht, jeden Moment aus diesem Alptraum zu erwachen.

Die Tür öffnete sich quietschend und ein leichter Lichtpfahl erhellte das dunkle Zimmer ohne Fenster. Ein Luftzug wehte durch den offenen Türspalt und trug den stechenden Geruch des Alkohols durch die Luft zu mir. Ich biss die Zähne zusammen und hielt eine Welle der Übelkeit zurück. Ein blutiger Schmerz durchzuckte mein Gesicht, als ich meine aufgerissenen, viel zu trockenen Lippen aufeinanderpresste. Ich blinzelte in die Richtung, aus der das Licht kam. Er stellte sich in den Türeingang, knipste die Lampe auf der Kommode neben dem Türrahmen an und ließ mit einem leichten Schulterstoß die Tür zufallen. Der Mann war groß und muskulös, sodass ich trotz der Lampe, die er eingeschaltet hatte, kaum etwas erkennen konnte. Seine Statur warf einen riesigen Schatten, in dem meine knochige Figur vollkommen unterzugehen schien. Am meisten erschütterten mich seine Augen. Sie waren eiskalt und stechendblau und funkelten voller Verachtung und Rachsucht.

„Hast du es dir überlegt?", fragte mich der mit Muskeln übersäte Typ. Ich antwortete nicht. Mein Mund war immer noch staubtrocken. Er holte wie beim letzten Mal den Gürtel von der Kommode.

Ob ich es mir überlegt habe , fragte er mich. Nur wegen dieser Frage hatte er mich überhaupt hier unten eingesperrt. Was konnte ich dafür, dass ich krank war und deswegen diese dämliche Matheklausur nicht mitschreiben konnte? Hätte er mich zum Arzt gelassen, hätte ich ein Attest bekommen und die Klausur nachholen dürfen. Aber selbstverständlich hatte er das nicht getan. Also hatte auf einer leeren Klausur mein Name in der unordentlichen Schrift meiner Mathelehrerin und daneben in roten Lettern: 00 Punkte gestanden. Also eine glatte Sechs. Ich war durchgefallen und das konnte und wollte er nicht akzeptieren.

„Bitte nicht", flehte ich leise mit aufsteigenden Tränen. Es war beinahe schon ein Wimmern.

„Dann antworte mir gefälligst, du kleine Schlampe!", schrie er mir hasserfüllt und wutverzerrt ins Gesicht. Mir kullerte eine Träne über die Wange. Ich versuchte, sie wegzuwischen, doch jede Bewegung tat weh. Meine Knochen waren schwer und meine Muskeln zogen überall. Verächtlich spuckte er mir vor die Füße, holte mit dem Gürtel aus und schlug zu. Verzweifelt schrie ich auf, als das Leder auf meine Haut peitschte. Ich kauerte mich auf dem kalten Kellerboden zusammen und heulte, ohne dass ein Ton meine Lippen verließ. Noch zwei weitere Male verpasste er mir eine, ehe er den Gürtel wegpackte und sich wieder zu mir umdrehte. Obwohl er immer noch nicht den Raum verlassen hatte, machte sich Erleichterung in mir breit.

Wenigstens ist der Gürtel weg , dachte ich, als der Typ schwungvoll und überraschend sein Bein nach hinten warf und zutrat. Meine Hüfte war mittlerweile so taub, dass ich den Tritt, der mich um einige Zentimeter nach hinten beförderte, kaum noch spürte. Und nochmal. Dieses Mal traf er mein Schienbein. Ich versuchte, meinen Schrei zu unterdrücken und scheiterte kläglich.

„Für wen hältst du dich eigentlich? Ich könnte dich jederzeit umbringen, Miststück!" Ich reagierte nicht auf das, was er sagte. Zu oft hatte er mir damit schon gedroht und zu oft diese Drohung beinahe wahr gemacht.

Reglos lag ich zu seinen Füßen und betete still, dass das hier schnell vorbeiging. Viel länger hielt ich das nicht mehr aus. Der Mann packte mich unsanft am Arm und zerrte mich hoch, als wäre ich eine Puppe. Ich wehrte mich nicht und schaute mit meinen glasigen Augen in seine hasserfüllten, skrupellosen, die mich mit noch mehr Angst erfüllten, als ich jemals für möglich gehalten hatte.

„Bitte, bring mich um", winselte ich, ohne es wirklich zu wollen, aber es wäre meine befreiende Erlösung gewesen. So oft hatte ich gegen die Wände und die Tür geschlagen und getreten und niemand hatte mich gehört. Niemand kam mir zur Hilfe. Und niemand hatte mich gerettet.

Seine Mundwinkel zogen sich voller Lust nach oben.

„Wie gerne ich das tun würde, aber das wäre einfach zu human für dich. Du sollst leiden!"

Ich fing an, stumm zu weinen. Der menschliche Schatten ließ mich ohne Umschweife auf den Boden fallen und trat nochmal zu, bevor er sich zu mir herunterkniete, mir seine Faust auf den Wangenknochen schlug und mir mit seinen Händen die Kehle zudrückte. Angsterfüllt und verzweifelt zappelte ich und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Meine hastigen Bewegungen schienen ihn nur wenig zu beeindrucken. Er zog meinen Hals so weit zu sich hoch, bis mein Kopf über dem Boden hing und ließ ihn mit rasender Geschwindigkeit zurückfallen. Und nochmal. Und nochmal. Mir wurde schummrig und Sterne tanzten vor meinen Augen. Ich sah meinen Gegner plötzlich dreimal, verzerrt in meiner Sicht. Mir war schlecht. Trotzdem versuchte ich, mich weiterhin zu befreien. Vergeblich. Ich spürte, wie es unter meinem Kopf erst feucht, dann klebrig wurde und ich in meinem eigenen Blut lag. Ich gestand mir ein, dass ich hier nicht lebendig herauskommen würde. Auch wenn ich mich unwahrscheinlicherweise befreien und ihn ausknocken würde. Ich gab die Hoffnung auf und ließ mein Leben an mir vorbeiziehen. Meine Bewegungen wurden immer langsamer und ungenauer, meine Muskeln erschlafften und alle Farbe wich mir aus den Wangen.

Meine Augen starrten meinen Mörder leer und reglos ins Gesicht.

Kapitel 1

„Das kannst du echt nicht bringen. Das ist sowas von unfair und gemogelt. Ich kann wirklich nicht glauben, wie lange wir noch zusammenarbeiten müssen, bevor ich in die Rente entlassen werde.“

„Tja. Du solltest halt nicht mit mir wetten. Ich möchte ja nicht sagen, dass ich es dir gesagt habe, aber ich habe es dir ja gesagt." Ich verdrehe die Augen und stehe von meinem Schreibtisch auf, um eine neue Tasse Kaffee zu holen. Tucker reicht seine herüber und deutet mir, ihm eine mitzubringen. Ich seufze und mache mich auf den Weg in die Teeküche.

Während ich dem langsam kochenden Wasser zuschaue, kommt mein Chef hereingeschlendert. Seine Augen beginnen zu leuchten.

„Kimberly, meine Liebe.“

„Foster", verbessere ich ihn, wie ich es so oft mache, wenn mein Chef die professionelle Linie nicht einhält.

„Bitte was?", fragt er verwirrt und guckt mich doof an.

„Vergessen Sie es." Der wird es sowieso nie verstehen.

„Wie geht's?", fragt er mich weiter.

Na ja. Selbe Scheiße, anderer Tag, denke ich schnippisch, antworte jedoch nur: „Gut. Gibt es irgendwas bestimmtes, was Sie von mir wollen?" Natürlich gibt es nichts, was er konkret von mir will. Na ja, eigentlich schon, aber das würde er niemals wagen, auszusprechen. Gott sei Dank! Seit unser neuer Chef von einer anderen Polizeidienststelle zu uns versetzt worden war, weil unser alter Vorgesetzter in den Ruhestand gegangen ist, rückt er mir einfach nicht mehr von der Pelle. Immerzu sucht er meine Nähe und scharwenzelt nur so um mich herum, dass es jedes Mal, wenn er mich nur ansieht, total unangenehm ist.

„Ich interessiere mich bloß für das Wohlbefinden meiner Mitarbeiter, vor allem wenn sie so hübsch aussehen wie Sie heute. Haben Sie etwas an ihrem Haar geändert?”

Ekel.

„Nein. Wieso?“, frage ich, denke weiter: Ist das neuerdings Voraussetzung oder in irgendeiner Weise für meine Arbeit relevant?

Er überlegt kurz und sagt mir dann, dass ich bitte zu Mia gehen solle, da sie noch etwas mit mir zu besprechen habe. Der Wasserkocher pfeift und als ich mich wieder zu meinem Chef umdrehen will, ist dieser schon im Begriff den Raum zu verlassen und um die Ecke zu biegen.

„Naa …", zieht Tucker mich auf, als ich ihm seine gefüllte Kaffeetasse reiche. „Ich habe den Chef in die Teeküche gehen sehen. Genau, als du darin verschwunden bist, hat sich seine Bürotür geöffnet und er ist dir wie in Trance gefolgt." Tucker streckt die Arme wie ein Schlafwandler aus und lacht dabei.

Er zieht mehrmals hintereinander aufreizend die Brauen hoch, sodass ich gar keine andere Wahl habe, als ihm einmal ordentlich gegen die Schulter zu boxen, wobei ich froh sein kann, dass er seine Tasse schon abgestellt hat.

„Ich glaube, du spinnst! Ich will nichts von dem. Den Kotzbrocken würde ich nicht mal freiwillig mit der Kneifzange berühren wollen", gestehe ich meinem Partner.

„Kann ich verstehen. Die schmierige Schmalzlocke würde ich auch nicht anfassen wollen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er dich anfassen will." Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Meine Nackenhaare stellen sich auf, mir wird schlecht. Ich kann schon die bittere Galle schmecken.

„Aber zum Glück ist er nicht mehr lange da. Er ist ja nur eine Vertretung", muntert mich Tucker auf.

„Mein Mathelehrer damals war auch nur als „Vertretung“ vorgesehen.“ Ich male Anführungszeichen in die Luft. „Doch dann musste meine eigentliche Lehrerin in ihrer Elternzeit nochmal schwanger werden und ich hatte ihn bis zum Abitur", sage ich trotzig.

„Kopf hoch. Hast du ihn seitdem jemals wiedergesehen?“

„Nein", antworte ich und werde unterbrochen, ehe ich meinen Standpunkt weiter ausführen kann.

„Ja, dann ist doch alles super ausgegangen …“

„Ernsthaft Tucker? Setzt das demnach nicht voraus, dass ich kündige oder mich versetzen lasse?“ Tucker denkt kurz nach.

„Neiiiiin. Na gut. Vielleicht war das nicht das beste Beispiel, aber den werden wir schon wieder los. Vertraue mir. Ich habe da so ein Gefühl.“

„Ein Gefühl? Wirklich?“, sage ich nicht sehr überzeugt.

„Ey. Natürlich. Wann hat dich mein Gefühl jemals getrübt?“, fordert mich Tucker kampfeslustig auf.

„In dem Fall mit dem alten Opa, bei meiner Katze, Brian, im Training, als du was ausprobiert hast, von dem du ebenfalls meintest, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, weil du genau weißt, was du tust. Meine verstauchte Hand wusste nicht, was du da getan hattest, geschweige denn tun wolltest.“

„Das sind alte Geschichten … Aber wieso Brian? Wer ist Brian überhaupt?“

„Der Typ mit dem du mich verkuppeln wolltest. Der aus dem Forensik-Team, der mir die verschiedenen Formen von Leichenwachs nähergebracht hat. Viel zu nah.“

„Oh. Stimmt. Der war cool", lacht er, woraufhin ich ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gebe.

„Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen“, verteidige ich mich gegen seinen strafenden Blick. „Ich kann bestimmt dafür sorgen, dass ihr mal Essen geht, wenn du was über Leichenwachs und so ein Zeugs lernen möchtest.“

„Nein, ist ja gut. Wenn du mir zehn Minuten gibst, denke ich mir was Besseres aus. Ich muss nur kurz googlen, wie man seinen Chef legal, ohne Spuren zu hinterlassen wegbekommt, sodass es niemandem auffällt und ihn niemand vermisst.“

Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Oh man! Aber tu, was du nicht lassen kannst. Ich gehe solange zu Mia. Wenn du was gefunden hast, kannst du mich ja holen.“

An Mias Arbeitsplatz angekommen, lehne ich mich mit meiner Kaffeetasse in der Hand an ihren Schreibtisch, der mit alten Fallakten vollgestellt ist, die alle noch nicht ihren Weg ins Archiv gefunden haben, und frage: „Was gibt's?”

„Hey. Es geht um heute Abend. Abby lässt nochmal fragen, ob du wirklich kommst. Also zum Grillfest. Und ob du eventuell noch jemanden mitbringst?“, fällt Mia ohne Vorlauf mit der Tür ins Haus. Den letzten Teil hat sie als Frage formuliert, dabei kennt sie eigentlich die Antwort.

„Ähm … Ja …", stottere ich, während sie mich mit ihrem erwartenden Blick zerlöchert. „Da Tucker ebenfalls eingeladen ist und mit seiner Frau kommt, werde ich wohl allein auftauchen." Mia schenkt mir einen mitleidigen Blick, fängt aber schnell wieder an zu grinsen.

„Es kommen auch einige alleinstehende Herren", flüstert sie und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich lache auf.

„Gut zu wissen", erwidere ich und gehe kopfschüttelnd zu meinem Platz zurück.

***

Mit zwei riesigen Baguettes unter den Arm geklemmt schaue ich mich nochmal kurz in der Spiegelung meines Autofensters an und rücke meine Kette zurecht, deren blauer Kristall perfekt zu meiner blauen Bluse und meiner schwarzen Hose passt. Es ist merkwürdig, meinen Anhänger heute zu tragen. Normalerweise trage ich den Kristall, der durch seine vielen Ebenen unförmig scheint und doch etwas Vornehmes und Klares ausstrahlt, nur zu besonderen Anlässen, zu denen ich ein Grillfest eher weniger zählen würde. Jedoch hatte ich irgendwie das Verlangen, die Kette zu tragen. Sie ist ein Erbstück meiner Großmutter und passt wirklich gut zu meinem restlichen Outfit. Schon wieder schaue ich an mir herunter und frage mich ein weiteres Mal, ob es wirklich eine gute Idee war, hierher zu kommen, ehe ich mich bereit mache, um bei Mia zu klingeln und mich unter die Gäste zu mischen.

„Hi", begrüßt mich Tucker, der mit seiner Frau am Arm zu mir herübergelaufen kommt. Seine Frau ist Kapitänin und manchmal länger unterwegs, weshalb Tucker mich öfter mal zu Veranstaltungen begleitet, sodass ich es kaum gewohnt bin, irgendwo allein aufzukreuzen, obwohl ich keinen festen Partner habe.

„Hey", antworte ich und hebe kurz meine Hand zum Gruß.

Nachdem ich eine Weile mit Tucker und seiner Frau gesprochen habe, mache ich mich auf die Suche nach Mia und Abby, die Arm in Arm auf ihrer Terrasse neben zwei Ziersträuchern stehen. Abigail hat sie selbst großgezogen und geschnitten, worauf sie jedes Jahr aufs Neue sehr stolz ist. Eine der Pflanzen stellt dieses Jahr ein Eichhörnchen dar, während die andere in Form einer Antilope zur Schau steht. Darauf bedacht, sie nicht versehentlich zu zerstören, weil Abby mit ihnen noch an einem Kunstwettbewerb teilnehmen möchte, stelle ich mich auf die andere Seite der Terrasse, um Mia und ihre Frau zu begrüßen.

„Kim, du bist da“, ruft Abby und kommt mit offenen Armen auf mich zu, um mich zur Begrüßung zu Umarmen.

„Hey“, antworte ich, ehe ich auch Mia in die Arme schließe.

„Ich hatte doch wirklich kurz Angst, dass du nicht auftauchen würdest. Es freut mich wirklich sehr, dass du endlich da bist.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass Kim kommt“, wendet sich Mia an ihre Ehefrau. Ihre blaue Stoffhose und die blau-weiß gestreifte Bluse passen wunderbar zu dem Kleid, das Abigail heute anhat, wobei das wahrscheinlich – wie sonst auch – abgesprochen ist.

„Gut seht ihr beide aus.“

„Danke. Hast du dir schon was zum Essen geholt?“

„Nein, aber ich mache mich gleich mal auf den Weg.“

„Sehr schön. Amüsiere dich gut und denk an die Herren“, steckt Mia mir, als ich gerade loswill, das Buffet zu stürmen. Gekonnt ignoriere ich den letzten Teil, setze meinen Weg weiter fort und hole mir eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank im Wintergarten. Dann setze ich mich auf eine Bank der Bierzeltgarnitur, die in Mias Garten verteilt steht. Ich kehre den Gästen den Rücken zu und setze mich an den Tisch, ziehe meine Jeans zurecht und starre auf meine Bierflasche. Ich bin keine Person, die gerne mit vielen Menschen zusammen ist, vor allem wenn ich diese nicht kenne. Ich fühle mich immer ein bisschen fehl am Platz. Wenn ich doch auch nur jemanden hätte, der mit mir zu Partys und Veranstaltungen kommen würde. Und wenn es nur ein guter Freund wäre oder mein … Den Gedanken schiebe ich schnell beiseite und versuche ihn, aus meinem Unterbewusstsein zu eliminieren.

„Ist hier noch frei?", reißt mich jemand aus meinen Gedanken. Es ist ein breitschultriger, muskulöser Mann, der lässig gekleidet ist und trotzdem etwas Autoritäres und Elegantes an sich hat. Seine helle Haut ist sonnengebräunt, sein Gesicht weich und kantig zugleich und er hat kurze hellbraune Haare, die seine blauen Augen betonen. Sie sind so intensiv, dass mir beinahe der Atem wegbleibt.

„Und?“

„Und?“, wiederhole ich ihn baff.

„Ist hier jetzt noch frei oder nicht?", fragt er mich, wobei sein rechter Mundwinkel verdächtig zuckt.

„Oh, Entschuldigung. Natürlich ist hier noch frei. Setzen Sie sich ruhig.“

„Danke. Wir können gerne "du" sagen. Ich bin Noah.“

„Hallo. Ich bin Kim. Tut mir leid wegen eben", entschuldige ich mich erneut.

„Alles gut. Jetzt sitze ich doch.“ Die darauffolgende unangenehme Stille wird von Mia unterbrochen, die plötzlich neben mir am Tisch auftaucht.

„Gut, ihr habt euch schon mit Getränken versorgt. Wusstest du eigentlich, Kim, dass Noah bald auf unser Revier kommt?"

Ich schüttele leicht den Kopf.

Als sie sich umdreht, um wieder zu gehen, neigt sie sich zu mir herunter und flüstert mir noch ins Ohr: „Kleine Starthilfe. Viel Spaß.“

„Sie sind also auch Polizist? Du. Ich meine, du bist also auch Polizist?“ Ein Grinsen kann er sich nicht verkneifen, aber ich nehme es ihm nicht übel. Dafür sieht es viel zu gut an ihm aus.

„Ja. Daraus schließe ich mal, dass du auch Polizistin bist." Ich ziehe eine Augenbraue hoch und lache leise.

„Was ist denn so lustig?"

„Nichts", antworte ich schnell. „Es ist nur …“

„Nur?", fragt Noah sichtlich belustigt nach.

„Ich weiß auch nicht so recht …“

Bevor ich mich in eine peinliche Erklärung stürzen muss, kommt ein kleines Kind, das ich auf ungefähr sechs, vielleicht sieben Jahre schätze, weinend angerannt.

„Papa!" Es schmeißt sich Noah in die Arme, der ihn sofort umschließt, um den kleinen Jungen zu trösten.

„Was ist denn passiert?“, fragt er einfühlend und streicht dem Jungen mit seiner Hand über die Haare. Seine Finger sind groß und ohne … ohne Ring – was nichts zu sagen hat.

Die Szene, die sich vor mir auftut, ist rührend und es sticht mir im Herzen, das mit anzusehen. In meinem Leben gab es auch mal einen Menschen, der gut mit anderen umgehen konnte und immer für jedes Problem ein offenes Ohr, für jede Träne eine Schulter und für jede Idee ein Plan hatte. Es war natürlich was anderes als mit Noah. Trotzdem zieht sich mein Herz zusammen. Die schmerzlichen Erinnerungen drängen sich in mein Bewusstsein und ich kämpfe damit, meine Tränen zurückzuhalten.

Nach zwei langen Schluchzern antwortet der Junge schließlich: „Elena hat gesagt, dass ich nervig bin und mit anderen spielen soll. Am liebsten ganz weit weg. Da, wo der Pfeffer wächst. Und … Und dann hat sie mich weggeschubst, obwohl ich gar nichts gemacht habe.“ Noah löst sich von seinem Sohn.

„Ich gebe zu, es war falsch von Elena, dich zu schubsen, aber wie oft habe ich dir schon gesagt, dass deine Schwester ihre Privatsphäre braucht und nicht immer mit dir zusammenhängen möchte?" Der kleine Junge fängt an, an seinen Fingern zu zählen. „Das brauchst du jetzt nicht nachzählen, Nicky. Ich habe es dir oft gesagt, oder?"

„Ja", antwortet Nicky bedröppelt.

„Dann spiel doch jetzt einfach mit Hanna und Sarah", schlägt Noah dem Kleinen vor.

„Iiiih! Das sind doch Mädchen!", sagt der kleine Junge entgeistert, sodass ich mich daran hindern muss, loszuprusten.

„Elena ist doch auch ein Mädchen”, kontert Noah daraufhin.

„Hast du den beiden denn schon dein neues Frisbee gezeigt?"

„Nein", ruft er. Seine Augen leuchten auf und er läuft gleich los. Erleichtert atmet Noah auf.

Doch Nicky kommt zurück und fragt seinen Papa: „Wo wächst eigentlich der Pfeffer?“ Ich lache. Der Kleine schaut mich verdattert an, bevor Noah wieder seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch er scheint sehr amüsiert über diese Frage.

„Das erzähle ich dir wann anders, mein Schatz. Jetzt geh erstmal spielen.“ Nicky hopst davon und Noah trinkt erstmals einen großen Schluck von seinem Bier.

„Sie sind also Polizist?”, frage ich schüchtern, um die Stimmung ein bisschen zu lockern.

„Das steht zumindest in meinem Lebenslauf und auf meinem Dienstausweis”, scherzt der gutaussehende Mann, der mir gegenübersitzt.

„Wie sind Sie dazu gekommen? Du. Ich meine natürlich: Wie bist du dazu gekommen?”, verbessere ich mich.

„Ich habe gehofft, etwas gegen die Ungerechtigkeit in der Welt tun zu können. Ich weiß, das klingt jetzt etwas kitschig, aber es ist wahr. Ich musste mir früher oft ansehen, wie andere Kinder schlecht behandelt wurden. Und dann habe ich mir geschworen, dass ich solche Menschen bestrafen werde, wenn ich groß bin. Bei dir?” Einen Moment bin ich perplex wegen dieser Frage, was völlig sinnfrei ist, da ich kurz zuvor meinen Gegenüber das Gleiche gefragt habe. Jedoch wurde ich das bisher nur zweimal gefragt und hatte beide Male Zeit, mich darauf vorzubereiten. Ein Gedankenkarussell in meinem Kopf beginnt zu drehen und ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Sage ich die Wahrheit oder meine einstudierte Antwort, die nah genug an der Wahrheit liegt, sodass keine weiteren Fragen in diese Richtung gestellt werden.

„Ich möchte Menschen helfen. Außerdem darf ich eine Waffe tragen”, lache ich und Noah erwidert diese Geste.

Nach ein paar Stunden, in denen ich mich wirklich gut mit Noah unterhalten, meinen Nudelsalat und Maiskolben gefuttert und einfach die warmen Strahlen der Sonne genossen habe, verabschiede ich mich. Es ist schon spät und ich muss morgen früh arbeiten. Noah steckt mir eine Visitenkarte mit seiner Nummer zu und ich verlasse die Party. Während des gesamten Rückwegs lasse ich die Ereignisse des heutigen Abends Revue passieren. Ich merke, wie sich das Abbild von Noah mit jedem weiteren Gedanken stärker in meinen Kopf nagt und Gefühle auslöst, die ich schon lange nicht mehr so intensiv gespürt habe.

***

„Ich will aber nicht tanken. Ich muss immer tanken."

„Das ist ja fast wie im Kindergarten! Ich habe das Essen geholt, du wirst tanken", entgegne ich.

Mal wieder stehen wir in unserer Mittagspause an der Tankstelle, nachdem wir uns was zu essen geholt haben und streiten, wer heute tanken muss. Mit der braunen Tüte unserer liebsten Fast-Food-Kette auf dem Schoß und dem Hundeblick im Gesicht, sieht Tucker mich in der Hoffnung an, dass ich nachgeben würde. Jedoch macht ein dämlicher Kulleraugenblick nichts mit mir – und da kann er noch so niedlich gucken. Ich bin gegen jegliche Form der zerstörenden, viel zu niedlichen Blicke abgehärtet, die einen jeden Zorn vergessen lassen. Mein Bruder hatte den Blick noch besser drauf als Tucker jetzt, wobei das auch an dem recht großen Altersunterschied liegen könnte. Bei dem Gedanken an meinen kleinen Bruder, der mit seinen großen, braunen Kulleraugen und seiner kleinen, nach vorn geschoben Schmolllippe vor mir steht und darum bettelt, dass ich ihm etwas von meinen Süßigkeiten abgebe, zieht sich mein Herz krampfhaft zusammen. Seine braunen, winzigen Locken, die voller Lebensfreude in jede erdenkliche Richtung springen, haben es einem auch nicht leichter gemacht „Nein“ zu sagen. Wobei ich, wenn ich zurückdenke, ihm wahrscheinlich alles erlauben würde und sogar meine Süßigkeiten mit ihm geteilt hätte …

„Okay. Wenn wir uns nicht einigen können, spielen wir eben Schnick-Schnack-Schnuck und entscheiden so“, unterbricht Tucker meinen Schwall an Erinnerung, den er gar nicht bemerkt zu haben scheint.

„Sehr erwachsen. Aber gut", gehe ich auf den Vorschlag ein. Wir heben unsere rechte Faust und machen uns bereit.

„Warte! Eine Frage noch", unterbreche ich. „Einmal oder bis drei?"

„Einmal. Wir sind schließlich erwachsen."

Erneut machen wir uns bereit, schauen uns tief in die Augen und legen los: „Schnick-Schnack-Schnuck." Tucker ballt seine Hand zur Faust. So wie ich. Also nochmal.

„Schnick-Schnack-Schnuck!" Diesmal hält Tucker seine Hand gerade. Er lacht schadenfroh. „Stein verliert gegen Papier." Frustriert lasse ich meine Faust sinken. „Oh … Arme Kim. Dafür bezahle ich." Ich laufe um unser Auto herum und fange an zu tanken, während mein Partner das Geld aus dem Auto holt und mir zusieht.

„Wo sehe ich denn, an welcher Säule wir sind?", fragt er und sucht die Zahl. Ich verdrehe die Augen.

„Säule drei", antworte ich und zeige um die Ecke auf den Balken. Er läuft los und ich möchte gerade wieder auf der Fahrerseite einsteigen, als ich plötzlich Schüsse höre. Ich ducke mich und versuche, die Herkunft der Schüsse zu lokalisieren. Mein Blick streift das Tankstelleninnere. Es knallt, als eine Kugel auf Metall trifft. Abrupt werde ich in die Vergangenheit befördert:

Er steht mittendrin, hat keine Ahnung, was geschieht oder wie er sich schützen kann. Von einem Polizisten festgehalten, trete ich wild um mich, um ihn zu retten. Doch es kommt bloß ein weiterer Beamter, um mich festzuhalten. Dieses spießige Gesicht immer noch vor meinem inneren Auge, verfluchte ich sein kantiges Gesicht mit der viel zu großen Nase im Verhältnis zu seinen kleinen grünen Augen, die mich noch heute manchmal in meinen Träumen verfolgen.

„Colin“, schreie ich mit ganzer Kraft, doch er hört mich nicht und ich werde nicht hineingelassen. Die Scheibe, durch die ich ihn vorhin noch sehen konnte, wird von einer blutigen Welle bedeckt und mein Schrei stößt durch Mark und Bein. „Colin“, keife ich weiter, obwohl ich genau weiß, dass er es nicht hört und ab jetzt auch niemals wieder hören wird.

„Tucker!“, rufe ich mir ins Gedächtnis und danke Gott, dass ich mich diesmal frei bewegen darf. Immer noch geduckt, öffne ich die Fahrertür und kralle mir das Funkgerät.

Kapitel 2

Ich stehe aus meinem Bett auf und werfe einen kurzen Blick in den Spiegel. Doch das hätte ich lieber nicht tun sollen. Das, was ich sehe, gefällt mir gar nicht: Meine Haare sind verstrubbelt und stehen teilweise ab, an meinem Mund klebt getrockneter Speichel. Ich gehe ins Bad, kämme mir die Haare und mache mir einen provisorischen Pferdeschwanz. Ich wasche mir mein Gesicht, putze mir die Zähne, als ich ein gedämpftes Rumpeln aus der Küche höre. Ich schleiche durch den Flur zur Küche, hole mit dem Baseballschläger, den ich mir schnell aus meinem Kleiderschrank geschnappt habe, aus und senke ihn langsam wieder. Kein Einbrecher weit und breit zu sehen. Dafür eine kleine, chaotische, getigerte Katze, die auf der Suche nach Essen eine Spur der Verwüstung hinterlassen hat.

„Mimi!", rufe ich wütend. Die Katze zuckt zusammen und kommt mit ihren viel zu niedlichen grünen Augen auf mich zu und maunzt dabei. Na super! Wenigstens gibt es auf der Arbeit Kaffee, ohne dass ich vorher aufräumen muss. Ich lasse das Chaos so, wie es ist und mache mich weiter fertig, um so schnell wie möglich zur Arbeit an meinen aufgeräumten Schreibtisch zu kommen.

Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, neun Wochen, um genau zu sein, gehe ich mit dem Wissen zur Arbeit, dass Tucker wieder gesund wird. Nachdem er beim Tankstellenüberfall angeschossen wurde, lag er erstmal ein paar Wochen im Koma, musste drei Mal operiert werden und keine Ahnung, was noch alles. Aber nun ist er wach, über den Berg und kann bald mit der Physiotherapie anfangen.

Guten Mutes öffne ich die Eingangstür, laufe die Treppe zu meiner Abteilung hoch und begebe mich zu meinem Schreibtisch.

Ein lilafarbener Briefumschlag liegt neben einem kleinen blauen Kästchen auf meinem Stapel mit den unfertigen Berichten. Verwundert nehme ich ihn hoch, inspiziere die Verpackung und öffne sie vorsichtig.

„Guten Morgen“, grüßt Noah, der seit dem Tankstellenvorfall nun offiziell mit mir arbeitet und stellt mit einem breiten Lächeln seine Tasche neben seinem Stuhl ab.

Vor Schreck lasse ich den Brief fallen und antworte nur mit einem: „Morgen." Er stellt seinen Thermobecher auf den Schreibtisch, kommt zu mir herum und begutachtet, was ich da tue. Ich öffne den Brief vollständig und ziehe einen weißen Zettel mit ordentlicher Handschrift heraus.

„Warum legst du mir einen Brief hier hin?“, frage ich Noah, ohne ihn zu lesen.

„So sehr ich mich darüber ärgere, dass dieser Brief nicht von mir ist, kann ich dir nicht sagen, wer ihn dir geschrieben hat.“ „Aber das ist doch deine Handschrift. Zumindest die Handschrift von deinen Berichten. Und wenn du deine Berichte selbst schreibst, wovon ich stark ausgehe, dann muss es deine Handschrift sein“, meine ich und halte Noah den Brief hin.

„Ich habe ihn dir trotzdem nicht geschrieben. Vielleicht hilft es, wenn du ihn dir durchlesen würdest?“ Ich atme einmal tief durch, was genervter klingt, als ich es beabsichtige.

„In der Thomas Jefferson High School ist eine Leiche im Biologieraum 2. Einen Beweis habe ich auch. Öffnen Sie die Schachtel“, steht in verschnörkelten Lettern auf dem Brief. Ohne etwas zu erwidern, lege ich den Brief ab, den Noah sich gleich schnappt, um ihn ebenfalls zu lesen. Ich öffne das Kästchen. Meine Augen werden groß und mein Mund verzieht sich angewidert, als mir zwei braune Augen aus dem Kästchen entgegenstarren.

***

„Gibt es keinen anderen Weg?", mault der Direktor.

„Nein, der Raum ist ein potenzieller Tatort. Die Schüler müssen raus", erkläre ich.

„Na gut. Aber Sie warten vor dem Raum, bis alle Schüler draußen sind. Und kein Wort zu ihnen. Sie müssen ja nicht unnötig beunruhigt werden."

„Geht klar. Dann los." Noah, ich und ein Dutzend anderer Menschen folgen dem Direktor die Treppe hoch zu den Naturwissenschaftsräumen. Die Schule, die ein paar hundert Kilometer von meiner Schule aus Kindheitszeiten liegt, erinnert mich doch sehr an meine Jugend. Der Vertretungsplan, der unten im Foyer hängt und wahrscheinlich meistens nicht ordentlich aktualisiert ist, das schwarze Brett daneben, das immer so voll ist, dass man das eigentliche Brett nicht mehr sieht - was aber nicht schlimm ist, weil die Informationen, darauf sowieso nicht gelesen werden. Die Treppe schreit förmlich danach, eine Schultreppe zu sein. Auch der Geruch ist typisch Schule – schwitzende Teenager, die statt Wasser und Seife schlechtes Parfüm benutzen und dann auch noch in einer Menge … eklig. Der Direktor klopft, geht rein und ein paar Minuten später strömt eine Schar an Teenagern aus dem Raum. Verwundert starren sie uns an, werden aber von hinten durch den Direktor daran erinnert, auf den Pausenhof zu gehen. Der Leichenspürhund, den wir geordert haben, sitzt ganz brav neben seinem Hundeführer und wartet auf sein Kommando loszulegen.

„Papa? Was ist hier los?", fragt Elena, Noahs ältere Tochter, die ebenfalls aus dem Raum herauskommt und sich, anders als die anderen Kids, auf uns zu bewegt.

„Das kann ich dir im Moment noch nicht sagen. Geh bitte zu deinen Klassenkameraden auf den Pausenhof.“ Widerwillig folgt sie den anderen, enttäuscht darüber, einen Vater an der Quelle zu haben, der einem nichts sagt.

Kaum sind die ganzen Kids draußen, gibt Weber, der Hundeführer, seinem Vierbeiner das Kommando loszulegen. Gespannt schaut das gesamte Team zu, wie der Hund zunächst mit der Nase voran den Raum erkundet, ehe er anschlägt und wir wie verhext dem Hundegebell folgen. Es führt uns in einen anderen Raum, dessen Tür offensteht und mit dem Biologieraum verbunden ist. „Sammlung", entnehme ich der Aufschrift der Tür und lande vor einem Skelett, als der Hund bremst und sich hinlegt, was sein Zeichen ist für: „Hier ist etwas". Ich schaue mich um. Weber deutet auf das Knochengerüst: „Ich nehme an, da habt ihr eure Leiche.“ Er tätschelt den Hundekopf und überlässt die restliche Arbeit der Spurensicherung und Kriminaltechnik, während ich noch versuche, die neuen Informationen zu verarbeiten.

Ein Schulskelett? Wirklich?

„Ein paar Sorgen mache ich mir ja schon, dass meine Tochter heute zwei Schulstunden mit einer Leiche verbracht hat", raunt mir Noah zu, als wir den Raum wieder verlassen.

„Ich weiß auch nicht, was bei der heutigen Generation abgeht. Zu meinen Zeiten waren Schulskelette noch aus Plastik", scherze ich und erreiche ein kleines Lächeln bei meinem Partner.

Noch fühlt es sich ein wenig merkwürdig an, Noah, den ich erst seit ein paar Wochen kenne, meinen Partner zu nennen. Seit ich bei der Polizei angefangen habe, sind Tucker und ich ein eingespieltes Team, das sich gegenseitig den Rücken freihält und immer offen und ehrlich zueinander ist. Aber da Tucker nicht einsatzfähig ist, wurde Noah mir als Partner zugewiesen.

Ich vermisse es ein wenig, mich an der Tankstelle zu streiten, „Wer tankt“ und das ewige Schnick-Schnack-Schnuck spielen. Aber Noah hat auch seine Vorteile: Sein süßes Lächeln, seine Art und nicht zu vergessen seine stechenden Augen. Verdammt! Ich schweife schon wieder ab.

„Weißt du schon, wie die Leiche hierherkam?", fragt Noah.

„Nein. Es ist bisher niemandem aufgefallen. Es ist ja nichts Ungewöhnliches an einem Skelett im Biologieraum. Und Überwachungskameras besitzt die Schule nicht. Laut den Leichenmenschen da vorne“, ich zeige auf die Forensiker, „handelt es sich eindeutig um menschliche Überreste. Der Täter, der die Leiche hier abgestellt hat, hat sich sogar die Mühe gemacht, eine Seriennummer in die Knochen zu ritzen. Dadurch sieht das Skelett äußerlich einem unechten zum Verwechseln ähnlich."

„Bedeutet also, dass wir auf die Untersuchungen warten müssen, um herauszubekommen, wer unser Schulskelett ist."

„Ja. Aber so schwer wird das nicht. Unser Skelett hat eine künstliche Hüfte. Hat zumindest der eine Forensiker gesagt", fasse ich meine Unterhaltung mit dem Forensik-Team zusammen.

***

Ich komme mit den Ergebnissen der Rechtsmedizin zu meinem Arbeitsplatz und lasse mich resigniert auf meinen Stuhl fallen. Nicht nur, dass der Rechtsmediziner mal wieder überaus anstrengend war, er hat es auch nicht gerade einfacher gemacht. Josh Wilson, der sozial komplett inkompetent zu sein scheint, macht jeden Besuch in der gruftigen Abteilung zur Hölle auf Erden – im wahrsten Sinne des Wortes. Er belässt es nicht dabei, allen seinen Gästen die Leichen ganz genau zu zeigen und voller Euphorie, die in diesem Ausmaß wahrscheinlich schon gar nicht mehr gesund ist, zu erläutern, was er herausgefunden hat. Nein, ab und zu kommt es auch vor, dass dem schlaksigen Mediziner mittleren Alters seine kirschrote Brille in ein Opfer fällt, die er dann mit wenig Geschick herausfischt und sie wieder aufzieht. Ich bin nicht oft im Keller und musste dieses Phänomen doch schon einige Male beobachten.

Noah schaut von seinen Akten auf: „Neuigkeiten?" Ich nicke. „Ja. Unser Schulskelett ist ein junges Mädchen, Janine Mann, 22 Jahre alt. Sie konnte anhand ihrer Zähne identifiziert werden."

„Ist doch gut. Jetzt sind wir einen Schritt weiter."

„Das Komische an der Sache ist das Hüftgelenk. Es gehört ihr nicht."

„Wie? Es gehört ihr nicht?", fragt Noah verwirrt.

„Die Rechtsmedizin hat die Seriennummer überprüft. Laut der Nummer gehört das Hüftgelenk einem Harold Finke, 49 Jahre alt."

„Okay. Das ist wirklich merkwürdig", gibt Noah zu. „Dann lass uns diesem Finke mal einen Besuch abstatten", schlägt er vor. Ich seufze.

„In einer halben Stunde kommt der Vater unseres Schulskeletts.“

„Das kriegen wir schon hin. Wir führen die Befragung des Vaters durch und folgen dann der Spur mit dem Hüftgelenk."

Später verlassen Noah und ich den Befragungsraum. Ich lehne mich deprimiert gegen die weiße Wand im Flur. Warum ist es nur so schwer, Familienangehörigen, Eltern, nahestehenden Menschen zu sagen, dass eine geliebte Person nicht nur tot ist, sondern ermordet wurde. Solche Momente sind mit Abstand die schlimmsten in diesem Job. Die verständnislosen Augen, die einen anschauen. Die Frage: „Warum?“, die allen ins Gesicht geschrieben steht. Warum genau diese Person? Die Tränen, die nicht zurückgehalten werden können und gegen die auch kein Taschentuch hilft. Einfach schrecklich!

Das Gespräch mit dem Vater hat nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Der Vater hat gesagt, dass Janine Kampfsport betrieben hätte und das sogar ziemlich gut. Allerdings steht in dem Bericht der Rechtsmedizin, dass keine Abwehrverletzungen an den Knochen festgestellt werden konnten und blaue Flecken und Kratzspuren können nur schlecht anhand der Knochen nachgewiesen werden. Wurden ihr vielleicht Drogen verabreicht?

„Das führt doch alles zu nichts", sage ich enttäuscht darüber, dass wir nichts herausgefunden haben, was uns wirklich weiterbringt. „Lass uns erstmal zu der Adresse von dem Typen ohne Hüftgelenk fahren. Vielleicht erfahren wir dort etwas Neues", meint mein Partner und wirft mir meine Jacke zu. Wir steigen ins Auto und fahren los.

Bei der angegebenen Adresse angekommen, klingeln wir und warten, dass jemand öffnet. Doch umsonst. 10 Minuten später laufen Noah und ich um das Haus herum und bemerken, dass die Tür offensteht. Ich greife nach meiner Waffe und gehe vor. Noah hinter mir gibt mir Rückendeckung. Vorsichtig steige ich durch die Terrassentür und schiebe den Vorhang langsam beiseite.

Der Gestank, der den Raum erfüllt, fliegt uns ins Gesicht und ich würge.

„Ich glaube, die Waffe kannst du wegstecken“, sage ich zu Noah und zeige auf das, was ich freundlicherweise zu Gesicht bekommen habe.

***

Liebes Tagebuch,

ich lief und lief. Wusste nicht wohin. Ich wurde langsamer, bis ich schließlich zum Stehen kam. Zögerlich blickte ich um mich und was ich sah, verblüffte mich. Die Frage: „Wo bin ich eigentlich?" stand mir ins Gesicht geschrieben. Das Einzige, was ich sah, waren Bäume. Es sind ganz verschiedene: Große, kleine, dicke, dünne, alte, junge. Die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das dichte Blätterdach bahnten, betonten die wunderschönen Wildblumen, die am Fuße der Bäume wuchsen. Es war ein unglaublicher Anblick. Doch so schnell, wie ich mich in diesem Anblick verlor, so schnell fand ich mich auch wieder und erinnerte mich, wie ich überhaupt dahin gekommen war.

„Kannst du denn eigentlich irgendwas?", hatte er gefragt. „Schon wieder hast du Mist gebaut! Du hättest den Ball treffen müssen. Treffen! Ist das denn so viel verlangt?“ Er hatte mich zur Sau gemacht, obwohl mein Baseballteam gewonnen hatte. Ja, ich habe verfehlt. Na und? Ich spiele in keiner Nationalmannschaft. Ich mache das nur zum Spaß! Mit jedem weiteren Gedanken änderten sich meine eben noch sanften Gesichtszügen zu einer harten Maske. Ich begann wieder zu laufen. Schneller und schneller. Die Dornen der Büsche, an denen ich vorbei preschte, kratzten mir die Arme und die Beine auf. Auf dem Weg aus dem Wald zu gelangen, spürte ich nicht, wie mir das Blut die Arme herunterlief. Erschöpft und völlig verschwitzt schlug ich die Äste, die mir vor meinem Gesicht hangen, beiseite und schmiss mich auf den Boden, als ich Schüsse hörte. Einen, zwei, drei. Ein Hund bellte und ich traute mich nicht mal mehr, einen Finger zu krümmen, geschweige denn zu atmen. Jetzt hat er mich! Nachdem es eine Weile still war, erhob ich mich, rannte weiter, bis ich an einer Schlucht ankam. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, als ich zwei Hände an meinem Rücken spürte, welche mir einen kleinen Stoß gaben.

Ich fiel.

Kapitel 3

Frische Luft! Endlich. Der bestialische Geruch, der sich drinnen im ganzen Haus breit gemacht hatte, hat draußen genug Platz, sodass man mit genug Abstand zum Haus den Gestank nicht mehr ganz so extrem wahrnimmt. Ich kann nur hoffen, dass ich diese Bilder jemals wieder aus meinen Gedanken kriege. Ein weiteres Opfer, das eine Identifizierung nahezu unmöglich machen würde. Durch das Hüftgelenk hat die Rechtsmedizin jedoch kaum Mühe, die Identität zu bestätigen.

Der Fall hat gerade erst angefangen und ich weiß schon jetzt nicht mehr weiter. Es ist alles so verwirrend. Kein Wunder, dass Janine das fremde Hüftgelenk von Harold Finke hatte, unser Typ hier braucht das auf jeden Fall nicht mehr.