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Willkommen in The Point - der Stadt der Außenseiter, Gesetzlosen und gebrochenen Herzen. Als König der Unterwelt hat Race die Kontrolle über The Point. Damit Gewalt und Verbrechen nicht eskalieren, tut er, was getan werden muss. Er bekommt, was er will - und wen er will. Nur die aufregende Brysen nicht. Seit er ihr das erste Mal begegnet ist, straft sie ihn mit Verachtung. Aber Race setzt alles daran, das zu ändern … Brysen weiß nicht, wie lange sie noch vorgeben kann, sich nicht zu Race hingezogen zu fühlen. Dieser Mann weckt die wildesten Fantasien in ihr. Allerdings ist in ihrem Leben kein Platz für einen Bad Boy wie ihn! Doch ausgerechnet Race scheint ihr helfen zu können, als Brysen von einem Stalker bedroht wird … Manche Typen sind eben gerade gut, wenn sie richtig gefährlich sind! "Verführerisch, düster und überwältigend." Romantic Times Book Reviews "Dieser Roman wird Sie umhauen!" New York Times-Bestsellerautorin Katy Evans
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Seitenzahl: 513
Zum Buch:
Brysen weiß nicht, wie lange sie noch vorgeben kann, sich nicht zu Race hingezogen zu fühlen. Dieser Mann weckt in ihr die wildesten Fantasien und eine alles verzehrende Lust. Allerdings ist in ihrem Leben kein Platz für einen Bad Boy wie ihn! Um sich und ihre Gefühle zu beherrschen, versucht sie, Race möglichst aus dem Weg zu gehen und jedes Alleinsein mit ihm zu vermeiden. Doch als ein Stalker sie bedroht, scheint ausgerechnet nur Race ihr helfen zu können …
„Verführerisch, düster und überwältigend.“
Romantic Times Book Reviews
Zur Autorin:
Jay Crownover ist eigentlich rothaarig, hat ihre natürliche Haarfarbe aber seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist ein großer Fan von Tattoos. Seit ihrer Collegezeit arbeitet sie in Bars, was ihr spannende Einblicke in die Beziehungen zwischen Männern und Frauen verschafft hat. Für sie geht nichts über eine gute Story mit interessanten Charakteren, die den Leser berühren.
Lieferbare Titel:
The Point – Entfesselte Sehnsucht
Jay Crownover
The Point – Wilde Hingabe
Roman
Aus dem Amerikanischen von Ira Panic
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Better When He’s Bold
Copyright © 2015 by Jennifer M. Voorhees
erschienen bei: William Morrow, New York
Published by arrangement with
William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: any.way Hamburg / Barbara Hanke und Cordula Schmidt Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Shutterstock; Fotolia / Andrey Kiselev
ISBN eBook 978-3-95649-557-1
www.harpercollins.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die schon einmal ganz unten waren. Es kommt nicht darauf an, wo du bist, sondern, was du daraus machst.
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars.
Oscar Wilde
Das Schreiben dieser Romanserie – all die Zeit, die ich mit meinen Figuren verbringe – macht mich richtig glücklich. Ich liebe die Herausforderung. Ich liebe das Durcheinander. Ich liebe es, wenn es etwas anders läuft und ich gefordert werde, härter zu arbeiten und mehr nachzudenken.
Ich möchte ausdrücklich jedem Einzelnen danken, der diesen wilden Ritt mit mir durchsteht. Es ist wirklich ungeheuer wichtig für mich, dass ihr mir meine Freiheit lasst und dadurch mehr als nur ein Buch dabei herauskommt. Ich habe so viele Ideen, so viele Geschichten zu erzählen, dass es mir schwerfällt, sie alle zu Papier zu bringen. Ich weiß, ich würde an meiner eigenen Kreativität ersticken, wenn ich immer wieder nur das Gleiche tun müsste. Ich liebe euch, und ich liebe es, mit euch diese verrückte Reise weiterzuführen.
Ich weiß, dass The Point und die Jungs, die den Laden schmeißen, nicht jedermanns Sache sind. Es ist mir auch klar, dass Race nicht allen passt, da er sich ziemlich von meinen üblichen Draufgängertypen unterscheidet. Deshalb bedeutet es mir eine Menge, von denen unter euch zu hören, die diese Veränderung mögen – den Wandel der Szenerie und der Männer. Denn ihr wart ja da, habt das harte Leben dort durchlitten oder kennt zumindest jemanden, dem es so ergangen ist. Und wisst es deshalb zu würdigen, dass die schlechten Viertel die gleiche erzählerische Zuwendung erfahren wie die glatte und geschniegelte Großstadt. Es ist cool auf der dunklen Seite … Die Jungs von da sind was Besonderes.
Ich werde immer nur über das schreiben, was mich interessiert, mich anspricht oder bewegt – und was ich faszinierend und spannend finde. Auf meinem Weg bin ich sehr vielen tollen Büchermenschen begegnet, die das zu schätzen wissen.
In diesem Sinne viel Spaß bei der nächsten gefährlichen Folge der The-Point-Serie … Auf das Chaos, auf die Familie, aufs Risiko, auf das Glück – und vor allem: auf den Wandel! Denn ohne Wandel würde unsere Sicht auf die Welt stagnieren, egal, aus welchem Winkel wir sie betrachten.
Jay
Willkommen in The Point … wo diesmal das Glück mit den Mutigen ist.
Einige Männer kann man einfach nicht ignorieren. Es ist so, als würden sich alle anderen um sie herum nur in Zeitlupe bewegen oder als wären sie in Schwarz-Weiß aufgenommen, während er der einzige Farbklecks ist; das Einzige, was sich im Raum bewegt. Race Hartman war so ein Typ Mann. Obwohl uns ein ganzer Haufen lauter, aufgedrehter und betrunkener Leute voneinander trennte und ich bezweifelte, dass ihm überhaupt klar war, auf derselben Party wie ich zu sein, hatte ich doch nur Augen für ihn. Groß, blond, mit einem Gesicht und Körper ausgestattet, um das weibliche Geschlecht blind vor Lust zu machen, war er ohne Zweifel hübsch und lecker anzusehen – wie alles, was eher schädlich für einen ist. Ich wollte aufhören, ihn weiter anzustarren, konnte es aber nicht sein lassen. Er war dermaßen dynamisch … so verwegen. In meiner Welt, in der die Dinge grau und leblos waren, war er schlicht ein sinnlicher Leckerbissen für die Augen, und ich war dabei, ihn voller Verlangen zu verschlingen.
Mir fehlten die Zeiten, in denen ich bloß zur Schule gegangen war, Party gemacht, eine fantastische Zeit gehabt und mich so verhalten hatte, als gäbe es nichts auf der Welt, was mich kümmern könnte. Diese Tage waren lange vorbei, also ermahnte ich mich, besser damit aufzuhören, Race wie eine Idiotin anzustarren, und zu versuchen, diesen Abend zu genießen, an dem ich freihatte und auch zu Hause nicht gebraucht wurde. Meine kleine Schwester war über Nacht bei einer Freundin, und mein Vater hatte sich bereit erklärt, bei Mom zu bleiben. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, mich wie eine normale Einundzwanzigjährige benehmen zu können. Stattdessen verplemperte ich sie, indem ich dem älteren Bruder meiner besten Freundin hinterherhechelte – und schlimmer noch: Er war der wohl unpassendste Typ auf der ganzen Welt, um sich zu verknallen.
„Kennst du ihn?“
Meine Freundin Adria hatte mich überredet, heute Abend mitzukommen. Früher hatten derlei Partys mehr Spaß gemacht. Ich nippte an einem lauwarmen Bier aus einem roten Plastikbecher und kämpfte gegen meine Augen, deren Blick unwillkürlich zu Race wanderte.
„Er ist Dovies älterer Bruder“, antwortete ich.
„Ach, tatsächlich?“
Ihr Zweifel war berechtigt. Während Race eine majestätische Aura umgab, aussah wie eine goldene Gottheit, die vom Himmel herabgesandt wurde, um über uns nichtige Sterbliche zu herrschen, war Dovie Pryce ein zerzauster Rotschopf voller Sommersprossen und unauffälliger als unauffällig. Sie war niedlich – allerhöchstens, nicht so atemberaubend wie ihr Bruder. Außerdem war sie die netteste Person auf der ganzen Welt. Ich war ziemlich sicher, dass Races eindrucksvoller Körper nicht eine einzige nette Faser enthielt.
Meine Finger umklammerten den Plastikbecher fester, sowie er den Kopf drehte und mich mit seinen moosgrünen Augen anschaute.
„Ja wirklich.“ Meine Stimme war rauer als sonst, das fiel selbst mir auf.
„Wie kann das sein?“
Ich mochte Adria. Wir hatten Unternehmensfinanzierung zusammen, und sie war eine der wenigen, die mich nicht hatten fallen lassen, als ich zurück nach Hause ziehen musste, nachdem alles mit meiner Mutter den Bach runtergegangen war. Ich hatte nicht mehr wirklich was zu lachen, was bedeutete, dass ich auch kaum noch Freunde hatte. Die komplizierten Verhältnisse in der Hartman-Familie zu erörtern war allerdings auch nicht unbedingt das, was ich für diesen Abend geplant hatte. Races und Dovies Familiengeschichte war nicht gerade spaßig, doch genau das war es, wonach mir heute Abend war: Spaß.
Ich schluckte, denn Race bahnte sich den Weg durch die Menge der tanzenden und sich aneinanderreibenden Studenten in unsere Richtung. Instinktiv machten ihm die Leute Platz. Es war so, als würde ihn ein Magnetfeld aus roher Gewalt umgeben, welches sich nur diejenigen auszutesten trauten, die gern gefährlich lebten. Zu denen gehörte ich nicht. Zumindest redete ich mir das jedes Mal ein, wenn ich in seiner Nähe war.
Natürlich fand ich ihn richtig heiß, schon seit ich ihm das erste Mal begegnet war, während er Dovie bei der Arbeit abgesetzt hatte – er ahnte allerdings nichts davon. Race war kein braver Junge, und mein Leben war schwierig genug, auch ohne die Komplikation, die er mit sich brachte.
Um Race und all diese verräterischen Gefühle zu beherrschen, war ich richtig fies zu ihm … wirklich richtig, richtig gemein. Ich war eiskalt. Ich gab mich desinteressiert. Ich war unhöflich, manchmal sogar bösartig. Ich behandelte ihn, als sei er eine widerwärtige, eklige Person, und wenn das nicht klappte, ignorierte ich ihn und tat so, als sei es reine Zeitverschwendung für mich, auch nur mit ihm zu reden. Doch es wurde immer schwieriger, mich so zu verhalten: Je mehr ich ihn missachtete, desto charmanter verhielt er sich mir gegenüber. Wir waren in einem aufreizenden Spiel gefangen, und ich hatte große Angst, dieses Spiel zu verlieren. Race wollte mich und verbarg das auch nicht. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch meine unberechenbare Lust gegen die Attacken dieser grünen Augen und dieses goldlockigen wunderbaren Kopfes im Zaum halten konnte.
Er ließ ein Millionen-Watt-Lächeln in meine Richtung aufblitzen und blieb stehen. Er überragte mich bei Weitem. Selbst mit meinen Fünfzehn-Zentimeter-Absätzen wirkte ich winzig.
„Ach, hallo Brysen.“
Ich verdrehte die Augen und hob den Becher an, um mein unkontrolliertes Schlucken zu verstecken, das seine raue Stimme ausgelöst hatte. „Race.“
Adria rammte mir ihren spitzen Ellbogen in die Seite.
Ich räusperte mich und schaute zu ihr. „Das ist meine Freundin Adria.“
Er streckte ihr seine große Hand entgegen und umfasste ihre viel kleinere. Ich sah förmlich vor mir, wie ihr Slip feucht wurde.
„Was tust du denn hier?“, wandte er sich an mich.
Ich hätte ihn das fragen sollen. Dies war eine College-Party, voll mit betrunkenen Jungs und Mädchen. Ich war wenigstens an der Uni um die Ecke eingeschrieben, aber Race hatte sein akademisches Leben längst für eine kriminelle Existenz und jede Menge illegaler Aktivitäten an den Nagel gehängt. Er war derjenige, der nicht hier sein sollte.
„Nur ein bisschen Spaß haben.“ Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst uninteressiert klingen zu lassen. Doch wenn er hören könnte, wie mein Herz schlug, hätte mein Spiel ein Ende.
Langsam zog er eine seiner blonden Brauen hoch und lächelte mich an. Oh Gott, in seiner linken Wange hatte er ein Killer-Grübchen! Unbedingt wollte ich mit meiner Zunge darüberstreichen. Ich grub meine Fingernägel in meine Handflächen und atmete tief durch.
„Spaß haben? Ich bin erstaunt, dass du weißt, wie das geht, Bry“, erwiderte er.
Er hatte völlig recht. Ich konnte also nur meinen Blick senken und die Eiskönigin-Maske wieder aufsetzen, die ich ja dauernd in seiner Anwesenheit zur Schau trug.
„Und was machst du hier, Race? Armen College-Studenten ihre Stipendien-Schecks aus den Rippen leiern?“
Er hob die andere Braue. Als er uns erneut sein typisches Lächeln schenkte, haute es sowohl Adria als auch mich fast um. Etwas Düsteres flackerte in seinen grünen Augen auf, ich wollte einen Schritt zurücktreten. Race war in vieler Hinsicht gefährlich, das musste ich im Gedächtnis behalten.
„Die meisten College-Kids haben keinerlei Verstand und mögen Herausforderungen. Das ist der ideale Nährboden für mich. Außerdem fängt nächstes Wochenende die Football-Saison an, deshalb musste ich mich um ein paar frühe Kunden kümmern.“ Sein Blick glitt über den Scheitel meines seidig glänzenden Bobs bis zu den Spitzen meiner High Heels. „Ich bin länger geblieben – wegen der Aussicht.“
Adria räusperte sich und schaute uns abwechselnd an. „Kunden? Bei einer Party? Was genau machst du eigentlich?“
Wenn sie wüsste, was für illegale Dinge Race so tat …
Er legte den Kopf schräg, und das blendende Lächeln, das er wie eine Waffe benutzte, erlosch. Race Hartman hatte viele Facetten. Seine dunklere härtere Seite hatte sich erst gezeigt, nachdem er beschlossen hatte, die Führung eines großen Verbrechersyndikats zu übernehmen, nachdem er eine entscheidende Rolle dabei gespielt hatte, Novak, die ehemalige Nummer eins, zur Strecke zu bringen. Race war nicht nur ein Bad Boy, ein Krimineller, er war der Bad Boy schlechthin. Er kontrollierte verbotene Wetten, verlieh Geld zu Wucherzinsen, betrieb illegale Spielhallen, half seinem besten Freund dabei, gestohlene Autos zu zerlegen und zu verschieben, und sorgte außerdem dafür, dass jeder in The Point wusste, dass er jetzt derjenige war, der auf der Straße das Sagen hatte. Eigentlich war er viel zu hübsch, um so schrecklich zu sein, aber dank Dovie wusste ich genau, wie viel Dreck Race am Stecken hatte, seit er Novaks Imperium leitete. Ganz zu schweigen davon, dass sein neuer Geschäftspartner ein skrupelloser, eiskalter Zuhälter und Geldwäscher war. Nassir musste zwielichtig und rätselhaft sein, schließlich steuerte er jede Untergrund-Operation in der Innenstadt. Es schien, als hätten viele seiner Eigenschaften auf Race abgefärbt.
„Ich verdiene Kohle, Süße.“
Und das machte er. Ich bewegte mich unruhig auf meinen zu hohen Schuhen hin und her und versuchte, ihn nicht bemerken zu lassen, wie mein Puls unter seinem eindringlichen Blick raste. Irgendwas hatte es schon, von einem Mann begehrt zu werden, von dem ich wusste, dass er jeden hier im Raum vernichten könnte. Es durfte eigentlich kein tolles Gefühl sein, nicht dieses Ziehen in mir verursachen und mein Inneres pulsieren lassen. Aber das tat es … Er tat es.
Lächelnd warf ich den längeren Teil Haars über meine Schulter und erklärte Adria: „Race ist so etwas wie ein Unternehmer.“ Von der Art, wie es sie nur an einem so dunklen und kaputten Ort wie The Point gibt.
Adria wollte offensichtlich weitere Fragen stellen. Ich sah, wie sie den Mund öffnete. Doch bevor sie ein Wort herauskriegen konnte, ertönte ein lauter Knall, und die übliche College-Party, die für mich einen Fluchtversuch aus der schmerzlichen Realität meines Alltags sein sollte, wurde zum chaotischen Krawall.
Es war zweifelsfrei der Geruch von Schießpulver, der die Hölle losbrechen ließ, während weitere Schüsse fielen. Ich griff nach Adria, aber weil wir so nahe an der Tür waren, wurden wir in Sekundenbruchteilen durch eine Flutwelle panischer Menschen getrennt. Ich spürte, wie mich starke Hände packten und aus dem Strom der Massenpanik zogen. Mein Gesicht wurde gegen einen steinharten Brustkorb gepresst, eine große Hand hielt meinen Kopf nach unten gedrückt, während ich energisch durch das Gewühl rennender und fuchtelnder Leute gezerrt wurde.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Erneut wurde ein Schuss abgefeuert, gefolgt vom gellenden Kreischen einer weiblichen Stimme. Irgendwo über meinem Kopf betete Race eine Litanei aus Flüchen herunter und ließ mich für einen Moment los. Ich hörte Glas splittern, spürte, wie er sich bewegte, während er mich hinter sich herzog – und dann umfing uns die kühle Nachtluft. Draußen ging er ein bisschen auf Abstand zu mir, nahm aber wieder meine Hand und zog mich weiter hinter sich her. Unter unseren Schritten knirschte das zerbrochene Glas der Tür am Hinterausgang, die er offensichtlich zertrümmert hatte, um uns die Flucht zu ermöglichen.
Keuchend rannte ich in Stilettos und hautengen Jeans einem Kerl hinterher, dessen Beine doppelt so lang waren wie meine – was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war, doch irgendwie schaffte ich es. Er hielt nicht an, bevor wir das Gebäude umrundet und die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten. Die meisten anderen Partygäste hatten sich davongemacht, aus der Ferne war bereits Sirenengeheul zu hören. Ich legte meine Hand auf seinen Oberkörper und sagte flehend: „Wir müssen Adria finden.“
Seine Augen waren praktisch schwarz – voller Emotionen, die ich nicht zu benennen wagte. „Ich darf nicht hier sein, wenn die Bullen auftauchen, Brysen. Ich muss los.“
Ich schnappte nach Luft, ballte meine Fäuste und schlug ihm kräftig gegen die Brust. „Hilf mir, sie zu finden, Race!“
Er schüttelte bloß sein perfektes blondes Haupt und schaute zu mir herab. „Du bist die Einzige, um die ich mich gesorgt habe.“
Mein Herzschlag stockte, doch die Sirenen kamen immer näher, während er sich von mir fortbewegte. Ich packte ihn am Handgelenk, zitterte allerdings dermaßen, dass ich ihn kaum zu fassen bekam.
„Bitte geh nicht!“ Ich hörte mich verletzt und verzweifelt an. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich in einer Situation voller Waffen und Gewalt verhielt. Es machte mich fertig, wie gleichgültig ihm das alles war.
Die Schatten in seinen Augen veränderten sich, seine Mundwinkel wanderten nach unten. Bevor ich reagieren konnte, schob er seine Finger in mein Haar im Nacken und riss mich hoch, bis ich auf den Zehenspitzen stand. Ich umklammerte seine Handgelenke und versuchte nicht durchzudrehen, als meine Brust gegen seine gedrückt wurde. Ich baumelte praktisch hilflos herum, während er mich auf Teufel komm raus küsste.
Es war dunkel, Menschen wankten betrunken und ziellos umher, ich machte mir Sorgen um meine Freundin und war wütend auf ihn … wütend wie immer. Aber zum ersten Mal, seit ich ein Auge auf ihn geworfen hatte, waren all das Verlangen und die Verwirrtheit, all die Gier und die Lust völlig entfesselt – und ich erwiderte seinen Kuss.
Es war weder romantisch noch süß, nicht voller spürbarem Begehren oder liebevoller Fürsorge. Es war roh, hart und heiß; und ich hatte mich nie in meinem Leben besser gefühlt. Mit der Zunge drang er in meinen Mund, seine Zähne glitten aufreizend über meine Lippen, seine Hände verursachten blaue Flecken. Durch seine Jeans hindurch konnte ich seine Erektion spüren, so eng waren wir aneinandergepresst. Ich hätte protestieren sollen, hätte ihn auffordern müssen, aufzuhören. Aber ich konnte nichts anderes tun, als zu stöhnen und mich an ihm zu reiben wie eine rollige Katze.
Und gerade als ich mich darauf eingelassen hatte, mich um seinen mächtigen Körper schlingen wollte, ließ er mich fallen und trat einen Schritt zurück. Wie eine Idiotin blinzelte ich ihn an, während er den Kopf schüttelte und wortlos in der Dunkelheit verschwand. Ich starrte dahin, wo er eben noch gestanden hatte, legte die Arme um meinen Körper und bemühte mich, nicht gleich an Ort und Stelle zu zerbrechen.
„Brysen!“
Ich wirbelte herum, als Adria schon in mich hineinlief und uns beinahe beide zu Boden gerissen hätte.
„Oh Gott, ich bin durchgedreht vor Angst!“, rief sie. „Wo warst du?“
Ich umarmte sie – hauptsächlich in der Hoffnung, dass das Zittern dann aufhören würde. Tat es nicht. „Race hat mich aus irgendeinem Grund durch den Hinterausgang mitgenommen.“
Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Erstaunen. „Weshalb hat er das gemacht? Niemand wusste, wo sich der Schütze versteckt hat.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich bin ihm nur gefolgt. Er ließ mir keine Wahl.“
„Ein Kerl hat seine Freundin mit einem anderen erwischt. Kaum zu glauben. All das hier wegen so was Banalem.“
Ich kam nicht mehr dazu, sie zu fragen, woher sie die Ursache des Krawalls kannte. Schon war die Polizei eingetroffen und nahm uns, die wir übrig geblieben waren, ins Kreuzverhör.
Die Universität und das Haus, in dem die Party stattgefunden hatte, lagen beide in The Hill. Dinge wie wahllose Schießereien, eifersüchtige Freunde und untreue Freundinnen gehörten eher zu The Point. Das zumindest versuchten sich die meisten „Hügel“-Bewohner ein- und schönzureden. Als ich alles überstanden hatte, war ich total erschöpft – und der Geschmack von Race lag noch auf meinen Lippen. Meine Partynacht, ursprünglich dazu gedacht, um vergessen zu können, war zu einer geworden, an die ich mich immer erinnern würde; auch wenn mir klar war, wie dämlich es wäre, irgendeine Form der Erinnerung an ihn zu verschwenden. Vielleicht war Grau doch kein so schlechter Ton, um von ihm umgeben zu sein. Langweilig und fade zwar, aber sicher.
Ich fuhr Adria zurück in ihr Apartment, beantwortete die gesamte Fahrt über Fragen nach Race. Sie war fasziniert von ihm, spürte offenbar ebenfalls diese magische Anziehungskraft, die er an sich hatte. Ich wollte ihr klarmachen, dass er nur Ärger bedeutete und dass die Welt, in der er sich bewegte, unendlich weit von ihrem Beinahe-Master of Business Administration entfernt war. Doch all das verstärkte seine Mystik und Anziehungskraft auf sie. Welches nette Mädchen aus The Hill war schließlich nicht scharf auf einen Bad Boy aus The Point? Mehr Klischee ging wirklich nicht. Nachdem ich endlich auf dem Heimweg war, hatte ich Kopfschmerzen und Magenkrämpfe.
Ich parkte vor dem Durchschnittsfamilienhaus, das meine Eltern gebaut hatten, bevor alles zusammengebrochen war. Kurz dachte ich darüber nach, den Motor laufen zu lassen und einfach weiterzufahren, bis ich irgendwo anders wäre, ein anderes Leben gefunden hätte. Vor zwei Jahren war meine ganze Welt noch fröhlich, farbenfroh und hell gewesen. Ich hatte mit Freundinnen in einem Apartment gelebt, war zum College gegangen und hatte Jungs abserviert, die nur auf das eine aus gewesen waren. Gott, ich war so dumm! Ich hatte keine Sorgen gehabt und keinerlei Gedanken daran verschwendet, dass das einmal nicht mehr so sein könnte.
Heute lebte ich wieder daheim, kümmerte mich um ein Elternteil, das an einer schweren Form von Depression und einem Hang zur Selbstmedikation litt, und um ein anderes, das offensichtlich ein Workaholic war und sich in seinem Job vergrub, um die häuslichen Bedrohungen zu vermeiden. Meistens kam ich zurück, um meine kleine Schwester Karsen davor zu bewahren, von all der Traurigkeit und Dunkelheit um sie herum angesteckt zu werden. Sie war sechzehn, eine Spitzenschülerin und hatte noch zwei Jahre vor sich, ehe sie das College besuchen konnte. Meine Eltern hatten immer hart gearbeitet, damit die Familie nicht abrutschte. Für mich war es das Mindeste, was ich tun konnte, um ihnen etwas zurückzugeben. Wir waren nie unanständig reich gewesen, aber wir waren auch nie gezwungen gewesen, unser Überleben auf den Straßen von The Point, den Schlachtfeldern des Lebens, zu sichern. Ich war wirklich überzeugt davon, ihnen zumindest dafür etwas zu schulden.
Seufzend betrat ich die Wohnung. Es war dunkel; Karsen war ja nicht da, und meine Mutter lag bestimmt im Bett. Ich machte einen Umweg in die Küche, schnappte mir ein kaltes Bier und schlenderte auf dem Weg zu dem Stockwerk, auf dem mein Zimmer lag, am Raum meines Vaters vorbei. Er saß hinter seinem Computer – wie üblich. Sein allmählich kahler werdender Kopf war gesenkt, seine Augen fixierten was auch immer auf dem Bildschirm.
Ich runzelte die Stirn und öffnete die Flasche. „Hey.“
Er schreckte auf, wandte sich vom Monitor ab und starrte sie an. „Brysen Carter, du hast mich so erschreckt, ich habe mir fast in die Hose gemacht.“
„Wie geht es ihr?“
Er räusperte sich und widmete sich wieder dem Computer. „Gut, alles war gut.“
Das war höchst unwahrscheinlich.
„Hast du überhaupt nach ihr geschaut heute Abend?“, wollte ich wissen.
„Brysen, das hier ist wirklich wichtig. Hat das nicht noch Zeit?“
Eigentlich nicht, aber für ihn stand sein Job an allererster Stelle. Ich schwieg, zog meine Schuhe aus und ging um die Ecke zum Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tür war angelehnt, der Fernseher lief. Ich stieß die Tür mit der Handfläche auf und ließ einen Fluch los.
Meine Mutter lag ausgestreckt quer auf dem Bett. Ihr Kopf hing über die Bettkante, und das Haar baumelte wüst verworren auf den Boden herab. Eine leere Wodkaflasche thronte auf dem Kissen, und Mom schnarchte leise. Ich stellte mein Bier auf der Kommode ab und legte Mom vorsichtig wieder richtig auf die Matratze. Offensichtlich hatte Dad sich nicht mal so lange von der Arbeit losgerissen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Er hatte sie einfach sich selbst überlassen – und das hier war stets das Resultat.
Mühsam öffnete sie eins ihrer Augen, betrachtete mich und murmelte meinen Namen, während ich sie unter die Bettdecke packte. Ich schnappte die leere Flasche und widerstand nur um Haaresbreite der Versuchung, sie an die Wand zu werfen und zu zerschmettern. Mom war nicht immer so gewesen. Früher war sie natürlich auch schon ein wenig verschlossen gewesen, hatte mit ihren emotionalen Auf und Ab zu kämpfen gehabt. Doch dann hatten ein Autounfall, eine schreckliche Rückenverletzung und unendliche Schmerzen aus meiner Mutter diese besoffene Hülle einer Frau gemacht. Es brach mir jedes Mal das Herz, sie so zu sehen. Es schlug mir auf den Magen, denn das alles musste nicht so sein. Sie könnte Hilfe kriegen, mein Vater könnte sie unterstützen, und vielleicht würde auch mein Leben sich wieder normalisieren – aber all dies passierte nicht. So war es an mir, die Dinge in die Hand zu nehmen, bis Karsen alt genug sein würde, selbst da rauszukommen.
Ich schaltete den Fernseher aus und knallte die Tür hinter mir zu. Es hätte einen Tornado gebraucht, um Mom aus diesem Trunkenheitsschlaf zu wecken. Tief seufzend lief ich in mein Zimmer.
Als Erwachsene wieder zu Hause zu wohnen war wirklich seltsam. Natürlich gab es keine feste Schlafenszeit, und ich musste auch nicht dieselben Regeln befolgen wie als Teenager, aber alles in diesem Kinderzimmer fühlte sich falsch an. Mir erschien, als würde ich jedes Mal einen Teil von mir selbst draußen vor der Tür lassen, wenn ich eine Nacht oder einen weiteren Tag hier verbrachte.
Ich zog mein Telefon aus der Gesäßtasche und las die letzte Nachricht an Dovie, in der ich sie gefragt hatte, ob sie heute Abend mit mir auf die Party ginge. Nachdem sie jetzt Vollzeit in einer Wohnanlage für alle verlorenen Kinder dieses Systems arbeitete, bekam ich sie selten zu Gesicht. Hinzu kam, dass sie mit dem einzigen Typen aus The Point zusammenlebte, den ich für noch furchterregender hielt als Race. Deshalb schaute ich selten bei ihr vorbei und sah sie außerhalb der Uni kaum noch. Für heute Abend hatte sie abgesagt, weil sie Hausarbeiten zu erledigen hatte. Insgeheim fragte ich mich jedoch, ob Bax ihr das Weggehen nicht vielleicht verboten hatte.
Er hasste alles, was mit The Hill zu tun hatte. Er kam von der Straße, ein Exknacki und Dieb, und es gab keinen Zweifel, dass er bis über beide Ohren in Races kriminelles Unternehmen verstrickt war. Shane Baxter hatte einen Ruf in dieser Gegend, der so legendär war wie der des Mannes, der ihn gezeugt hatte. Der Mann, den Race und er erledigt hatten. Die beiden verstanden keinen Spaß, aber Dovie mochte ich sehr. Deshalb trotzte ich den haiverseuchten Gewässern, in denen sie schwamm, damit sie ein Teil meines Lebens blieb – und ich sie weiterhin meine beste Freundin nennen konnte.
Ich schickte ihr eine Nachricht.
Hab Race heute auf der Party gesehen.
Es dauerte einige Minuten, bis sie antwortete.
Was hat er da gemacht?
Er sagte, er würde arbeiten.
Nee, klar.
Ich verdrehte die Augen, als ich daran dachte, was er als Arbeit aufzufassen schien, und schrieb zurück.
Jemand hatte eine Waffe und schoss drinnen um sich. Race schaffte mich raus, haute aber wegen der Polizei ab.
Ich war noch immer ziemlich erregt, konnte auch jetzt diesen Kuss auf meiner Haut spüren. Warum musste er so gut schmecken, sich so toll anfühlen und doch so mies sein?
Sie antwortete auf eine Art und Weise, wie es nur jemand tun konnte, der total in The Point verstrickt war.
Er kann nicht riskieren, Ärger mit der Polizei zu kriegen. Das kann sich keiner hier leisten. Kein Wunder, dass er abgehauen ist. Sind alle okay?
Ja, alles gut, alle okay.
Mir ging’s nicht gut. Anzunehmen, jemand sei kriminell oder zumindest nicht grundehrlich, war etwas völlig anderes, als den Beweis direkt vor Augen zu haben. Ich verstand diese Welt nicht, wollte sie nicht verstehen, und darum war mir eins vollkommen klar. Egal, wie scharf er war und wie sehr er mich aus der Monotonie meines Alltagslebens riss: Race Hartman würde niemals der Mann meines Lebens sein. Und genau das ließ mein Verlangen erwachen!
Dovie und ich plauderten ein wenig weiter. Ich über nichts Spezielles, sie über die Typen. Bax jagte mir dermaßen Angst ein, dass ich in seiner Gegenwart nervös und verunsichert war. Deshalb versuchte Dovie, glaube ich, ihn mir gegenüber menschlicher und sympathischer darzustellen. Und Race … Er hatte mich komplett durcheinandergebracht. Es war äußerst anstrengend, Desinteresse vorzuspielen, anstatt meine brennende Neugier zu zeigen, wann immer sie seinen Namen erwähnte. Und es wurde immer schwieriger.
Ich sagte ihr Gute Nacht und schickte meiner Schwester eine Nachricht, um ihr ebenfalls eine gute Nacht zu wünschen. Karsen war ein tolles Mädchen. Sie verdiente es, dieses Haus unversehrt und narbenfrei hinter sich zu lassen, ohne vom aktuellen Zustand der Carters beeinträchtigt zu werden. Sie war ein kleines dünnes Etwas. Sie hatte die gleiche Haarfarbe wie ich, aber sie hatte Moms braune Augen, während ich Dads blaue geerbt hatte. Sie war wirklich ein Goldstück … Nachdem sie mir einen Smiley zurückgeschickt hatte, konnte ich mich meinem Abendritual widmen.
Als ich mir das Gesicht wusch und anschließend unter die Dusche stieg, konnte ich es mir endlich eingestehen: Ich war einsam und unglücklich. Ich war überfordert von all meinen Gefühlen und dem ständigen Kampf, diese tobenden Mächte in meinem Inneren halbwegs zu beherrschen. Unter der Dusche konnte ich heulen, und niemand bekam es mit. Das war nicht das Leben, das ich wollte. Das war auch nicht das, was ich mit einundzwanzig erreicht haben wollte. Doch ich musste mich der Situation anpassen, musste mich ändern, um zu tun, was für alle das Beste war. Ich hatte keine andere Wahl.
Ich trocknete mich ab, bürstete mir kurz die Haare und zog danach eine Yogahose und ein Tanktop für die Nacht an. Das Adrenalin von all den Erlebnissen wich allmählich aus meinem Körper. Mit dem Gesicht voran ließ ich mich auf die Matratze fallen. Verzweifelt versuchte ich, nicht an die Berührungen von Races Zunge zu denken, nicht an das Kratzen seiner Zähne auf meiner Haut. In dem Moment leuchtete das Display meines Handys auf. Es war spät, und die einzige Person, die mir jetzt schreiben würde, war Karsen. Also raffte ich mich auf und wischte über das Telefon.
Die SMS war nicht von Karsen. Sie stammte von einer Nummer, die ich nicht kannte. Sie bestand aus sechs Worten, keine große Sache, aber das Magengrummeln, das mir das Lesen verursachte, war ein klares Zeichen, dass irgendwas nicht stimmte.
Du siehst klasse aus heute Abend.
Ich starrte einen Augenblick auf die Nachricht, bevor ich antwortete.
Wer ist da?
Tut mir so leid, dass ich dich nicht getroffen habe.
Was zum Teufel bedeutete das? Ich fragte noch mal, wer da schrieb, und als ich darauf keine Antwort bekam, schaltete ich das Handy aus und stellte es zurück auf die Ladestation. Für einen endlosen Moment saß ich aufrecht im Dunkeln. Mein Puls raste, ein unheimlicher Schauer überlief mich und ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Zitternd legte ich mich hin und zog mir die Decke über den Kopf.
Es zu bedauern, jemanden nicht „getroffen“ zu haben, nachdem Schüsse gefallen waren, war nicht sonderlich komisch. Das war kein bisschen witzig; ich war schließlich aufgewühlt genug. Ich senkte die Lider und überlegte, warum Race mich überhaupt durch den Hintereingang des Hauses mitgenommen hatte, während alle anderen zur Vordertür gerannt waren.
Genau das war der Grund, warum ich für einen Typen wie Race keine Zeit hatte. Wäre er jemand anders gewesen, hätte ich seine Motive niemals in Zweifel gezogen. Du bist die Einzige, um die ich mir Sorgen mache. Was hat er damit gemeint? Das hat er bestimmt gesagt, weil er mich wollte, weil er gern Spielchen mit mir spielte und mich als Herausforderung betrachtete. Aber mehr war da nicht … oder?
Verdammt! Ich hatte weder Zeit noch Platz für solche Dinge. Doch als ich endlich wegdämmerte, waren es sein hübsches Gesicht und sein perfekter Mund, die mir ins Traumland folgten – nicht die Angst, die nach dieser seltsamen SMS an mir nagte.
Ich setzte mit meinem komplett restaurierten und voll ausgestatteten kirschroten 66er-Mustang durch die Sicherheitstore zurück, die die Garage umgaben. Sie sah aus wie ein zusammengestürzter Haufen aus Beton und verrostetem Metall. Niemand draußen hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, welcher Schatz an Monstertechnik sich hinter dieser hässlichen Fassade verbarg. Restaurierte Muscle Cars und schnittige Importfahrzeuge im Millionenwert standen darin aufgereiht. Einige sollten wieder zum Leben erweckt und repariert werden, doch die meisten waren dort eingelagert, weil ich darauf wartete, dass deren Eigentümer ihre Schulden oder Kredite zurückzahlten, die sie mir schuldeten. Wenn der Besitzer nicht zahlte, behielt ich den Wagen und ließ ihn durch meinen besten Freund auseinandernehmen und überholen – und im Anschluss mit einem netten Gewinn verkaufen.
Dieses Vorgehen hatte sich als sehr profitabel erwiesen und spielte sowohl meinen als auch Bax’ Stärken in die Hände. Die Leute mochten es nicht, wenn man ihnen ihren fahrbaren Untersatz wegnahm. Es war schwierig, der Ehefrau und den Kindern zu erklären, wo die Familienkutsche plötzlich abgeblieben war, deshalb war meine Rückzahlrate auch höher als bei den durchschnittlichen Zockern und Kredithaien. Bax verfügte über jede Menge Verbindungen zu Autodieben, und wenn ein Schuldner nicht mit seinen Zahlungen herumkam, war das ein einfacher Weg, die Verluste zu kompensieren. Abgesehen davon brauchte Bax ab und an noch den Kick, ein Auto zu klauen, jetzt, da er die meiste Zeit ein ehrliches und sauberes Leben führte. Wir hatten die eiserne Regel, über diesen Part des Garagen-Business niemals in Anwesenheit meiner Schwester zu reden.
Dovie war ein Schatz. Sie war süß, voller Liebe und Herzlichkeit. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich durch all den Stacheldraht und die Ketten zu kämpfen, die Bax’ Herz umgaben, um sich dort permanent einzunisten. Sie kam von der Straße, war gänzlich anders aufgewachsen als ich und wusste von Haus aus, dass das Leben nicht immer leicht war und dass uns die Dinge für immer veränderten, die wir in The Point taten. Mir war klar, dass Bax ihr gesteckt hatte, was auf dem extrem gesicherten Grundstück vor sich ging, das er kurz nach dem Tod seines Vaters Novak bebaut hatte. Novak war der Mann gewesen, der die dunkle Seite der Stadt mit eiserner Faust regiert hatte. Aber sie liebte uns beide genug, um keine Fragen zu stellen oder zwischen uns und unsere Arbeit zu geraten. Bisher war das ein System, das für jeden funktionierte, und mein Geschäft florierte.
Dovie war echt super, und sosehr mir anfangs die Tatsache, dass sie und Bax ein Paar waren, missfallen hatte, war mir mittlerweile klar geworden, dass sie jemanden wie meinen besten Freund brauchte, der sie beschützte – vor dieser Gegend und diesem Leben. Und Bax … na ja, der brauchte Dovie, um seine Menschlichkeit zu bewahren, um ihm etwas Reales, Handfestes zu geben, für das sich zu leben lohnte. Ich brauchte die beiden, um die Macht über die Unterwelt von The Point endgültig zu übernehmen. Bax war meine rechte Hand. Er hatte die nötigen Verbindungen innerhalb und außerhalb der Gefängnisse; sein Ruf und sein Auftreten ließen keinen Zweifel daran, dass er die Dinge wuppte. Dovie war das Gewissen, das Licht, das mich stets daran erinnerte, warum einer wie ich da weitermachen musste, wo Novak aufgehört hatte.
An einem Ort wie The Point würden immer schlimme Sachen geschehen, um das Leben neben der täglichen Plackerei anzuheizen. Menschen, die in einer Gegend voller Dreck und Unrat lebten, benötigten alle möglichen Laster, um es dort auszuhalten. Sex, Drogen, Geld, Glücksspiel, Mord und alle anderen denkbaren Formen des Chaos gehörten auf diesem speziellen Schlachtfeld zum Alltag. Und wenn ein Tyrann – ein böser, furchtbarer Mann – dafür verantwortlich war, dass das alles lief … konnte er die Stadt im Würgegriff halten. Ich verspürte keinerlei Wunsch, das zu tun.
Ich hatte begriffen, dass das in The Point nichts ändern würde. Solange ich derjenige war, der die Fäden in der Hand hielt und darüber bestimmte, diese Sachen nur sparsam unter das bedauernswerte Volk zu bringen, konnte ich einen ziemlich unzivilisierten Ort zumindest so erträglich machen, das man dort leben konnte. Es war heikel und riskant, aber ich war immer bei interessanten Herausforderungen aufgeblüht – was der Grund war, weshalb ich mich mit Bax vor vielen Jahren im kriminellen Untergrund verstrickt hatte. Und deshalb konnte ich auch nicht genug von Brysen Carter kriegen.
Alles an ihr war cool und blass. Die Verachtung, die sie mir gegenüber empfand, fiel praktisch von ihren eleganten Schultern ab, sobald wir uns so nah waren, dass wir unseren Atem spüren konnten. Mit ihren jeansfarbenen Augen schien sie mich jedes Mal an Ort und Stelle einfrieren zu wollen, wenn sie mich anschaute, und die Art, wie sich ihr wunderbarer Körper in meiner Nähe anspannte und versteifte, ließ mich hart werden … Mal für Mal. Sie war so glatt und so perfekt. Sie erinnerte mich an ein anderes Leben, das ich weggeworfen hatte, und ich brauchte sie so sehr wie den nächsten Atemzug. Die Tatsache, dass sie mich nicht leiden konnte – und mich offensichtlich für den letzten Dreck hielt – verstärkte ihre Anziehungskraft bloß. Am liebsten wollte ich sie nackt ausziehen und über sie herfallen. Aber weil Dovie sie so sehr mochte, beherrschte ich mich mühsam. Na ja, jedenfalls bis heute Abend.
Als ich das Auto in die Garage fuhr und sich das kugelsichere eiserne Rolltor hinter mir schloss, musste ich bei dem Gedanken an ihren Mund unwillkürlich meine Sitzposition verändern. Brysen Carter war ein gutes Mädchen. Eine hübsche Blondine von der richtigen Seite der Stadt, aber, Mann, sie konnte küssen!
Wie eine von hier. Die Erinnerung daran brachte mein Blut zum Kochen, jagte mir Schauer über den Rücken und ließ den zehrenden Hunger nach ihr in meinem Inneren noch stärker werden.
Ich knallte die Wagentür zu und ging um den Kotflügel herum, als Bax gerade aus seinem Büro kam. Warum er so lang blieb, brauchte ich nicht zu fragen. Diese alten Autos und Muscle Cars, diese verwahrlosten Klassiker waren ihm sehr wichtig. Er hauchte ihnen Stück für Stück neues Leben ein. Was bedeutete, dass ich, seit ich oben in einem umgebauten Loft wohnte, den Klang aufheulender Motoren und klappernder Werkzeuge manchmal bis in die Morgenstunden ertragen musste. Wir klatschten uns ab, und Bax strich sich über den rasierten Schädel.
Körperlich hätten wir nicht unterschiedlicher sein können. Bax hatte dunkles Haar, dunkle Augen, einen schwarzen Stern nah am Auge tätowiert, einen harten, humorlosen Mund und eine kräftige Figur, die er häufig als Waffe einsetzte. Er sah aus wie ein Schläger und Verbrecher, aber das war okay für ihn. Wir waren beide hochgewachsen, so etwa einen Meter neunzig, doch ich war wesentlich schlanker und schlaksiger, ausgestattet mit all den Attributen, die perfekt zu meiner Herkunft aus der höheren Gesellschaft passten. Ich konnte mich behaupten, wenn es mal handgreiflich wurde, bevorzugte es allerdings, mich aus einer brenzligen Situation herauszuquatschen. Schließlich war mein Gehirn meine stärkste Waffe, auch wenn ich äußerlich nicht so wirkte. Mein welliges, gold- und honigblondes Haar trug ich ein bisschen zu lang und struppig, sodass es mir oft genug in meine grünen Augen fiel. Ich sah aus wie ein verwöhntes Bonzenkind auf Urlaub. Das war mir natürlich klar, und obwohl The Point nun mein Zuhause war, weigerte ich mich, daran etwas zu ändern. Wegen meines Aussehens unterschätzten mich viele Leute. Da Bax und ich beide noch Anfang zwanzig waren und versuchten, eine Stadt zu managen, die in den kaputten Jahren vor unserer Geburt errichtet worden war, brauchte ich jeden Vorteil, den ich kriegen konnte.
Bax steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hob eine seiner schwarzen Brauen. „Hast du die Kohle von dem Studenten-Fuzzi gekriegt?“
Ich nickte und ließ meinen Kopf kreisen. „Glücklich war er nicht damit.“
Eine der ersten Lektionen, die ich gelernt hatte, war, dass die Leute nicht spielten, weil sie sich einen Gewinn erhofften. Sie zockten aus Zwang. Es war eine Sucht wie jede andere.
„Wie, nicht glücklich?“, fragte er.
Ich blinzelte ihn durch den Rauch zwischen uns an. „Er hat eine Knarre gezogen und ein paarmal geschossen.“ In einem Haus voller besoffener Studis. Was für ein Idiot – und was für eine total sinnlose Drohung! Eine Waffe vor der Brust zu haben gehörte zu meinen Berufsrisiken. Sofern die Pistole nicht auf mein Gesicht gerichtet war, tendierte ich dazu, sie zu ignorieren.
„Shit! Zum Glück habe ich Dovie gebeten, da nicht hinzugehen.“
Ich schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. „Du hast sie bloß gebeten, nicht zu gehen, weil du durchgedreht bist bei dem Gedanken, sie könnte einen charmanten Studi treffen, der ihr ein besseres Leben verspricht, und dich dann sitzen lassen.“
Grummelnd schnippte er seine Kippe in einen der Abflüsse auf dem Boden und drehte seine massiven Schultern. „Was Besseres kann sie immer kriegen.“
Ich schnaubte verächtlich. „Das sieht sie anders.“ Sie liebte ihn, seine Narben, seine beschissene Einstellung, seine harte Vergangenheit und die Tatsache, dass er ständig auf dem schmalen Grat zwischen „gezähmt“ und „wild“ balancierte – sie liebte alles an ihm. Bax war für sie der perfekte Mann, und ich war ziemlich erstaunt, dass er das nicht zu kapieren schien.
„Was war los auf der Party?“
„Keine Ahnung. Ich hab Brysen getroffen und war abgelenkt. Ich hatte das Geld schon, also dachte ich, alles sei gut. Dann fing der Idiot an, mit dem Ding herumzufuchteln, und die Hölle brach los.“
Ich hatte Brysen geschnappt und mich in Richtung Hinterausgang des Hauses bewegt, weil ich den Schützen nicht entdecken konnte und alle anderen sich durch die Vordertür gequetscht hatten. Auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass ihr irgendwas zustieß, und konnte obendrein noch den Bonus genießen, sie anfassen zu dürfen. Ich hatte mich widerwärtig gefühlt, weil ich dann einfach so abgehauen war, aber mein derzeitiges Leben hatte es mir nicht erlaubt, dazubleiben und eine Runde mit den Bullen zu plaudern. Ich war mittlerweile eher ein Versteck-dich-im-Schatten-Typ.
„Du gehst unbewaffnet auf eine Party?“ Bax klang verwundert.
Seit ich die Entscheidung getroffen hatte, da weiterzumachen, wo Novak aufgehört hatte, schärfte Bax mir ein, vorsichtiger zu sein. Ihm machte es nichts aus, eine Pistole zu tragen. Für ihn waren Blut und Schüsse, Fäuste, die Gesichter zertrümmerten, und Menschen, die vor Angst bebten, wenn er den Raum betrat, vielleicht nichts Neues. Ich dagegen gewöhnte mich erst an dieses neue Leben und war noch nicht bereit dazu, so viel von mir für The Point dranzugeben.
„Das war bloß ein Haufen Kinder. Alles gut“, erwiderte ich. „Er muss dieses Semester nur einen neuen Weg finden, um seine Bücher und sein Bier zu bezahlen. Er war keine echte Bedrohung.“ Die Leute sollten nichts riskieren, was sie sich nicht zu verlieren leisten konnten.
„Jeder ist eine Bedrohung, wenn du etwas hast, das sie wollen, oder wenn sie dir etwas schulden, was sie nicht hergeben wollen. Du musst jede Situation ernst nehmen, in der du dich befindest. Die Kids haben schon für weniger getötet, Race.“
„Habe ich jetzt zur Kenntnis genommen.“
„Du bist also immer noch scharf auf die eisige Blondine?“
Ich stieß ein Lachen aus und verzog das Gesicht. Bax war kein großer Fan von Brysen, was aber vermutlich daran lag, dass sie näher an The Hill als an The Point wohnte und Bax grundsätzlich niemandem traute, der das Leben in der Gosse nicht kannte. Ich war die Ausnahme von dieser Regel, hatte mir meine Meriten allerdings mit Blut, Schweiß und Tränen verdienen müssen. Und noch immer war ich dabei, mir meinen Weg in den Vertrauenskreis zurück zu bahnen, denn ich hatte vor ein paar Jahren einige harte Entscheidungen getroffen, die Bax ins Gefängnis gebracht hatten. Wir waren ganz eng, führten ein Geschäft zusammen, er liebte meine Schwester – aber ich glaube nicht, dass all die Wunden gänzlich verheilt waren, die ich mit meinem Verrat aufgerissen hatte.
„Das kannst du laut sagen“, antwortete ich. „Sie hat irgendwas an sich, das mich anmacht. Ich möchte es so richtig hart und schmutzig mit ihr treiben.“
Er brummte etwas und zog sich die Kapuze seines schwarzen Hoodies über den kahlen Kopf. Als ob es irgendetwas gebraucht hätte, um ihn noch bedrohlicher wirken zu lassen. „So sieht sie gar nicht aus. Sie heult ja schon fast, wenn ich ins Zimmer komme. Ich wette, ein abgebrochener Fingernagel reicht, und sie dreht total durch.“
Ich hätte ihm vielleicht zugestimmt, wenn ich sie nicht geküsst hätte. Sie hatte weitaus mehr zu bieten als bloß ihr perfektes, makelloses Äußeres, das sie der Welt präsentierte. Da war Verzweiflung auf ihrer Zungenspitze, da war Leidenschaft in ihrem Atem, da war Begierde in der Art, wie sie mich angefasst hatte. Zumindest, bis ich sie hatte stehen lassen. Denn selbst wenn wir früher einmal auf Augenhöhe gewesen sein sollten, lebten wir nun in verschiedenen Welten. Ich hatte nicht bei ihr bleiben oder in der Nähe warten können, bis sie ihre Freundin gefunden hatte – und ein Mädchen wie Brysen würde keinen Kerl mit derlei verqueren Prioritäten neben sich dulden.
„Macht nichts“, gab ich zurück. „Sie ist heiß, und ich mag, wie sie mich ansieht – als wäre ich Dreck, den sie sich von der Schuhsohle gekratzt hätte. So macht die Jagd nach ihr viel mehr Spaß.“
Er lachte und holte die Schlüssel für seinen Hemi ’Cuda aus der Tasche, den er gerade fertig restauriert hatte. „Du bist echt gestört.“
Nach allem, was wir in den vergangenen fünf Jahren erlebt hatten, war mir unklar, wie wir etwas anderes als gestört hätten sein können. „Bestell Dovie schöne Grüße.“
Bax nickte und ging zum Auto. Beim Zurücksetzen aus der Garage brachte der aufheulende Motor die Metallverkleidung zum Beben, die den Beton abdeckte. Dieser Motor war was ganz Besonderes. Der Wagen hatte keine Straßenzulassung; er machte alle anderen Autos platt – wie eine perfekte Chrom- und Stahl-Version seines Fahrers.
Ich vergewisserte mich, dass sämtliche Alarmanlagen scharf gestellt waren, stieg die Metallstufen zum Loft hinauf und packte das Geld vom Studenten-Fuzzi in den Safe, den ich in die Wand eingelassen hatte. Der Safe war hübscher als alle Möbel in dem Loft. Er war zudem randvoll mit illegal erworbenen Dingen, von denen ich hoffte, dass Nassir sie durch seine Clubs schleusen und zu brauchbarem Geld machen würde.
Ich war nicht gerade wild darauf, Geschäfte mit Nassir Gates zu machen. Ich traute ihm nicht und hasste die Art, wie er Menschen manipulierte und für seine Zwecke ausnutzte, aber er war der Einzige, der mein Schwarzgeld von den Spieleinsätzen waschen konnte. Nassir kontrollierte jeden Club, jeden Sündenpfuhl und Lusttempel, den es in The Point gab. Er organisierte illegale Kämpfe, hatte eine Legion von Mädels, mit denen er nebenher Kohle machte, und obwohl ich ihn nicht mochte, brauchte ich ihn. Ich selbst würde mich geschäftlich nicht mit Mädchen – mit Sex gegen Bezahlung – einlassen, doch irgendwer musste es ja tun. Und Nassir hatte keinerlei moralische Skrupel oder sonstige Bedenken, sich die Hände schmutzig zu machen. Wir hatten eine unangenehme Allianz gebildet, und bisher lief das ganz gut. Mit Nassir zusammenzuarbeiten war, als würde man jeden Tag durch ein Minenfeld laufen – gefährlich, tödlich und voll verborgener Bedrohungen, die ich niemals kommen sah. Ich lauerte ständig darauf, dass er sich gegen mich wenden würde.
Ich ging nun zum Kühlschrank und holte ein Flasche Oban heraus, die ich dort gebunkert hatte. Nachdem ich eine gesunde Portion Whiskey in ein Glas mit Eiswürfeln gegossen hatte, warf ich mich auf die Couch, die mir auch als Bett diente. Natürlich hätte ich umziehen können, eine Wohnung finden können, die sauberer war und weiter außerhalb des Zentrums. Aber ich mochte es hier. Ich fühlte mich sicher. Keiner kam in die Garage oder auf das Gelände, ohne dass ich es bemerkte, und nach jener Abreibung, die Novak und seine Gorillas mir verpasst hatten, nachdem sie mich aufgespürt hatten, brauchte ich diese Art von Sicherheit, um nachts schlafen zu können.
Dies alles war so weit entfernt von dem Leben, in das ich hineingeboren worden war, so verschieden von den Erwartungen der meisten Leute an mich, die meine Eltern und meine Vergangenheit kannten. Ich war nicht mit einem Silberlöffel im Mund geboren worden, sondern mit einem kompletten Besteck aus Platin, das mich von Anfang an am Atmen gehindert hatte. Meine Eltern waren reich. Abstoßend, dreckig, unmoralisch reich. Sie führten ein Luxusleben, unberührt von Bedürfnissen und Kämpfen – ohne Empathie für das Schicksal derer, denen es nicht so gut ging.
Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr war ich wie betäubt gewesen. Voller Ansprüche, total verzogen, unendlich selbstgefällig und übersättigt. Ich peilte gar nichts. Ich lebte in einer Blase, in der alles, was ich wollte oder brauchte, auf direktem Wege zu mir kam. Ich hinterfragte niemals die Welt da draußen – die Welt hinter den fetten Portemonnaies von Mami und Papi.
Eines Abends hatte ich eine Verabredung gehabt. An das Mädchen wollte ich mich jetzt nicht erinnern, alles andere war mir aber kristallklar im Gedächtnis. Mein Vater hatte mir damals einen Roush Mustang zum Geburtstag geschenkt. Ich gab damit an, hielt mich für den Coolsten, für unberührbar und unbesiegbar – bis ich einmal falsch abbog und mich auf eine Straße im Grenzgebiet zwischen The Hill und The Point verirrte. Vor einer Ampel hielt ich an und suchte auf meinem Telefon nach einer Wegbeschreibung. Da zersplitterte plötzlich das Fensterglas auf der Fahrerseite. Grobe Hände hatten mit einem Mal hineingelangt und mich aus dem Auto gezerrt. Selbst jetzt konnte ich noch das Mädchen schreien hören, konnte den Geruch meines eigenen Blutes riechen, während ich versucht hatte, den fliegenden Fäusten auszuweichen. Vor allem erinnerte ich mich jedoch daran, dass ich mich vollkommen lebendig gefühlt hatte.
Ich war nervös und voller Angst gewesen; aber ich wollte meinen Mustang diesen Typen auf keinen Fall kampflos überlassen. Es war der reellste Moment meines Lebens. Die Taubheit war vollkommen verschwunden. Ich erwischte einen guten Schlag, sah den großen dunklen Kerl in einem seltsamen Winkel zu Boden gehen – er fiel mit seinem gesamten Körpergewicht auf seine Hände. Knochen barsten mit einem hässlichen Geräusch, und ich brach mitten auf der Straße zusammen, gegenüber von einem Jungen, der nicht älter war als ich, aber so wirkte, als hätte er hundertmal länger gelebt als ich.
Bax hielt sein Handgelenk fest, überall sickerte ihm Blut aus Gesicht und Nase, und er starrte mich nur an. Das Mädchen sprang aus dem Auto und rief, dass es die Polizei rufen würde. Und ich konnte nichts anderes tun, als darüber zu staunen, wie schnell mein Herz schlug, wie das Adrenalin durch meinen Körper rauschte.
„Ich hätte nie gedacht, dass ein hübscher Junge wie du so zuschlagen kann“, meinte Bax trocken. „Selbst wenn es bloß ein Glückstreffer war.“
Es war das größte Kompliment, das ich je erhalten hatte. Ich wischte mir Blut und die Haare aus den Augen und fragte ihn, ob ich ihn ins Krankenhaus fahren sollte. Es war seltsam: Er hatte gerade versucht, mein Auto zu klauen, hatte mich zu Brei geschlagen – aber es war ein ganz entscheidender Moment in meinem Leben. Bax hatte mich wachgerüttelt, und von da an konnte ich nicht mehr zurück in mein kuschliges Traumland.
Ich war nicht so mit der Unterwelt verbunden wie er. Mir fehlte die Glaubwürdigkeit der Straße, die Einstellung, um damit durchzukommen. Aber ich war gerissen, und ich hatte Geld. Nach kurzer Zeit bildeten wir ein Team. Ich stahl zwar keine Autos und verstieß nicht gegen Gesetze, doch wenn er Hilfe brauchte, unterstützte ich ihn. Schon lange, bevor er sich in meine Schwester verliebte, betrachtete ich mich gern als seine Stimme der Vernunft. Es war aufregend: Dieses harte Leben öffnete mir den Zugang zu gänzlich neuen Welten. Es gab Mädchen, Frauen eher, die mir Sachen zeigten, die kein Teenager wissen sollte. Es gab Drogen, Spannung und Herausforderungen an jeder Straßenecke. Das Ganze war wirklich ein Wahnsinnsspaß – bis die Dinge mir über den Kopf wuchsen.
Bax wurde wesentlich risikofreudiger, Novak nutzte ihn immer mehr. Wir gerieten tiefer in den giftigen Sumpf, der das Lebenselixier von The Point war. Ich wollte da raus, wollte uns beide retten, bevor wir untergehen würden. Leider war Novak wesentlich cleverer und unredlicher, als ich es ihm zugetraut hatte. Er wollte Bax und hatte keinerlei Skrupel dabei, mich zu benutzen, um ihn zu kriegen.
Mein Vater konnte seinen Schwanz wie die meisten Reichen nicht in seiner extrem teuren, maßgeschneiderten Hose lassen. Dovie war meine Halbschwester, das Kind einer Heroinsüchtigen, die eigentlich ausgezahlt worden war, um abzutreiben. Junkies konnte man einfach nicht trauen; der nächste Schuss war stets wichtiger als alles andere. Dovie war ein Opfer des Systems. Zumindest, bis sie sich davon frei machte.
Novak benutzte sie, nutzte die Notlage meines Vaters aus, der ja sein Geheimnis bewahren wollte, um dadurch Druck auf mich auszuüben. Mein Vater bezahlte ihn dafür, sie umzubringen, doch Novak legte ihn aufs Kreuz, nahm das gesamte Gespräch auf und zog mich in dieses düstere und unehrliche Spiel hinein. Natürlich würde ich niemals zulassen, dass meiner Verwandten, meiner Schwester etwas zustieß – auch wenn ich sie gar nicht kannte. Also erpresste ich meinen Vater, befreite Dovie aus dem System und ließ mich auf Novaks fiesen Plan ein, der darauf zugeschnitten war, Bax für immer an ihn zu binden.
Der Mobster war gerissen, aber ich war gerissener. Ich stellte Bax eine Falle – so musste man es zweifellos nennen. Ich hinterging meinen einzigen Freund, verriet und verkaufte ihn, um meine Schwester zu retten, um meinen Vater zu Novaks Marionette zu machen. Und ich stellte Bax diese Falle, obwohl ich wusste, dass es schlimm enden würde. Aber da er nun mal er selbst war, machte er alles noch zehnmal schlimmer, indem er vor der Polizei wegrannte. Statt der maximal sechs Monate musste er deshalb für knackige fünf Jahre hinter Gitter, und ich hatte keine andere Wahl, als Dovie zu schnappen und abzutauchen, bis er wieder draußen war und ich mich rächen konnte. Fünf verfluchte Jahre lang lebte ich mit der Schuld und der Bedrohung durch Novak.
Sobald Bax aus dem Knast kam, nahm ich die Zügel in die Hand und arrangierte alles so, dass wir uns endgültig aus Novaks Würgegriff befreien konnten. Doch Bax durchkreuzte meinen Plan aufs Neue. Er verliebte sich in meine Schwester und bot einem wirklich fiesen Kerl dadurch eine Schwachstelle, an der er verwundbar war. Bax war bereit, sich zu opfern und ganz The Point abzufackeln, wenn nur Dovie es da lebend rausschaffen würde. Zum Glück kam es nicht ganz so weit: Jeder schaffte es raus – geschunden, gebrochen und etwas schlechter dran als zuvor. Allerdings war Novak Geschichte. Und wir machten uns gleich daran, den Untergrund, das Fundament dieses furchtbaren Ortes, wiederaufzubauen – Ziegelstein für öligen, dreckigen Ziegelstein … Denn wenn wir das nicht taten, würde es ein anderer tun.
Mein Vater warf mich schließlich raus, beobachtete mich panisch, als wartete er darauf, dass ich ihn hintergehen würde. Er strich mir jegliche Gelder, enterbte mich, tat so, als hätte er mich nie gekannt – all das in der Gewissheit, dass ich seine lichte, pompöse Welt jederzeit vernichten konnte. Ich mied ihn, um sicherzugehen, dass Dovie von ihm und seinen verzweifelten Machenschaften isoliert war. Mein Vater wusste, dass es Bax in Dovies Leben gab; er wusste auch, dass man von nun an an Bax vorbeimusste, um zu ihr durchzukommen, und für den Moment war das genug. Sie in Sicherheit zu wissen war immer das Wichtigste. Es war einer der Hauptgründe – abgesehen davon, Geld zu verdienen –, warum ich tat, was ich tat.
Ehrlich gesagt, ich war fürs Glücksspiel geboren. Ich hatte ein Gehirn, das maßgeschneidert war, um Buchhalter und Kredithai in einem zu sein. Ich hatte ein fotografisches Gedächtnis. Ich erinnerte mich an jeden Namen, jedes Gesicht und jede Dollarsumme, die ich den Leuten lieh oder die sie mir schuldeten. Ich brauchte keine Tabelle, musste nichts aufschreiben. Das FBI würde nie ein kleines schwarzes Buch bei mir finden, keinerlei belastende Beweise auf meinem Computer. Es war alles sicher verwahrt in meinem Kopf. Das machte es auch leichter, die Linien und Tabellen zu verstehen. Ich hatte endlose Ergebnisse, tonnenweise Statistiken, die Pläne zu jedem einzelnen Spiel, Mannschaftskader noch und nöcher – alle auf Abruf da oben gespeichert, damit ich mich bei Bedarf wieder an sie erinnerte. Für mich war das äußerst angenehm; für diejenigen, die mehr riskierten, als sie besaßen, allerdings weniger. Ich vergaß nichts. Es gab also keine Möglichkeit, sich aus einer Schuld herauszuwinden, kein Verstricken in Debatten darüber, wie viel denn nun geschuldet wurde. Genau deshalb war die Garage voll mit Autos, die dort darauf warteten, dass ihre Eigentümer wieder solvent waren.
Ich goss mir einen weiteren Scotch ein und zog mich gerade aus, um vor dem Schlafengehen noch mal zu duschen, als das Telefon klingelte. Das tat es dauernd. Die Leute wollten wetten, fragten nach Geld, und das rund um die Uhr. Doch der Klingelton, der jetzt durch das Loft hallte, gehörte zu Dovie. Sofort ließ ich meine Jeans fallen und klemmte das Telefon an mein Ohr, während ich mit der Dusche kämpfte. Es gab keine mittlere Temperatur im Loft, entweder war das Wasser kochend heiß oder eiskalt.
„Bax ist eben losgefahren. Er sollte gleich da sein“, sagte ich. Man brauchte zwanzig Minuten vom Zentrum der Stadt in die Vororte, wo Bax und Dovie lebten. Was bedeutete, dass er es in zehn Minuten schaffte.
Sie lachte. Mein Herz hüpfte jedes Mal, wenn ich diese Ausbrüche purer Freude hörte, die sie nun dauerhaft in ihrem Inneren mit sich herumtrug. „Er ist schon zu Hause“, erwiderte sie. „Ich wollte nur wissen, wie’s dir geht. Brysen meinte, es hätte auf der Party eine Schießerei gegeben, und Bax erzählte mir, dass du wieder unbewaffnet Geld eintreiben warst.“
Da klang Kritik durch. Ich hätte niemals gedacht, mich mal in einer Lage zu befinden, in der meine kleine Schwester mich dazu ermutigte, eine Waffe zu tragen.
„Das waren nur Kids. Alles okay.“
„Wenn einer auf dich schießt, ist das nicht okay“, gab sie zurück. „Jemand hätte verletzt werden können.“
Mit „jemand“ meinte sie Brysen, nahm ich an. Sie waren gute Freunde, und Dovie hatte nicht so viele davon – so verstand ich ihre dezente Warnung. Ich musste vorsichtiger werden, wann und wo ich mit meinen Geschäften zur Sache kam.
„Ich habe dafür gesorgt, dass sie sicher da rauskam.“
Dovie seufzte. „Danke, aber ich habe auch von dir gesprochen, Race. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir was passiert.“
Nach Novaks Sturz hatten wir alle noch Wunden, die nur langsam wieder verheilten. „Ich weiß, Mädchen, ich weiß.“
Laut rief sie Bax etwas zu, der sich irgendwo im Hintergrund aufhielt, bevor sie zu mir meinte: „Brysen kommt nicht mehr oft raus, seit sie wieder bei ihren Eltern lebt. Es nervt, dass der Abend, an dem sie mal nicht zur Arbeit musste, so geendet hat.“
Ich hielt eine Hand in den Wasserstrahl und zuckte sofort zurück. Eiswürfel hätten nicht kälter sein können. Schlotternd drehte ich den Hahn in die andere Richtung. „Warum arbeitet sie so hart? Ich dachte, ihre Familie sei wohlhabend. Ich weiß zumindest, dass sie in einer netten Gegend in einem netten Haus wohnt.“
Dovie seufzte erneut. „Ich kenne auch nicht die ganze Geschichte. Als die Sache mit Bax so chaotisch war und ich bei ihr gewohnt habe, hatte ich den Eindruck, dass sie den Haushalt ganz allein schmeißen musste. Und sie musste sich um ihre kleine Schwester kümmern. Während ich da war, habe ich ihre Eltern gar nicht zu Gesicht gekriegt. Du müsstest es eigentlich besser wissen als jeder andere, dass man Leute nicht nach der Gegend beurteilt, in der sie aufgewachsen sind.“
Schön und gut. „Ich wollte gerade duschen gehen. Ist alles in Ordnung zwischen uns?“
„Ich hab dich lieb, Race. Bitte vergiss das nicht.“
„Ich weiß, Dovie, das weiß ich.“
„Und ich glaube, Brysen ist verknallt in dich.“
Ich brach in schallendes Gelächter aus. „Das hättest du wohl gern! Sie kann mich nicht ausstehen.“ Allerdings war da dieser Kuss. Dieser Kuss, der nur den Anfang meiner Sexfantasien darstellte, in denen sie die Hauptrolle spielte.
„Im Ernst. Sie spricht dauernd von dir. Wenn ich was von Bax erzähle, wechselt sie das Thema und wird nervös und komisch. Aber wenn’s um dich geht, lässt sie mich reden und reden. Ihr würdet prima zusammenpassen.“
Würden wir. Und ich würde jeden einzelnen Dollar in meinem Safe dafür hergeben, um Brysen Carter nackt zu sehen.
„Schön, dass du nicht das Träumen verlernt hast“, sagte ich.
Sie lachte und wünschte mir zum Schluss eine gute Nacht.
Ich legte mein Telefon auf den Waschbeckenrand und zog meine restlichen Klamotten aus, um zu duschen. Vor lauter Unbehagen zischte ich laut und überließ es dem Dampf und der Hitze, meine sexuelle Frustration wegzubrennen.
Ich konnte sie geradezu spüren. Ihre vollen Brüste, ihre weiche Haut, ihr seidiges Haar und ihren Mund, der gleichermaßen gierig und süß war. Sie küsste mich, als ob sie wusste, dass ich dreckigen hemmungslosen Sex mit ihr wollte …
Unwillkürlich schreckte ich auf, als das siedende Wasser meine wachsende Erektion berührte. Vielleicht hätte ich lieber das kalte Wasser wählen sollen, wenn mich schon Nacktbilder von Brysen bis in die Dusche verfolgten.
„Ich weiß nicht, was der Kerl für ein Problem hat.“