The Love-Letter - Isabel Ludschoweit - E-Book

The Love-Letter E-Book

Isabel Ludschoweit

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Beschreibung

"Das hier ist keine simple Drohung oder ein Tagebucheintrag. Das hier ist ein verdammter Liebesbrief!" Das Polizistenduo, Kim und Noah, atmet auf, als sie Michael endlich das Handwerk gelegt haben. Die Familien der Opfer würden keinen Prozess bekommen, denn Michael starb in einem Feuer, als die zuständigen Ermittler ihn zur Rede stellen wollten. Michael Peters ist nämlich nicht nur ein gesuchter Serienkiller, sondern auch der Zwillingsbruder des Polizeibeamten, Noah Jordan. Sein eigentlicher Plan war es, Noah alles zu nehmen, um ihn so für seine schwierige Vergangenheit büßen zu lassen. Doch endlich ist der Horror vorbei. Das denken die Polizisten nach Michaels Tod zumindest... Es dauert nämlich nicht lange bis neue Leichen auftauchen und das Muster ist so perfide, dass es sich eigentlich nur um Michael handeln könnte. Hat er das Feuer doch überlebt? An den Tatorten tauchen Liebesbriefe an die Hauptermittlerin, Kim Foster, auf. Werden die grausamen Morde etwa ihr gewidmet?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Prolog

MICHAEL:

Der Mann liegt schwer atmend auf dem Boden des Gewölbes, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Rostige Metallstangen durchbohren sein Fleisch an Händen und Füßen und verhindern, dass er sich aus der Position rühren kann, geschweige denn sich unter den furchtbaren Schmerzen überhaupt rühren will. Er wimmert und winselt wie ein Fuchs in einer Bärenfalle.

Den Mund kann er nicht zum Schreien aufreißen, da ansonsten die dutzend Nägel in seinen Rachen fallen und seine Kehle von innen aufschlitzen würden. Ein Fuchs hätte sich in dieser Situation das eigene Bein abgebissen, ehe er in der Falle krepiert, doch diese Option ist damit hinfällig. Der Mann dreht vorsichtig seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück, doch das Gewölbe bleibt von allen Seiten gleich – steinern, dunkel, kalt. So kalt, dass der unregelmäßig ausgestoßene Atem des Mannes weiße Wölkchen in der Luft formt.

Der einzige Gegenstand, den die Steinmauern beherbergen, ist der kleine silberne Wagen zu seinen Füßen, der an einen OP-Tisch erinnert. Er kann nicht erkennen, was sich auf ihm befindet, denn ich versperre ihm die Sicht – die einzige andere Personhier unten. Er hat aber eine vage Vorahnung, was auf ihn zukommen wird. Man sollte meinen, in dem Moment, in dem ein Mensch weiß, dass er bald sterben wird, würde er von Panik erfasst werden und alles daransetzen, um seinem Schicksal zu entfliehen. Doch der Mann am Boden ist in eine Art Schockstarre gefallen, bewegt sich, bis auf das stoßweise Heben und Senken seines Brustkorbs, nichtmehr. Das macht es für mich natürlich umso einfacher, aber leider auch langweiliger.

Ich hantiere in diesem Moment an meinen schönen Werkzeugen auf dem Wagen und das helle klirrende Geräusch, wenn Metall und Metall aufeinanderschlagen, echot in dem Gewölbe. Nach geraumer Zeit des Wartens drehe ich mich endlich zu meinem Fuchs in der Falle um. Das Aufblitzen des Skalpells in meiner Hand, wie man es aus dem Biologieunterricht kennt, erscheint in dieser Szenerie weitaus tückischer.

Mit quälend langsamen Schritten gehe ich auf mein Opfer zu, dessen aussichtslose Lage mich mit Genuss erfüllt und knie mich über seinen nun stark bebenden Brustkorb. Scheinbar blitzt der Überlebensinstinkt des Kerls doch noch ein letztes Mal auf.

„Danke, dass du mir hierbei geholfen hast“, wispere ich mit verführerisch kühler Stimme und ziehe einen Brief aus meiner Kitteltasche. Ich bin ihm tatsächlichdankbar. Der Mann am Boden erkennt das Schreiben wieder, kennt jedes Wort darin. Ich stecke den Brief wieder weg, ehe ich langsam das Hemd des Mannes aufknöpfe und das Skalpell auf seinen nackten Körper direkt über der Stelle seines Herzens aufsetze. Bei leichter Ausübung von Druck reißt seine Haut auf und Blut sickert aus der Wunde.

„Nur noch einen letzten Gefallen“, murmle ich wie hypnotisiert vom Anblick der roten Flüssigkeit, dann drücke ich die Klinge tiefer in das weiche Fleisch. Ich arbeite sauber, mit zügiger Präzision, was nicht einfach ist, da mein Opfer nun doch angefangen hat, sich zu winden und zu schreien. Allerdings habe ich ja vorgesorgt und die Bolzen und Nägel erledigen den Rest. Der Mann zerfleischt sich wortwörtlich selbst, noch ehe ich sein Herz erreicht habe. Fast zu schade.

Nachdem die Arbeit getan ist, packe ich meine Gerätschaften wieder vom Wagen ein und lasse den toten Mann zurück. Die Nacht ist noch jung, doch ich muss mich beeilen, schließlich habe ich noch ein weiteres Rendezvous.

Die Frau wehrt sich um einiges mehr und krümmt sich unter den Schmerzen der Eisenstange, welche sich in ihrem Bauch bohrt. Ich habe leider nur noch eine übrig gehabt, nachdem ich für das letzte Opfer vier benötigt habe. Wer hätte damit rechnen können,dass der Mann anfangs so bewegungsunfähig und passiv daliegen würde; da hätten auch weniger gereicht und ich hätte mir noch welche übrig gehabt. Nun ja, denke ich mir, es wird ihr im Endeffekt auch nicht helfen.

Das Loch in ihrem Rumpf wird durch ihre heftigen Bewegungen nur größer werden.

Den neuen Brief fertig versiegelt und das Skalpell in der Hand, mache ich mich erneut ans Werk.

An der scharfen Klinge klebt das eingetrocknete Blut des Mannes von zuvor. Später werde ich sie reinigen, doch jetzt lege ich keinen Wert auf Desinfektion. Ich beuge mich über das Opfer, ziehe ihr das Shirt bis über die Brust und öffne ihren BH. Die Frau wirft den Kopf in den Nacken und versucht mich abzuschütteln, doch so leicht mache ich es ihr nicht. Mit der freien Hand drücke ich sie kräftig auf den Boden zurück. Wahrscheinlich wird sie einige blaue Flecken davontragen, doch nun hält sie endlich still. Für einen kurzen Moment sehe ich meinem Opfer starr in die Augen. Dann weiten sich ihre Pupillen, als ich den ersten Schnitt setze.

Schon bald bleiben sie offen, die Pupillen glasig und leer. Kein Leben spiegelt sich mehr darin, nur noch das blanke Entsetzen der lebendigen Sektion wird auf ewig in ihren Zügen gemeißelt bleiben. Bedachtsammele ich auch an diesem Tatort wieder meine Utensilien ein.

Die Arbeit ist für diese Nacht erledigt.

Hab. Ich. Gut. Gemacht.

Kapitel 1

Liebe Kim,

es schmerzt mich, dass wir uns nicht schon früher im Leben begegnet sind, aber ab dem Moment, in dem ich dich das erste Mal sah, war mir klar, wir gehören zusammen. Umso mehr schmerzt es mich zu sehen, wie dich mein Bruder zu verderben scheint. Er war schon immer sehr besitzergreifend und weiß nicht, was es heißt, in Angst zu leben. Doch du und ich – wir sind gleich.

Wenn ich an dich denke, fühle ich mich wie beflügelt. Als hätte ich Schmetterlinge im Bauch … oder eine Metallstange.

Es ist nicht leicht für mich, zu akzeptieren, dass mein Bruder mal wieder alles bekommt und ich mit leeren Händen dastehe! Es zerreißt mir das Herz, dich in seinen Armen zu sehen. Nein, dieses Mal kann und will ich es nicht akzeptieren.

Es bleibt mir nur eine Wahl, nämlich mir zu nehmen, was mir seit langer Zeit zusteht.

Ich hoffe, wir treffen bald wieder aufeinander und dann gehörst du endgültig mir!

M.

***

KIM:

„Achtung“, schreit Noah laut, als ihm eine Kiste entgleitet, die er auf zwei anderen wackelig balanciert hat. Mit einem lauten Poltern landet sie falsch herum auf dem Boden, öffnet sich und meine DVDs und CDs, die ich seit Jahren mühevoll sammele, verteilen sich auf der Treppe vor meiner Haustür. Verunsichert blickt Noah mich an.

„Ups. Tut mir wahnsinnig leid“, entschuldigt er sich reumütig. Er setzt den Stapel an Kisten auf dem Boden ab und bemüht sich, die Filme aufzusammeln, die er eben zu Boden gleiten ließ.

„Das kommt davon, dass du unbedingt beweisen musstest, wie toll und stark du bist. Ich habe dir gesagt, dass du zweimal laufen sollst. Die Kisten sind schwer.“

„Immerhin ist das Geschirr nicht runtergefallen“, versucht er mich in meiner gespielten Empörung zu bremsen und setzt dabei ein selten dämliches Lächeln auf.

Ich seufze.

„Gott sei Dank. Mein Geschirr ist wichtig. Obwohl es mir nichts ausmachen würde, aus dem Topf zu essen.“ Ich lächle, als ich an einen großen Topf mit Spaghetti denke, der vor mir steht. Ich am Tisch sitzend mit einer Gabel in der Hand, aus dem Topf essend. Natürlich habe ich das auch schon außerhalb meiner Vorstellungskraft gemacht, wenn ich nach einem langen Arbeitstag müde nach Hause gekommen bin. Meistens habe ich dann einfach den Topf, den ich am Vorabend nach dem Essen in den Kühlschrank gestellt habe, herausgeholt neben mich auf die Couch gestellt. So konnte ich während eines Films die Nudeln ganz bequem aus dem Topf naschen. Das würde jetzt mit zwei Kindern als Mitbewohner nicht mehr funktionieren. Ich habe in den letzten Monaten schnell lernen müssen, dass insbesondere Kinder den Erwachsenen nacheifern, zu denen sie aufsehen. So oft habe ich Dinge gesagt, ohne darüber nachzudenken, und Nicky hat es direkt nachgeplappert. Auch kleine Sachen, Handlungen, die ich öfter unbewusst mache, werden von den Schützlingen aufgesogen wie das Wasser von einem Schwamm.

„Du weißt, dass ich Geschirr besitze? Genug, um dir einen Teller abzugeben?“, lacht Noah liebevoll.

„Freundlich. Außerordentlich nett von Ihnen“, sage ich gekünstelt hochnäsig, worauf Noah prompt mit einem weiteren Lachen reagiert. Es öffnet mir das Herz, dass wir uns endlich wie ein normales Paar verhalten können. Mit all den offenen Liebesbekundungen und Neckereien, die wir nur zur Genüge miteinander teilen.

„Ich liebe dich auch“, entgegnet er. Ich stelle ihm die Kiste, die er fallen gelassen hat, auf seinen Kistenstapel, den er nun wieder vor seiner Brust jongliert, nachdem er mit mir die DVDs zurück in den Kasten geschoben hat. So sollte es immer sein. Kleine Neckereien und gegenseitiges Aufziehen. Es fühlt sich einfach richtig an. Ich freue mich schon unfassbar auf das Leben mit Noah und den Kindern ein paar Kilometer von meinem alten Zuhause entfernt.

„Kim, Kim, was kann ich noch machen?“, fragt Nicky, der die Treppenstufen fröhlich hochgesprungen kommt. Seine braunen Locken hüpfen bei jedem Schritt ungebändigt auf und ab. Auch sein kindliches Lachen klingt noch im ganzen Treppenhaus nach. Es stimmt mich einfach jedes Mal gutgelaunt, wenn ich den kleinen Engel ansehe. Wobei ich auch schon seine unangenehme Seite kennenlernen musste. Bei so einem kleinen, zarten Körper ahnt man gar nicht, wie laut dieser Junge schreien kann, wenn ihm mal etwas nicht passt. So verhält es sich auch mit seiner neusten Angewohnheit, sich auf den Boden zu werfen, wenn er seinen Willen nicht kriegt. Das habe ich beim Einkaufen auch schon bei anderen Kindern beobachtet. Es scheint momentan im Trend zu sein. Doch zum Glück ist der Kleine meistens gut drauf und macht das, was man ihm sagt, mit sehr viel Freude.

„Neben der Couch ist noch ein blauer Karton. Der ist zwar noch offen, aber den kannst du zumachen, da ist Mimis Zeug drin. Kannst du die Kiste nach vorne ins Auto stellen, damit wir sie beim Ausräumen gleich finden?“

„Ja“, ruft er und hüpft energiegeladen in meine Wohnung hinein.

Den ganzen Umzug zu organisieren, hat einige Zeit in Anspruch genommen und ich bin wahnsinnig froh darüber, dass es bald vorbei ist und ich es endlich hinter mir habe. Gott sei Dank, mussten wir keine neue Wohnung suchen, weil Noahs groß genug ist, um noch eine weitere Person zu beherbergen. Das Einzige, was ich mir lustig vorstelle, ist das kleine Badezimmer, das wir uns ab heute offiziell zu viert teilen müssen. Dabei ist Nicky weniger das Problem als die pubertierende Elena, die morgens am liebsten zwei Stunden im Bad verbringen würde. Bisher ist Noah morgens immer zum Zähneputzen in die Kücheausgewichen, wenn ich bei ihnen übernachtet habe, aber das kann ja nicht die Lösung sein.

„Wie kommt Mimi eigentlich zu uns nach Hause? Muss sie dem Auto hinterherlaufen?“, fragt der kleine Lockenkopf entsetzt. Mit der blauen Box zwischen seinen Ärmchen steht er vor mir. Seine Rehaugen starren fragend zu mir hoch. Ich beuge mich zu ihm herunter.

„Natürlich nicht“, beruhige ich ihn. „Für Mimi habe ich eine Transportbox, da kommt sie rein und dann fährt sie im Auto mit.“

„Da musst du aber nochmal mit Papa reden“, sagt Nicky mit einer Ernsthaftigkeit, die mich innerlich schmunzeln lässt. „Papa hat nämlich gesagt, dass ihm keine Tiere ins Auto kommen. Deshalb musste ich Eckhard im Park lassen.“

„Wer ist Eckhard?“, frage ich, obwohl ich mir die Antwort eigentlich schon denken kann.

„Ein Feuerkäfer, den ich im Park gefunden habe.“

„Tja. Da muss ich wohl nochmal mit deinem Papa sprechen. Aber ich glaube, für Mimi macht er bestimmt eine Ausnahme. Sie weiß ja gar nicht, wo ihr neues Zuhause ist. Das wäre dann unfair, wenn sie laufen müsste.“

„Ja, dann rede mal mit ihm. Auweia, da kommt er schon“, flüstert Nicky und versucht so unauffällig die Kiste hinunterzutragen, sodass es schon wieder mehr als auffällig ist.

„Du sollst mit mir reden?“, fragt Noah und stellt sich breitschultrig vor mich. Als sich Nicky an ihm vorbei duckt, wuschelt er seinem Sohn einmal sanft durch die Haare, was der Junge mit einem freudigen Quieken quittiert. Ich fahre mit meinen Fingerspitzen über seine Brust nach oben. Die Anspannung weicht aus ihm und er legt sich vollkommen in meine kreisende Bewegung hinein.

„Nicky sagt, Mimi darf nicht ins Auto, weil du über Eckhard gesagt hättest, dass keine Tiere mitfahren dürften. Und da haben Nicky und ich uns natürlich Gedanken gemacht“, hauche ich erklärend in sein Ohr, nachdem ich noch einen Schritt auf ihn zugekommen bin. Unsere Körper stehen jetzt dicht beisammen.

„Ach, so ist das“, wispert Noah mir zu.

„Mhm.“

„Was bietest du mir denn an, wenn ich Katzentaxi spiele?“

„Uff. Da gibt es einiges”, schmunzle ich.

„Boah, könnt ihr nicht woanders knutschen? Hier sind Kinder anwesend. Ihr steht in einem Hausflur“, tadelt Elena genervt, die, ihre Finger auf ihr Smartphone geheftet, die Treppe hinaufgeschlendertkommt. Noah dreht sich zu ihr um, mich noch immer im Arm haltend.

„Da stehen noch Kartons, die runter müssen“, entgegnet er und drückt mir noch einen Kuss auf den Mund, ehe auch er ins Innere meiner Wohnung geht, um noch die letzten übriggebliebenen Kisten zu holen.

„Ich gehe noch mal zu Mrs. Altenmeier, um mich zu verabschieden.“ Ich laufe ein paar Stufen hinunter ins andere Stockwerk und klingele bei dem roten Namensschild mit der grünen Gießkanne, das an der Wand prangt. Langsam öffnet sich die Tür und eine alte Frau erscheint dahinter. Ein Miauen ertönt im Hintergrund und kurz darauf erblicke ich einen schwarzen Katzenkopf, der sich an mein Bein schmust.

„Hallo, Carter“, begrüße ich die Katze.

„Kim. Wie schön, dich zu sehen.“

„Das kann ich nur zurückgeben. Ich wollte mich verabschieden. Wir packen jetzt die letzten Kartons ins Auto und dann bin ich weg“, erkläre ich der Dame, die sehr nett und aufgeschlossen war, als ich damals in diese Wohnung eingezogen bin.

„Das ist so schade. Es war so schön mit dir. Carter wird dich bestimmt vermissen.“

„Ich ihn auch“, erwidere ich und beuge mich zu demdunklen Stubentiger herunter, um ihm ein letztes Mal den Nacken zu kraulen.

„Und du bist sicher, dass du keine zweite Katze möchtest? Will hat immer noch ein paar Katzenbabys, die er loswerden möchte.“

„Ja, ich bin mir sicher. Danke.“

„Na dann, muss ich mich wohl jetzt verabschieden. Mach’s gut. Ich hoffe, die nächsten Mieter werden auch so nett wie du.“ Ich lächle und weiche einen Schritt zurück, sodass Mrs. Altenmeier ihre Tür schließen kann.

Ein wenig entmutigt, dass ich jetzt tatsächlich die Wohnung für immer verlasse, in der ich so viele Jahre gelebt habe, steige ich die Treppe hinauf. Ich öffne meine Wohnungstür, die nur angelehnt ist und werfe einen letzten Blick in meine leergeräumte Wohnung. Die kahlen Stellen an den Wänden, an denen meine Schränke standen, lassen mich sentimental werden und ich erinnere mich zurück an meinen Einzug in diese Wohnung. Mia, Tucker und Abby haben mir damals geholfen. Es war das reinste Desaster:

„Stell erst die Möbel rein und streich dann. Dann sparst du Farbe“, hat Abby lachend gemeint und so haben wir es dann auch tatsächlich gemacht. Tuckers Frau, die ein paar Tage später zu Besuch kam, weil sie während meines Umzuges auf dem Meer umher geschippert ist, hat prustend angefangen zu lachen, als sie meine Wohnung das erste Mal betreten hat. Dank ihr, sah meine Wohnung nach ihrer Überarbeitung nicht mehr ganz so scheußlich aus wie nach der Renovierung mit den drei „Musketieren“. Tatsächlich war Naomi eine größere Hilfe als Tucker, Mia und Abby zusammen.

Ich nehme den einsamen Karton, der neben meiner nachinstallierten Küchenzeile steht und ziehe die Tür hinter mir zu, als ich die Wohnung verlasse. Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen. Langsam gehe ich die Treppenstufen hinab, lasse meine Hand über das Gelände streichen. Unter jedem einzelnen Finger spüre ich die Unebenheiten der hölzernen Verkleidung. Die Macken bleiben an meinen Fingerkuppen haften, bis sie durch einen leichten Druck meiner Hand weitergezogen werden. Ich öffne die Haustür ein letztes Mal und sehe zu, wie sie ins Schloss fällt, nachdem ich hinausgetreten bin. Aufgeregt setze ich mich in das vollgeladene Auto und Noah fährt los.

Noah wohnt im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses mit Garten, in welchem ein großer Baum mit einer Reifenschaukel steht, der für alle Bewohner zugänglich ist.

Ein Traum für Nicky, denke ich und betrachte mein neues Zuhause. Das Haus ist relativ schmal, verfügtaber über einen Dachboden, wodurch genug Stauraum besteht.

„Willkommen.“ Noah schlingt seine Arme von hinten um meine Taille und gibt mir einen Kuss auf den Hinterkopf, nachdem wir aus dem Auto gestiegen sind. Ich drehe mich glücklich zu ihm um, während auch Nicky und Elena aus dem Auto steigen. Mit diesen Menschen werde ich ab sofort zusammenleben und ich kann es kaum erwarten, Teil dieser Familie zu sein.

„Aber zuerst müssen wir auspacken und einräumen“, wirft Noah lächelnd ein, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Also, alle schnappen sich einen Karton.“ Elena mault, nimmt sich aber einen, in dem ich meine Hygienesachen vermute, und steuert in Richtung Eingangstür. Noah folgt ihr mit einem weiteren Karton und dem Haustürschlüssel über den Parkplatz. Ich ertaste in meiner Hosentasche meinen Schlüsselbund und erfühle den neuen Schlüssel, der nun daran hängt. Noah hatte ihn mir vor einer Woche feierlich überreicht, als feststand, dass ich nun auch bald Hausmitglied sein würde. Ich gehöre nun offiziell dazu, hatte ich mir in diesem Moment gedacht und das Gefühl war keineswegs unangenehm.

Ich reiße mich vom Haus los und drehe mich zum Auto, um Mimi bald aus ihrer Transportbox zu befreien. Sie muss sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen, doch als ich ins Auto schaue, ist die Transportbox verschwunden. Stattdessen höre ich das angestrengte Schnaufen von Nicky, der sich mit der für ihn viel zu großen Box abmüht.

„Ich bin ganz vorsichtig“, verspricht er mir, als er sich den Weg über den Parkplatz kämpft. Ich gehe sicherheitshalber hinterher, während Mimi sich mit einem verstörenden „Miau“ über die Situation beklagt und ich unweigerlich grinsen muss.

Das hast du nun davon, dass du bei mir zuhause immer Chaos machen musstest. Ab jetzt wirst du dich wohl ein bisschen besser benehmen müssen, Süße.

Miau!

***

KIM:

Die zwei Tage Eingewöhnungszeit sind wie im Flug vorbei und die Arbeit ruft Noah und mich wieder ins Präsidium. Der Fall Michael Peters ist bis jetzt nicht abgeschlossen und unser Täter immer noch auf freiem Fuß. Obwohl wir eingestehen müssen, dass wir seit Wochen nichts mehr von ihm gehört haben. Wie uns die Rechtsmedizin ein paar Tage nach dem Hausbrand mitteilte, war die gefundene Leiche im Haus gar nicht Michael. Wir sind davon ausgegangen, dass er es war, sonst war niemand im Haus vorzufinden. Noah und ich hatten es durchsucht. Nichts. Keine Spur einer weiteren Person. Noch immer läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich an diese Zusammenkunft denke. Das gleiche Gesicht, fast die gleiche Person, erinnere ich mich an die Worte, die Noahs leiblicher Vater zu uns gesagt hatte, bevor er gestorben ist. Eine Spiegelung, dachte ich, als ich die beiden das erste Mal nebeneinander gesehen habe. Michaels blaue Augen bohrten sich verhängnisvoll in meinen Blick. Ich schaudere bei diesem Gedanken. Das Blau war so stechend, dass man ihnen nichts verheimlichen konnte und ganz sicher würden diese Augen auch niemals verzeihen. Dies ist der einzige Unterschied zwischen den Zwillingen. Michael versprüht eine Eiseskälte gepaart mit einem unbändigen Hass und einer Ignoranz, die einen panisch werden lässt.

Trotz so einer intensiven und starken Emotion wie Hass schafft er es dennoch immer scharf und gewieft alles zu kalkulieren. Wenn man ihn nur irgendwie aus dem Konzept bringen könnte. Auch die Leiche, die wir aus dem abgebrannten Haus geborgen haben und welche sich im Nachhinein nicht als Michael Peters herausgestellt hat, war ein geplanter Schachzug. Wirhaben uns entspannt, gefeiert und sind unvorsichtig geworden. Wir dachten, es sei vorbei, doch wir haben uns geirrt. Wir haben Michael Zeit gegeben, neu zu starten, einen weiteren Plan auszuhecken, sich neu zu formieren. Und das war ein Fehler. Unser Fehler!

Erneut öffne ich das Dokument der Rechtsmedizin und lese mir den Absatz durch. Die Zahnabdrücke stimmen mit einem vermissten Mann überein, der zwei Tage vor dem Hausbrand verschwunden ist. Seine Schwester hat ihn als vermisst gemeldet, weil seine Frau sich um die zwei Kleinkinder kümmern musste. Die Mutter hatte ihre Schwägerin völlig aufgelöst angerufen und als auch diese nicht wusste, wo ihr Bruder sich aufhielt, schickte die nun Alleinerziehende die Schwester bei uns vorbei.

Noah hat es übernommen, sie über den Tod ihres Mannes zu informieren. Ich stand weiter hinten, konnte nicht schon wieder ertragen, jemandem solche Nachrichten zu überbringen. Es waren so viele in der letzten Zeit. Viel zu viele. Und es würde weitere geben, denn Michael läuft noch immer frei herum. Denn unsere Naivität hat ihm Zeit verschafft, um zu fliehen.

Nachdem er mir den letzten lila Briefumschlag präsentiert hat, um mich wissen zu lassen, dass sein Spiel weiter geht, wurde es erstaunlich ruhig und die Lage entschärfte sich für gewisse Zeit. Dennoch habeich immer das Gefühl, dass diese Stille nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm ist, der schon bald über uns hereinbrechen wird.

Wie ein böses Omen hat es Mimi auch noch heute Morgen geschafft, einen kleinen Handspiegel im Bad zu zerdeppern. Auch wenn Scherben Glück bringen sollen, ist ein kaputter Spiegel ein schlechtes Zeichen. Mir ist bewusst, dass es nur Humbug, nur reiner Aberglaube ist. An solch einen Quatsch habe ich noch nie geglaubt. Dennoch ...

Die rationale Seite in mir kramt in meinem Gedächtnis das Wissen heraus, worauf die Aussage, kaputte Spiegel bringen Unglück basiert. Und ja, ich weiß, dass es damals am Quecksilber gelegen hatte, welches für die Verarbeitung des Spiegels genutzt worden war. Ist der Spiegel zerbrochen, wurden die toxischen Gase freigesetzt und man starb, wenn man sie eingeatmet hatte. Alles also nur Humbug. Das hat nichts mit einem Omen, nur mit Chemie zu tun.

Mit Schicksal besiegelnder Gewissheit haben Noah und ich heute Morgen also das Revier betreten und begrüßten den Stapel Papierkram, der sich auf unseren Schreibtischen türmte, weil wir ihn nun schon seit Tagen vor uns herschieben.

Später sitze ich mit meiner Best-Cop-Tasse, die Mia mir mal zu Weihnachten geschenkt hat, am Arbeitsplatz und nehme mir endlich den ersten Stapel vor, als ein strahlender Tucker ins Büro platzt.

„Fröhlichen ersten, wiedervereinten – nachdem dein liebster Kollege hinterlistig angeschossen wurde und du so lange ohne ihn auskommen musstest, obwohl jeder weiß, dass du ohne mich völlig aufgeschmissen bist – Arbeitstag!“

„Liebster Kollege?“ Ich grinse schief. Einerseits, weil ich mich freue, Tucker so munter zu sehen und andererseits, weil ich ihn wirklich am Arbeitsplatz vermisst habe.

Grinsend blickt er zu Noah.

„Na ja, okay, Zweitliebster vielleicht, aber etwas anderes ertrage ich nicht. Ansonsten lasse ich mich gleich wieder anschießen.“

„Es ist schön, dich wieder hier zu haben, Tucker“, sage ich und meine es auch so. Die letzten Wochen ohne ihn waren einfach nicht dieselben, mal von der ganzen Geschichte mit Michael abgesehen. Tucker und ich sind schon seit Ausbildungszeiten ein Team und es fühlt sich, nun da er wieder zurück ist, einfach richtig an.

Noah kommt ebenfalls zu meinem Schreibtisch geschlendert.

„Hallo. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.“ Er streckt Tucker die Hand hin, in welche dieser herzlich einschlägt.

„Ich bin …“

„Noah. Ich weiß schon“, unterbricht Tucker ihn und bewegt spöttisch aufreizend seine Brauen. Noah schaut erst überrascht, doch dann ziehen sich seine Mundwinkel steilgradig in die Höhe.

„Ach so ist das“, grinst er und blickt dabei verschwörerisch in meine Richtung. Innerlich klatsche ich mir mit der flachen Hand gegen meine Stirn. Äußerlich lächle ich nur entschuldigend zurück.

„Ich bin Tucker“, lenkt dieser Noahs Aufmerksamkeit wieder auf sich und kaum habe ich geblinzelt, schlingt Tucker seinen Arm locker um Noah und führt ihn weg von meinem Arbeitsplatz. „Sie hat ja so viel von dir erzählt …“, ist das letzte, was ich noch von Tucker höre, bevor er den viel zu interessiert zuhörenden Noah aus meiner Reichweite navigiert hat. Das fängt ja gut an.

Wie war das nochmal mit „liebster Kollege“ …?

Ich schnaube diesmal innerlich und äußerlich, dann wende ich mich wieder dem Stapel Papier zu. Die beiden würden noch dickste Freunde werden, bevor ich überhaupt den ersten Satz gelesen hätte.

In diesem Moment klingelt mein Telefon am Schreibtisch. Es ist eine Kollegin, mit der ich noch nie mehr zu tun hatte, als dass sie mir über das Telefon im Präsidium mitteilt, wenn ich irgendwo gebrauchtwerde – sei es Tatort oder Kaffeemaschinennotfall. Sie übernimmt größtenteils die Vermittlung unter den Kollegen.

Ich glaube, ich weiß nicht einmal, wie sie aussieht …

„Es gibt eine Leiche in der Foundstein-Siedlung. Eine ausgeweidete Frau wurde von ein paar Teenies gefunden.“

Mein Herzschlag beschleunigt sich unweigerlich.

„Van Hellen und Jordan sollen ebenfalls mit Ihnen gehen. Wilson ist schon mit der Spurensicherung auf dem Weg.“

Nun sackt mir das Herz in die Hose. Wenn Josh Wilson, der euphorisch, schlampige Rechtsmediziner, sich zu lange vor uns am Fundort aufhält, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass seine kirschrote Brille schneller in den Eingeweiden der Frau hängt, als die Spurensicherung das Absperrband ausrollen kann.

„Noah! Tucker!“, rufe ich daher und werfe mir schon meine Jacke über.

***

KIM:

„Schau sich doch mal einer diesen schönen Torso an.“ Mit „schönen Torso“ meint Wilson den aufgeschlitzten Oberkörper einer Frau Mitte Zwanzig. Wir befinden uns in einer unbewohnten Straße im Industriegebiet.Die meisten Gebäude sind entweder Fabriken oder Lagerhallen. Die Foundstein-Siedlung liegt etwas am Rand und sollte ursprünglich mal ein Wohngebiet werden. Doch dann entschied man anders und es kam doch zu einem Industriegebiet. Vor einem Jahr musste es dann geräumt werden. Es gab viele Entlassungen aufgrund eines Bankrotts. Vor einem halben Jahr hat dann ein großes Unternehmen die Fläche aufgekauft, um hier seinen Sitz zu errichten. Nur wenige Wochen, bevor der Bau losgehen sollte, ist die Firma allerdings ebenfalls bankrott gegangen. Seither stehen die meisten Gebäude leer. Aber es kursieren Gerüchte, dass seit kurzem wieder Obdachlose in die unbenutzten Hallen ziehen. Außerdem ist die Siedlung ein beliebter Treffpunkt für Teenies, da sie hier niemanden stören. Aber einen Mord hätte vermutlich keiner erwartet, schließlich herrscht hier nachtsüber rege Betriebsamkeit.

„Und schau nur wie die dritte, vierte und fünfte Costa nach oben stehen. Der Mörder scheint genau zu wissen, wo sich das menschliche Herz befindet. Das ist äußerst präzise gearbeitet und – oh wie schön! Er hat sogar die Venen und Arterien fachmännisch gekappt, seht ihr diesen Schnitt. Er hatte definitiv Werkzeug dafür.“

„Wow, fast hätte ich gedacht, dass ich „Weird-Wilson“ in meiner Abwesenheit vermisst hätte, aber wenn ichjetzt so drüber nachdenke …“ Tucker lässt den Satz in der Luft hängen. Er, Noah und ich stehen seit nun sieben Minuten am Tatort, unmittelbar vor der Leiche und sehen Josh Wilson dabei zu, wie er wie eine Fliege verzückt um den Körper herumscharwenzelt und seine unablässige Euphorie laut mit uns teilt.

„Wer war bitte schön der Meinung, er wäre die perfekte Wahl für diesen Einsatz. Wir haben doch zig Rechtsmediziner, die jetzt hier sein könnten, … UND uns unseren Job machen lassen würden“, beschwert sich Noah.

„Jepp, es hat schon seine Gründe, warum er sonst nur im Keller einquartiert ist. Wer zur Hölle hat ihn rausgelassen?“, gibt Tucker zurück.

„Vermutlich stand die Katzenklappe offen und er ist ausgebüxt.“ Auf meinen Kommentar hin prusten beide Männer los.

Wilson reißt daraufhin das erste Mal nach Ankunft seinen Blick von der Leiche los und schaut uns verwirrt an.

„Was ist so komisch?“, fragt er irritiert, seine durch die Brille groß wirkenden Augen auf uns gerichtet.

„Ach, nichts“, antworte ich ihm.

„Nur, dass er, wenn er so weitermacht, kurz vor höchster Ekstase steht“, flüstert Tucker hinterher, so dass nur Noah und ich es hören können.

Während die beiden sich erneut das Lachen verkneifen müssen, trete ich einen Schritt vor und verschränke die Arme vor der Brust. Auf die Spurensicherung muss die Szene derartig bizarr wirken: eine brutal verstümmelte Leiche, ein verstörend begeisterter Rechtsmediziner und drei Ermittler, die versuchen, die Situation mit gebührender Ernsthaftigkeit zu betrachten … und dabei versagen.

„Also, was ich Ihren Aussagen entnehmen kann, ist Folgendes: Der Frau wurde der Oberkörper aufgeschlitzt und das Herz entfernt. Und das anscheinend sehr gut.”

„Das ist korrekt und wunderschön anzusehen”, verliert sich Wilson wieder im Anblick der Leiche.

„Ist das auch der Grund für ihren Tod? Das herausgeschnittene Herz meine ich.”

„Für die genaue Todesursache muss ich erst weitere Untersuchungen in der Pathologie durchführen. Aber ich kann sagen, dass sie auf jeden Fall noch gelebt hat, als ihr der Brustkorb aufgeschnitten wurde. Wahrscheinlich nicht mehr sehr lang, aber am Anfang definitiv. Außerdem wurde ihr irgendein Gegenstand durch den Bauch geschlagen. Wahrscheinlich eine Stange oder so, wenn man sich die Form der Wunde ansieht. Glatt, rund, lang. Ich tippe auf eine Metallstange. Zusätzlich befinden sich Nägel in ihrem Rachen, die der Frau den Hals von innen aufgeschnitten haben.”

Ich werfe einen vielsagenden Blick zu Noah, der diesen erwidert. Diese Brutalität und Raffinesse kommen uns beiden bekannt vor. Noch ist nicht klar, dass dies hier tatsächlich Michaels Werk sein könnte, doch wir haben anscheinend beide den gleichen Gedanken. Ich wende mich wieder Wilson zu. „Außerdem wurde ihr Brustkorb aufgeschnitten und – zumindest erschließt sich mir das, aus Ihren Kommentaren über Arterien und Venen – ihr Herz fachmännisch entfernt.“

Ich werfe einen Blick auf die Frau, ihren nackten Oberkörper und das ganze Blut um sie herum. Irgendwie hat es Würdeloses und ich möchte die Angelegenheit schnell genug hinter mich bringen, damit man ihren Körper endlich mit einem Tuch abdecken kann.

„Ganz genau“, bestätigt Wilson und schiebt sich seine Brille zurecht, die wieder einmal verdächtig lose über seinem Nasenbein hängt.

„Außerdem befand sich an der Stelle des Herzens etwas anderes in dem Körper, doch die Spurensicherung hat es, bevor Sie hier eingetroffen sind, gesichert.“

Wie gerufen, kommt ein Mann auf uns zu und überreicht Noah mit Gummihandschuhen einen rosafarbenen Zettel.

„Der steckte in einem durchsichtigen Plastikbeutel, an der Stelle, wo das Herz entnommen wurde“, klärt uns der Mann auf.

Noah entfaltet das Papier in Form eines halben Herzens. Wenn man das Papier so hält, dass man die Handschriftlesen kann, ist es die rechte Seite eines Herzens. Die linke Hälfte fehlt.

Noah überfliegt den Inhalt mit gerunzelter Stirn und reicht mir dann den Zettel.

„Ich weiß nicht, was damit gemeint ist, aber ich habe gerade ein heftiges Deja Vu.“

Ich nehme das Schreiben entgegen und beim Lesen macht sich Gewissheit breit.

-

Es ist nicht leicht für mich, zu akzeptieren, dass mein Bruder mal wieder alles bekommt und ich mit leeren Händen dastehe!

Es zerreißt mir das Herz, dich in seinen Armen zu sehen. Nein, dieses eine Mal kann und will ich es nicht akzeptieren.

Es bleibt mir nur eine Wahl, nämlich mir zu nehmen, was mir seit langer Zeit zusteht.

Ich hoffe, wir treffen bald wieder aufeinander und dann gehörst du endgültig mir!

M.

Es ist Michael! Aber was soll das alles bedeuten?

„Da fehlt der Anfang. Wir müssen noch einen anderen Teil finden.“

Alle unsere Blicke richten sich auf die tote Frau.

„Aber wir können sie doch nicht komplett auseinanderschneiden, falls in ihr die andere Briefhälfte versteckt sein sollte“, werfe ich ein.

„Ich glaube das müssen wir auch nicht.“

Ich blicke zu Tucker. „Wieso nicht?“

„Weil der erste Teil des Briefes ganz deutlich platziert wurde – er zeigt ein halbes Herz und steckte an der Stelle, wo ihr Herz gesessen hat. Das bedeutet, die andere Hälfte wird wahrscheinlich auf die gleiche Weise präpariert sein.“

„Das wiederum bedeutet, wir suchen nach einer zweiten Leiche“, stellt Noah fest.

„Aber wo?“

Mein Funkgerät in meinem Auto rauscht. Wir gehen ein Stück näher an die offene Fahrertür heran und hören alle der durchkommenden Nachricht der Kollegin zu, als hätte sie nur auf ihren Moment gewartet.

„Eine weitere Leiche in der Regent Street. Ein Urban-Explorer fand sie vor wenigen Minuten in einem verlassenen Gewölbekeller.“

Sie gab uns noch die konkrete Adresse durch und nur eine halbe Stunde später stehen wir zu viert, weil Wilson unbedingt mit uns Auto fahren wollte, vor einem verlassenen Gebäude mitten im Wald.

„Ich war vor ein paar Monaten schon mal mit Freunden hier, aber heute wollte ich mir nochmal alles allein ansehen“, erklärt uns der Explorer, ein junger Mann mit schiefer Kappi.

„Ich besichtige schon seit Jahren Lost Places und weiß, dass man vorsichtig sein muss, aber mit der Scheiße habe ich echt nicht gerechnet.“

„Ich muss Sie bitten, uns direkt in das Gewölbe zu führen“, erkläre ich mit einem schiefen Seitenblick zu Wilson, der sich vor Aufregung kaum noch auf den Beinen halten kann.

Daraufhin führt uns der Urban-Explorer in das Gemäuer. Die Wände sind zum Teil mit Pflanzen überwuchert und Schmutz lagert sich auf dem Boden ab.

Der junge Mann muss meinen Blick bemerkt haben, denn er erzählt: „Das hier war einmal eine alte Schule für Behinderte, deswegen ist hier auch allesbarrierefrei eingerichtet. 1987 ist im Ostflügel ein verheerendes Feuerausgebrochen. Viele Kinder kamen in den Flammen ums Leben und im Nachhinein gab es Beschuldigungen, dass eine Lehrkraft das Feuer gelegt haben soll. Der Ruf der Schule war damit zunichte gemacht und die Einrichtung musste schließen. Jetzt holt sich die Natur alles zurück.“

Wir durchqueren einen Flur und durch die offenen Türen kann ich in die alten Klassenräume sehen. Es ist unheimlich mit anzusehen, wie das ganze Mobiliar immer noch dort steht, als hätten die Schüler den Unterricht einfach verlassen und wären nie zurückgekommen. Der Dreck und die Schlingpflanzen lassen das Ganze noch grotesker wirken. Die Gänge sind zum Teil mit Graffiti beschmiert, als uns der Urban-Explorer zu einer Schräge geleitet, die offensichtlich in den Keller hinab führt.

„Ich würde lieber hier oben bleiben, wenn das okay ist“, entschuldigt sich dieser und wir vier, sowie die Kollegen von der Spurensicherung, steigen vorsichtig die Schräge hinunter.

Das Gewölbe ist zwar ziemlich verschachtelt, doch wir müssen nicht lange suchen, um die Leiche zu finden. Diesmal ist es ein Mann, die Hände und Füße mit Stangen durchbohrt, wobei sein Fleischaufgerissen ist, als hätte er sich in den letzten Minuten vor seinem Tod noch schmerzhaft zusammengezogen.

Wilson stürzt sich mit derselben Begeisterung auf den Körper und gibt bekannt, dass auch im Hals diesen Opfers Nägel stecken und das Herz raus seziert wurde. Tucker rümpft angewidert die Nase, als eine Frau der Spurensicherung mit Gummihandschuhen einen durchsichtigen Plastikbeutel, in dem etwas Rosafarbenes steckt, aus dem Brustkorb herauszieht. Damit hätte sich Tuckers Hypothese also bestätigt. Das hier muss die andere Hälfte des Briefes sein.

„Wir müssen herausfinden, ob die beiden Opfer irgendwie miteinander in Zusammenhang stehen und wer sie sind. Außerdem erscheint es mir auffällig, wie weit beide Fundorte auseinander liegen“, spreche ich meine Gedanken laut aus, während sich Noah Notizen macht. Tucker studiert derweil den anderen Brief und sein Gesichtsausdruck spricht Bände.

„Was steht drin?“, fragt Noah und Tucker reicht ihm den rosa Zettel. Ich brauche nur die Anrede zu lesen und in mir steigt bittere Galle auf.

Liebe Kim,

es schmerzt mich, dass wir uns nicht schon früher im Leben begegnet sind, aber ab dem Moment, in dem ichdich das erste Mal sah, war mir klar, wir gehören zusammen.

Umso mehr schmerzt es mich, zu sehen, wie dich mein Bruder zu verderben scheint. Er war schon immer sehr besitzergreifend und weiß nicht, was es heißt, in Angst zu leben.

Doch du und ich – wir sind gleich.

Wenn ich an dich denke, fühle ich mich wie beflügelt. Als hätte ich Schmetterlinge im Bauch … oder eine Metallstange.

Nachdem ich ihn gelesen habe, macht sich in mir eine widerliche Gewissheit breit. Das ist nicht bloß eine simple Drohung oder ein Tagebucheintrag. Das hier ist ein verdammter Liebesbrief und Michael hat ihn an mich gerichtet!

Kapitel 2

Liebe Kim,

unsere Bekanntschaft war anfangs noch so frisch und distanziert, doch mit jedem Mal, bei dem wir uns wieder sahen, brannte mein Herz stärker für dich. Ich habe dich vorerst als einen weiteren Springer in meinem blutigen Netz, meinem eisernen Schachbrett wahrgenommen, doch sollst du dich bald schon als die Königin des Spielfeldes entpuppen – meine Königin.

Deine Augen waren anfangs noch grün, jetzt sind sie Smaragde. Dein Haar, welches ich vorerst als braun wahrnahm, erstrahlt nun in schimmernder Bronze. Deine Haut schillert wie Perlmutt in dem neuen Licht, in dem ich dich zu betrachten begann. Deine Lippen sind so rot wie das Blut, das an meinen Händen klebt.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dass mein Tun, mich dir so nah gebracht hat. Dies wird mich auf ewig in meinem Handeln bestätigen, meine Königin.

M.

***

KIM:

Es ist nie ein guter Morgen, wenn er mit einem Anruf der Kriminalpolizei beginnt. Ich kehre gerade mit einer frisch dampfenden Tasse aus der Teeküche an meinem Arbeitsplatz zurück, als ich Tucker an meinem Tischgelehnt stehen sehe, das Telefon auf zwei Fingern balancierend.

„Die Arbeit ruft, Kimilein.“

„Dir auch einen schönen guten Morgen“, erwidere ich trocken, bevor ich einen Schluck von meinem Kaffee nehme.

Tucker wirft mir einen mitleidigen Blick zu. „Der wird leider kalt werden, wir müssen umgehend zu einer neuen Leiche.“

Fast verschlucke ich mich.

„Schon wieder ein Mord? Wir haben doch sonst nicht so viele Leichen auf einmal. Heißt das, Du-weißtschon-wer hat wieder zugeschlagen?“

Passiert das wirklich? Nach dem letzten Mord und dem unheimlichen Liebesbrief von Michael sind erst fast drei Tage vergangen.

„Voldemort? Nein, ich rede von …“

Ich verpasse Tucker einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

„Das ist nicht komisch, so schnell hat er bei seiner letzten Mordserie nicht gearbeitet. Wenn Michael sich so beeilt, haben wir kaum eine Chance hinter seinen Plan zu kommen, bevor er ihn vollendet hat.“

„Vielleicht“, sagt Tucker. „Aber vielleicht macht er so auch einen Fehler. Komm, wir haben keine Zeit zu verlieren. Noah ist schon vorgefahren.“

Mehr Worte bedarf es nicht und wir machen uns umgehend auf den Weg zum Wagen.

Auf der Fahrt frage ich Tucker nach der Lage.

„Zwei Opfer, ein Mann und eine Frau. Sie wurden an zwei unterschiedlichen Orten gemeldet. Die Frau wurde in einem Park gefunden und galt zunächst als separater Fall, doch wenig später tauchte die Leiche des Mannes auf und die Verbindung zwischen den beiden konnte hergestellt werden, dass beide Leichen wie die letzten in Zusammenhang miteinander stehen.“

„Woran haben sie die Verbindung zu den Opfern von vor zwei Tagen erkannt?“, frage ich, obwohl mir vor der Antwort schon graust.

„Rosa Briefe wie bei den anderen beiden.“

Ich lasse mich etwas tiefer in das Polster sinken.

„Wir fahren jetzt erst zu der Parkleiche, dort wartet schon Noah. Danach geht es zusammen zum anderen Fundort. Die erste Tote wurde vor ungefähr einer Stunde gefunden, der andere vor circa zwanzig Minuten. Das ist alles, was ich bisher weiß.“

„Hmm.“

„Alles in Ordnung, Kim?“

Ich stöhne auf. „Weißt du, wie ätzend das alles eigentlich ist. Ich weiß, ich sollte das Ganze nicht zu nah an mich herankommen lassen, aber ich kann nicht anders, als mich verantwortlich zu fühlen.“

„Mach dich nicht lächerlich, du hast niemanden darum gebeten, diese Morde zu begehen.“

„Schon, aber uns sollte mittlerweile klar sein, dass Michael diese Verbrechen als Kommunikationsmittel benutzt. Das letzte Mal mit Noah, jetzt mit mir.“

Eine Pause entsteht, da Tucker weiß, dass er nichts sagen kann, um mich jetzt besser fühlen zu lassen.

Stattdessen wechselt er das Thema, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

„Ich war heute Morgen, bevor ich ins Büro kam, noch mit Kommissar Sanders im Gespräch.“

„Ach ja?“

„Ja, und er hat mir die bisherigen Rechercheergebnisse mitgeteilt. Unsere letzten beiden Opfer heißen Marco Webster und Cassandra Dair. Beide noch relativ jung, um die zwanzig. Er war in der Ausbildung zum Versicherungskaufmann, sie arbeitete in einem kleinen Reisebüro. Und weißt du,was sie miteinander zu tun haben?“, Tucker macht eine dramatische Pause.

„Nein, was?“

„Jetzt kommt’s: absolut nichts.“

Ich reiße den Mund auf, doch dauert es ein paar Sekunden, bis auch tatsächlich ein Laut herauskommt.