The Master Vintners - Eine Winzerfamilie zwischen Geheimissen und Leidenschaft (6-teilige Serie) - Yvonne Lindsay - E-Book

The Master Vintners - Eine Winzerfamilie zwischen Geheimissen und Leidenschaft (6-teilige Serie) E-Book

YVONNE LINDSAY

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Beschreibung

Erleben Sie in dieser sechsteiligen Serie, wie eine Winzerfamilie aus Australien sich ihren Geheimnissen stellt und aus Skandalen Leidenschaft erwächst.

SO SINNLICH WIE DEIN KUSS

Was für ein Kusss! Wie flüssiges Feuer rinnt er durch Annas Körper und macht sie schwach. Dabei ist Judd Wilsons Sexappeal das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Denn Judds Vater ist ihr Boss. In seinem Auftrag ist sie nach Australien geflogen, um Judd zu überzeugen, nach Hause zurückzukehren und endlich das Millionenunternehmen zu leiten. Dumm nur, dass Judd seinen Vater hasst und jede Gelegenheit nutzen will, um sein Imperium zu vernichten. Ist seine Leidenschaft womöglich nur vorgetäuscht und die zärtliche Verführung Teil seines Racheplans?

LIEBESLIST UND LEIDENSCHAFT

So eine Gemeinheit! Von klein auf hat Nicole sich für das Weingut ihres Vaters aufgeopfert, und trotzdem soll nun ihr Bruder Wilson Wines übernehmen. In einem
Nachtclub will sie ihren Frust vergessen - und der Flirt mit einem sexy Fremden kommt ihr dabei gerade recht. Nates Küsse sind berauschend, und Nicole erkennt sich
selbst kaum wieder, als sie ihn für ein wildes Wochenende in seine Villa begleitet. Sie dreht mit ihm sogar ein heißes Video! Leider stellt sich am Montag heraus: Nate
ist der Sohn vom Erzrivalen ihres Vaters - und er hat eine erotische Erpressung im Sinn …

DIESE NACHT IST UNSER GEHEIMNIS

Manchmal ist auch der stärkste Mann ganz schwach: In einer solchen Nacht sucht Ethan in den verlockenden Armen einer Fremden Trost. Und dann öffnet er ihr auch noch sein Herz und beichtet ihr das große Familiengeheimnis. Wie gut, dass er diese Frau nie wiedersieht. Ein Riesenirrtum! Denn am nächsten Tag lernt er die junge Fotografin Isobel Fyfe kennen, die auf seinem Weingut PR-Fotos machen soll - es ist die Geliebte der letzten Nacht! Plötzlich hat Ethan nichts mehr unter Kontrolle: weder, wem Isobel sein Geheimnis verrät - noch sein unbezähmbares Verlangen nach ihr …

HEIßES DINNER MIT DEM MILLIONÄR

"Mehr?" Finn betrachtet die bezaubernde Tamlyn gebannt. Ihre Lippen hatten seine Finger zart berührt, als sie einen Leckerbissen kostete - und heiße Wellen durch seinen Körper gejagt. Ganz klar: Dieses Dinner konnte ihn in Teufels Küche bringen! Denn Tamlyn ist den weiten Weg nach Neuseeland gekommen, um ihre totgeglaubte Mutter zu finden - und der Selfmade-Millionär ist derjenige, der deren Spuren heimlich verwischt. Wird Tamlyn ihm verzeihen, wenn sie die Wahrheit erfährt? Für eine Nacht will Finn die quälenden Fragen fortschieben, denn die Schöne flüstert: "Mehr …"

VERBOTENES VERLANGEN NACH DEM MILLIARDÄR

Leidenschaft auf den ersten Blick: Lichterloh brennt die schöne Alexis für Raoul Benoit. Aber sie muss von dem attraktiven Milliardär die Finger lassen, denn Raoul hat Alexis als Nanny für seine kleine Tochter eingestellt und ist ihr Boss. Jeden Tag ist sie in Raouls Nähe, teilt sein elegantes Anwesen in den Weinbergen, sieht ihn morgens sexy zerstrubbelt aus dem Schlafzimmer kommen - und verzweifelt fast! Denn heißer denn je glüht ihre Sehnsucht nach dem Mann, der sie völlig ignoriert und der nur eine zu lieben scheint: seine verstorbene Frau …

BERAUSCHT VON DEINEN WILDEN KÜSSEN

Ein Blick in Shanals grüne Augen genügt, um Raif Masters vor Verlangen erbeben zu lassen. Sofort ist ihm klar: die oder keine! Nie zuvor hat er eine Frau getroffen, die eine derart brennende Sehnsucht in ihm weckt. Die dunkelhaarige Schönheit ist die pure Versuchung! Und als sie gemeinsam auf einem Hausboot übernachten, hat Raif den leidenschaftlichsten Sex seines Lebens! Noch immer berauscht von Shanals betörenden Küssen, erkennt Raif, dass er sein Herz an sie verloren hat. Doch dann erreicht ihn eine schockierende Nachricht: Shanal will heiraten - seinen Erzfeind!

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Seitenzahl: 1251

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Yvonne Lindsay

The Master Vintners - Eine Winzerfamilie zwischen Geheimissen und Leidenschaft (6-teilige Serie)

YVONNE LINDSAY

So sinnlich wie dein Kuss

IMPRESSUM

BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Cheflektorat:Ilse BröhlProduktion:Christel Borges, Bettina SchultGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)Vertrieb:Axel Springer Vertriebsservice GmbH, Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Telefon 040/347-29277

© 2012 by Dolce Vita Trust Originaltitel: The Wayward Son erschienen bei: Harlequin Books, Toronto in der Reihe: DESIRE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARABand 1747 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Sabine Bauer

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-171-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY, STURM DER LIEBE

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1. KAPITEL

Gebannt von so viel Schönheit hielt Anna den Atem an. Die farbenprächtige herbstliche Landschaft der Adelaide Hills in Südaustralien lag im warmen Sonnenschein, und vor ihr in der Ferne sah sie einen Mann Holz hacken. Einen umwerfend gut aussehenden Mann mit nacktem Oberkörper, der ihre Aufmerksamkeit magisch auf sich zog.

Anna traf sich privat nur selten mit Männern, denn ihr voller Terminkalender ließ ihr nur wenig Spielraum, um sich zu verabreden.

Wie hypnotisiert schritt sie auf den Fremden zu. Sie spürte ein Prickeln und bekam eine Gänsehaut, die nichts mit dem frischen Wind zu tun hatte, der aufgekommen war.

Dann erkannte sie blitzartig, wen sie vor sich hatte: Judd Wilson!

Nur seinetwegen war sie hier.

Obwohl sie ihm nie begegnet war, musste er einfach der Sohn von Charles Wilson sein: Groß, dunkelhaarig und braun gebrannt, verkörperte er das Urbild eines Mannes, von dem Frauen träumten. Die scharf geschnittenen Gesichtszüge glichen unverkennbar denen seines Vaters. Vermutlich waren auch die Augen genauso strahlend blau …

Anna wunderte sich, dass Judd sie so aus dem Konzept brachte, denn damit hatte sie nicht im Entferntesten gerechnet. Schließlich war er der Sohn des Mannes, für den sie nicht nur arbeitete, sondern der sie von klein auf fast wie sein eigenes Kind behandelt hatte.

Sie zwang sich, ihre Gefühle zu verdrängen, die offenbar verrücktspielten. Immerhin war sie geschäftlich hier. Sie hatte Charles ein Versprechen gegeben, und das würde sie halten.

Ihre Anweisungen waren schmerzlich klar. Irgendwie musste sie Judd Wilson überreden, nach Hause zu kommen, nach Neuseeland. Bevor sein Vater starb, den er über zwei Jahrzehnte lang nicht gesehen hatte.

Zögernd ging sie den Weg weiter, der zwischen schier endlosen Reihen von Weinstöcken hindurchführte. Aber sie hatte nur Augen für den halb nackten Mann, der nicht ahnte, was ihm bevorstand … Schließlich blieb sie stehen. Mittlerweile fühlte sie sich längst nicht mehr so entschlossen wie zu Beginn ihrer Reise.

Bei der Scheidung seiner Eltern war Judd sechs gewesen und seine Schwester Nicole erst ein Jahr. Während er und seine Mutter Neuseeland verlassen hatten, waren Charles und Nicole geblieben – die Familienmitglieder hatten sich nie wiedergesehen.

Erinnerte sich Judd überhaupt noch an seinen Vater? Würde er sich über eine Versöhnung freuen – oder fühlte er nur Enttäuschung wegen der verlorenen Jahre?

Einerseits hatte sie Angst, wie er reagieren würde, andererseits stand sie voll auf Charles’ Seite. Hätte Cynthia Masters-Wilson ihn damals nicht hintergangen, hätte er sich sicher nie von seinem Sohn getrennt.

Anna kannte Cynthia nicht, aber diese Frau hatte die Familie zerstört, deshalb freute sie sich nicht auf die Begegnung mit ihr.

Zunächst einmal aber kam es darauf an, Charles’ Sohn kennenzulernen, damit sie einschätzen konnte, wie er auf das Angebot seines Vaters reagieren würde.

Dass sie Judd so überaus attraktiv fand, erschwerte ihren Auftrag noch mehr.

Während sie fasziniert das Spiel seiner Muskeln unter der sonnengebräunten Haut beobachtete, versuchte sie, sich nicht von ihrer Mission ablenken zu lassen.

Sie musste den Zeitpunkt gut wählen und geschickt vorgehen, um Erfolg zu haben. Das schuldete sie Charles, dem sie so viel verdankte. All die Jahre hatte er sie und ihre inzwischen verstorbene Mutter unterstützt. Nein, sie durfte nicht durch unbedachtes Vorgehen die Hoffnung des alten Mannes zunichtemachen. Sie musste es schaffen, dass Judd Wilson mit ihr kam.

Sie folgte einer Abzweigung, um ihm fürs Erste aus dem Weg zu gehen. Fünf Stunden war sie seinetwegen geflogen! Während ihres Aufenthaltes hier auf The Masters – einem Weingut mit Ferienappartements – würde sie noch genug Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen. Gut Ding will Weile haben …

Doch sie kam nicht weit.

„Hallo“, rief eine Stimme hinter ihr – dunkel und samtig wie Rotwein. „Ein schöner Nachmittag, nicht wahr?“

Anna nahm einen tiefen Atemzug, drehte sich um und sah in das Gesicht von Charles’ Sohn.

Als Judd die Spaziergängerin im blauen Kleid bemerkte, hielt er sie für einen Feriengast. Seine Cousine Tamsyn schickte zu Anfang der Woche immer einen Newsletter an alle Familienangehörigen und das Personal, welche Gäste erwartet wurden. Nur hatte sie darin nicht erwähnt, wie atemberaubend schön diese Frau war.

Er kniff die Augen zusammen, um jeder ihrer Bewegungen zu folgen. Mit unbeschreiblicher Anmut und Grazie schritt sie über den steinigen Weg. Ihr Gang, ihre weibliche Figur und besonders ihr Hüftschwung weckten seine männlichen Urinstinkte.

„Ich bin Judd Wilson. Willkommen auf The Masters.“

Er legte die Axt weg und streckte der unbekannten Schönen die Hand hin.

Etwas zögerlich lächelte sie – ein Lächeln, das ihn so stark ansprach, dass es ihm schon fast wehtat.

Als sie seine Hand nahm, durchströmte ihn heiße Begierde.

Interessant. Sehr interessant.

Vielleicht lag hier die Lösung seines Problems, das ihm seit einiger Zeit zu schaffen machte: Er langweilte sich.

Er lächelte und drückte ihr die Hand.

„Hallo. Ich bin Anna Garrick“, sagte sie mit rauer Stimme.

Aufmerksam sah sie ihn an. Kannten sie sich etwa? Aber nein, das konnte nicht sein. Wenn er ihr je früher begegnet wäre, würde er sich unter Garantie daran erinnern.

Denn sie entsprach in allen Einzelheiten seiner Vorstellung von einer Traumfrau. Angefangen beim kastanienbraunen Haar über die perfekte Figur bis hin zu den sorgfältig pedikürten Zehen. Selbst die Stimme, die sanft und ein bisschen spröde klang, schien seine Sinne zu streicheln. Sie war so eine beeindruckende Erscheinung, dass er sie mit Sicherheit nie vergessen hätte.

„Freut mich, Sie zu sehen, Anna. Sind Sie heute angekommen?“

Plötzlich wirkte sie nervös, als wollte sie etwas verbergen. Nur konnte er sich nicht vorstellen, was das sein könnte.

„Ja. Es ist wunderschön hier. Sie können sich glücklich schätzen, in dieser Gegend zu leben … Arbeiten Sie schon lange hier?“

Die Frage lag nahe, aber ihm war ihr Zögern nicht entgangen. Hatte sie sich ursprünglich anders ausdrücken wollen?

„Kann man so sagen. The Masters ist eine Art Familienbetrieb. Ich bin hier aufgewachsen.“

„Aber Ihr Name …?“

Ja, der Name. Der ihn immer wieder an seinen Vater erinnerte, von dem er als Kind verstoßen worden war. Und selbst jetzt, da er das weitverzweigte Familienunternehmen leitete, behandelten ihn manchmal sogar seine Cousins so, als ob er nicht wirklich dazugehören würde.

„Meine Mutter ist Cynthia Masters-Wilson“, antwortete er, ohne ins Detail zu gehen. Es gab nun wirklich angenehmere Themen.

„Hacken denn alle Masters Holz für die Kamine der Cottages?“, scherzte sie.

„Na klar. Für das Wohl unserer Gäste tun wir alles.“ Das klang bedeutend besser als die schlichte Wahrheit: Dass er sich nach einem frustrierenden Arbeitstag abreagieren musste.

Vor allem hatte er sich über seinen Cousin Ethan geärgert, der zwar vom Wein etwas verstand und ein hervorragender Kellermeister war – seine vielen preisgekrönten Weine bewiesen das –, dessen Sturheit aber unendlich nervte.

Ethan sollte unbedingt neue Wege gehen und nicht nur an den traditionellen Weinsorten der Masters festhalten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Seit es vor ein paar Jahren zu den ersten Überschussproduktionen gekommen war, hatte er ihn immer wieder darauf hingewiesen. Aber Ethan war ein unbelehrbarer Sturkopf.

Judd seufzte leise. Ja, er konnte die Abwechslung, die Annas Gesellschaft versprach, gut gebrauchen.

„Und ich hoffe, Sie lassen es mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann.“

„Danke für das Angebot, ich komme drauf zurück. Im Augenblick möchte ich mir einfach nur die wunderbare Landschaft ansehen, bevor es dunkel wird.“

„Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Sehen wir uns beim Abendessen?“

„Beim Abendessen?“, fragte sie.

„Ja, neu angekommene Gäste laden wir immer zu unserem Familiendinner ein. Den Gutschein dafür müssten Sie in Ihren Reiseunterlagen haben. Es beginnt um sieben Uhr mit Aperitifs im großen Salon.“ Er nahm ihre Hand. „Sie kommen doch, oder?“

„Ja, gern.“

„Sehr schön. Ich freue mich. Bis dann also.“ Er führte ihre Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss darauf.

Einen Moment wirkte sie erschrocken, aber dann blitzte ihr Lächeln wieder auf, das ihn so stark ansprach.

Er sah ihr nach, wie sie in der Dämmerung davonging. Dann blickte er zur Ruine des neugotischen Herrenhauses in den Hügeln auf.

Mehr war vom ursprünglichen Heim der Masters nicht mehr erhalten, ein Buschfeuer hatte es vor langer Zeit zerstört. Bis zum heutigen Tag kündete die Ruine vom einstigen Glanz der Familie. Und von ihrem Kampf, sich nach diesem vernichtenden Rückschlag wieder emporzuarbeiten. Aber die Mühe hatte sich gelohnt!

Judd war stolz, zu dieser Dynastie zu gehören, auch wenn sein Name anders lautete. Er war ebenso Teil der Familie wie seine Cousins. Trotzdem fühlte er sich manchmal als Außenseiter. Vielleicht hatte er darum härter gearbeitet als alle anderen. Und das hatte The Masters unter seiner Führung zu einem Weltunternehmen gemacht. Damit hatte er die Erwartungen seiner Familie bei Weitem übertroffen.

Abwechslung hatte er sich schon lange nicht mehr gegönnt. Seit Monaten fraßen ihn seine Verpflichtungen schier auf. Und gerade an diesem Tag war ihm klar geworden, dass er sich bei allem Engagement im Grunde seines Herzens langweilte.

Ihm fehlte eine positive Herausforderung. Ein Flirt mit der zauberhaften Anna Garrick kam ihm da wie gerufen.

Er stapelte die Holzscheite auf und räumte das Werkzeug weg. Dann ging er zum Duschen in seine Suite.

Vor ihm lag die positive Herausforderung, die er dringend brauchte.

Frisch geduscht betrat er den Salon, in dessen Kamin ein Feuer brannte. Von draußen drang kühle Nachtluft herein.

Das gemeinsame abendliche Dinner mit den Aperitifs davor war eine altmodische Familiensitte, die weit in die Vergangenheit zurückreichte. Bis in die Zeit der Ruine auf den Hügeln. Judd empfand diese Einrichtung als charmante Reminiszenz an alte Zeiten, die außerdem den Zusammenhalt förderte.

Er sah sich um, nickte grimmig in Ethans Richtung und lächelte dann seiner Mutter zu, die elegant gekleidet in ihrem Sessel beim Kamin saß.

Von Anna noch keine Spur.

Er ging zum Sideboard und goss sich ein Glas Spätburgunder, einen Pinot Noir, ein. In diesem Moment sah er Anna hereinkommen. Sofort setzte er sich in Bewegung, aber seine Mutter war schneller.

Als er hinzukam, hörte er, wie sie Anna fragte: „Entschuldigen Sie, aber Sie kommen mir so bekannt vor. Waren Sie schon einmal hier?“

Zu seiner Überraschung wirkte Anna ziemlich erschrocken.

„N…nein“, antwortete sie. „Das ist mein erster Aufenthalt in Südaustralien.“

Sie lächelte, aber weniger natürlich als sonst. Was steckte hinter diesem merkwürdigen Verhalten? Die Sache mit Anna Garrick versprach, interessant zu werden.

„Vielleicht haben Sie eine Doppelgängerin. Angeblich haben wir das alle.“ Geschickt überspielte Cynthia die Situation. „Sagen Sie, meine Liebe, was darf Ihnen Judd zu trinken holen?“

„Ein Glas Sauvignon Blanc, bitte. Ich habe gehört, zwei ihrer Sauvignon-Weine wurden vor Kurzem prämiert.“

„Ja“, bestätigte Cynthia. „Wir sind sehr stolz auf unseren Kellermeister Ethan und seine Arbeit.“ Dabei warf sie Judd einen vorwurfsvollen Blick zu, der ihm sagte, dass sein Cousin ihr offenbar bereits von ihrem Streit berichtet hatte.

„Ja, sind wir“, bestätigte er grollend. Dann holte er Anna ein Glas Wein und stellte sie Cynthias zwei älteren Brüdern und schließlich Ethan vor.

Als der sich erhob und sie willkommen hieß, sträubten sich Judds Nackenhaare.

Irgendwie musste ihn seine Miene verraten haben, denn Ethan sah ihn aufmerksam an und wandte sich dann wieder Anna zu. Er sagte etwas zu ihr, was sie zum Lachen brachte.

Ausgerechnet Ethan!

Judd presste die Zähne zusammen. Auf keinem Fall wollte er seinem Cousin eine Angriffsfläche bieten. Daher wandte er sich Tamsyn, Ethans Schwester, zu, die gerade hereinkam.

„Wie ich sehe, hat sich unser neuer Gast schon eingelebt“, sagte sie, nahm ihm das Weinglas aus der Hand, aus dem er noch nicht getrunken hatte, und nippte daran. An ihrem Finger funkelte ihr neuer Verlobungsring. „Mmh, ein guter Wein. Schenkst du mir ein Glas ein?“

„Behalte meins.“

„Danke.“ Tamsyn lächelte ihm zu.

„Kommt dein Verlobter heute nicht?“

„Nein, er ist noch in der Stadt. Er hat viel zu tun.“ Mit ihren warmen braunen Augen sah sie ihn aufmerksam an. „Du wirkst angespannt. Alles in Ordnung?“

Er zwang sich zu einem Lächeln. Tamsyn merkte immer, was mit ihm los war.

„Ja, alles klar. Aber noch besser wäre es, wenn dein Bruder sich so um Markttrends kümmern würde wie um unsere Gäste.“

Tamsyn lachte. „Du weißt doch, wie er ist! Die Marktsituation interessiert ihn herzlich wenig. – Aber was unseren Gast angeht …“ Sie wies mit dem Kinn auf Anna. „… brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ethan steht auf Blond, und seine schöne brünette Gesprächspartnerin schaut ständig in deine Richtung. Kennt ihr euch schon?“

Er nickte und betrachtete wohlgefällig Anna. Als sie tatsächlich zu ihm hersah, lächelte er zufrieden. „Weißt du, was sie in Adelaide macht?“, fragte er Tamsyn.

„Nein, aber sie ist nur vier Tage hier. Du musst dich also beeilen“, antwortete sie und lächelte vielsagend.

Er lachte. „Dann darf ich keine Zeit verlieren. Entschuldige mich bitte.“

Ohne Tamsyns Erwiderung abzuwarten, durchquerte er den Raum und stellte sich neben Anna.

Sie sah ihn an und lächelte.

„Es muss Spaß machen, in einer so großen Familie zu arbeiten“, sagte sie. „Ethan hat mir erklärt, wer hier welche Aufgaben hat.“

„Klar, es hat seine Vorteile … Aber sagen Sie, was haben Sie denn die nächsten Tage so vor? Zufällig habe ich zurzeit nur wenig zu tun. Ich würde mich freuen, Ihnen die Gegend zu zeigen.“

Anna zwang sich, gelassen zu bleiben. Genau auf eine solche Gelegenheit hatte sie gewartet. Wenn sie Zeit mit Judd Wilson verbrachte, ließ sich am besten mehr über ihn herausfinden.

Zwar hatte Charles ihr geraten, einfach einen Termin zu vereinbaren, um ihm den Brief zu übergeben. Den brisanten Brief, von dem sie das Gefühl hatte, dass er ein Loch in ihre Handtasche brannte.

Aber es erschien ihr weiser, Judd erst näher kennenzulernen. Denn nur so würde sie seine Reaktion einigermaßen einschätzen können. Charles hatte in seinem Leben schon genug Enttäuschungen erlebt. Wenn es nach ihr ging, sollte er einen ruhigen Lebensabend verbringen und nicht unnötig belastet werden.

Dem alten Mann bedeutete es alles, Kontakt zu Judd aufzunehmen und sich mit ihm zu versöhnen. Eine Ablehnung würde er nicht verkraften.

Sie war die Einzige, der er unter dem Siegel der Verschwiegenheit alles erzählt hatte. Nicht einmal seiner Tochter Nicole durfte sie etwas davon sagen.

Als Charles krank geworden war, hatte Nicole schrittweise die Leitung der Firma übernommen. Sie war Annas beste Freundin. Sie arbeiteten nicht nur zusammen, sie wohnten auch unter demselben Dach. Es tat weh, die Freundin nicht einweihen zu dürfen. Anna kam sich deshalb wie eine Verräterin vor.

Aber sie tat es für Charles. Er verdiente es, dass sein verlorener Sohn zu ihm kam. Nur war sie sich noch nicht im Klaren, wie sie das am besten anstellen sollte.

Das Vorhaben etwas hinauszuzögern erschien ihr als eine gute Lösung. Nur würde es sicherlich schwierig werden, Judds Anziehungskraft dauerhaft zu widerstehen …

Sorgfältig wählte sie ihre Worte. „Sie möchten mich wirklich herumführen? Das wäre toll! Ich möchte Sie aber nicht stören. Aber ich bin zum ersten Mal hier und habe schon jetzt das Gefühl, mir reicht die Zeit nicht, um alles zu sehen.“

Judd beugte sich näher zu ihr. „Wer weiß, vielleicht können wir Sie ja verführen, öfter wiederzukommen.“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Noch mehr Verführung von diesem Mann und sie würde eine kalte Dusche brauchen, um schlafen zu können.

In diesem Moment ertönte eine Glocke, die alle in den Speisesaal rief – und eine Erwiderung zum Glück überflüssig machte.

Höflich bot Judd ihr den Arm an. „Darf ich Sie zu Tisch führen?“

Anna zögerte einen Moment, dann legte sie die Hand in seine Armbeuge. „Sind Sie immer so förmlich?“

Er sah sie mit seinen leuchtenden blauen Augen durchdringend an. Der Blick ließ keine Zweifel, dass es gewisse Situationen gab, in denen er alle Förmlichkeit vergaß.

Ohne dass sie es verhindern konnte, reagierte Anna heftig auf diesen Gedanken. Ihre Brustwarzen richteten sich auf, ihr ganzer Körper schmerzte vor heißem Verlangen … dem Verlangen, von ihm berührt zu werden.

„Nur wenn es nötig ist“, antwortete er mit einem verführerischen Lächeln.

Anna zwang sich, wegzusehen, um seinem Charme nicht völlig zu erliegen. Vielleicht war das mit dem Kennenlernen doch keine so gute Idee?

Als Charles’ Sekretärin war sie den Umgang mit einflussreichen Geschäftsleuten gewohnt, aber nie war sie einem Mann mit einer solchen Ausstrahlung begegnet.

Worauf hatte sie sich da nur eingelassen!

Die lange Tafel im Speisezimmer war mit feinem Porzellan, Kristallgläsern und Silberbesteck prunkvoll gedeckt. Zum Glück ließ Anna sich, dank ihrer Kindheit im Haus von Charles Wilson, von derartiger Pracht nicht einschüchtern. Denn Charles hatte Wert darauf gelegt, ihr die gleichen Vorteile zu gewähren wie seiner Tochter Nicole. Annas Mutter mit ihrem Gehalt als Haushälterin hätte ihr das niemals ermöglichen können.

Beim Essen versuchte sie, sich ein Bild von der Familie zu machen, deren weibliches Oberhaupt offenbar Cynthia war. Während Judd seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, glich seine Schwester Nicole, von der er schon so lange getrennt war, eindeutig der Mutter.

Unauffällig betrachtete Anna Cynthia Masters-Wilson. So könnte ihre Freundin in fünfundzwanzig Jahren aussehen – nur hoffentlich ohne die feinen Fältchen um den Mund, die von Bitterkeit verursacht worden waren. Abgesehen davon wirkte die Frau mit den ersten Silberfäden im dichten dunklen Haar noch immer umwerfend attraktiv.

Ihr Auftreten hatte etwas Würdevolles, und sie erwartete selbstverständlich, dass andere sich nach ihren Wünschen richteten.

Anna fragte sich, wie sie sich wohl als Charles’ junge Ehefrau gefühlt hatte – bis Cynthia bemerkte, dass sie sie anstarrte.

Schnell sah Anna zur Seite, denn sie wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen.

Zwischen Cynthia und ihrem Sohn Judd bestand offenbar eine starke Bindung. Immer wieder gelang es ihm, der stolzen Frau ein Lächeln zu entlocken.

Aber wenn ihr Sohn ihr so viel bedeutete, warum hatte sie bei ihrer Rückkehr nach Australien ihre damals einjährige Tochter nicht mitgenommen? Hatte sie sich denn keine Sorgen um die Kleine gemacht? War es ihr egal gewesen, sie nicht heranwachsen zu sehen?

„Sie sehen ernst aus“, flüsterte Judd, der neben ihr saß, ihr ins Ohr. „Alles okay mit dem Essen?“

Wie sanft sich sein Atem anfühlte! Ein wohliges Prickeln durchrieselte sie. Sie zwang sich, das Gefühl zu ignorieren und unbefangen zu antworten. „Alles bestens, danke.“

„Beschäftigt Sie etwas?“, fragte er und füllte ihr Weinglas nach.

Allerdings: Du beschäftigst mich!

„Ich bin nur etwas müde“, wich sie aus.

„Wir können ganz schön anstrengend sein, stimmt’s?“

„Nein, durchaus nicht. Ich beneide Sie sogar um die große Familie. Ich selbst bin ein Einzelkind, und meine Eltern hatten auch keine Geschwister. Bestimmt sind Sie alle sehr glücklich.“

„Einerseits ja – und andererseits auch nicht.“ Er lachte gewinnend und entschärfte damit den letzten Teil seiner Aussage.

Zum wiederholten Mal fragte sie sich, was Charles und Cynthia – und somit auch ihre Kinder – auseinandergebracht hatte. Das Einzige, was sie von Charles wusste, war, dass sie ihn hintergangen hatte. Und dass er ein solches Verhalten unverzeihlich fand.

Was auch immer der genaue Grund gewesen sein mochte … Jedenfalls war damals nicht nur die Ehe entzweigegangen, es war auch zum Bruch mit Charles’ Geschäftspartner gekommen. So viele Schicksale hatten damals eine traurige Wendung erfahren.

Anna seufzte leise. Und nun sollte sie die Schäden ausbügeln!

Nach dem Dessert entschuldigte sie sich. Als sie aufstand, erhoben sich alle Männer am Tisch. Überwältigt von so guten Umgangsformen sagte sie: „Danke Ihnen allen für die angenehme Gesellschaft an diesem Abend. Und für das Abendessen.“

„Keine Ursache, Anna“, sagte Cynthia freundlich. „Sagen Sie bitte der Haushälterin Bescheid, ob Sie sich uns während ihres Aufenthaltes öfter anschließen möchten. Haben Sie morgen schon etwas Bestimmtes vor?“

„Wir wollen uns ein bisschen die Gegend ansehen und dann in Hahndorf Mittag essen“, schaltete Judd sich ein.

„Oh!“ Cynthia warf ihrem Sohn einen prüfenden Blick zu. Aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und lächelte. „Dann wünsche ich euch einen schönen Tag. Gute Nacht.“

Als Anna den Raum verließ, stellte sie überrascht fest, dass Judd ihr folgte. „Warum haben Sie Ihrer Mutter gesagt, dass wir einen Ausflug machen?“

„Weil es so ist“, sagte er zuversichtlich. „Wer die Adelaide Hills besucht, muss unbedingt einen Abstecher nach Hahndorf machen. Alles andere wäre in kultureller Hinsicht ein Armutszeugnis.“

„Armutszeugnis hin oder her – Ihre Mutter war nicht sehr begeistert.“

„Sie denkt, ich arbeite zu wenig. Aber lassen Sie das mein Problem sein.“

Sie verließen das Haus und gingen den Weg entlang, der zu dem modernisierten Cottage führte, in dem sie wohnte. An den Schultern spürte sie die kühle Nachtluft und wünschte, sie hätte ihren warmen Pashmina-Schal mitgenommen.

„Trotz der Gefahr, dass es klischeehaft wirkt …“ Judd zog seine Jacke aus und hängte sie ihr über die Schultern.

„Danke“, sagte sie sanft.

Das Seidenfutter der Smoking-Jacke war noch so warm, dass sie sofort aufhörte zu frösteln. Judds ansprechender Geruch mit einem Hauch von Holz und Vanille umhüllte sie. Sie liebte diesen Duft und spürte, wie sie dahinschmolz.

„Die Nächte sind jetzt schon ziemlich kalt“, sagte er. „Ich muss das Personal beauftragen, im Cottage Feuer zu machen, damit Sie es warm und behaglich haben.“

Sofort fiel ihr ein, wie sie ihn beim Holzhacken beobachtet hatte. Packte er alles mit so viel Energie an?

„Trotzdem ist es eine sehr schöne Nacht.“ Sie blickte zu den Sternen auf. Nur jetzt nicht auf die Gefühle achten, die er in mir auslöst!

„Allerdings. Das finde ich auch.“

Etwas in seiner Stimme veranlasste sie, ihn ansehen. Er betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß. Obwohl er ein Stück von ihr entfernt stand, erschien es ihr, als würde er sie mit diesem bewundernden Blick liebkosen.

Plötzlich fühlte sich ihr Hals trocken an, sie versuchte zu schlucken. Welche Sinnlichkeit dieser Mann in ihr weckte! Ohne dass er sie überhaupt berührte, verging sie fast vor Sehnsucht nach ihm.

Dabei kannte sie ihn kaum! Und doch stand sie kurz davor, all ihre selbst auferlegte Zurückhaltung aufzugeben. Wie schön musste es sein, mit ihm zusammen auszuprobieren, wozu sie die magische Anziehungskraft zwischen ihnen inspirierte …

Und er fühlte genau wie sie! Sie spürte die Energie, die er ausstrahlte, und seine erwartungsvolle Anspannung. Wie es wohl war, wenn er seine Selbstbeherrschung aufgab und die Begierde ihn übermannte? Einen Moment lang hing sie genussvoll dieser Fantasie nach, dann versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Leider vergebens.

Bevor sie etwas Unüberlegtes tun konnte, brach sie den Augenkontakt ab und ging eiliger als zuvor den Weg weiter.

Schweigend passte sich Judd ihrem Tempo an. Vor dem Cottage sah er zu, wie sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

Sie zog das Jackett aus und gab es ihm. „Danke.“

„Keine Ursache.“

Warum drehte er sich nicht einfach um und ging? Sie spürte, wie sie rot wurde. Erwartete er etwa, dass sie ihn hereinbat? Im Cottage gab es eine kleine Küche und eine gut bestückte Bar. Aber wie würde er es auffassen, wenn sie ihn auf eine Tasse Kaffee oder einen Drink einlud? Sie war sich sicher, wohin das führen würde: Sie würden eine Nacht voll wilder Leidenschaft verbringen, wie sie sie noch nie erlebt hatte.

Der Gedanke entsetzte und erregte sie zugleich. Sie war keine Frau für einen One Night Stand, außerdem trennte sie Geschäftliches und Privates strikt. Wenn sie Judd jetzt nachgab – was würde passieren, wenn sie ihm eröffnete, warum sie wirklich hier war?

„Sie sehen schon wieder ernst aus“, stellte er lächelnd fest.

„Kann sein, ich denke viel nach“, gestand sie.

„Wenn es so ist … Dann denken Sie doch mal hierüber nach.“

Irgendwie war er näher getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Er legte den Arm um sie, sie spürte die Wärme seiner Hand in ihrem Nacken.

Fast gleichzeitig hob sie den Kopf und öffnete leicht die Lippen, um zu protestieren. Aber schnell begriff sich, dass Protest nichts nützen würde. Sie wollte es so sehr wie er und schaffte es nicht, der Versuchung zu widerstehen.

Er küsste sie, und sein Mund fühlte sich so weich und sanft an, dass ihr ein wohlig-warmer Schauer den Rücken hinablief. Wäre der Kuss enttäuschend gewesen, hätte sie leichter die Kraft gefunden, Nein zu sagen. Aber tief im Herzen hatte sie schon vorher gewusst, welcher Zauber darin liegen würde …

Absichtlich ließ sie die Arme hängen und ballte die Fäuste, um Judd auf keinen Fall zu berühren. Aber seine fordernden Küsse erregten sie so sehr, dass sie einfach die Hände ausstrecken und seine breite Brust streicheln musste.

Durch den feinen Stoff des teuren Hemdes spürte sie die Hitze seines muskulösen Körpers und wusste plötzlich, dass dieser Mann sie unbeschreiblich glücklich machen könnte – vorausgesetzt, sie ließe es zu.

Er legte ihr den anderen Arm um die Taille und zog sie an sich. So gegen ihn gedrückt spürte sie, dass er genauso erregt wie sie war, und ihre Zungen fanden sich zu einem wilden Tanz.

Er schmeckte nach Wein und unausgesprochenen Verheißungen von etwas Köstlichem, Verbotenem. Alles um sie herum schien zu versinken, und Annas Zurückhaltung schmolz endgültig dahin. Sie presste sich an ihn, in dem vergeblichen Versuch, das brennende, unkontrollierbare Verlangen in ihr zu befriedigen. Stattdessen loderte es nur noch stärker.

Mit einer Leidenschaft, die sie in dieser Intensität noch nie gespürt hatte, erwiderte sie den Kuss. Sie fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar und hielt seinen Kopf fest, während ihr Atem immer schneller wurde. Sie spürte, wie sich ihre Brustwarzen hart gegen den Spitzenstoff ihres BHs drückten, sehnte sich danach, dass er ihre Brüste berührte, sie liebkoste, mit seinen warmen Lippen immer tiefer glitt …

Da durchschnitt der Ruf einer Eule die Luft und brachte Anna auf den Boden der Tatsachen zurück. Plötzlich dachte sie wieder an den Auftrag, der sie hierhergeführt hatte.

Sie löste ihre Finger, die sie in seine Haare gekrallt hatte, und ließ die Arme sinken. Dass der Kuss zu Ende war, hinterließ ein bittersüßes Gefühl, der Verlust seiner Berührungen schmerzte beinahe körperlich.

Judd lehnte seine Stirn an ihre. Die Augen hatte er geschlossen, die Lippen waren ganz nah vor ihren. Es wäre so leicht gewesen, ihn noch einmal zu küssen!

Aber sie wusste, dass es dabei ganz sicher nicht bleiben würde. Was wahrscheinlich als harmloser Gutenachtkuss gedacht war, hatte sich blitzschnell in ein heißes Vorspiel verwandelt. Aber sie durfte sich nicht auf die Verlockung einlassen, ohne dass sie ihm die Wahrheit sagte. Und dazu war sie noch nicht bereit.

Die erotisch aufgeladene Atmosphäre zwischen ihnen bot eine Fülle von Möglichkeiten, aber es gab nur eine richtige Entscheidung: Sie musste sich schnellstmöglich von ihm verabschieden.

„Sagst du allen euren Besucherinnen auf diese Art gute Nacht?“, fragte sie scherzhaft.

Er lächelte. „Nein. Nur dir.“

Nur drei Worte. Einfach so ausgesprochen. Dabei sah er sie so aufrichtig an, dass es ihr tief ins Herz drang. Sie kämpfte mit sich, um diesem Blick und den Gefühlen, die er auslöste, nicht zu erliegen.

Sie schluckte schwer. Wie sollte sie es ihm sagen, ohne lieblos zu wirken?

„Schon okay, Anna.“ Offenbar ahnte er, was in ihr vorging. „Lassen wir es beim Gutenachtkuss. Es sei denn, du willst mehr.“

„Ich … kann nicht. Ich …“

„Schon gut. Ich habe Geduld. Und du bist es wert, dass man auf dich wartet. Aber ich verspreche dir, früher oder später schlafen wir miteinander. Und das wird unvergesslich.“

Sprachlos sah sie ihn an. Oh ja, kein Zweifel, Sex mit diesem heißen Traummann wäre sicherlich ein unvergessliches Abenteuer!

Aber er ist doch Charles’ Sohn!

Er küsste sie auf die Wange, ganz nah an ihrem Mundwinkel.

Sie hätte nur ihrem Instinkt nachgeben und den Kopf ein klein wenig drehen müssen, schon wäre sie verloren gewesen. Aber sie bewegte sich nicht, und Judd verstand.

„Ich hole dich morgen früh um neun ab“, sagte er. „Schlaf gut.“

Sie sah ihm nach, wie er mit großen Schritten zurück Richtung Haupthaus ging. Als er außer Sicht war, ließ sie sich gegen den Türrahmen sinken.

Erst vor wenigen Stunden war sie hier in Australien eingetroffen – mit der Absicht, Judd zu überreden, dass er mit ihr nach Neuseeland kam, um sich mit seinem Vater zu versöhnen. Das war noch immer ihr Ziel, aber jetzt wollte sie noch etwas anderes: Zeit mit Judd verbringen, ihn küssen, berühren … und sehen, wohin die Anziehungskraft zwischen ihnen noch führte …

Aber diesem Wunsch durfte sie nicht nachgeben. Zu viel hing davon ab, wie Judd auf ihren Auftrag reagierte. Wenn etwas schiefging und er zu früh herausfand, dass sie keine harmlose Urlauberin war, würde sich Charles’ Hoffnung auf eine Versöhnung vielleicht für immer zerschlagen. So weit durfte es auf keinen Fall kommen! Lieber verzichtete sie auf die vielversprechende Beziehung zu Judd – auch wenn es unendlich schwerfiel.

Vorsichtig berührte sie mit den Fingern ihre Lippen. Sie spürte und schmeckte ihn noch. Und, oh ja, sie begehrte ihn, so sehr. Wie sollte sie unter diesen Umständen bloß einen ganzen Tag mit ihm verbringen?

2. KAPITEL

Judd lauschte dem satten Motorengeräusch seines Aston Martin, als er langsam die Privatstraße zu Annas Cottage entlangfuhr.

Er lächelte zufrieden – obwohl seine Muskeln hart und angespannt vor Erwartung waren. So sehr hatte er sich schon lange zu keiner Frau mehr hingezogen gefühlt. Genau genommen … Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass er bisher noch nie so intensiv für jemanden empfunden hatte.

Der Tag versprach, interessant zu werden, sehr interessant sogar. Und was wohl in der Nacht passieren würde …

Das dezente Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Träumen. Auf dem Display erschien die Nummer seiner Mutter. Er fuhr an den Straßenrand und nahm das Gespräch an.

„Guten Morgen, Mutter! So früh rufst du schon an?“

Cynthia hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf. „Ich weiß, wer sie ist.“

„Wer? Anna?“

„Wer denn sonst? Sie ist mir gleich so bekannt vorgekommen, und jetzt weiß ich auch, warum. Ich habe ihre Mutter gekannt. Sie hat bei Wilson Wines im Büro gearbeitet und immer mit den Verkäufern geflirtet. Einen von ihnen hat sie geheiratet – natürlich, weil sie schwanger war – und dann in der Firma aufgehört. Ich glaube, dein Vater hatte auch ein Auge auf sie geworfen. Als wir drei Jahre hier waren, ist ihr Mann ums Leben gekommen, und Charles hat sie zu sich genommen. Angeblich als seine Haushälterin … Als ob das irgendjemand glauben würde!“

Judd atmete tief durch. Jedes Mal, wenn Cynthia in diesem Ton von seinem Vater sprach, ging es ihm durch Mark und Bein.

„Hörst du mir noch zu, Judd?“

„Ja. Was erwartest du jetzt von mir?“

„Sprich sie darauf an. Ihre Mutter hat mit Charles zusammengelebt – und Anna auch. Finde raus, was sie hier will. Ich wette, sie macht keinen Urlaub. Ihr Aufenthalt hat irgendetwas mit deinem Vater zu tun.“

Auch wenn er es nicht gerne zugab – mit dieser Vermutung konnte sie recht haben. Vom ersten Moment an hatte er den Eindruck gehabt, dass Anna etwas vor ihm verbarg. Und wie sie ihn angesehen hatte! Um nach einer Ähnlichkeit mit seinem Vater zu suchen? Er verdrängte seine Verärgerung darüber, dass Charles vielleicht etwas im Schilde führte, und sagte ruhig: „Ich komm schon damit klar. Mach dir keine Sorgen.“

„Ich wusste gleich, dass es mit ihr Ärger gibt“, fuhr Cynthia fort. „Sie arbeitet für ihn. Würde mich nicht wundern, wenn sie etwas mit ihm hätte. Er stand schon immer auf jüngere Frauen.“

Wieder nahm Judd einen tiefen Atemzug. Auch nach all den Jahren klang seine Mutter noch so verbittert, wenn es um den Mann ging, der sie aus Neuseeland fortgeschickt hatte.

Er wusste noch zu gut, wie sie damals auf The Masters angekommen waren und sie ihm die Ruine des Hauses in den Hügeln gezeigt hatte.

Originalgetreu nach diesem ursprünglichen Heim der Masters hatte Charles für seine junge Braut das Haus in Neuseeland erbauen lassen.

Damals, als Sechsjährigen, entsetzte ihn der Anblick der Ruine, vor allem, weil ihm seine Mutter erklärte, dass sie sie symbolisch immer an das erinnern sollte, was sie durch Charles’ Schuld verloren hatten. Und tatsächlich hatte der Anblick ihn immer wieder daran gemahnt, eines Tages das Verlorene zurückzugewinnen.

Obwohl er als kleiner Junge nicht alles von dem verstand, was Cynthia ihm erklärt hatte, so begriff er doch, wie sehr es sie verletzte, von Charles aus ihrem Heim verstoßen worden zu sein.

Von da an führte ihm jeder Tag auf The Masters unmissverständlich vor Augen, was die Zurückweisung durch den eigenen Vater bedeutete. Viele Kleinigkeiten hatten ihn immer wieder daran erinnert: mitleidige Blicke von Verwandten, übereifrige Versuche seiner Onkel, ihm den Vater zu ersetzen, getuschelte Bemerkungen des Personals …

Er zwang sich, mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurückzukehren. „Wie gesagt, Mutter, ich komme schon klar. Spätestens heute Abend wissen wir mehr.“

„Gut. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Judd. Und sei vorsichtig.“

Er legte auf und fuhr zum Cottage. Oh ja, er würde so vorsichtig sein, dass Anna Garrick gar nicht merkte, wie ihr geschah.

Sie stand auf der Veranda vor dem Haus, trug legere Kleidung und wirkte frisch und trügerisch unschuldig. Denn in Wahrheit war sie alles andere als unschuldig, das wusste er inzwischen. Vor allem, wenn er an vergangene Nacht dachte. Hoffentlich ließ sich an diesem Abend etwas Ähnliches wiederholen, denn der Tag würde heiß werden, in jeder Hinsicht …

Als sie auf ihn zukam, stieg er aus und öffnete ihr die Beifahrertür.

„Schicker Wagen“, sagte sie.

„Ich war schon als Kind James-Bond-Fan.“ Er lächelte. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Sie lachte und setzte sich in den roten Ledersitz, dessen Farbton wunderbar mit ihren kastanienbraunen Haaren harmonierte.

Während er sich hinters Steuer des Sportwagens setzte, band sie sich das Haar zu einem Knoten zusammen.

„Ich kann das Verdeck auch schließen, wenn du willst“, bot er an und betrachtete ihren schönen Nacken.

„Nein, es ist so schön heute. Genießen wir den Tag.“ Sie strahlte ihn an – ein zauberhaftes, umwerfendes Lächeln, das ihn daran erinnerte, wie schrecklich es gewesen war, die Nacht alleine im Haupthaus zu verbringen statt bei ihr.

„Gute Idee!“, stimmte er zu und fuhr los. „Du hast erzählt, dass du zum ersten Mal in Adelaide bist. Wie bist du darauf gekommen, hier Urlaub zu machen?“

Sie schwieg einen Moment. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie die Lippen zusammenpresste und überlegte.

„Es wurde mir empfohlen“, antwortete sie schließlich und sah dabei aus dem Seitenfenster.

Oh ja, und er konnte sich auch lebhaft vorstellen, von wem. Ihr ausweichendes Verhalten sprach Bände. Ganz eindeutig hatte sie etwas zu verbergen. Und da dies offenbar mit seinem Vater zusammenhing, war er fest entschlossen, Licht ins Dunkel zu bringen, bevor es zu spät war. Und bis dahin konnte ihn nichts und niemand davon abhalten, die Zeit mit ihr in vollen Zügen auszukosten.

Als sie zwischen Weinstöcken in die öffentliche Straße einbogen, sah Anna zu der Ruine in den Hügeln hoch.

Judd wartete, dass sie fragte, was damals passiert war. So wie es jeder tat, der zum ersten Mal hierherkam. Aber sie schwieg und machte nur ein nachdenkliches Gesicht.

Er konnte nicht anders und erzählte von sich aus: „Masters’ Rise, das Haus dort oben … Zu seiner Zeit war es wunderschön.“

„Hat es deiner Familie gehört?“

Wusste sie es wirklich nicht, oder stellte sie sich nur ahnungslos? „Dieses nicht, obwohl ich als Kind in einem detailgetreuen Nachbau in Neuseeland gewohnt habe.“ Da sie noch immer schwieg, fuhr er fort: „Zu meiner Zeit war Masters’ Rise schon zerstört, aber meine Mutter und meine Onkel haben als Kinder dort gelebt. Ich glaube, der Familienstolz hat sich von diesem Verlust nie ganz erholt; meine Mutter jedenfalls leidet sehr darunter. Ein Teil des Weingartens wurde damals auch zerstört.“

„Und das Buschfeuer ließ sich nicht stoppen?“, fragte sie.

„Das Buschfeuer?“, fragte er und sah sie durchdringend an.

„Ja, ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, dass es der Grund war“, sagte sie hastig.

Gut reagiert, dachte er anerkennend und nickte langsam. „Damals waren die Menschen froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Aber leider ist ihnen sonst nicht viel geblieben – nur das typische Durchhaltevermögen der Masters. Das Haus im alten Stil wieder aufzubauen kam nicht infrage, dazu fehlten ihnen die Mittel. Für sie war es wichtiger, die Weingärten wieder instand zu setzen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.“

„Eine schwierige Zeit“, sagte Anna.

Judd nickte und schwieg. Wie schon oft fragte er sich, wie es seiner Familie ohne dieses Unglück ergangen wäre. Zu wissen, dass die guten Zeiten unwiderruflich dahin waren, musste für seine Mutter und ihre Brüder sehr traurig gewesen sein.

Hatte Cynthia deshalb so schnell Charles’ Antrag angenommen? Für ein Mädchen in ihrer Situation musste die Aussicht auf Reichtum und Luxus unwiderstehlich gewesen sein.

„So, was unternehmen wir denn jetzt?“, fragte Anna übertrieben heiter. „Gestern hast du Hahndorf erwähnt. Was ist das genau?“

Judd lächelte ihr zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete. „Es wurde im frühen neunzehnten Jahrhundert von deutschen Siedlern gegründet. Von der ursprünglichen Architektur ist noch vieles erhalten. Ich schlage vor, wir sehen uns ein wenig die Gegend an und essen dann dort zu Mittag.“

„Klingt gut. Danke, dass du dir die Zeit für mich nimmst.“

Judd drückte sanft ihre Hand. „Ich möchte dich unbedingt kennenlernen, Anna. Wie sollte ich da ruhig im Büro sitzen bleiben?“

Zu seiner Überraschung errötete sie bei diesen Worten. Die Unschuld, die darin zum Ausdruck kam, stand in reizvollem Kontrast zu ihrem verführerischen Verhalten in der Nacht. Kein Zweifel, Anna Garrick interessierte sich für ihn, und das mochte er. Selbst wenn sie sehr wahrscheinlich etwas vorhatte, von dem er noch nichts Genaues wusste.

Annas Finger prickelten unter Judds Berührung. Sie spürte deutlich, wie sie rot wurde. Dass sie so heftig auf ihn reagierte, würde noch zu vielen Problemen führen … Vorsichtig zog sie die Hand weg und lenkte sich ab, indem sie in ihrer Handtasche kramte.

Als sie dabei Charles’ Brief berührte, den sie Judd übergeben sollte, zuckte sie unwillkürlich zurück.

Betont fröhlich fragte sie: „So, wohin fahren wir jetzt?“

Er wies auf den höchsten Berg der Umgebung. „Zum Mount Lofty. Von dort aus überblickt man ganz Adelaide.“

Judd erwies sich als brillanter Fremdenführer. Nicht nur, dass er die Gegend sehr gut kannte, man merkte auch deutlich, wie sehr er sie liebte. Nachdem sie das herrliche Panorama genossen hatten, gingen sie in dem botanischen Garten am Fuß des Berges spazieren. Immer wieder musste Anna sich daran erinnern, dass sie nicht zum Vergnügen hier war.

Judd hatte die Finger lose mit ihren verschränkt, als sie den Weg entlangschlenderten. Diese leichte Berührung genügte schon, um ihren Körper in Alarmbereitschaft zu setzen. Mit jeder Faser sehnte sie sich danach, ihm wieder näher zu kommen.

Sie zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine Beziehung mit Judd Wilson war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Sie musste verrückt sein! Völlig verrückt! Aber egal, wie sehr sie ihren Verstand bemühte – ihr Körper gehorchte nur seinen eigenen Wünschen.

Ihr Handy klingelte leise in ihrer Tasche. Das war sicher Charles! Ihr Magen zog sich zusammen. Sie ließ Judds Hand los und griff nach dem Telefon. „Entschuldige bitte, ich muss rangehen.“

Charles nahm sich nicht die Zeit für einleitende Worte. „Hast du ihn schon getroffen?“, wollte er wissen.

„Ja, habe ich“, antwortete sie vorsichtig. Hätte sie doch das Gespräch nicht in Judds Gegenwart angenommen!

„Und, wie ist er so? Hast du ihm den Brief schon gegeben? Was hat er gesagt?“

Anna wusste nicht, was sie auf dieses Bombardement von Fragen erwidern sollte, ohne dass Judd Verdacht schöpfte.

„Ist im Moment schwierig … Nein, noch nicht …“

„Du kannst wegen ihm nicht sprechen, stimmt’s?“

„Ja genau. Kann ich dich später anrufen?“

„Ja sicher. Aber mach das auch wirklich!“

„Versprochen. Bis dann.“

„Anna leg noch nicht auf!“

Sie seufzte.

„Ich zähle auf dich“, sagte Charles. „Ich muss meinen Sohn wiederhaben!“

„Ich tue mein Bestes.“

„Danke. Du bist ein gutes Mädchen.“

Sie steckte das Telefon wieder in die Tasche und seufzte.

„Schlechte Nachrichten?“, fragte Judd.

„Nein, nicht direkt.“

„Kann ich irgendwie helfen?“

Beinahe hätte sie bei dieser Frage aufgelacht. Wenn er wüsste …!

Sie schüttelte den Kopf. „Nur die Arbeit. Da kümmere ich mich später drum. Jetzt habe ich erst mal Hunger. Wollen wir Mittagessen?“

„Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagte Judd und führte verführerisch ihre Hand an seine Lippen.

Das Funkeln seiner blauen Augen verriet ihr, dass es, was ihn betraf, nicht beim Essen bleiben musste. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln vor Erwartung anspannten. Sie zwang sich zu einem charmanten Lächeln. So schwierig hatte sie sich ihren Auftrag nicht vorgestellt!

Auf der Fahrt nach Hahndorf gingen ihr Charles’ Worte nicht aus dem Kopf. Ich muss meinen Sohn wiederhaben. Unerwartete Wut stieg in ihr auf. Vor lauter Besessenheit, was seinen verlorenen Sohn anging, vergaß er völlig, dass er auch eine Tochter hatte! Eine Tochter, die von Wein und Vertrieb fast noch mehr verstand als er selbst. Eine Tochter, die sich schon ihr ganzes Leben lang darum bemühte, die Leere auszufüllen, die Cynthia und Judd in seinem Herzen hinterlassen hatten.

Zum wiederholten Male fragte sich Anna, was genau in dem Brief stand. Sie wusste, dass Charles seinem Sohn darin einen Anreiz bot, damit er zurückkam – aber was das im Einzelnen war, konnte sie nur ahnen. Was bedeutete das für die Schwester, die sich an Judd nicht einmal erinnerte? Die hart arbeitete, um es ihrem Vater recht zu machen? Die sich nach seiner Anerkennung und Liebe sehnte?

Anna ließ nichts auf Charles kommen, schließlich war er die einzige Vaterfigur in ihrem Leben. Aber jetzt hatte sie Angst, dass er den Bogen überspannte und womöglich die Beziehung zu Nicole für immer zerstörte.

„Was arbeitest du, wenn man dich sogar im Urlaub anruft?“ Judds Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Vor dieser Frage hatte sie schon die ganze Zeit Angst gehabt.

„Oh, ich bin Sekretärin“, antwortete sie unverbindlich.

„Aber eine ziemlich wichtige, ohne die der Chef nicht klarkommt“, mutmaßte er.

Anna gelang ein Lächeln. „Ich arbeite für ihn, seit ich mit der Schule fertig bin. Wir stehen uns näher als es sonst üblich ist.“

Einen Moment sah Judd sie durchdringend an, dann achtete er wieder auf den Straßenverkehr. Als sie Hahndorf erreichten, fuhr er langsamer, und Anna konnte einen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken.

Entlang der Hauptstraße standen mächtige alte Bäume und altmodische Häuschen aus längst vergangenen Tagen. Nur die moderne Kleidung der Menschen und die Autos verrieten, dass sie sich nicht auf einer Zeitreise befanden.

Judd parkte den Aston Martin und ging zur Beifahrerseite, um ihr die Tür zu öffnen.

„Wenn ihr euch so nahesteht, wundert es mich, dass er dich überhaupt aus den Augen gelassen hat.“

„Ich kann doch tun und lassen, was ich will!“

„Freut mich, das zu hören“, sagte Judd, nahm ihre Hand und legte sie fest in seine Armbeuge. „Ich teile nämlich nicht gern.“

„Ich dachte immer, nur Einzelkinder sind so.“ Sie lachte und versuchte, die plötzliche Wärme zu ignorieren, die seine Worte in ihr ausgelöst hatten.

„Wie kommst du darauf, dass ich keines bin?“

Sie erschrak bis ins Mark. Verzweifelt überlegte sie, ob nicht irgendjemand in Adelaide ihr gegenüber seine Familienverhältnisse erwähnt hatte – aber das war nicht der Fall.

„Oh, keine Ahnung. Ich habe nur angenommen, dass du mit deinen vielen Cousins das Teilen gelernt hast.“

Sie hielt den Atem an, während sie auf seine Reaktion wartete.

Glücklicherweise lachte er. „Ja, eine naheliegende Schlussfolgerung.“

„Also, bist du ein Einzelkind?“, fragte sie. Wie fühlte er sich – mit einer Schwester, die er seit vielen Jahren nicht gesehen hatte?

Er zuckte die Achseln. „Das ist kompliziert. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs war und meine Schwester erst ein Jahr. Wir wurden aufgeteilt …“

„Seltsam, dass dein Vater nur deine Schwester behalten hat.“

„Er wollte mich nicht.“

Diese einfachen Worte verrieten so viel Schmerz, dass es ihr tief ins Herz schnitt. Sie wollte widersprechen, ihm versichern, dass Charles ihn durchaus wollte – aber das ging ja nicht.

„Hast du je versucht, Kontakt zu deiner Schwester aufzunehmen?“

„Wieso fragst du?“

„Ach, nur so. Vielleicht weil ich gern Geschwister hätte.“

„Ja, so sind wir Menschen. Immer will man das, was man nicht hat.“

Sie nickte nur. Schade, dass er ihrer Frage ausgewichen war …

Zusammen gingen sie über den schattigen Gehsteig und sahen sich die Geschäfte und Galerien an. Dann überquerten sie die Straße und setzten sich in einem gut besuchten Restaurant unter einen der Sonnenschirme an einen Tisch. Anna löste ihren Knoten und schüttelte ihr Haar. Als sie Judds bewundernden Blick bemerkte, schlug ihr Herz unwillkürlich schneller.

„Möchtest du eine Speisekarte?“, fragte er. „Oder soll ich dir etwas aussuchen?“

„Bitte bestell etwas für mich mit. Ich esse eigentlich alles.“

„Und was willst du trinken? Ein Glas Wein?“

Sie betrachtete einen Gast, der ein Bier mit großer Schaumkrone vor sich hatte. „Nein, lieber ein Bier.“

„Wirklich?“

„Ja klar! Gehörst du etwa zu den Leuten, die finden, dass Bier kein Getränk für Frauen ist?“

„Ganz und gar nicht!“ Er lachte. „Ich nehme auch eins.“

Kaum hatte er die Bestellung aufgegeben, als auch schon das Essen serviert wurde. Anna stöhnte, als sie die großen Portionen sah.

„Hier wird gekocht wie in ‚Good Old Germany‘. Das muss man einfach mal probiert haben“, sagte Judd.

Anna nahm einen Schluck von ihrem angenehm kalten Bier. „Mmh, gut!“

Während sie aß, achtete sie nicht darauf, dass ein paar Kinder um die Tische sausten. Eines davon blieb aus Versehen am Schultergurt ihrer Tasche hängen, die sie neben ihren Stuhl gestellt hatte.

Während Anna die Gläser festhielt, weil auch der Tisch wackelte, wurde die Tasche ein Stück weit mitgeschleift, und der Inhalt fiel heraus.

„Bitte entschuldigen Sie!“ Die Mutter des Kleinen beeilte sich, die verstreuten Habseligkeiten einzusammeln.

„Halb so schlimm“, sagte Anna und stopfte die Sachen wieder in die Tasche zurück. „Meine Schuld. Ich hätte sie nicht dahinstellen sollen.“

Judd war aufgesprungen und half beim Aufsammeln. Zu spät sah Anna, dass auch der Brief herausgefallen war. Als Judd danach griff und seinen Namen las, blieb ihr schier das Herz stehen.

Er setzte sich wieder und gab ihr ihre Sachen, aber den Umschlag behielt er. Er drehte ihn zwischen den Fingern, als wäre der Inhalt hochexplosiv. Was ja auch stimmte.

Der Junge und seine Mutter gingen wieder, aber Anna achtete nicht darauf. Mit angehaltenem Atem starrte sie Judd an.

„Würdest du dir bitte die Mühe machen, mir das zu erklären?“, fragte er in einem Tonfall, der keinerlei Wärme mehr enthielt.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Das ist ein Brief …“

„Das sehe ich. Und offenbar ist er für mich.“

Anna hielt die Spannung nicht mehr aus und sah auf ihre im Schoß verkrampften Hände. Sie hatte ihm den Brief geben wollen, wenn die Zeit dazu reif war. Wenn sie ihn gut genug kannte, um seine Reaktion einschätzen zu können. Jedenfalls nicht hier, vor all den vielen Leuten. Ohne Vorwarnung …

„Ja“, sagte sie nur.

Sie zuckte zusammen, als er den Umschlag aufriss. Sie hörte nur noch das leise Knistern des Papiers beim Auseinanderfalten. Von den Geräuschen der Umgebung, dem Tellerklappern und den Gesprächen der Gäste nahm sie nichts mehr wahr.

Endlich gab sie sich einen Ruck und blickte wieder auf: Judd las, was sein Vater ihm geschrieben hatte … Ein Brief wie dieser konnte ihr aller Leben von Grund auf verändern.

Als er fertig war, faltete er das Blatt wieder zusammen und steckte es zurück in den Umschlag. Noch immer sagte er kein Wort.

Ein seltsames Angstgefühl beschlich sie. Er war ruhig. Zu ruhig. Sie kannte dieses Verhalten von Charles und wusste, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war. Welches Unheil bahnte sich hier an?

Über den Tisch hinweg berührte sie seinen Arm. Aber er schüttelte ihre Hand ab wie ein lästiges Insekt.

„Judd“, setzte sie an. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie die Wut in seinen blauen Augen sah.

„Wer zum Teufel bist du, und was willst du wirklich hier?“

3. KAPITEL

Über den Tisch hinweg starrte Anna Judd an. Sie spürte förmlich, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Jetzt hatte sie alles verdorben! Wäre sie doch Charles’ Anweisung gefolgt! Sie hätte einen Termin vereinbaren und ohne Umschweife den Brief übergeben sollen.

Nach einem tiefen Atemzug sagte sie: „Ich habe dir gesagt, wer ich bin. Ich bin Anna Garrick. Und …“ Sie schluckte, „… ich bin hier, weil dein Vater verzweifelt seine Fehler wiedergutmachen will.“

„Wenn das so ist – warum kommt er dann nicht selbst?“ Seine Gesichtszüge wirkten hart und angespannt, und die blauen Augen funkelten aufgebracht. „Schämt er sich? Weil er mit seinem Stolz und seinen dummen Anschuldigungen unsere Familie auseinandergerissen hat?“

Anna gab ein leises Protestgeräusch von sich. Das stimmte nicht. Soviel sie von ihrer Mutter wusste, hatte Charles bei seiner Trennung von Cynthia zwar auch einiges falsch gemacht, aber wer hätte das unter einem solchen Druck nicht? Laut ihrer Mom traf aber Cynthia die Hauptschuld.

„Und? Ich höre.“

„Ihm geht es nicht gut. Der Arzt hat ihm die Reise nicht erlaubt.“ Der Diabetes, an dem er schon seit Jahren litt, war schlimmer geworden. Zum Teil lag es daran, dass die Diagnose so spät gestellt worden war, zum anderen an Charles’ Weigerung, ärztliche Ratschläge zu befolgen. Inzwischen machten sich die ersten Anzeichen eines drohenden Nierenversagens bemerkbar.

„Wie praktisch.“ Judd hob sein Glas und nahm einen großen Schluck.

Anna spürte, dass sie wütend wurde. „Ganz und gar nicht! Hör zu, ich bin nicht eingeweiht, was genau in dem Brief steht, aber ich kann es mir vorstellen. Charles bittet dich, zu kommen. Er möchte dich wiedersehen, bevor er …“ Sie brach ab.

„Bevor er was?“

„Bevor er stirbt.“

„Dir liegt wohl viel an ihm?“, fragte er emotionslos.

„Mehr als du dir vorstellen kannst“, antwortete sie. „Judd, er ist nicht gesund! Bitte, das ist vielleicht die letzte Chance. Du bist es ihm schuldig, schließlich ist er dein Vater.“

„Schuldig bin ich ihm gar nichts!“ Er lachte freudlos. „Ich bin bisher ganz gut ohne ihn zurechtgekommen und sehe nicht ein, warum sich daran etwas ändern sollte. Wobei ich zugeben muss, dass er sich einige Mühe gibt, mich zu ködern.“

„Zu ködern?“, fragte sie unbehaglich. Welche Anreize hatte Charles sich für Judd ausgedacht?

„Du weißt es wirklich noch nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Komisch, obwohl er dich als Mitarbeiterin so schätzt und obwohl du ihm, wie du selbst gesagt hast, auch persönlich sehr nahestehst, hat er es nicht für nötig befunden, dich zu informieren. Und das, trotzdem er dir so viel bedeutet?“

Anna hörte sehr wohl die versteckte Andeutung heraus, sie und Charles könnten ein Verhältnis haben. Ja, sie liebte ihn – wie einen Vater. Aber wie sollte sie das Judd erklären? Er würde ihr ja doch nicht glauben.

Er lehnte sich zurück und fixierte sie mit seinen leuchtend blauen Augen. „So wie es aussieht, will mir dein geschätzter Arbeitgeber den Hauptanteil an seinem Familienunternehmen übertragen.“

„Was?“

Den Hauptanteil? Einfach so? Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen. Sie schluckte. Wie konnte er Nicole das antun? Und sie selbst war ja nun leider auch in die Sache verstrickt!

Sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie in puncto Loyalität und Ehrlichkeit ebenso hohe Anforderungen stellte wie ihr Vater.

Wenn Nicole erfuhr, dass sie hinter ihrem Rücken die Botin gespielt hatte, damit Charles die Firma Judd übergeben konnte – würde sie je wieder mit ihr reden?

„Und das ist noch nicht alles. Offensichtlich soll ich das Haus auch bekommen.“ Er wedelte mit dem Brief in der Luft herum.

Anna glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „So etwas würde er niemals machen. Du fühlst dich doch ihm oder Wilson Wines gegenüber überhaupt nicht verpflichtet! Vielleicht verkaufst du deinen Anteil an wer weiß wen? Nein, so unbedacht ist Charles nicht.“

Wirklich nicht? Wenn das stimmte, musste der alte Mann verzweifelt bemüht sein, die Kluft zwischen ihm und Judd zu überwinden. Aber auf Nicole würde sich das vernichtend auswirken. Sie war in Neuseeland aufgewachsen, in ebendiesem Haus. Sie engagierte sich mit Leib und Seele für die Firma. Und jetzt sollte sie zusehen, wie ihrem Bruder alles einfach so zuflog? Nein, so grausam konnte Charles nicht sein!

Oder doch? Sie kannte seine Zielstrebigkeit. Die Ärzte gaben ihm nicht mehr lang, und bevor er starb, wollte er seinen Sohn zurückhaben. Und das versuchte er mit allen Mitteln – ohne Rücksicht auf die Gefühle seiner Tochter, die ihn so sehr liebte.

Er hatte postum einen Brief von seinem früheren Geschäftspartner und größten Konkurrenten bekommen, von Thomas Jackson.

Seitdem war der Wunsch, den Kontakt zu Judd wiederherzustellen, fast zur Besessenheit geworden.

Anna kannte den genauen Inhalt dieses Briefes nicht, aber sie konnte sich denken, worum es darin ging: um das damalige Zerwürfnis der beiden Männer und um Cynthias und Judds Auswanderung kurz darauf.

Hatten Thomas Jackson und Cynthia ein Verhältnis gehabt?

Judd hielt ihr den Brief hin. „Lies selbst.“

Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, sodass sie blinzeln musste. Es stimmte. In seiner krakeligen Handschrift bat ihr Chef Judd flehentlich, zu ihm zurückzukommen. Wie schwer musste es dem alten Mann gefallen sein, seinem Sohn, von dem er sich vor fünfundzwanzig Jahren abgewendet hatte, seine Gefühle zu offenbaren? Immerhin sicherte er sich dadurch ab, dass er auf einem DNA-Test bestand, der jeden Zweifel an seiner Vaterschaft ausräumen sollte.

Aha, jetzt ergab alles einen Sinn!

Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn Judd zurück.

„Davon hatte ich keine Ahnung. Nimmst du sein Angebot an?“

„Er kränkt meine Mutter – nach all den Jahren. Und da glaubst du, ich werfe mich in seine Arme?“

„Wie meinst du das, er kränkt deine Mutter?“

„Mit dem DNA-Test. Er traut ihr zu, dass sie ihn betrogen hat! Egal, was sonst noch in dem Brief steht, er hat sich kein bisschen geändert. Es ist offensichtlich, dass er noch immer das Sagen haben will. Und dann du …“

„Ich?“

„Welche Rolle spielst du bei alldem? Sollst du auch dabei helfen, mir die Rückkehr zu versüßen?“

Anna spürte, wie sie knallrot wurde. „Es gefällt mir nicht, was du da sagst …“

„Aber der Schluss liegt doch nahe! Überleg doch mal: Du kommst ins Haus meiner Familie. Du sagst nicht, wer du bist und was du wirklich willst. Und du gehst bereitwillig auf meine Annäherungsversuche ein. Jedenfalls hattest du nichts dagegen, als ich dich letzte Nacht geküsst habe.“

„Das war …“ Sie brach ab.

„Was war das, Anna?“, hakte er nach. „Doch wohl kaum reine Pflichterfüllung.“

Anna verbiss sich eine Erwiderung und sagte so ruhig wie möglich: „Ich habe meinen Auftrag erfüllt, du hast den Brief. Jetzt bist du am Zug.“

Nur leider hatte sie Charles damit enttäuscht. Sie schluckte. Nie hatte er sie um etwas Wichtigeres gebeten – und sie hatte versagt. Ein bitteres Eingeständnis!

„Bitte lass nicht zu, dass mein Verhalten deine Entscheidung beeinflusst! Dein Vater wollte nämlich, dass ich mich dir gegenüber völlig ehrlich verhalte. Es war meine eigene Idee, dich im Unklaren zu lassen.“

„Wieso das denn?“

„Ich wusste, dass er sich mit dir versöhnen will, und ich habe mir Sorgen gemacht, wie du es aufnimmst und ob du ihn vielleicht ausnützen willst. Er ist ein alter und kranker Mann, der keine Rückschläge mehr verkraften kann.“

„So denkst du über ihn?“

Sie nickte. „Du kennst ihn nicht. Schieb doch den Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Vorbei ist vorbei. Vielleicht kannst du dann dir vorstellen, was es bedeutet, dass er alles wiedergutmachen will.“

Judd starrte sie an, ohne dass sie seine Miene deuten konnte.

Sie fühlte sich immer unwohler.

Annas Worte erschienen Judd wie eine Zumutung.

Was schlug sie da vor? Den Gedanken an die Vergangenheit beiseitezuschieben? Hatte sie überhaupt die leiseste Ahnung, was sie da von ihm verlangte?

Natürlich nicht. Woher sollte sie wissen, wie es sich anfühlte, von einem Moment auf den anderen vom geliebten Vater verstoßen zu werden? In eine neue Familie, eine völlig andere Welt versetzt zu werden? Stark sein zu müssen, weil die Mutter es erwartete?

Wie oft hatte er auf The Masters aus dem Fenster gesehen und die ankommenden Fahrzeuge beobachtet! Und dabei sehnlichst und wider alle Vernunft gehofft, sein Vater würde kommen …

Aber was er sich als Sechsjähriger so sehr gewünscht hatte, war nie geschehen. Bei Schulaufführungen hatte er es sich schnell abgewöhnt, Ausschau nach dem Mann zu halten, dem er angeblich wie aus dem Gesicht geschnitten war. Irgendwann begriff er, dass sein Leben nie wieder so werden würde wie früher.

Dadurch war er hart geworden. Er verließ sich grundsätzlich nur auf einen einzigen Menschen: Auf sich selbst.

Sein erster Impuls war gewesen, Charles’ flehentlichen Brief zusammenzuknüllen und Anna ausrichten zu lassen, er könne ihn sich sonst wohin stecken. Aber die Vernunft siegte über diese Gefühlsaufwallung.

Denn ohne es zu ahnen, bot ihm sein lange entfremdeter Vater damit die Gelegenheit zu der Rache, nach der er sich immer gesehnt hatte. Endlich konnte er ihm heimzahlen, was er ihnen angetan hatte.

Cynthia hatte ihm die Geschichte oft genug erzählt: Direkt nach der Hochzeit hatte er das Interesse verloren und sich nicht mehr um sie gekümmert. Alles andere war ihm wichtiger gewesen als seine junge Frau. Als sich Cynthia in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung einen eigenen Freundeskreis und eigene Hobbys hatte aufbauen wollen, war sein ausgeprägter Besitzanspruch zutage getreten. Rasend vor Eifersucht kam er letztendlich zu der Überzeugung, dass sie ihn betrogen habe.

Dann eskalierte die ganze Situation in dem Streit, bei dem er Frau und Sohn des Hauses verwies.

Seitdem hatte Judd seinen Vater nicht wiedergesehen. Und nicht nur das: Auch jeder andere Kontakt zu ihm war abgebrochen. Keine Anrufe. Keine Briefe. Charles hatte ihn und Cynthia konsequent aus seinem Leben verbannt.

Und nun bekam er die Chance, sich zu rächen. Mit dem Hauptanteil an der Firma gab ihm Charles selbst die Mittel dazu in die Hand.

Nach allem, was er von seiner Mutter gehört hatte, war Charles ein Mann, dem geschäftliche Belange weitaus wichtiger waren als die Familie.

Also würde er da zuschlagen, wo es ihn am meisten schmerzte. Er musste nur noch in Ruhe über seine Pläne nachdenken, aber dann, dessen war er sich sicher, würde er Charles’ Angebot annehmen.

Er betrachtete Anna. Mit ihren seidig schimmernden langen Haaren und ihrer attraktiven Figur war sie eine wunderschöne Frau, wie man sie sich anziehender nicht vorstellen konnte. Sie weckte unweigerlich den Wunsch in ihm, sie in jeder Bedeutung des Wortes zu besitzen.

Plötzlich kamen ihm wieder Bedenken wegen Anna. Denn der Brief warf auch ein völlig neues Licht auf ihre Rolle.

Hatte sie aus einem Grund gezögert, den sie nicht zugeben wollte? Fürchtete sie bei seiner Rückkehr um ihre eigene Position in Charles’ Haus, vielleicht um ihr Erbe?

Charles hatte sie als Botin für sein Versöhnungsangebot ausgewählt, also vertraute er ihr völlig. Außerdem hatte sie selbst betont, wie nah er ihr stand. Aber wie nah? Hatte Cynthia recht? War sie tatsächlich Charles’ Geliebte?

Wenn das stimmte, würde es ihm eine doppelte Befriedigung bereiten, sie zu verführen.

Aber damit würde er warten, bis die Zeit reif war. Im Augenblick genügte es ihm, sie von The Masters wegzubekommen, damit sie keinen weiteren Schaden anrichtete.