The Shadow of a Fire - Samira Bosshard - E-Book

The Shadow of a Fire E-Book

Samira Bosshard

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Beschreibung

Wenn dir das Feuer alles nimmt, scheint nur die Liebe hell genug, um dich aus der Dunkelheit zu befreien. Doch die Schatten der Vergangenheit lauern unentwegt und brennen auf Rache… Avalee steht vor den Trümmern ihrer Existenz, als sie eines Tages von der Schule kommt und ihr Zuhause in Flammen auffindet. Ihre Familie - spurlos verschwunden... Trauer und Schuldgefühle drohen sie zu überrollen, als sie auf den mysteriösen, arroganten und zudem unglaublich gut aussehenden Damon trifft. Jede Begegnung wirft Avalee aufs Neue aus der Bahn und doch scheint sich ihre Verzweiflung in seine grünen Augen endlich zu lösen. Bliebe da nicht das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Als die Polizei neue Erkenntnisse über das Unglück gewinnt, ist klar: Avalee schwebt in Lebensgefahr! Samira Bosshard schrieb ihren Debüt-Roman "The Shadow of a Fire" mit gerade mal 14 Jahren und konnte direkt überzeugen: 2017 gewann sie mit ihm den YA Schreibwettbewerb SchreibmitRavensburger vom Ravensburger Buchverlag und der mobilen Schreib- und Leseplattform Sweek.*** Nur als eBook verfügbar ***

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Seitenzahl: 458

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 Ravensburger Verlag GmbHRedaktion: Julia FeldbaumCovergestaltung: Anna Rohner unter Verwendung von Fotos von © Cookie Studio/Shutterstock, © Jag_cz/Shutterstock, © Bernatskaya Oxana/Shutterstock, © LanaG/ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47894-1www.ravensburger.de

Für meine Familie und TanjaFür jene, die alles verloren und sich dennoch zurück ins Leben gekämpft haben.

Kapitel 1

Sterne spiegeln die Hoffnung wider. Das sagte jedenfalls mein Vater immer. Solange Sterne am Himmel stehen, wird alles gut werden.

Ich lag im Garten, auf dem feuchten Rasen und blickte in den klaren Nachthimmel. Das aufgeklappte Buch auf meiner Brust hob und senkte sich sanft bei jedem meiner Atemzüge. Die Blätter des mächtigen Apfelbaums über mir raschelten leise, als ein leichter Windhauch durch die Nacht wehte. Meine Aufmerksamkeit war auf einen Stern gerichtet, der heller strahlte als alle anderen. Und er wurde größer.

Mit ungeheurer Schnelligkeit raste er auf mich zu und leuchtete heller und heller. Ein immer lauter werdendes Rauschen durchschnitt die Stille der Nacht. Irgendwann konnte ich dem Licht nicht mehr standhalten und kniff die Augen zusammen.

Im nächsten Moment war die Nacht um mich herum wieder in Stille getaucht. Das Rascheln der Blätter und das anschwellende Rauschen waren verschwunden, stattdessen hörte ich ein leises Knistern. Vorsichtig öffnete ich die Augen und schaute in einen nun blutroten Nachthimmel.

Mein rechter Arm, der plötzlich eine angenehme Wärme verspürte, lenkte mich ab. Ich blickte zur Seite und entdeckte gut zwei Meter von mir entfernt züngelnde Flammen, die ihre Arme zum Himmel emporstreckten. Innerhalb von Sekunden war ich auf den Beinen. Das Buch, welches gerade eben noch auf meiner Brust gelegen hatte, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf der feuchten Erde auf. Ich drehte mich auf dem Absatz um und machte einen Satz nach vorn, ehe ich erstarrte.

Feuer.

Verzweifelt drehte ich mich um meine eigene Achse und bemerkte, dass ich umzingelt von der tödlichen Hitze war. Auf einmal spürte ich einen Windzug im Gesicht und in den Flammen tauchten vier Personen auf. Mit schreckerstarrtem Gesicht erkannte ich Lauren, Jaleb, Mum und Dad. Ersticktes Röcheln erfüllte die friedliche Stille der Nacht und ich spürte mein Herz gegen meine Rippen hämmern.

Meine Stimme zitterte, als ich ihre Namen schrie.

»Jaleb! Lauren! Kommt aus dem Feuer! Rennt! Mum … Dad …! Bitte …« Plötzlich verschwanden Lauren, Mum und Dad. Ängstlich wanderte mein Blick zu meinem kleinen Bruder, der sich im nächsten Augenblick ebenfalls in Luft auflöste. Die Feuerwand wurde größer und baute Mauern aus Flammen um mich herum. Ganz kurz erhaschte ich einen Blick auf einen Schatten, der mich, an den Apfelbaum gelehnt, beobachtete. Dann verschlang mich das Feuer.

Mit einem erstickten Schrei setzte ich mich im Bett auf. Meine Wangen waren tränennass, das Nachthemd klebte mir feucht am ausgemergelten Körper. Meine Hände krallten sich krampfhaft am Bettlaken fest.

Noch ehe ich richtig wach war, überschlugen sich meine Erinnerungen und ich stürzte aus dem Bett zum Fenster, das ich weit aufriss. Nur langsam erreichte die kühle Luft meine Lunge, ich schloss erschöpft die Augen und lehnte mich an den Fenstersims, während die tröstende Dunkelheit mich umarmte.

Kapitel 2

Gegen sechs Uhr richtete ich mich auf und streckte mich. Ich hatte die Nacht bei offenem Fenster am Boden verbracht, weswegen die Zimmertemperatur nun auf geschätzte zehn Grad gesunken war. Der kühle Wind streifte sanft meine nackte Haut und zauberte eine Gänsehaut herbei. Ich entledigte mich meines Nachthemds, zog mir mein schwarzes Sweatshirt über den Kopf und krempelte es mir mit steifen Fingern über die Hände. Dann fuhr ich mir kurz durchs Haar und verließ das Zimmer.

Unten im Speisesaal herrschte wenig Betrieb. So früh an einem Samstag waren nur die wenigsten Jugendlichen wach, die meisten nutzten das Wochenende, um den verpassten Schlaf nachzuholen.

Ich steckte eine halbe Scheibe Brot in den Toaster und goss mir ein Glas Wasser ein, ehe ich zu dem üblichen Tisch in der hintersten Ecke schlurfte. Während ich den paar anderen zusah, wie sie Berge von Rührei und Speck in sich hineinschaufelten, zerkrümelte ich meinen Toast zwischen den Fingern. Seit drei Wochen war ich nun schon hier in einer betreuten Wohngemeinschaft für Jugendliche in Belham und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als aus diesen trostlosen, kargen Mauern verschwinden zu können. Alles hier erinnerte mich an das, was ich verloren hatte.

Hier ging es jedem so. Das Jugendheim war wie eine Sammelstelle für vergessene, liegen gebliebene Kinder. Restmüll. Alles Menschen, die verlassen wurden, ungewollte Leute, verborgen hinter der Liebe, die sie nie bekommen hatten. Oder verloren – so wie ich.

Ich hatte alles gehabt, liebende Eltern, Geschwister. Ein sicheres Zuhause. Manch einer hier beneidete mich darum, doch für mich war meine liebevolle, behütete Vergangenheit ein Fluch. Du kannst dich nicht verloren fühlen, wenn du nie wusstest, wie sich Liebe anfühlt. Aber ich wusste, wie es war, wenn Dad mich mit stolzem Blick betrachtete oder meine Mutter mir, als ich klein war, die Haare flocht. Ich wusste alles. Und jetzt war alles weg.

Abwesend zupfte ich eine Serviette aus dem Serviettenbehälter, als mein Blick auf die spiegelnde Oberfläche traf. Für einen Augenblick war ich wie gelähmt. Ich sah fürchterlich aus. Meine Wangen waren fahl und blass, das Haar stumpf und platt. Als mein Blick zu meinen Augen wanderte, schaute ich weg. Ich wollte mir nicht in die Augen sehen, ich konnte es nicht. Konnte die unerträgliche Schuld nicht ertragen, die mir entgegenblicken würde. Denn ich war es. Die Schuldige. Ich war diejenige, die den Bus verpasst hatte und zu spät nach Hause zurückgekehrt war. Zu spät für meine Familie. Zu spät, um sie zu retten. Meine Schuld. Vier Leben, die auf meine Kosten gingen.

Ich spürte die Wut und den Hass auf mich selbst in mir pulsieren. Mit einer solchen Wucht, dass er polternd umkippte, schob ich den Stuhl nach hinten und hastete die Stufen zu meinem Zimmer hinauf. Das Wasser und das Stück Brot ließ ich unberührt liegen. Es kümmerte doch eh niemand, wenn ich verhungerte.

*

Der Duft von Leder und Earl Grey schlug mir entgegen, als ich die Tür zu Irinas Büro öffnete. Sie saß am Schreibtisch, vertieft in ihre Notizen, und blickte auf, als ich den Raum betrat. Mit der einen Hand legte sie ihre Notizblätter in ein Ablagefach, mit der anderen bedeutete sie mir, mich zu setzen.

»Schön, dass du hier bist, Avalee. Möchtest du eine Tasse Tee?«

Ich schüttelte schwach den Kopf und ließ mich auf einen grünen Polstersessel sinken. Während ich mich in dem kleinen Büro umsah, goss sie sich die heiße Flüssigkeit in eine Tasse. Das Zimmer war klein, kaum größer als eine Abstellkammer, aber gemütlich eingerichtet. Dicke Perserteppiche bedeckten den Boden, auf einem antiken Beistelltisch standen kakifarbene Vasen mit Wildblumen und zwei grüne Samtsessel luden zum Teetrinken ein. Die Untertasse klapperte, als Irina ihre Porzellantasse auf dem Tisch abstellte und sich mir gegenüber auf der Couch niederließ.

»Wie geht es dir heute?«

Ich blickte zu Boden. Dieselbe Frage, die mir seit drei Wochen gestellt wurde. Dieselbe Antwort, die ich nicht hatte. Ich zuckte mit den Schultern.

Eine Weile betrachtete sie mich, als wartete sie darauf, dass ich zu sprechen begann, bevor sie sich zurücklehnte und ihre Hände verschränkte.

»Wir haben tolle Nachrichten, Avalee. Es hat sich eine Familie bei uns gemeldet, die dich gern kennenlernen würde«, sagte sie und beobachtete mich aufmerksam. Überrascht blickte ich auf. Ich hatte nicht damit gerechnet, schon so früh die ersten Treffen zu haben. Selbst ich wusste, wie gering die Chance in meinem Alter war, noch von einer Pflegefamilie aufgenommen zu werden. Abwesend musterte ich die winzigen Risse, die die Hitze während all der Jahre im Teeporzellan hinterlassen hatte.

»Die Familie scheint ganz nett zu sein. Es handelt sich um ein verheiratetes Paar mit drei Kindern.« Irina blickte auf ihre Unterlagen. »Zwei Jungen, siebzehn und achtzehn, und ein kleines Mädchen. Sie leben außerhalb Londons in einem kleinen Dorf. Farnham. Hast du schon mal davon gehört?«

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, bis sich meine Fingernägel schmerzhaft in die Haut bohrten. Ich hatte keine Ahnung, was ich fühlen sollte. Ich freute mich, das tat ich wirklich. Aber ich hatte auch Angst.

Angst zu vertrauen. Ihnen wehzutun. Meinen Eltern.

Wenn ich zustimmte, würde ich mich dann gegen meine Eltern und für diese neuen Leute entscheiden? Würde ich meine Eltern damit zur Seite schieben, sie wie ein ungeliebtes Spielzeug in einer Ecke verstauben lassen?

Irina riss mich aus meinen Gedanken, indem sie ihre Tasse abstellte und das Wort an mich richtete. »Wie geht es dir damit, Avalee?«

Ich überlegte kurz, was wohl am angebrachtesten wäre, entschied mich dann aber für die Wahrheit. »Ich weiß nicht. Was, wenn ich sie nicht mag?«

»Dann sind sie nicht die Richtigen für dich.« Sie hielt kurz inne, bevor sie die Tasse abstellte und sich vorlehnte, damit sie mir besser in die Augen blicken konnte. »Du musst dich nicht fürchten. Dieses Treffen bedeutet nicht, dass sie dich sofort aufnehmen. Es ist nur dazu da, euch kennenzulernen. Zu schauen, ob die Chemie stimmt.«

Zaghaft schaute ich auf, mein Blick traf auf ihren. Für drei Sekunden hielt ich den Kontakt, dann senkte ich meine Augen, wie üblich. »Ich möchte sie kennenlernen«, erwiderte ich fast unhörbar.

Auch wenn ich ihre Miene nicht sah, wusste ich, dass sie lächelte. »Prima. Ich setze den Termin auf Mittwoch an, ja? Dann könnt ihr euch treffen.«

Ich nickte kurz, stand dann auf und ging zur Tür. Kurz bevor ich den Raum verließ, rief mich Irina nochmals zurück.

»Und, Avalee: Fang an, dir zu verzeihen!«

In meinem Zimmer angekommen, legte ich mich aufs Bett und starrte an die Decke. So viele Gedanken jagten mir durch den Kopf. Ob die Leute Bescheid wussten, was mir passiert war? Ob sie sich darüber im Klaren waren, dass ich die Verantwortung trug, meine Familie nicht rechtzeitig vor dem Feuer gerettet zu haben? Als ich spürte, dass meine Lippen zu zittern begannen, presste ich sie fest aufeinander. Ich wollte keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt, nicht hier. Ich streckte den Arm aus und tastete unter dem Bett nach der kleinen schwarzen Box, die ich mir vor wenigen Tagen gekauft hatte. Nachdem ich den größten Schock überwunden hatte, war ich in den Baumarkt gefahren, um mir Fotos von meinem Handy auszudrucken. Diese hatte ich mit allen anderen Erinnerungsgegenständen, die mir noch geblieben waren, in der Box verstaut.

Mit einem leisen Klacken ließ ich die Schnalle aufklappen und schob sachte den Deckel hoch. Behutsam, als handele es sich um Porzellan, zog ich das oberste Blatt Papier hervor. Es war ein Zeitungsartikel, erschienen vor zweiundzwanzig Tagen, säuberlich ausgeschnitten und zusammengefaltet.

Zögerlich klappte ich ihn auseinander und glättete das gräuliche Papier. Der Text betrug eine halbe Seite, daneben waren mehrere Bilder meiner Familie aufgedruckt.

Dienstag, 16. August 2015, Greenwich

In Greenwich ist am vergangenen Dienstag ein Einfamilienhaus komplett abgebrannt. Die Einwohner des Hauses sind unauffindbar.

Gegen 18:03 Uhr ging in der Zentrale der Notruf ein. Das Haus gehörte einem verheirateten Ehepaar, das mit seinen drei Kindern darin lebte. Als die Feuerwehr eintraf, konnte sie trotz aufwendiger Suche keine Bewohner im völlig verbrannten Haus vorfinden. Ein Nachbar der Familie berichtete: »Ich wurde von einem Schrei auf das Feuer aufmerksam. Als ich aus dem Haus trat, sah ich nur Feuer. Überall war Feuer. Vor dem Haus stand die Tochter. Ich habe sofort den Notruf gewählt.« Tatsächlich war die Sechzehnjährige die Erste, die das Feuer entdeckte. Die Jugendliche stand unter Schock, war ansonsten aber unverletzt. Die Polizei startete sofort mit einer großräumigen Suche. Die Brandursache ist noch unklar. Es wird vermutet, dass die Familie keine Chance hatte, das Haus rechtzeitig zu verlassen. Die Polizei bittet Zeugen, sich bei ihrer nächstgelegenen Polizeistation zu melden.

Ich legte den Zeitungsausschnitt zur Seite und griff nach dem nächsten Stück Papier. Es war ein Foto von mir und Mum, das wir im vergangenen Sommer bei einem Picknick geschossen hatten. Wir lagen auf einer Wildwiese, umgeben von Blumen. Überall in unserem Haar hatten sich Disteln verfangen. Mum hatte einen Arm um mich geschlungen und strahlte in die Kamera.

Sie hatte ein herrliches Lachen. Und sie war bildhübsch. Wir glichen uns bis auf die Zehenspitzen, abgesehen von unserem Haar, das sie schulterlang trug, mir jedoch bis zur Taille reichte. Auch Lauren sah uns ähnlich, hatte allerdings die schwarzen Knopfaugen von Dad vererbt bekommen.

Ich rief mir in Gedanken noch einmal ihre Stimmen und ihr Aussehen in Erinnerung und lächelte wehmütig, während mir heiße Tränen die Wangen hinunterflossen.

Kapitel 3

»Avalee, bitte hilf uns«, schrie Mum und Jaleb wimmerte leise.

Mit zittrigen Händen versuchte ich, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, doch meine schweißnasse Hand rutschte immer wieder ab.

»Beeil dich! Rette uns!«

Panisch warf ich einen Blick nach oben, zu meiner Familie, die sich aus dem Fenster lehnte.

Im Hintergrund lechzten die Flammen nach ihren Körpern und dichter Rauch quoll aus der Fensteröffnung. Endlich gelang es mir, die Tür aufzuschließen, und ich stürzte ins Gebäude. Absurderweise war es hier ganz still. Für ein paar Sekunden verharrte ich, lauschte nach irgendwas, doch alles, was ich hörte, war mein schwerer Atem und das friedliche Tropfen des Wasserhahns.

»Mum? Dad?«, rief ich, während ich die Treppen hochstürzte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und die Tür zu meinem Zimmer aufriss, aus dessen Fenster meine Familie eben um Hilfe geschrien hatte. Mein Blick glitt flüchtig über die leere Fensterbank zum Bett mit der säuberlich zusammengefalteten Tagesdecke und meinem aufgeräumten Schreibtisch. Ungläubig kniff ich die Augen zusammen, um sie kurz darauf wieder aufzureißen. Das Zimmer schien verlassen und sauber. Verzweifelt raufte ich mir das Haar, als ich ein leises Geräusch wahrnahm – ein Summen.

Jal. Mich durchfuhr es eiskalt, während ich über den Flur in sein Zimmer stolperte. Mein kleiner Bruder lag in seinem Bett, das Kinn in die Hände gestützt, und blätterte in einem Comic, während er leise vor sich hin summte.

»Jaleb!«, stieß ich atemlos hervor und machte einen Schritt auf ihn zu. Fragend blickte er auf. »Du lebst!« Meine Stimme zitterte.

Seine hingegen war kühl und ruhig, als er mich lange anschaute und dann leise antwortete: »Natürlich lebe ich nicht. Schau mich an, Ally.« Er blickte auf seinen Körper hinunter, der in Flammen stand. »Ich bin tot. Und das wegen dir.«

Ungläubig stolperte ich in Richtung Tür, meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.

»Nein … das kann nicht sein … Ich …«

Langsam stand Jaleb auf und gab einen Blick auf seinen verbrannten, rußverschmierten Körper frei. Er hob seinen Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Du hast mich getötet«, schrie er. »Du!«

Mit Tränen in den Augen lief ich rückwärts, direkt in etwas hinein. Erschrocken machte ich einen Satz nach vorn und drehte mich um. Mum, Dad und Lauren standen in der Tür. Die Flammen umgaben sie wie ein Heiligenschein.

»Mörderin«, flüsterten sie leise und wiederholten die Bezeichnung mantraartig. Auch Jaleb stimmte mit ein.

Die Worte echoten in meinem Kopf, während meine Familie sich mir hasserfüllt näherte. »Mörderin. Mörderin. Mörderin. Mörderin. Mörderin.«

Wimmernd fuhr ich hoch. Meine Wangen brannten vom Salz meiner Tränen. Meine Kehle schmerzte. Atemlos kroch ich unter meiner Bettdecke hervor, eilte zum Fenster, öffnete es weit und schnappte panisch nach Luft.

Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, ging ich zurück zum Bett und knipste die Nachttischlampe an. Warmes gelbes Licht durchflutete den Raum. Zitternd vor Kälte holte ich die schwarze Kiste unter dem Bett hervor und legte sie neben mich auf die Matratze. Eine Weile wühlte ich darin, bis ich mir ein Foto herausgesucht hatte und es betrachtete.

Es war eine Spontanaufnahme von Scarlett, Jaleb und mir vor vier Jahren. Ich konnte mich gut an diesen Tag erinnern. Es war ein Sonntag gewesen, draußen hatte es geregnet, und Scarlett und ich waren gestorben vor Langeweile. Schließlich hatten wir Jal, damals gerade vier Jahre alt, ins Bad verfrachtet und ihn in ein himmelblaues, gepunktetes Sommerkleid und silberne High Heels gesteckt. Anschließend hatten wir ihn geschminkt und seine hellbraune Löwenmähne zu kleinen Zöpfen zusammengebunden. Sehnsüchtig starrte ich das Bild meines kleinen Bruders an, betrachtete die winzigen Milchzähnchen, die Grübchen in den Wangen und die blassblauen Augen. Nun war er verschwunden und Scarlett lebte in Wales. Für wenige Sekunden zog ich es in Erwägung, sie anzurufen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder.

Wir hatten knapp ein Jahr nach ihrem Umzug den Kontakt zueinander verloren und uns seither nicht mehr geschrieben. Ich war nie der Typ für Freundschaften gewesen, meine Geschwister und Scarlett, die direkt neben uns gewohnt hatte, waren schon immer mein Lebensmittelpunkt gewesen. Mehr hatte ich nicht gebraucht – unser kleiner, verwilderter Garten, die Schaukel am Apfelbaum … und meine Geschwister.

Seufzend legte ich das Bild zur Seite und griff nach dem nächsten.

Lauren, Jaleb und ich standen in der Küche und hielten stolz drei Boxen Weihnachtskekse in die Höhe. Unsere Kleidung war voller Mehl, Jaleb reichte die Schokolade bis zum Ohr und in meinen Haaren klebte etwas Teig. Das Bild war vergangene Weihnachten aufgenommen worden, nachdem wir alle gemeinsam Weihnachtsleckereien gebacken hatten. Ich erinnerte mich noch an die Küche, die danach aussah, als hätte ein Mehlmassaker stattgefunden.

Weihnachten. Kaum neun Monate her. Fast konnte ich noch den Geruch nach Zimt, Tee und Weihnachtsplätzchen wahrnehmen und Jalebs fröhliches Gekreische von »Stille Nacht« durchs Haus klingen hören. Fast.

Ich griff nach dem nächsten Gegenstand und spürte etwas Kühles an meinen Fingerspitzen. Vorsichtig zog ich das Metallstück hervor. Es war eine kleine Kette. Sie bestand aus echtem Silber und der Anhänger war ein kleiner Saphir, zu einem Wassertropfen geschliffen. Ich hatte ihn seit meiner Geburt. Dad hatte ihn in Irland auf einer Geschäftsreise entdeckt und meiner damals hochschwangeren Mum mit nach Hause gebracht. Sie hatte ihn wunderschön gefunden und mir, sobald ich geboren war, um den Hals gelegt. Ich hatte ihn immer getragen und bis zum Tag des Brandes nie abgenommen. Erst als ich damals von der Polizei hierhergefahren worden und auf dem Bett zusammengebrochen war, hatte ich die Kette von meinem Hals gerissen und sie in die Ecke geschleudert.

Behutsam öffnete ich den Verschluss, hielt mein Haar in die Höhe und legte mir die Kette um. Ein paar Sekunden spürte ich noch den kühlen Stein auf meiner Brust, dann passte sich der Saphir meiner Körperwärme an.

*

Als ich das nächste Mal wach wurde, war es bereits später Vormittag.

»Ava? Ava, wach auf«, flüsterte jemand und ich spürte den leichten Druck einer kühlen Hand auf meiner Schulter. Ich blinzelte gegen die Helligkeit an.

»Es ist zehn Uhr. Irina hat mich geschickt. In einer halben Stunde habt ihr euer Gespräch.«

Langsam wurde meine Sicht klarer und ich erkannte Maria, meine zuständige Betreuerin.

Müde ließ ich meinen Kopf zurück ins Kissen sinken und nickte schweigend.

Die junge Italienerin lächelte mich sanft an: »Ich wünsche dir ganz viel Glück, Avalee. Hoffentlich ist es eine tolle Familie.«

Ich erwiderte nichts und sie fuhr mir noch mal mit der rechten Hand ermutigend über die Schulter, ehe sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.

Mit Tausenden Gedanken im Kopf zwang ich mich aus dem Bett und blickte in den schlichten braunen Kleiderschrank. Ich hatte nicht viel in meinem Besitz. Zwei alte T-Shirts sowie ein paar zu weite, zerrissene Jeans und etwas Unterwäsche. Die Betreuerinnen hatten die Kleidung aus der letzten Altkleiderspende auftreiben können. Dann ging ich ins Bad.

Nachdem ich die Tür verriegelt hatte, streifte ich meine Kleider ab und wandte mich der Dusche zu, als ich meinen Blick im Spiegel streifte. Auch wenn ich nicht hinsehen wollte, konnte ich nicht anders.

Ein junges Mädchen starrte mir entgegen. Ihr ausgemergelter, knochiger Körper entblößt. Das dunkelbraune Haar war zu einem Zopf zurückgebunden, der ihre ausgeprägten Wangenknochen stark zur Geltung brachte. Sie hatte einen unnatürlich wächsernen Hautton. Tatsächlich wirkte sie fahl – ein wenig wie aus einem alten Schwarz-Weiß-Film. Solche, die ich mir früher jeden Samstag mit Dad angesehen hatte. Die aufgesprungenen, geschwollenen Lippen waren der einzige Farbtupfer an diesem Körper.

Mein Blick wanderte von den Lippen zu den Augen, die früher die Farbe eines Ozeans gehabt hatten. Heute schienen selbst die Augenringe, die sich tief in meine Haut gruben, kräftiger. Schwer atmend wandte ich mich vom Spiegel ab.

Ich sah furchtbar aus. Aber am schlimmsten war die Schuld, die sich in meinen Augen widerspiegelte. Das Gewissen.

Ohne den Blick noch einmal zu heben, griff ich nach einem hellen Frotteehandtuch und klemmte es in den Spalt zwischen Spiegel und Fliesen, bis der Spiegel komplett abgedeckt war.

Dann atmete ich tief durch und versuchte, die Erinnerung an meine schuldbewussten blauen Augen zu verdrängen, ehe ich die Dusche betrat.

Ich drehte die Temperatur auf ganz heiß und stellte mich unter den dampfenden Strahl.

Nachdem ich mich gewaschen, angezogen und mein trostloses Haar zu einem bescheidenen Zopf geflochten hatte, machte ich mich auf den Weg zu Irinas Büro.

Vor der Tür hielt ich schließlich inne, unsicher, was ich jetzt tun sollte. Leise Stimmen drangen durch die dünnen Wände bis zu mir vor.

»Wie Sie bereits in den Akten lesen konnten, hat sie eine sehr schwere Vergangenheit … sie ist … und emotional instabil … posttraumatische Belastungsstörung … Vielleicht, aber vermutlich nie wieder …«

»Aber Sie sagten, dass sie ein wirklich tolles … Wie wird das denn …?«

»Ja … Seit dem Geschehen ist sie sehr … Natürlich … Die nötige Unterstützung …«

Eine Pause trat ein, ich sammelte all meinen Mut und klopfte leise an.

»Herein.«

Ich öffnete die Tür und betrat das Zimmer, den Blick gesenkt.

Ich konnte vier verschiedene Paar Schuhe erblicken.

»Avalee, da bist du ja. Komm, setz dich doch, bitte«, sagte Irina. Porzellan klapperte und das heiße Wasser zischte, als sie es in eine Tasse eingoss.

Ohne den Blick zu heben, setzte ich mich in den Sessel neben Irina. Im Zimmer roch es nach Tee und Keksen, doch keiner machte Anstalten, sich etwas zu nehmen. Es war still im Raum. Ich vermutete, dass sich die Familie einen ersten Eindruck von mir verschaffte, während ich, na ja, ihre Schuhe musterte.

Die Luft war so schwer, dass man beinahe nach ihr greifen konnte. Das Schweigen wirkte regelrecht erdrückend.

Irgendwann, als ich schon dachte, wir würden die Kennenlernphase in komplettem Schweigen verbringen, meldete sich eine warme, dunkle Männerstimme zu Wort: »Hi Avalee. Wir freuen uns, dich kennenzulernen.«

Die Stimme war so herzlich und aufrichtig interessiert, dass ich gar nicht anders konnte, als aufzublicken.

Mein Blick fiel auf einen Mann, ungefähr Mitte vierzig, mit dunkelbraunem Haar, das an den Schläfen schon leicht ergraute, und haselnussbraunen Augen. Der Schatten eines Dreitagebartes umspielte seinen Mund und ich konnte Lachfältchen neben seinen Augen entdecken, was ihn mir sofort sympathisch machte.

Er hielt die Hand einer hübschen honigblonden Frau neben ihm, die etwa gleich alt wirkte wie ihr Ehemann. Sie war klein und schmal. In ihren graublauen Augen spiegelten sich Wärme und Zurückhaltung wider.

Das dritte Paar Schuhe, schwarze Converse, gehörten einem Jungen in meinem Alter. Hastig blickte ich von seinem dunkelblonden kurzen Haar zu seinen schmalen Gesichtszügen und verharrte bei seinen dunkelgrauen Augen, die mich an einen bewölkten Abendhimmel erinnerten. Seine Augen leuchteten kurz auf, bevor er nach seiner Tasse griff und sie an die Lippen führte. Er schien sich nicht unbehaglich zu fühlen, ganz im Gegenteil zu mir, die nervös in ihrem Sessel herumrutschte.

Hilfe suchend warf ich Irina einen Blick zu, doch sie hatte bloß ein schwaches Lächeln für mich übrig. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff der dunkelhaarige Mann erneut das Wort. »Ich bin Lucas, das ist meine Frau Sara und unser Sohn Chase.«

Er schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln und ich bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sein Daumen sanfte Kreise auf die Hand seiner Frau malte, genau, wie es Dad bei Mum immer getan hatte. Hinter meinen Lidern begann es, verdächtig zu kribbeln, und ich wandte hastig den Blick ab.

»Wir haben noch zwei weitere Kinder, die heute leider nicht dabei sein konnten. Katie ist unsere Jüngste, sie ist sieben und heute auf einem Geburtstagsfest. Damon ist siebzehn. Er … na ja, wie auch immer. Du wirst sie sicher bald kennenlernen.«

Das restliche Gespräch verlief überraschend entspannt. Lucas erzählte mir mehr von ihrer kleinen Tochter, seinem Beruf als Geschichtsprofessor für Fernstudenten und der Privatschule, die seine Kinder besuchten. Ich verhielt mich ruhig, hörte ihm aufmerksam zu und nickte oder schüttelte den Kopf, wenn es angebracht war.

Als wir am Ende angelangt waren, verabschiedeten sich Sara und Lucas von mir und verließen mit Irina das Zimmer. Nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, blickte ich vorsichtig zu Chase, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Stattdessen lag sein Blick auf mir und er betrachtete mich nachdenklich. Ich errötete unter seinem Blick, versuchte, mich auf den Teeduft oder meine Hände zu konzentrieren, die sich zu Fäusten geballt hatten.

Als er schließlich zu sprechen begann, zuckte ich unmerklich zusammen. »Der Anfang ist immer am schwersten, aber mit der Zeit wird es besser.«

»Was?« Ich runzelte die Stirn.

»Loszulassen. Anfangs schmerzt es, weil man sich nicht bereit fühlt, doch irgendwann beginnt man wieder zu leben.«

Schweigend starrte ich zu Boden. Was wusste er denn schon, wie es mir ging? Woher sollte er auch nur erahnen, welche Schuld ich auf mich geladen hatte.

»Bis dann«, meinte er schließlich und lächelte mir zu – es war kein mitleidiges Lächeln, eher ein freches, sanftes. Eines dieser Sorte, die Männer attraktiv machte.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich um. Ich blickte ihm nach, bis er am Ende des Flures verschwunden war.

Kapitel 4

Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick durch das karge Zimmer schweifen, über den leeren Schrank, das abgezogene Bett und den Schreibtisch, dann trat ich in den Flur und zog leise die Tür hinter mir zu. Das Haus lag in friedlicher Stille, ein paar Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Gardinen der Fenster und malten goldene Streifen auf die Dielen. Es war kurz vor Mittag, die meisten Jugendlichen waren in der Schule. Nur hin und wieder hörte man in der Küche ein paar Töpfe klappern, als Zeichen für die Vorbereitungen des Mittagessens. Ich umpackte den Griff der Reisetasche, die mir gegeben wurde, fester und ging die Treppen runter.

Draußen vor der Haustür standen Sara und Lucas mit Irina und Catherine, die das Pflegeheim leitete. Sie hatten mir den Rücken zugewandt und Catherine gestikulierte wild. Wahrscheinlich besprachen sie, wie sie sich um mich zu kümmern hatten.

In den letzten zwei Wochen hatten wir drei weitere Treffen gehabt. Sara und Lucas hatten mir von ihrer Familie berichtet und mir Fotos von vergangenen Familienausflügen gezeigt, die von Glück und Zufriedenheit erzählten. Ohne dass ich etwas sagen musste, hatten sie akzeptiert, dass ich nicht über meine Familie sprechen wollte, und mir kaum Fragen gestellt. Und tatsächlich musste ich mir eingestehen, dass ich sie mochte.

Instinktiv tastete ich nach dem Saphir und atmete still auf, als die Spitze sich in meine Fingerkuppe bohrte. Mir lag nicht viel daran, hierzubleiben, aber zu gehen war dennoch ein großer Schritt. Es schien mir auf der einen Seite wie eine Rettung, ein Neuanfang mit zahlreichen Chancen. Doch da gab es dennoch etwas, das mich bedrückte. Eine Stimme in meinem Kopf, die mir leise »Verräterin« zuzuflüstern schien. Denn tatsächlich entschied ich mich gleichzeitig auch dafür, London und meine Familie hinter mir zu lassen. Nach vorn zu blicken, nicht mehr an ihnen festzuhalten. Mich einer neuen Familie zuzuwenden. Und auch wenn ich es mir nicht eingestehen würde, so versetzte mir dieser Gedanke doch einen riesigen Stich im Herzen.

Während ich mich überwand, ins Blickfeld meiner Pflegeeltern zu treten, trat Maria aus der Küche, einen roten Kochtopf in der Hand. Als sie mich erblickte, lächelte sie überrascht, bevor sie den Topf mit einem leisen Klappern auf den Tisch stellte und zu mir kam. Für einen Moment beobachteten wir beide still die Menschen, die draußen auf mich warteten. Schließlich meinte sie: »Sie sehen nett aus.«

Ich schluckte, wickelte ein Stück der Silberkette um meinen Finger und löste sie wieder. »Ich denke …«, ich verstummte, dann schüttelte ich sanft den Kopf, »ich denke, das sind sie auch.«

Nachdenklich strich sich Maria eine Strähne hinters Ohr. Ihre Wangen waren vom Kochen gerötet und ihr kurzes Haar zerzaust. »Worauf wartest du dann noch?«

Kurz sah ich nach oben an die Decke, dann schüttelte ich erneut den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Du wartest auf ein Zeichen. Darauf, dass es sich plötzlich richtig anfühlt.«

Ich blickte zu ihr. Ja. Ja, das beschrieb es ziemlich gut. Ich wartete darauf, dass meine Eltern gefunden wurden. Oder dass ihre Stimmen in meinem Kopf auftauchten und sie mir sagten, dass es okay sei. Dass sie mir nicht böse wären. Doch sie waren weg. Und sie würden nicht plötzlich wieder auftauchen. Wenn sie überhaupt jemals wieder auftauchen würden.

»Weißt du, Avalee, ich glaube, sie fänden es toll. Sie fänden Sara und Lucas toll. Sie würden wollen, dass du glücklich bist. Und das warst du hier«, sie deutete ausschweifend auf unsere Umgebung, »ganz klar nicht.«

Ich schluckte. Und dann tat ich etwas, was ich seit Wochen nicht mehr gemacht hatte – ich trat einen Schritt auf sie zu und umarmte sie, vergrub mein Gesicht in ihrem rauen Pulli. Sie roch nach Waschmittel und gebratenen Zwiebeln, und auf irgendeine Weise tröstete mich der Geruch.

»Breite deine Flügel aus und flieg. Du kannst das, das weiß ich«, hörte ich sie in mein Haar murmeln, dann ließ sie mich vorsichtig los. »Und jetzt hau schon ab!«

Sie schenkte mir noch ein mattes Lächeln und ich sah, dass sie mit den Tränen kämpfte, also drehte ich mich um, ließ das Foyer hinter mir und trat aus der Tür.

Ein kühler Herbstwind wehte mir um die Nase und in der Ferne hörte ich das gewohnte Brummen des Verkehrs.

»Hallo, Avalee!« Sara strahlte, als sie mich erblickte. Nach einer kurzen, unbeholfenen Umarmung ergriff Lucas wie selbstverständlich meine Tasche und brachte sie zum Wagen. Kurz tauschte ich mit Irina und Catherine die letzten belanglosen Worte aus, sie wünschten mir alles Gute, dann hakte sich Sara behutsam bei mir ein, als wäre ich ein scheues Reh, das jederzeit erschrecken und ins Unterholz flüchten konnte.

Die Fahrt verlief schweigend. Ich ließ das Fenster offen und genoss den Wind, der mir die Haare aus dem Gesicht wehte, während kilometerweite Felder und dichte Wälder an uns vorbeiflogen. Das Sonnenlicht, das sich zwischen den wenigen Blättern, die die Bäume noch trugen, durchkämpfte, malte sanfte Muster auf den Asphalt. Die Luft roch nach Erde, sonnengetrocknetem Heu und Laub.

Eine gute Stunde später verlangsamte der Audi das Tempo und Lucas ließ den Wagen langsam auf dem Vorplatz eines riesigen roten Ziegelbaus ausrollen.

Wir waren da. Hier würde ich für die nächsten Monate wohnen, vielleicht sogar mein ganzes Leben, bis ich erwachsen sein würde. Bevor ich aus dem Fenster schauen konnte, versperrte Lucas mir die Sicht und hielt mir die Tür auf. Unsicher stieg ich aus, trat ein paar Schritte vom Wagen weg und blickte mich um. Wir standen auf einem kleinen Kiesvorplatz. Wenige Meter von mir entfernt thronte die große, viktorianisch anmutende Ziegelsteinvilla. Das Dach war mit unzähligen Erkern und Verzierungen geschmückt, die im Licht der Abendsonne kupfern vor sich hinschimmerten. Ich drehte mich um meine eigene Achse.

Hinter mir schloss sich mit einem mechanischen Summen ein Eisentor, dahinter lag ein Wald. Das Landhaus schien abgelegen, jedenfalls konnte ich keine Nachbarhäuser oder andere Bewohner erkennen. Nur die Vögel hörte man leise ihre Lieder singen. Langsam entspannte ich mich.

Sara und Lucas positionierten sich rechts und links von mir, dann führten sie mich zu einer breiten Eingangstür aus massivem, dunklem Eichenholz. Sara kramte einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und das Metall klimperte fröhlich, als die Tür mit einem leisen Klicken nach innen aufschwang.

»Willkommen in deinem neuen Zuhause«, meinte Lucas sanft und schob mich vorsichtig ins Haus. Das Foyer war in schlichten Cremetönen gehalten. Schmuckverzierungen bedeckten die Ränder der Decke und es roch nach edlem Raumspray. Die Marmorfliesen waren glatt poliert. Ein paar Pflanzen säumten die Ecken. Sandfarbene Vasen gaben dem Ganzen einen luxuriösen Touch.

Aufmerksam sah ich mich um. Am Ende der Eingangshalle war eine offene Schiebetür in die Wand eingebaut, die einen Blick ins vermutliche Wohnzimmer freigab, rechts und links davon führten zwei Treppen ins Obergeschoss. Aus unsichtbaren Lautsprechern schallten leise Klänge von Chopin durch die Räume. Als Sara meinen Blick auffing, zuckte sie verlegen mit den Schultern. »Ich liebe Klassik. Am liebsten Chopin oder Beethoven. Aber komm jetzt, ich zeige dir dein Zimmer.«

Sie führte mich zur Treppe und dann ins Obergeschoss, das ähnlich gehalten war wie die Eingangshalle – bis auf die Tatsache, dass hier Bilder an der Wand hingen. Bilder von Sara und Lucas an ihrer Hochzeit. Oder drei kleinen Kinder, die in die Kamera strahlten. Ich ignorierte den Schmerz in meiner Brust und folgte ihr in das letzte Zimmer rechts. Sie hatte die Taschen neben dem Bett abgestellt und durchquerte den Raum, um die Gardinen aufzuziehen und die Fenster weit zu öffnen.

»Kleider findest du in deinem Schrank, sie sollten dir eigentlich passen, aber wir können in den nächsten Tagen einkaufen gehen. Handtücher liegen im Bad. Du solltest alles haben, was du vorerst brauchst«, sie holte tief Luft und betrachtete mich sanft. »Soll ich dir beim Auspacken helfen?«

Zögernd schüttelte ich den Kopf.

»Okay. Du findest mich unten. Wenn du Hilfe brauchst, dann ruf einfach, ja?«

Kurz hielt sie in der Tür inne, als kämpfe sie mit sich selbst, mich jetzt allein zu lassen, doch dann lächelte sie mir zu und verließ das Zimmer. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, gestattete ich es mir, geräuschvoll Luft zu holen und mich umzusehen.

Die Wände waren mit königsblauer Tapete verkleidet, und die Tatsache, dass das Zimmer größer als unser altes Wohnzimmer war, fühlte sich unbehaglich an. In der Mitte des Raumes stand ein elfenbeinfarbenes Himmelbett. So eines, von dem jedes kleine Mädchen immer träumte. Zahlreiche beige und blaue Kissen zierten das Bett, und die hellblaue Tagesdecke lag säuberlich gefaltet am Fußende. Ansonsten gab es noch ein helles Bücherregal, eine Kommode in derselben Farbe wie das Bett und einen begehbaren Kleiderschrank. Die Fenster waren groß und jedes von ihnen mit einer gepolsterten Fensterbank samt Kissen versehen.

Nachdem ich meine wenigen Sachen in der Kommode verstaut hatte, wo ich auf eine breite Auswahl an Kleidungsstücken in meiner Größe stieß, verließ ich mein Zimmer mit einem schneeweißen Bademantel in der Hand und machte mich auf die Suche nach einem Bad. Ich fand es schnell, da es mit einem gelben Post-it-Zettel beschriftet worden war. Kurz verharrte ich, erstaunt darüber, wie viel Mühe sie sich für mich machten, dann trat ich ein. Das Bad war gigantisch und glich denen, die man in den edelsten Hotels immer vorfand. Es war ausgestattet mit einer Regenwalddusche, einer Badewanne mit Massagedüsen und einem Fußbad. Ein massiver Waschtisch aus Marmor nahm die gesamte Längsseite des Bades ein. Nach einer heißen Dusche ging es mir bereits besser.

Es schien, als hätte die Dusche nicht nur den Dreck, sondern auch ein wenig der Unsicherheit weggewaschen. Ich wickelte mich in den weichen Bademantel und ging in mein Zimmer.

In der untersten Schublade des Kleiderschrankes entdeckte ich frisch gewaschene Seidenunterwäsche.

Ich entschied mich zudem für ein graues, hautenges Top und eine lange schwarze Strickjacke. Ich probierte drei Skinny Jeans an, doch alle rutschten mir über die Hüfte und waren mir viel zu groß, weshalb ich zu einer schlichten schwarzen Leggings griff.

Anschließend ließ ich mein neues Zimmer hinter mir und ging in den Raum, in dem ich das Wohnzimmer vermutete.

In einer Ecke stand eine riesige schwarze Ledercouch. Davor saß Chase mit Katie auf einem riesigen Teppich und tippte auf einer Fernbedienung herum. Ich zögerte, als ich sie entdeckte. Bisher hatte ich die Siebenjährige erst bei einem einzigen Treffen kennengelernt, doch auch wenn sie mich energisch begrüßt hatte, verunsicherte mich die Tatsache, dass sie nur ein knappes Jahr jünger als Jal war.

Abwesend beobachtete ich, wie Chase seiner kleinen Schwester erklärte, welche Knöpfe sie drücken musste, um den Film abzuspielen. Die beiden schienen mich nicht zu bemerken, so konzentriert waren sie aufeinander.

Unsicher lehnte ich mich an den Türrahmen und räusperte mich leise. Noch ehe ich mich versah, klammerte ein kleines Mädchen an meinen Beinen. Seine blonden Locken wurden von rosa Schmetterlingsspangen in Zaum gehalten und es blickte mich mit seinen braunen Rehaugen erwartungsvoll an.

»Ich habe schon auf dich gewartet! Erst wollte ich in dein Zimmer stürmen, doch Chase meinte, dass ich dir Zeit lassen sollte, aber …« Mitten im Satz verstummte sie und strahlte mich an. Eine Zahnlücke kam zum Vorschein. »Bist du jetzt meine große Schwester?«

Ich schaute kurz zu Chase, der da stand, wo er vorher gesessen hatte, und uns beide aufmerksam beobachtete.

Im Hintergrund erklang I See the Light und für einen kurzen Augenblick war ich gefangen in der Erinnerung, wie Jal und ich uns in mein Bett gekuschelt hatten – mit dem Laptop auf dem Schoß.

Als das Mädchen an meiner Hand zupfte, blinzelte ich mich aus meinen Gedanken. Zögernd ging ich in die Hocke, damit wir auf Augenhöhe waren.

»Wenn du das willst, dann bin ich ab jetzt deine große Schwester«, flüsterte ich so leise, dass nur Katie es hören konnte.

»Toll! Ich wollte schon immer eine große Schwester haben«, rief sie begeistert und fiel mir um den Hals.

Ich konnte mir ein schwaches Grinsen nicht verkneifen und erwiderte die Umarmung zögerlich: »Wieso denn? Ist Chase so schlimm?«

Ihr hellblondes Haar kitzelte an meiner Wange, als sie mir ins Ohr flüsterte: »Nein, Chase ist toll. Aber ich glaube, Damon mag mich nicht besonders …«

»Wieso glaubst du das?«, fragte ich überrascht und löste mich von ihr.

Noch bevor das kleine Mädchen antworten konnte, unterbrach sein großer Bruder unser Gespräch und griff sanft nach meinem Arm. »Komm, Avalee. Du hast bestimmt Hunger. Kat, willst du mitessen?«, fragte er und führte mich aus dem Wohnzimmer in die Küche.

Katie folgte uns hüpfend.

Chase hatte uns Pasta mit einer Soße aus Knoblauch, getrockneten Tomaten und Pinienkernen gekocht, auf die sich Katie regelrecht stürzte. Selbst Spaghetti schienen hier luxuriöser als sonst wo.

Auch wenn ich wenig Appetit hatte, nahm ich mir etwas von der Pasta und würgte sie auf Chases sorgsamen Blick hin hinunter.

Nach dem Abendessen verfrachtete uns Chase ins Wohnzimmer, wo wir uns einen Pixar-Film über einen kleinen Jungen anschauten, der die Welt entdeckte. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie mein Blick zu Chase und seiner kleinen Schwester wanderte, die sich ein paar Meter neben mir positioniert hatten. Kat hatte ihren Kopf auf seine Brust gebettet und sie wirkten wahnsinnig vertraut. Ich fühlte mich wie ein Zuschauer eines Filmes, der die Kopie meines alten Lebens darstellte. Nur luxuriöser und im Rollentausch.

Später gesellten sich Sara und Lucas zu uns. Sie kochten Tee und fragten, wie es mir ginge, dann setzten sie sich zu uns und schauten mit.

Es war schon nach Mitternacht, als Lucas und Sara die schlafende Katie in ihr Zimmer trugen und mich mit Chase allein im dunklen Wohnzimmer sitzen ließen.

»Es war ein langer Tag, ich bringe dich auf dein Zimmer«, sagte Chase und wie zur Bestätigung musste ich in diesem Moment gähnen.

Die Stufen fühlten sich kühl an unter meinen nackten Füßen, als ich langsam hinter Chase die Treppe hochtapste.

Ich spürte den Windzug schon, bevor ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Das Fenster stand weit offen und alle Lichter, sogar die des kleinen Nachttischlämpchens, waren angeschaltet. Chase warf mir einen kurzen Blick zu, schloss dann das Fenster und machte sich daran zu schaffen, alle zusätzlichen Lichter abzuschalten.

»Mach am Abend das Fenster lieber zu. Meine Eltern mögen es nicht, wenn jeder freien Zugang zu unserem Haus hat«, wies mich der dunkelblonde Junge an, nachdem er alle Lichter außer der Deckenlampe ausgemacht hatte, und setzte sich in einen Sessel.

Ich löste mich aus meiner Starre, schloss die Tür hinter mir und ließ mich auf der Kante meines Bettes nieder.

»Das war ich nicht. Das Fenster war zu und die Lichter aus, als ich das Zimmer verlassen habe«, meinte ich.

Im nächsten Moment musterten mich ein paar graue, wolkenverhangene Augen – mit einem Hauch Vorsicht darin – besorgt und Chase zuckte leicht mit den Schultern.

»Es war ein langer Tag, Avalee. Keiner kann dir Vorwürfe machen, dass du etwas durcheinander bist …«

»Aber ich war das nicht! Chase, wirklich«, unterbrach ich ihn.

Er betrachtete mich einen Moment lang schweigend. »Wer soll es sonst gewesen sein?«, fragte er sanft.

Ich entgegnete nichts, woraufhin er aufstand.

»Leg dich schlafen und ruh dich aus. Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.« Er drückte mir kurz die Schulter und ging aus dem Zimmer.

Nachdem die Tür geschlossen worden war, wartete ich, bis seine Schritte verklungen waren, dann zog ich mich um und machte mich bettfertig. Als ich mich schließlich ins Bett legte und das kalte Laken meine Haut streifte, erschauerte ich. Auch wenn mein Körper erschöpft war, kam ich nicht zur Ruhe.

Ich ließ den Tag noch mal Revue passieren und blieb bei dem Gespräch mit Chase hängen.

Die brennenden Lichter, das offene Fenster.

Ich hätte schwören können, dass ich das Fenster kurz vor dem Verlassen meines Zimmers geschlossen hatte.

Und die Lichter waren definitiv ausgeschaltet gewesen, das hatte ich mir über Jahre angewöhnt und machte das fast automatisch.

Meine Familie war nicht besonders reich, jedenfalls nicht so reich wie die Cassels. Wir hatten kein Geld für überflüssige Strom- und Wasserkosten, weshalb Dad uns schon früh eingeprägt hatte, immer an Strom und Wasser zu sparen und beim Verlassen des Zimmers jedes Mal die Lichter abzuschalten.

Mir kamen erneut Chases Worte in den Sinn: Es war ein langer Tag, keiner kann dir Vorwürfe machen, dass du etwas durcheinander bist.

Ein langer Tag war es wirklich. Vielleicht war ich tatsächlich zu verwirrt von den heutigen Ereignissen und ich sollte mich jetzt einfach ausruhen.

An diese Vermutung klammerte ich mich so lange, bis mich der vertraute Schlaf überrollte.

Kapitel 5

Feuer. Überall Feuer.

Meine Familie stand mitten in der Nacht in einem roten Mohnblumenfeld.

Sie war eingekesselt von hungrigen Flammen.

Das Licht des Feuers beleuchtete ihre schreckerstarrten Gesichter. Obwohl ich mindestens zwanzig Meter entfernt war, konnte ich die Wärme auf meiner nackten Haut spüren.

Funken schwebten hoch in den Nachthimmel.

Der Feuerkreis wurde kleiner. Jaleb kreischte auf, als Funken auseinanderstoben und seinen Arm erwischten.

Ich rannte zu ihnen, umkreiste das Feuer. Suchte einen Ausweg.

»Ally, hilf uns!«, keuchte Lauren – nach Atem ringend.

Verzweifelt raufte ich mir durchs Haar, als ich keinen Ausweg entdeckte.

Das Feuer knisterte leise, als würde es mich zu sich rufen. In diesem Moment traf ich eine Entscheidung.

Ich trat einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprintete los. Sobald ich das Feuer berührte, leckte es an meiner Kleidung, meinen Haaren und schmerzhafterweise auch an meiner Haut. Hungrig streckte es die Arme nach mir aus, doch da hatte ich schon die Feuerwand durchbrochen und befand mich im Inneren des Kreises.

Heiße Schmerzwellen rollten durch meinen gesamten Körper, meine Haut war mit Brandblasen übersät und fühlte sich an, als würde sie mir bei lebendigem Leib vom Körper gezogen werden.

Trotz der Schmerzen blickte ich auf, drehte mich zu meiner Familie und … nichts.

Meine Familie war weg.

Der Feuergürtel umhüllte nur noch mich und zog sich enger und enger zu.

Panisch drehte ich mich um die eigene Achse.

»Mum! Dad! Lauren! Jaleb! Wo seid ihr?«, kreischte ich. Meine Stimme versagte. Die unerträgliche Hitze brannte sich in meine Haut ein wie glühendes Eisen. Ich schrie schmerzerfüllt auf.

In diesem Moment erblickte ich sie. Mum und Dad hielten Händchen, vor ihnen stand Jaleb, dem sie die Hände auf die Schultern legten. Lauren stand neben Mum, die ihr einen Arm um die Taille schlang und sie näher an sich zog.

Ich erkannte die Szene aus einem Foto wieder, das an Silvester vor zwei Jahren geschossen worden war. Nur ich fehlte.

Ihre Blicke waren auf mich gerichtet, doch sie schienen mich nicht zu erkennen. Stattdessen schauten sie durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Strahlten ins Leere.

»Helft mir doch …«, flehte ich schluchzend und streckte die Arme nach ihnen aus.

Die Flammen nahmen das Angebot sofort an und stürzten sich hungrig auf meine nackte Haut.

Mit einem Schmerzensschrei zog ich meine Arme zurück und konnte erkennen, wie sich in Sekundenschnelle dicke rote Blasen bildeten.

Als ich wieder aufschaute, war meine Familie erneut verschwunden.

Stattdessen hing ein schwarzer Schatten in der Luft.

Er hatte die Umrisse eines jungen Mannes und stand mir zugewandt da, jedoch konnte ich keinerlei Details, wie seine Gesichtsform, ausmachen.

»Hey, Sie! Bitte helfen Sie mir … Bitte …!«, schrie ich dem Schattenmensch zu.

Der Schatten rührte sich nicht. Er zuckte mit keinem Muskel.

Konnte er mich nicht hören?!

»Sir … Bitte …!« Meine Stimme ging im Knistern des Feuers unter.

Keine Regung.

Von einer Sekunde auf die andere verschwand die Wut und wurde ersetzt durch Panik. Ich wollte nicht sterben. Doch nicht jetzt. Nicht hier!

»Bitte, bitte, bitte«, schluchzte ich in einem Mantra aus Angst. Plötzlich wurde es still um mich. Es schien, als wäre die Welt auf einmal auf stumm gestellt.

Ein einziges Wort trug der Wind zu mir herüber – es klang gespenstisch leise und nahezu gehaucht: »Nein.«

Alles Blut wich aus meinem Gesicht, der Boden begann zu wanken. »Bitte, Sir! Bitte, bitte helfen Sie mir! Bitte … Oh Gott, bitte!«

Plötzlich erhellte ein zweites Feuer die Nacht – und es umgab den Schattenmann. Wie ein Mantel drang die tödliche Hitze aus jeder Pore des Wesens. Er war nun kein Schattenmann mehr, er war ein glühender Feuerball. Doch anders als bei mir zerstörte dieses Feuer seine Haut nicht, es umgab ihn wie eine zweite Hülle. Es gehörte zu ihm.

»Bitte … Helfen Sie mir!«, krächzte ich erneut.

Ganz langsam hob er den Kopf und schaute zu mir.

»Das werde ich«, wisperte der Wind mir zu.

Im nächsten Augenblick hob er den Arm, machte eine kleine Handbewegung und das Feuer stürzte sich auf mich.

Schweißgebadet riss ich die Augen auf und saß im nächsten Moment senkrecht im Bett.

Mein Brustkorb war wie zugeschnürt, ich bekam keine Luft. Krampfhaft schnappte ich nach Sauerstoff, klappte den Mund auf und zu. Keine Chance.

Panisch strampelte ich die nasse Bettdecke von meinen Füßen und stürmte zum Fenster, durch dessen Gardine sanftes Mondlicht drang.

Wie in Trance schob ich den Stoff zur Seite und riss das Fenster auf.

Die dunkle Gestalt auf meinem Fenstersims bemerkte ich viel zu spät. Erst dann, als mich eine Hand am Arm packte und sich tief in mein Fleisch grub.

Mit einem Aufschrei machte ich einen Satz nach hinten und stürzte zu Boden, die Gestalt zog ich mit mir.

Ich schrie. Ich schrie, so laut ich konnte, während sich die Gestalt aufrappelte und innerhalb weniger Sekunden bei mir war. Ich wich panisch zurück, bis sich das harte Gestell des Bettes in meinen Rücken bohrte.

Ich schrie sogar noch, als die Gestalt mir die Hand auf die Lippen presste und mein Schrei nur noch leise und gedämpft aus meinem Mund drang.

»Sei ruhig!«, herrschte mich die Gestalt an. Es war eine dunkle, aber überraschenderweise samtweiche Stimme.

Als die Person kurz über die Schulter zum Fenster schaute, als wollte sie sich ihrer Fluchtwege versichern, erhellte der Mondschein für wenige Sekunden sein Gesicht.

Ich erkannte nicht viel, aber was ich sah, waren markante Gesichtszüge, volle Lippen und … definitiv das Unheimlichste: funkelnde hellgrüne Augen.

Ein Wimmern kam mir über die Lippen und der Mann presste seine Hand instinktiv fester auf meinen Mund.

Mit einem Knall wurde meine Türe aufgerissen, so stark, dass sie gegen die Zimmerwand krachte und der ganze Boden vibrierte. Im nächsten Moment schaltete jemand das Licht an und Helligkeit durchflutete das Zimmer.

Reflexartig kniff ich die Augen zu, um sie vor dem gleißenden Licht zu schützen.

Ich hörte schnelle Schritte den Raum durchqueren und ein leises Fluchen. Dann Wärme. Jemand legte mir den Arm um die Schultern und zog mich fest an sich. Ein Aftershave, das nach Meeresbrise roch. Freiheit. Chase.

»Alles ist gut. Schsch. Ava, schau mich an«, flüsterte er beruhigend.

Die Tränen der Angst verwandelten sich in Erleichterungstränen.

Chase war da. Alles würde gut werden.

Langsam öffnete ich die Augen und verlor mich in warmem Dunkelgrau. Mit dem Zeigefinger wischte er mir behutsam eine Träne aus dem Gesicht.

»Alles ist gut, du musst keine Angst haben. Ich bin hier. Kannst du aufstehen?«, fragte er leise und half mir hoch.

Mit wackeligen Beinen stand ich barfuß auf den kalten Holzdielen. Ich zitterte. Ob vor Kälte, Angst oder Erleichterung – ich wusste es nicht.

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nur ein dünnes weißes Nachthemd anhatte, das mir knapp bis zu den Oberschenkeln reichte und mir feucht an meiner schweißnassen Haut klebte.

Doch Chase schien sich in keiner Weise dafür zu interessieren, denn er führte mich langsam zu meinem Bett.

Als ich die kühle, weiche Bettdecke unter mir spürte, ging es mir augenblicklich besser und das Beben meines Körpers ging in ein sanftes Zittern über.

»Da … war jemand … in meinem Zimmer …!«, stammelte ich, nachdem ich mich etwas gefasst hatte, und blickte meinen Pflegebruder mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich weiß, Avalee. Aber er tut dir nichts. Er ist jetzt weg. Alles ist gut«, versicherte er mir und strich mir mit den Fingerknöcheln beruhigend über den Rücken.

Verwirrt musterte ich ihn und holte zitternd Luft. »Du weißt, wer das war?«

Er nickte, während er nach meiner Decke griff und sie über meine Beine legte. »Er wird dir nichts tun.«

Fassungslos schüttelte ich den Kopf: »Er hat sich auf mich gestürzt. Völlig aus dem Nichts. Wer war das?«

Mit gesenktem Blick klopfte er die Decke flach, doch ich spürte sie kaum. Zu schnell schlug mir mein Herz gegen die Rippen.

»Chase, sag es mir! Ich will wissen, wer mitten in der Nacht in mein Zimmer einbricht!«, flüsterte ich aufgebracht.

»Das war Damon«, gab er jetzt endlich zu. »Er haut in der Nacht oft ab und klettert dann übers Fenster wieder rein.«

Ich blickte ihn verwirrt an.

»Was habt ihr nur alle mit ihm? Ich meine, ihr scheint ihn ja regelrecht zu hassen.«

»Wir hassen ihn nicht. Es ist nur so, dass er einige Probleme mit sich bringt.«

»Welche Probleme?«

»Das ist jetzt egal, Ava. Du wirst ihn morgen kennenlernen.«

»Nein«, ich stockte. »Erzähl mir jetzt von ihm. Ich will über meine neue Familie Bescheid wissen.«

Er hielt einen Moment inne und betrachtete mich nachdenklich. Dann stand er auf und ging wortlos zur Tür.

Im Türrahmen blieb er nochmals kurz stehen und drehte sich zu mir um.

»Du weißt viel mehr über uns, als wir über dich wissen, Avalee. Schlaf jetzt.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Eine Weile saß ich einfach nur da und starrte die Tür an, durch die Chase soeben verschwunden war.

Als ein kühler Luftzug meine Haut streifte und ich leicht fröstelte, stand ich auf, verriegelte das Fenster und kroch zurück in mein Bett.

Es dauerte nicht lange und ich schlief mit Chases letzten Worten in meinen Gedanken ein.

Du weißt viel mehr über uns, als wir über dich wissen.

*

Als ich aufwachte, war der Raum hell erleuchtet. Einen Moment fragte ich mich, ob ich in der Nacht vergessen hatte, das Licht abzuschalten. Erst als ich etwas wacher wurde, bemerkte ich, dass Sonnenstrahlen durch den Raum tanzten.

Ich strampelte die gestrickte Tagesdecke von meinen Füßen, kletterte aus dem Bett und eilte barfuß über den rauen Parkettboden zum Fenster.

Nachdem ich die Verriegelung geöffnet hatte, lehnte ich mich weit aus dem Fenster, um die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut zu fühlen.

In London gab es nur selten so schönes Wetter, oft war es stark bewölkt oder es regnete.

Eine frische Windbrise strich mir über die Haut und ich atmete tief durch, als ich plötzlich das Geräusch von Autoreifen auf knirschendem Kies wahrnahm.

Ich blickte hinunter in die Einfahrt und bemerkte Sara, die den silbergrauen Audi langsam einparkte und dann mit unzähligen Einkaufstüten bepackt im Gebäude verschwand.

Ich genoss noch wenige Minuten die kühle Herbstluft, schnappte mir dann eine dunkle Leggins und ein viel zu großes Sweatshirt und verschwand im Bad.

Nachdem ich geduscht, Zähne geputzt und mich angezogen hatte, ging ich die Stufen hinunter und wurde von einem köstlichen Duft in die Küche gelockt.

Dort erwarteten mich Sara und Lucas, die beide mit verschiedenen Pfannen und Töpfen hantierten.

Sara entdeckte mich als Erstes nachdem sie drei große Spiegeleier gewendet hatte.

Lächelnd kam sie auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Guten Morgen, Avalee. Hast du gut geschlafen?«

Ich nickte und lächelte vorsichtig, noch immer unbeholfen, wie ich mich in der fremden Familie zu verhalten hatte.

»Schön, setz dich doch ruhig mal ins Esszimmer. Das Frühstück ist gleich so weit«, sagte Lucas, als könnte er meine Unsicherheit spüren.

Erneut nickte ich, verließ die Küche und ging ins Esszimmer, wo Chase und Katie bereits an dem großen Esstisch saßen und sehnsüchtig die Tür anstarrten, durch die ich gerade gekommen war.

»Ach Menno. Ich dachte, das Frühstück kommt«, murrte Katie grinsend und wie auf Kommando begann Chases Magen laut zu knurren.

Ein Lachen kitzelte meine Kehle. Es war ein befremdliches Gefühl, nachdem ich wochenlang nur Traurigkeit verspürt hatte. Ich ging zu einem freien Stuhl und setzte mich neben Katie. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Tisch liebevoll gedeckt worden war. Da standen Krüge mit Milch und Orangensaft, Tassen voll dampfendem Tee und Kaffee, verschiedene Aufbackbrötchen und Croissants, ein Vielfaches an Marmeladen- und Honigsorten, ein Fruchtkorb und sogar Platten mit Wurst- sowie Käseaufschnitt, bei deren Anblick sich mein Magen hungrig zusammenzog.

Sara und Lucas ließen nicht lange auf sich warten und betraten das Esszimmer mit dampfenden Töpfen und Schüsseln, die sie auf der freien Tischfläche abstellten. Ich erkannte Rührei, Speck und Spiegeleier, französisches Omelett und sogar Porridge mit Zimt und Zucker.

Überrascht blickte ich von dem Frühstücksangebot zu Sara. »Gibt’s das bei euch jeden Morgen?«

Sara lachte.

»Nein, nur bei besonderen Anlässen, beispielsweise, wenn wir ein neues Familienmitglied bekommen, was ja nicht allzu oft passiert.«

Lucas schmunzelte. »Also, ihr Lieben, greift zu. Guten Appetit.«

Wir stürzten uns alle gierig auf die Leckereien. Sogar ich hatte ausnahmsweise wieder etwas Appetit und schöpfte mir gerade eine kleine Portion Porridge in eine Frühstücksschale, als sich Katie eine Gabel Rührei in den Mund schob und mit vollem Mund fragte, ob man denn eigentlich an leckerem Essen sterben könnte. Für ein paar Sekunden herrschte verdutzte Stille, dann begannen alle zu lachen und auch ich musste schmunzeln.

Wir verstummten jedoch, als die Tür aufgerissen wurde und mit einem markerschütternden Knall an die Wand krachte.

Ich wagte es kaum, zur Tür zu schauen, denn ich wollte denjenigen nicht ansehen, der eine solche Atmosphäre bereits durch seine bloße Anwesenheit auslösen konnte.

Die restliche Familie Cassel, die soeben noch fröhlich herumgealbert hatte, tat nun schwer beschäftigt. Katie starrte auf ihr Rührei, Chase trank seinen Saft aus, Lucas »las« Zeitung und Sara strich sich hoch konzentriert Butter aufs Brot.

Ganz kurz schielte ich zur Tür und wandte den Blick wieder ab.

Na ja, ich wollte ihn zumindest wieder abwenden.

In dem Moment, in dem mein Blick zu seinen Augen schweifte, schnappte das Grün seiner Augen zu wie eine Mausefalle. Und ich war die Maus.