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England, Ende des 18. Jahrhunderts: Mal ist der Earl of Radcliffe von der jungen Elizabeth wie bezaubert, und alles in ihm drängt danach, sie zärtlich zu erobern. Am nächsten Tag dann findet er sie zwar genauso schön, aber dennoch verspürt er keine Sehnsucht nach ihr - wie ist das nur möglich? Eine romantische Komödie um das verwirrende Doppelspiel von zwei Zwillingsschwestern, die mit dem Herz eines wahren Gentlemans ein pikantes Spiel treiben, bis eine von ihnen der Liebe nicht länger widerstehen kann ...
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Seitenzahl: 464
IMPRESSUM
HISTORICAL PRÄSENTIERT erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 1999 by Lynsay Sands Originaltitel: „The Switch“ erschienen bei: Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL PRÄSENTIERTBand 32 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Rita Langner
Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 06/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733768515
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Lord Radcliffe hielt sein Pferd an und betrachtete die Szene, die sich vor ihm abspielte. Ein junger, vornehm gekleideter Bursche stand unter dem Vorderfenster eines Gasthofes und schaute zu den Röcken eines Mädchens hinauf, das aus dem Fenster des ersten Stockwerks hing. Der junge Mann versuchte, die Füße des Mädchens zu fassen. Was er dabei sagte, vermochte Radcliffe aus der Entfernung nicht zu verstehen.
Vermutlich wollen die beiden ihre Zeche prellen, dachte er und lenkte sein Pferd zu den Stallungen, denn er hatte eigentlich keine Lust, sich einzumischen. Da schwang sich das Mädchen vollends über den Fenstersims und hing nun an den Armen herunter. Radcliffe hielt wieder an und schmunzelte. Der junge Bursche fasste die Füße des Mädchens, damit sie nicht an die Hauswand schlugen, trat dann näher heran und wollte seine weitere Hilfestellung anbieten.
Das Mädchen, das nicht nach unten sehen konnte, trat mit einem Fuß auf die Perücke des Burschen und verschob sie. Der offensichtlich verärgerte Junge riss sich den Fuß vom Kopf, setzte ihn sich auf die Schulter und verfuhr dann mit dem zweiten Fuß ebenso.
Radcliffe musste leise lachen, als die junge Frau unvermittelt auf den Schultern des Burschen saß, wobei ihre Röcke über dessen Kopf fielen und ihm die Sicht raubten. Der junge Mann taumelte hin und her, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und versuchte gleichzeitig, sich den Rock aus dem Gesicht zu schieben. Das Mädchen wollte in sein Haar greifen, vergaß dabei jedoch, dass es sich um eine Perücke handelte. Daran konnte sich die junge Dame natürlich nicht festhalten, und ihr Oberkörper kippte rückwärts. Der Bursche, der ohnehin schon aus dem Gleichgewicht geraten war, fiel nun ebenfalls hintenüber, und zusammen stürzten sie zu Boden.
„Verdammt!“, schimpfte Charlie leise und blickte zu den Baumkronen über ihnen hinauf, bis sie Beth jämmerlich stöhnen hörte. Da richtete sie sich auf und sah besorgt auf das am Boden liegende Mädchen hinunter. „Ist dir etwas passiert?“
Elizabeth seufzte. Sie hatte aus lauter Ärger gestöhnt, doch nun merkte sie, dass das missverstanden worden war.
„Nein, mir fehlt nichts“, versicherte sie nur, richtete sich auf und klopfte sich das Gras und den Schmutz vom Kleid.
Charlie wollte ihr dabei helfen, doch Beth winkte ab. „Deine Perücke ist weg“, sagte sie.
Charlie blickte sich um und fand schließlich die künstliche Haarpracht wieder. Ärgerlich schlug sie sich das Teil gegen ein Bein, um die in der Perücke hängenden Grashalme herauszuklopfen, ehe sie sie sich wieder auf den Kopf stülpte. „Sitzt sie so richtig?“
Beth warf einen kurzen Blick auf sie, nickte und raffte sich auf.
„Nun, es ging ja ganz gut“, meinte Charlie frohgemut, kam ebenfalls auf die Beine und griff nach den Reisetaschen, die sie aus dem Fenster geworfen hatten, ehe sie selbst hinausgeklettert waren.
Beth fuhr zu ihr herum, um ihre eigene Meinung zu diesem Unternehmen zu äußern, doch in den kohlschwarzen Augen, die ihren völlig glichen, bemerkte sie ein schalkhaftes Funkeln. Da entspannte sie sich wieder und lächelte. „Der reinste Spaziergang“, pflichtete sie ihrer Schwester bei.
Diese lachte leise, reichte ihr eine der Taschen, nahm anschließend selbst die andere auf und ging voraus zu den Stallungen.
„Ist er bewusstlos?“, flüsterte Beth, als sie beide in das wackelige Gebäude traten und dort in einer Ecke den Stallburschen an einem Heuballen zusammengesunken vorfanden. Die Flasche, welche sie ihm geschenkt hatten, drückte er sich noch immer an die Brust.
„Sieht ganz so aus. Du hast doch das Schlafmittel hineingetan, nicht wahr?“
Beth nickte schweigend und hielt den Atem an, während ihre Zwillingsschwester sich dem Stallburschen vorsichtig näherte, seinen Kopf anhob und dann wieder auf die Brust zurückfallen ließ. Der Junge rührte sich nicht.
Schulterzuckend trat Charlie zurück. „Stockbetrunken“, bemerkte sie.
Erleichtert atmete Beth auf. Rasch ging sie an den Boxen vorbei, bis sie diejenige gefunden hatte, in der sie ihr Reitpferd für die Nacht untergestellt hatte. Sie flüsterte ihm etwas Beruhigendes zu, trat in die Box und machte sich daran, das Tier zu satteln. In der Box daneben verfuhr Charlie mit ihrem Ross gleichermaßen.
Wenig später merkte Beth, dass ihre Zwillingsschwester plötzlich erstarrte. Beth hielt ebenfalls inne. Sie hob den Kopf, blickte sich um, und ihr schien das Blut in den Adern zu gefrieren, als sie bei der Stalltür einen Mann stehen sah.
Charlie warf ihr einen warnenden Blick zu und fragte den Fremden mit dem Akzent des Dienstbotenstandes: „Kann ich irgendwas für Sie tun, M’lord?“
Als er den Akzent des „Jungen“ bemerkte, zog Radcliffe eine Augenbraue hoch und lächelte leicht. „Es spricht von äußerst schlechtem Benehmen, wenn man sich verdrückt, ohne seine Rechnung beglichen zu haben. Und Pferdediebstahl ist sogar ein Verbrechen.“
Charlie zuckte zusammen und warf einen raschen Blick auf Beth’ Gesicht. Das Mädchen war aschfahl geworden.
Radcliffe entging der Blickwechsel der beiden nicht, und er wünschte, im Stall wäre es nicht so dunkel. Er hätte gewettet, dass die junge Frau eine wahre Schönheit war, und er versuchte angestrengt, bei der schwachen Beleuchtung ihr Gesicht besser zu erkennen.
„Wir stehlen nicht“, begann der Bursche nun wieder. „Diese Pferde gehören uns.“
Radcliffe bemerkte, dass der Junge jetzt nicht mehr mit diesem nachgeahmten Dienstbotenakzent sprach. Also doch Oberschicht, wie ich vermutete, dachte er. „Und wie sieht es mit deiner Rechnung aus?“
„Für die Bezahlung ist gesorgt.“
„Und weshalb verlasst ihr das Haus nicht wie alle anderen Leute durch die Tür?“, erkundigte er sich und sah, wie das Pärchen aufs Neue Blicke tauschte.
Charlie überlegte sich noch, was sie auf diese Frage antworten sollte, als Beth unvermittelt aus der Pferdebox und in das durch die Stalltür hereinfallende Mondlicht trat. Angesichts des bewundernden Ausdrucks in den Augen des Fremden schaute Charlie ihre Zwillingsschwester genauer an.
Was fand der Mann denn so attraktiv? Gewiss war Beth recht hübsch. Sie hatte eine gerade Nase, gute Zähne, und das Schönste waren ihre großen blauschwarzen Augen, während das Haar von einem eher unauffälligen Braun war. All das traf auf Charlie ebenfalls zu, was auch nicht weiter verwunderte, denn schließlich waren sie ja Zwillinge. Dieser Umstand war dem Fremden anscheinend bis jetzt unbekannt.
„Wir waren gezwungen, den Gasthof durch das Fenster zu verlassen, um unserem Onkel zu entwischen“, erklärte das Mädchen.
Radcliffe zog eine Augenbraue hoch. „Weshalb wolltet ihr denn eurem Onkel entwischen?“
Erneut wechselte das Pärchen einen Blick. Radcliffe lächelte etwas schief. „Oder muss ich das gar nicht fragen?“
„Wie meinen …?“, fragte das Mädchen unsicher.
„Du brauchst gar nichts zu erklären. Es ist ja ganz offensichtlich, dass ihr nach Gretna Green unterwegs seid.“
„Gretna Green?“
Charlie hätte Beth ob deren Begriffsstutzigkeit am liebsten einen Tritt verpasst. Wenn es zutraf, dass jedermann ein Herz für Liebesleute hatte, dann wäre ihre Chance möglicherweise größer, wenn sich dieser Mann nicht in ihre Fluchtpläne einmischte. Ganz offensichtlich dachte er doch, dass sie zusammen durchbrennen wollten.
Statt ihm indes diesen falschen Eindruck zu nehmen, deutete Beth auf Charlie. „Charlie und ich sind Zwillinge …“
„Charles“, berichtigte Charlie rasch und trat nun ebenfalls ins Licht.
Beth blickte erst verwirrt drein, nickte dann jedoch langsam. „Genau. Charles ist mein Zwillingsbruder.“
Vor Erstaunen zog Radcliffe die Augenbrauen womöglich noch höher und betrachtete den Jungen. Abgesehen von der weißen Perücke, glichen sich die beiden in der Tat wie ein Ei dem anderen. Natürlich gab es einige körperliche Unterschiede. Wo er bei dem Mädchen einen üppigen Busen erkannte, war der Junge brettflach.
Nachdem er sich von seiner anfänglichen Verblüffung erholt hatte, wurde Radcliffes Miene eher argwöhnisch. „Und weshalb wollt ihr mitten in der Nacht vor eurem Onkel fliehen?“
Diesmal antwortete der Junge. „Unsere Eltern starben vor vier Jahren. Unser Onkel nahm uns in seine Obhut. Er gab sich alle Mühe, den Familienbesitz zu Grunde zu richten, und um seine Schatztruhen wieder aufzufüllen, will er Beth in die Ehe verkaufen. An Lord Carland.“
Bei diesem Namen erstarrte Radcliffe schockiert. Carland war ein brutaler Schuft, der bereits drei Ehefrauen hinter sich hatte. Seine erste Gattin war im Kindbett gestorben. Es hieß, seine Schläge hätten ihre Wehen ausgelöst. Die zweite Ehefrau beging Selbstmord, und die dritte stürzte sich auf der Treppe des Familiensitzes in den Tod, wobei den Gerüchten zufolge ihr Gatte nachgeholfen hatte.
Wie dem auch sein mochte, keine der Ehefrauen hatte die Vermählung länger als ein Jahr überlebt, und jetzt erlaubte niemand mehr seiner Tochter, diesen Schuft zu ehelichen. Den Ausführungen dieses Zwillingspärchens zufolge lag jedoch ihrem Onkel mehr an seinen Schatztruhen als an seinen Verwandten. Doch sagten die beiden auch die Wahrheit?
„Wie heißt ihr?“, wollte er übergangslos wissen.
Die Zwillinge schwiegen erst einen Moment und tauschten dann erneut Blicke. „Charles und Elizabeth Westerly.“
Radcliffe dachte kurz nach und nickte. Er erinnerte sich, von Nora und Robert Westerly gehört zu haben, einem glücklichen Ehepaar, das Zwillinge gehabt hatte. Allerdings glaubte er, es habe sich dabei um Mädchen gehandelt. Die Familie hatte sich die meiste Zeit auf ihrem Landsitz aufgehalten, weil ihr recht wenig am Leben in der Stadt gelegen war. Vor vier Jahren waren die Eltern bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen. Angeblich hatte Roberts Bruder Henry Westerly die Zwillinge in seine Obhut genommen und auch die Güter verwaltet. Kürzlich liefen Gerüchte um, er habe sämtliche Erträge aus diesen Gütern sehr schnell beim Glücksspiel durchgebracht. Nach dem, was der Junge eben gesagt hatte, beabsichtigte Henry nun, die eigenen Verluste auszugleichen, indem er seine Nichte verheiratete, was höchstwahrscheinlich mit deren Tod endete.
Es überraschte Radcliffe nicht im Geringsten, zu hören, dass Carland für eine Braut bezahlen wollte. Der Mann benötigte einen Nachkommen, oder das Erbe würde an irgendeinen entfernten Neffen gehen. Seufzend betrachtete Radcliffe die junge Frau. Sie war ein zartes, kleines Geschöpf, und abgesehen von ihrem üppigen Busen, wirkte sie ungemein schlank und zerbrechlich. Vermutlich hielt sie bei Carland nicht einmal einen ganzen Monat durch.
„Wohin wollt ihr gehen?“, fragte er unvermittelt und winkte ungehalten ab, als der Junge hierauf argwöhnisch die Lippen zusammenpresste. „Ich werde euch beide nicht verraten, und deine liebreizende Schwester will ich ebenfalls nicht in Carlands Händen wissen. Bei ihm wäre sie spätestens nach einer Woche tot.“
An der Aufrichtigkeit des Lords war nicht zu zweifeln. Als er Carlands Namen aussprach, lag Hass in seinen Augen. Dennoch mochte Charlie ihm nicht wahrheitsgemäß erzählen, dass sie zu ihrem Vetter Ralphy, einem Verwandten mütterlicherseits, reisen wollten, von dessen Existenz Onkel Henry nichts wusste. Eine Lüge bot hier den einzigen Ausweg, und was Charlie dann antwortete, war gar nicht so übel.
„Nach London.“
Erneut zog Radcliffe die Augenbrauen hoch. „Habt ihr dort Verwandte?“
„Nein.“
„In London braucht man Geld.“
Charlie lächelte schalkhaft. „Onkel Henry hat zwar das Familienvermögen unseres Vaters durchgebracht, doch unsere Mutter legte ihr eigenes Vermögen vor Jahren in Juwelen an, und die hat sie uns testamentarisch hinterlassen.“
„Hat euer Onkel nicht versucht, den Schmuck zu verkaufen, oder …“
„Das würde er getan haben, wenn er ihn gefunden hätte“, fiel der Bursche ihm ins Wort. „Doch er fand die Juwelen ja nicht. Die hatten Mutter und Vater schon vor Jahren für den Notfall versteckt. Außer unseren Eltern kannten nur Elizabeth und ich ihren Aufbewahrungsort, und den vergaßen wir dann sicherheitshalber.“
Das amüsierte Radcliffe sichtlich, doch sogleich wurde er wieder ernst. „Euer Onkel wird euch in London aufspüren.“
„Am Ende ganz bestimmt“, gab Charlie ihm Recht. „Doch dann wird Beth schon mit jemandem aus der Gesellschaft verheiratet sein.“
„Und du?“
„Wenn ich erst einmal meinen Anteil an den Juwelen verkauft und investiert habe, werde ich davon leben können“, log Charlie unbekümmert.
„Du willst also deiner Schwester durch den Verkauf eines Teils der Juwelen die Möglichkeit geben, sich in der Saison auf dem Heiratsmarkt umzusehen?“
Der Bursche nickte.
Radcliffe runzelte die Stirn. „In diesem Fall wird euer Onkel davon erfahren und dann wissen, wo ihr beide zu finden seid.“
„Wie ich schon sagte, am Ende wird er es gewiss erfahren, doch er wird uns nicht zuerst in London suchen. Erst einmal wird er sich zu den Familiengütern begeben und Kontakt zu den Verwandten unseres Vaters aufnehmen.“
„Wieso sollte er euch nicht zuerst in London suchen?“
„Weil er uns genau dorthin bringen wollte. Er dürfte also kaum annehmen, dass wir bei Nacht und Nebel ausgerechnet nach London fliehen.“
Das überzeugte Radcliffe. Selbst Beth schien von dem Argument beeindruckt zu sein. Charlie nickte ihr unauffällig zu. Sie sollte doch eigentlich über diesen Plan Bescheid wissen, doch wenn sie nicht aufpasste, würde Radcliffe die Lüge womöglich erkennen.
„Und was ist mit Carland?“, fragte er.
Charlie warf dem Lord einen Blick zu. „Carland geht nicht nach London. Der größte Teil der feinen Gesellschaft schneidet ihn. Mein Onkel wollte uns nach London bringen, um die Aussteuer für Beth zu kaufen. Danach sollten wir dann zu Carlands Ländereien weiterreisen.“
Radcliffe hielt dies im Großen und Ganzen für einen fundierten Plan. Was dem jungen Burschen an Muskelkraft fehlte, machte er anscheinend mit seinem Verstand wett. Allerdings hatte auch dieser Plan seine Schwachstellen.
Falls die Zwillinge beispielsweise von den Juwelen leben wollten, mussten sie den Schmuck bei sich haben. Wahrscheinlich in den Reisetaschen, dachte Radcliffe und erinnerte sich daran, wie sie diese geschleppt hatten: Jeder hatte eine mit beiden Händen getragen, als wäre das Gepäck ungemein schwer.
Vermutlich war der törichte Junge unbewaffnet. Es brauchten sie also nur Wegelagerer zu überfallen, und schon wären sie völlig verarmt und der Gnade ihres Onkels ausgeliefert. Ganz abgesehen davon, konnten in London noch alle möglichen Komplikationen auftreten. Sie mochten beraubt werden, oder ein Goldschmied könnte sie betrügen, falls sie sich den falschen aussuchten. Und das wäre noch lange nicht alles.
Radcliffe versuchte, die wachsende Sorge um die Zwillinge abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Ich werde ihnen helfen, dachte er, nur wusste er beim besten Willen nicht, weshalb er sich dazu gezwungen fühlte.
Er blickte kurz auf das Mädchen. Nein, er hatte sich nicht etwa in die Kleine verliebt. Vielmehr glaubte er seltsamerweise, dass er sich des Jungen wegen einsetzen wollte, dessen Haltung sowohl Furcht als auch Stolz und Mut verriet, wie er so beschützend neben seiner Schwester stand. Er nahm viel auf sich, um sie zu retten, und versuchte nach Kräften, wie ein harter Mann zu erscheinen, obgleich Radcliffe bezweifelte, dass das Zwillingspaar älter als fünfzehn oder sechzehn war.
„Ihr beeilt euch besser mit dem Satteln. Die Zeit bleibt nicht stehen. Bis morgen früh wollt ihr doch sicherlich schon weit fort sein, nicht wahr?“ Damit drehte er sich um und verließ den Stall.
„Meinst du, dass er uns verrät?“, fragte Beth ängstlich, nachdem Radcliffe fort war.
Charlie zuckte die Schultern und ging wieder in die Box, um ihr Pferd zu satteln. „Vielleicht wäre es sogar ganz gut, wenn er es täte, denn wegen des Plans habe ich ihm ja etwas vorgelogen. Doch beeile dich trotzdem. Falls er alle Leute aufweckt, möchte ich nicht mehr hier sein.“
Beth nickte, kehrte eilig zu ihrem Reitpferd zurück und kicherte dann nervös. „Woher nimmst du nur immer diese Lügen?“
„Alles war ja nicht gelogen“, meinte Charlie grimmig.
Beth lächelte nicht mehr. „Nein. Dass Onkel Henry alles verspielt hat und es nun wieder durch eine Heirat hereinholen will, ist leider nur allzu wahr. Doch ich soll Carland ja nicht heiraten. Ich werde Seguin heiraten. Und …“
„Es dürfte ihm kaum gefallen, dass du einen alten, fetten Bock heiraten wirst“, meinte Charlie tonlos. „Doch so etwas geschieht jeden Tag. Carland ist schließlich nichts weiter als ein Mittel zum Zweck.“
„Genau. Außerdem war es ja auch keine große Lüge, nicht wahr? Schließlich hat Onkel Henry ja nicht mich, sondern dich an Carland als Braut verkauft“, meinte Beth und blickte auf ihre Zwillingsschwester. Für sie war es noch immer ein wenig erschreckend, Charlie in Männerkleidung zu sehen, besonders da deren Brüste so fest verschnürt waren, dass sie überhaupt nicht mehr zu existieren schienen. Tat das Charlie nicht weh?
Charlie hatte den Einfall gehabt, sich als Mann zu verkleiden. Wenn Bruder und Schwester zusammen reisten, fiel das weniger auf als reisende Zwillingsschwestern.
Wahrscheinlich hätten sie auch als zwei Brüder reisen können, doch davon hatte Charlie nichts gesagt, und Beth war dieser Einfall auch erst hinterher gekommen. Im Übrigen fielen Zwillingsbrüder vermutlich genauso auf wie Zwillingsschwestern. Nein, so ist es schon besser, entschied Beth. Auf diese Weise konnte sie sie selbst bleiben, und Charlie verkleidete sich als ihr Bruder.
Es war auch genau das Abenteuer, das Charlie liebte. Sie war von ihnen beiden die Mutigere und Mildere. Beth dagegen war nicht im Mindesten so abenteuerlustig. Ruhig und gemäßigt, gehorsam und von gutem Benehmen, tat sie immer das, was man von ihr erwartete. Bis sie das mit Seguin erfuhr. Dennoch hätte sie diesen fetten Ochsen geheiratet, wenn Charlie nicht gewesen wäre.
Charlie durfte Carland einfach nicht heiraten. Wie es der fremde Lord gesagt hatte, würde sie sonst innerhalb eines Monats entweder tot sein oder wegen Mordes an Carland hinter Gittern sitzen. Aus diesem Grund hatte Charlie beschlossen, bei Vetter Ralph Schutz zu suchen. Und wo Charlie hinging, da ging auch Beth hin. Schließlich waren sie Zwillinge, und in den ganzen zwanzig Jahren ihres Lebens waren sie noch niemals getrennt gewesen.
„Fertig?“
Beth schaute zu ihrer Schwester hoch, nickte und befestigte die Tasche mit ihrem Anteil des Schmucks ihrer Mutter am Sattel.
„Gut, dann los.“ Charlie holte ihr Pferd aus der Box und verließ, von Beth gefolgt, den Stall. Leise führten die Schwestern ihre Tiere um den Gasthof herum. Beth schaute noch einmal zu den verdunkelten Fenstern und fragte sich, wohin der fremde Lord wohl gegangen sein mochte, als Charlie unvermittelt stehen blieb und leise fluchte. Beth blickte voraus und sah den Mann neben einem Pferd in der Auffahrt zum Gasthof stehen.
„Was tut er denn da?“
Charlie schwieg einen Moment und seufzte dann. „Um das zu erfahren, werden wir ihn wohl fragen müssen.“
Als das Zwillingspaar sich ihm näherte, lächelte Radcliffe insgeheim. Das Mädchen gab sich keine Mühe, seine Ängstlichkeit und Verwirrung zu verbergen. Der Junge dagegen versteckte sich hinter einem harten Äußeren.
„Ich habe beschlossen, mit euch nach London zu reisen“, erklärte Radcliffe, als die beiden herangekommen waren, und hätte dann beinahe über deren verblüfften Gesichtsausdruck gelacht. Offensichtlich hatten sie gar nicht mit so viel Glück gerechnet. Er ließ ihnen einen Moment Zeit, um sich zu sammeln und ihm ihren Dank auszusprechen, ehe er seine Rede fortsetzte. „Die Reise von hier nach London dauert drei Tage. Unterwegs trifft man immer wieder auf Wegelagerer und sonstige Gefahren. Da ich ohnehin nach London reise, möchte ich euch meinen Schutz antragen.“
Charlie warf einen Seitenblick auf Beth’ völlig verwirrte Miene und wurde wütend. Weshalb, zum Teufel, habe ich denn nicht daran gedacht, dass dieser Esel sich uns möglicherweise anschließen wollte? Und weshalb das überhaupt? Der dumme Kerl wird uns noch alles verderben! dachte sie. Nicht einen Moment lang kam ihr die Idee, er könnte tatsächlich nur helfen wollen. Was also beabsichtigte er wirklich? Nun, das war nicht schwer zu erraten: Sie hätte nichts von den Juwelen sagen dürfen! Er musste sich ausgerechnet haben, dass sie den Schmuck mit sich führten, und beabsichtigte jetzt, sie unterwegs auszurauben.
Charlie straffte die Schultern und starrte den Mann kalt an. „Ihr Angebot ist gut gemeint, doch ich bin durchaus in der Lage, meine Schwester zu beschützen“, erklärte sie.
Diese Reaktion verärgerte Radcliffe, doch dann sagte er sich, dass er wohl den männlichen Stolz des Burschen verletzt habe. Der Stolz junger Männer war eine höchst empfindliche Angelegenheit, doch im Augenblick hatte Radcliffe keine Zeit, darauf Rücksicht zu nehmen, zumal dieser Stolz den Jungen mitsamt seiner Schwester umbringen konnte. „Du trägst ja nicht einmal eine Waffe, Junge“, sagte er streng. „Wäre ich ein Dieb, hätte ich euch beide schon in den Stallungen töten und eure Juwelen an mich nehmen können.“
Charlie fragte sich, ob der Mann etwa ihre Gedanken lesen konnte, doch dann schüttelte sie diese Überlegung ab. Sie hatte schließlich andere Sorgen. Beispielsweise musste sie sich irgendeine Möglichkeit ausdenken, wie sie sein Angebot ablehnen konnte, ohne seinen Argwohn zu erregen.
„Wer sind Sie?“
Radcliffe blickte verwirrt drein. „Wie bitte?“
„Ihr Name, junger Mann!“
Bei dieser beleidigenden Anrede zuckte er zusammen. Ziemlich überheblich zog er eine Augenbraue hoch, griff in seine Tasche und zog eine Karte hervor, die er Charlie übergab.
„Lord Jeremy William Richards, Earl of Radcliffe“, las Charlie stirnrunzelnd und blickte zu dem Mann hoch. „Lord Radcliffe.“
Er verneigte sich spöttisch und bemerkte, dass die Geschwister einander wieder Blicke zuwarfen. „Euch ist der Name bekannt?“
„Sie kannten meinen Vater“, gab Charlie zurück.
„Nicht persönlich“, stellte Radcliffe richtig. „Allerdings korrespondierten wir gelegentlich. Bei einigen Unternehmungen waren wir Partner.“
Charlie nickte, ohne Radcliffe zu korrigieren. „Partner“ war ein wenig hoch gegriffen für Investoren, die sich an Radcliffes Unternehmungen beteiligten. Vater hatte immer gemeint, der Mann sei ein Genie. Was er anfasste, wurde zu Gold, und jede Investition verdreifache ihren Wert. Weil das jedermann wusste, wollte auch alle Welt bei ihm investieren, doch er war ungemein wählerisch. Nur wenige Leute forderte er zu Investitionen auf, und wenn man nicht direkt dazu aufgefordert wurde, investierte man auch nicht.
Eine richtige Partnerschaft gab es eigentlich nie. Die Investoren wussten oft nicht, wohin ihr Geld ging, und das interessierte auch kaum jemanden, solange sich die Anlage nur auszahlte. Radcliffe kümmerte sich allein um seine Investitionen, und alle Auserwählten profitierten von seinem Genie.
Charlie drehte die Karte nachdenklich in der Hand. Lord Radcliffe benötigte wohl kaum den Schmuck, den sie bei sich führten. Für sie stellten die Juwelen ein kleines Vermögen dar, doch gegen seinen Reichtum fielen sie nicht ins Gewicht. „Weshalb machen Sie sich die Mühe, uns zu helfen?“
„Wie ich bereits bemerkte, trägst du nicht einmal eine Waffe, mein Bursche. Doch falls ich mich nicht täusche, habt ihr beide den Schmuck eurer Mutter bei euch.“ Er sah Charlie zusammenzucken und musste lächeln. „Dachte ich’s mir doch. Ein einziger Wegelagerer, und ihr beide seid arm wie die Kirchenmäuse und der Gnade eures Onkels ausgeliefert.“
Bei dieser Vorstellung verzog Charlie das Gesicht, und Radcliffes Züge wurden weicher. „Ich sagte doch, ich habe denselben Weg, und es kann nicht schaden, wenn meine Gesellschaft etwaige Diebe abschreckt.“
Charlie dachte kurz nach, nahm dann Beth bei der Hand und zog ihre Schwester samt den Pferden ein Stück beiseite.
„Was sollen wir jetzt tun?“, flüsterte Beth, als Charlie stehen blieb und sich zu ihr umdrehte.
„Wir reisen mit ihm.“
„Was? Nur …“
„Er hat recht, Beth. Auf der Landstraße könnten wir ausgeraubt werden. Ich habe nicht daran gedacht, eine Pistole mitzunehmen.“ Sie seufzte. „Er bietet uns Schutz. Mit unserer Erbschaft bei Ralphy zu erscheinen ist das eine, ohne jeden Penny zu ihm zu gehen etwas ganz anderes.“
„Nur reist er doch in die falsche Richtung“, wandte Beth nach kurzem Zögern ein.
„Ich weiß.“ Charlie schmunzelte. „Das könnte sich für uns als Vorteil erweisen. Wie ich schon sagte, wird unser Onkel kaum in London nach uns suchen.“ Sie lachte leise. „Wir werden mit Radcliffe also in diese Richtung reisen, und wenn er zum Übernachten anhält, werde ich ihm seine Pistole stehlen, und wir schlagen uns weiter zu Ralph durch.“
Beth schien unsicher zu sein. „Charlie, der Mann bietet uns seine Hilfe an, und das wollen wir ihm durch den Diebstahl seiner Waffe vergelten? Er …“
„Ich werde ihm eines von Mutters Armbändern zurücklassen. Das ist das Dreifache seiner Pistole wert.“ Sie warf einen Blick auf den Lord. „Er muss den größten Teil des Tages und des heutigen Abends unterwegs gewesen sein. Wahrscheinlich wird er beim nächsten Gasthof Halt einlegen. Dort werden wir uns aus dem Staub machen. Und dann bleibt uns noch die ganze Nacht für unsere Weiterreise.“
Nichts im Leben ist einfach, dachte Charlie, als das erste schwache Licht der Morgendämmerung über den Himmel zog. Sie hatte erwartet, Radcliffe würde sie beide zum nächstgelegenen Gasthof führen, um dort zu übernachten, doch stattdessen waren sie bereits an mehr Gasthöfen vorübergekommen, als sie zu zählen vermochte, und noch immer setzten sie ihren Ritt fort.
Sie schaute zu ihrer Schwester hinüber und streichelte dann behutsam deren Arm, denn Beth schien eingenickt zu sein und drohte von ihrem Pferd zu fallen. Bei Charlies Berührung wachte sie jedoch sofort auf und blickte sich erschrocken um.
Charlie lächelte ihr mitfühlend zu und starrte dann wütend auf den Rücken des Mannes vor ihnen. Sie waren die ganze Nacht ohne jeden Zwischenfall geritten. Sie hatten niemanden auf der Landstraße gesehen, und schon gar keinen Wegelagerer oder sonstigen Tunichtgut. Allmählich gewann Charlie den Eindruck, dass das ganze Gerede über die Gefahren der Landstraße reiner Unsinn war und dass sie dem großen Kraftmeier eins über den Schädel hätten ziehen sollen, um dann ihren Weg so fortzusetzen, wie sie es ursprünglich geplant hatten.
Doch jetzt wusste sie nicht mehr ganz so sicher, was sie tun sollten. Die Pferde waren von dem langen Ritt völlig erschöpft, und Charlie selbst hatte Schwierigkeiten, wach zu bleiben und sich im Sattel zu halten. Als sie daran dachte, dass die Reise jetzt noch einen ganzen Tag länger dauerte, hätte sie mit den Zähnen knirschen mögen.
Plötzlich blieb ihr Pferd stehen. Charlie war zunächst verblüfft, starrte den Mann nicht länger an, den sie für ihre Misere verantwortlich machte, und schaute sich um. Zu ihrem Erstaunen sah sie, dass sie um eine Wegbiegung geritten waren und nun vor einem Gasthof hielten.
„Hier werden wir übernachten.“ Radcliffe saß ab und verzog das Gesicht. Wahrscheinlich fühlte er sich ebenso lendenlahm wie Charlie. Er schnallte seine Reisetasche vom Sattel und ging zu dem Pferd, auf dem Beth halb schlafend saß. Als sie ihn vor Erschöpfung benommen anblickte, wurden seine Züge sanfter.
„Komm mit, Kleine“, bat er leise und hielt ihr die Arme entgegen, um ihr aus dem Sattel zu helfen, „Wir werden dich im Handumdrehen in ein schönes, warmes Bett gesteckt haben.“
Beth wurde wach genug, um von ihrem Pferd zu rutschen, schrie dann jedoch leise auf, weil ihre Beine zusammenknickten. Sofort eilte Charlie hinzu, doch Radcliffe hatte ihre Schwester bereits in seinen Armen aufgefangen.
„Kümmere dich um die Pferde, Charles!“, befahl er und drehte sich um. „Ich werde unterdessen zwei Zimmer anmieten und deine Schwester unterbringen.“
„‚Kümmere dich um die Pferde, Charles!‘“, ahmte Charlie ihn gereizt nach und sah seufzend zu, wie der Mann ihre Schwester forttrug und mit ihr im Gasthof verschwand. Jetzt glitt Charlie ebenfalls aus dem Sattel, und auch ihre Beine gaben nach. Sie lehnte sich an ihr Pferd, bis Schmerz und Schwäche langsam nachließen, und machte dann einen wackeligen Schritt vorwärts. Zu ihrer großen Erleichterung hielten ihre Beine diesmal stand.
Seufzend fasste sie alle drei Paar Zügel zusammen und führte die Pferde humpelnd zum Stall neben dem Gasthof.
„Seine Lordschaft meinte, meine Hilfe würde nicht benötigt.“
Als sie diese Stimme hörte, fuhr Charlie zusammen. Sie blieb beim Stalltor stehen, schaute zurück und sah einen Jungen herankommen, der nicht älter als zwölf Jahre war. Sein zerzaustes Haar und seine Kleidung schienen ein wenig unordentlich. Offenbar war er eben erst aufgewacht. Charlie beneidete den kleinen Burschen einen Augenblick, sagte sich jedoch, dass sie ebenfalls schlafen gehen konnte, sobald sie die Pferde versorgt hatte.
Sie lächelte dem kleinen Burschen matt zu, übergab ihm die Zügel von Radcliffes Pferd, führte danach Beth’ Stute in eine der Boxen und schnallte die Reisetasche mit dem Schmuck vom Sattelhorn. Klirrend fiel sie zu Boden. Charlie verzog das Gesicht und packte den Taschengriff mit beiden Händen. Stolpernd trug sie das Gepäckstück aus dieser in die angrenzende Box, in die sie dann ihr eigenes Pferd brachte, dem sie ebenfalls die Reisetasche und den Sattel abnahm.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Stallburschen. Schnell und geschickt nahm er Radcliffes Ross den Sattel ab und striegelte, tränkte und fütterte es, noch ehe Charlie mit ihrem Pferd fertig war. Ich bin ja auch furchtbar müde und bewege mich deshalb so langsam und ungeschickt, rechtfertigte sie sich im Stillen.
Nachdem der Stallbursche Radcliffes Reittier versorgt hatte, ging er weiter zu Beth’ Stute. Charlie seufzte erleichtert, und tatsächlich beendete der Junge die Arbeit an dem zweiten Pferd, als sie selbst gerade mit ihrem eigenen fertig war. Charlie bückte sich nach den beiden Taschen, vermochte sie jedoch nicht zusammen aufzuheben, weil sie einfach zu schwer waren. Sie ließ sie wieder aus den Händen fallen.
Gerade überlegte sie, ob sie sich nicht einfach auf die Taschen legen und hier im Heu schlafen sollte, als der Stallbursche sie erneut ansprach.
„Brauchen Sie Hilfe, Herr?“
Seufzend musste sich Charlie ihre Niederlage eingestehen. „Wie heißt du?“
„Will Sumner.“
„Also, um die Wahrheit zu sagen, Will Sumner, ich bin im Augenblick ziemlich erschöpft und würde deine Hilfe gern in Anspruch nehmen.“
Der kleine Bursche, der sich schon über das in Aussicht stehende Trinkgeld freute, kam in die Box, hob eine der Taschen an und staunte nicht schlecht über deren gewaltiges Gewicht. „Du lieber Himmel, was haben Sie denn da drinnen, M’lord? Steine?“
„Genau“, murmelte Charlie, nahm die zweite Tasche auf und ging voran aus dem Stall hinaus.
Will Sumner folgte ihr in den Gasthof, wartete geduldig, bis man Charlie den Weg wies, und folgte ihr dann nach oben zu dem Zimmer, welches der Gastwirt ihrer Schwester zugewiesen hatte.
An der Tür zu Beth’ Raum stellte Charlie das Gepäck ab und zog zwei Münzen aus ihrem Beutel.
„Setze die Tasche hier einfach ab, Will.“ Sie hielt dem Burschen die Münzen hin. „Und besten Dank für deine Hilfe.“ Der Junge strahlte über das großzügige Trinkgeld, bedankte sich erfreut und verschwand. Sie öffnete die Tür und schaute zu dem Bett hinüber, in dem ihre Schwester erschöpft eingeschlafen war. Charlie bückte sich, um eine der schweren Reisetaschen mit beiden Händen hochzuheben, und richtete sich gerade wieder auf, als sich die Tür zum angrenzenden Zimmer öffnete und Lord Radcliffe herauslugte.
„Ah, da bist du ja.“ Er ging an Charlie vorbei, nahm die zweite Tasche auf und drehte sich um. „Komm mit. Der Gastwirt hat dir die falsche Tür gewiesen. Unser Zimmer ist dieses hier.“
„Unser Zimmer?“ Die Worte hallten wie ein Donnerschlag in Charlies Kopf wider. Perplex starrte sie einen Augenblick auf Radcliffes Rücken und folgte ihm dann langsam in seinen Raum. „Unser Zimmer?“
Radcliffe ließ die Tasche fallen, schob sie mit einem Fuß unter das Bett und drehte sich dann zu Charlie um, die noch immer nachdenklich an der Tür stand. „Komm herein und schließe die Tür, Junge. Du brauchst nicht im Flur herumzustehen.“
Charlie sah zu, wie Radcliffe seinen Gehrock abstreifte und ihn zur Seite legte. Während er seine Weste aufknöpfte, warf er einen Blick aufs Bett. „Du magst schlafen, auf welcher Seite du willst. Mir ist es gleichgültig. Die Frau des Gastwirts wird dir etwas zu essen heraufbringen. Deine Schwester und ich haben bereits gegessen, während die Zimmer gerichtet wurden.“
Radcliffe streifte seine Weste ab und legte sie über einen Sessel. Danach setzte er sich auf das Bett, um sich auch seiner Schaftstiefel zu entledigen.
Regungslos und benommen betrachtete Charlie den Mann, welcher sich vor ihren Augen entkleidete und der erwartete, das Bett mit Charles Westerly, dem Bruder von Elizabeth Westerly, zu teilen. Was natürlich nur vernünftig wäre. Zwei Männer und eine Frau – die Frau bekam ihr eigenes Zimmer, und die beiden Männer belegten das andere. Nur bin ich doch gar kein Mann! schrie Charlie insgeheim.
Ein leises Hüsteln erregte Charlies Aufmerksamkeit. Sie warf einen Blick über die Schulter. Hinter ihr stand eine kleine Frau und balancierte ein Tablett in den Händen.
„Lass sie eintreten, Junge“, befahl Radcliffe gereizt, und Charlie trat sofort zur Seite. Die Frau des Gastwirts lächelte kurz, stellte das Tablett auf den Tisch vor dem Kamin, lächelte noch einmal und verließ schweigend den Raum.
Charlie hörte die Tür ins Schloss fallen, interessierte sich indes nicht für die gebrachten Speisen. Als ihr Magen zu laut zu knurren begann, gab sie ihren Posten bei der Tür auf, ließ die Reisetasche auf den Boden fallen und ging rasch zu dem Tisch.
Aus dem Augenwinkel sah sie Radcliffe vor sich hin lächeln, als sie sich in einen Sessel fallen ließ und Brot sowie Käse in Angriff nahm.
Obwohl sie einen Bärenhunger hatte, fühlte sich Charlie gezwungen, Radcliffe weiterhin zu beobachten. Er schüttelte den Kopf, stellte seine Stiefel zur Seite, hob dann die Reisetasche auf, welche Charlie gedankenlos bei der Tür hatte zu Boden fallen lassen, wo doch jeder einfach hereinlangen und sie sich hätte schnappen können. Er trug sie zum Bett, schob sie darunter neben die andere, richtete sich wieder auf und kleidete sich weiter aus.
Als er sich seines Hemds entledigte, hielt Charlie, die sich gerade ein Stück Käse zum Mund führte, mitten in der Bewegung inne.
Die Morgensonne, die über die Baumwipfel vor dem Fenster kroch, zeigte sich noch nicht ganz, und das Feuer im Kamin war in diesem dunklen Raum das einzige Licht, doch Charlies Schock wich bald großer Faszination, als sie sah, wie der Flammenschein über Radcliffes Arme und seine Brust spielte. Der Mann ist in der Tat ungemein schön, dachte sie bewundernd und beobachtete das Spiel seiner Muskeln, während er seine Hosenknöpfe öffnete. Dann fiel sein Beinkleid auf den Boden, und Charlies Augen wurden riesengroß, bevor sie ihr gerötetes Gesicht abwandte.
Um Himmels willen, bei diesem Mann konnte sie unmöglich schlafen! Das war nicht schicklich, gleichgültig ob er sie nun für einen Knaben hielt oder nicht.
Ein Rascheln lenkte ihren Blick unwillkürlich wieder auf ihn. Radcliffe hatte ihr den Rücken zugekehrt und zog sich gerade ein Nachthemd über den Kopf. Charlie konnte den reizenden Anblick eines festen Hinterteils sowie wohlgeformter Beine genießen, ehe das Nachthemd dorthin rutschte, wo es hingehörte. Radcliffe wandte sich ihr wieder zu, worauf Charlie den Blick sofort auf ihren Teller senkte.
„Hast du bald aufgegessen?“, erkundigte er sich und rekelte sich müde.
Charlie nickte und blickte weiter fleißig auf ihren Teller.
„Willst du nun auf einer bestimmten Seite schlafen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Na schön. Gute Nacht.“ Das Bettzeug raschelte, dann herrschte Stille.
Charlie wartete einen Moment, bevor sie aufsah. Radcliffe hatte sich behaglich unter der warmen Decke zusammengerollt und war kurz vor dem Einschlafen. Charlie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Nachdem sie jetzt ihren großen Hunger gestillt hatte, legte sich erneut die Erschöpfung über sie.
Sie stützte das Kinn müde in die Hand, gähnte und überlegte sich, was sie machen sollte. Schlafen konnte sie hier bei ihm kaum. Anderseits fiel ihr auch keine passende Ausrede ein. Und sie war fürchterlich müde …
Aufs Neue glitt ihr Blick zum Bett hinüber. Nach einem vollen Tag ohne Schlaf sah es ungemein verlockend aus – selbst mit Radcliffe darin.
Charlie stand auf, wankte zum Bett und schaute hinunter. Es war ein ziemlich großes Bett. Ein sehr großes sogar, mit viel Platz … Sie würde gut darin schlafen können, ohne Radcliffe zu nahe zu kommen. Jawohl. Ich werde einfach auf dem Laken schlafen, entschied sie. Sie zog die Tagesdecke zur Seite und glitt vorsichtig darunter. Ausziehen kam nicht infrage. Sie wollte in voller Kleidung schlafen. Das war doch sehr schicklich …
Als Charlie erwachte, war Radcliffe bereits aufgestanden. Er hatte sich seine Kniehose angezogen und wusch sich gerade in der Schüssel beim Kamin.
Eine Weile betrachtete Charlie das Spiel seiner Rückenmuskeln, setzte sich dann auf und prüfte, ob die Perücke noch richtig auf ihrem Kopf saß. Daran würde sie vermutlich gar nicht gedacht haben, wenn es unter dem Ding nicht so fürchterlich gejuckt hätte. Nachdem sie das verdammte Teil so lange getragen hatte, tat es wirklich schon weh. Genau wie die feste Bandage um meine Brust, dachte sie und langte hinunter, um sich auch da zu kratzen.
„Du bist also wach.“
Charlie schaute rasch zu Radcliffe hinüber, der sich gerade das Hemd überstreifte. Sie gab den Versuch auf, sich die zusammengeschnürte Brust durch die Kleidung hindurch zu kratzen, und betrachtete den Mann mit einigem Interesse. Seit sie einander begegnet waren, war es fast immer dunkel gewesen. Nur hin und wieder hatte sie einen Blick auf sein Gesicht erhascht. Sogar gestern Abend – nun ja, wohl eher heute Morgen – war dieser Raum nur spärlich beleuchtet gewesen, was ihr keinen wirklichen Blick auf sein Gesicht ermöglicht hatte.
Jetzt merkte sie, dass er ein recht attraktiver Mann war. Seine hellgrauen Augen sprachen von Intelligenz und guter Laune. Er hatte eine gerade Nase, und seine Lippen waren weder besonders voll noch zu schmal. Das schwarze Haar fiel ihm in leichten Wellen in den Nacken. Er war nicht annähernd so alt, wie sie gestern Abend gedacht hatte, und deswegen zog sie ein wenig die Stirn kraus, während sie die Füße aus dem Bett streckte.
„Bist du in deiner Kleidung eingeschlafen?“ Das hörte sich eher erheitert als überrascht an.
Charlie zuckte nur die Schultern, doch als sie fühlte, dass ihre Muskeln die Strapazen des Vortages noch nicht überwunden hatten, verzog sie das Gesicht. So langes Reiten war sie eben nicht gewohnt. „Wir haben nichts eingepackt. Bei dem ganzen Schmuck blieb dafür kein Platz mehr“, erläuterte sie, trat an die zweite Wasserschüssel und wusch sich das Gesicht.
„Hmm. Dann werde ich dir für heute ein Nachthemd leihen“, erklärte er und kam heran, um seine Stiefel von der Bettseite zu holen.
Auf dieses Angebot ging Charlie nicht ein, und sie hegte auch nicht die Absicht, es anzunehmen. Falls sie sich nicht täuschte, hatte Radcliffe beschlossen, heute nicht zu reisen. Ihrer Schätzung nach war es bereits nachmittags, und es gab keinen wirklichen Grund, vor morgen früh aufzubrechen. Ohnehin war es sicherer, tagsüber zu reisen. Jedenfalls hatte er das gesagt. Und heute Nacht, wenn er schlief, wollte sie seine Pistole sowie die Reisetaschen nehmen und sich gemeinsam mit Beth auf den Weg zu Ralphy machen.
„Wir werden heute noch einmal hier übernachten und dann am Morgen aufbrechen“, verkündete Radcliffe unvermittelt, womit er ihre Überlegungen bestätigte. Als sie daraufhin nur nickte, ließ er es dabei bewenden.
Jemand klopfte leise. Charlie schaute Radcliffe an, ging dann zur Tür und sah Beth davor stehen. Ihr besorgter Gesichtsausdruck verschwand, sobald sie ihre Schwester erblickte.
Charlie trat in den Flur hinaus und drängte Beth in deren Zimmer zurück.
„Die Frau des Gastwirts erzählte, ihr zwei würdet ein Zimmer teilen“, flüsterte Beth, während die beiden Schwestern eintraten.
„Es würde recht merkwürdig ausgesehen haben, wenn ich nicht damit einverstanden gewesen wäre.“
„Schon, doch …“
„Ich habe in voller Kleidung geschlafen“, versicherte Charlie rasch. „Und zwar auf den Leinentüchern.“
Beth nickte und biss sich auf die Lippe. „Was machen wir jetzt?“
„Radcliffe beabsichtigt, bis morgen hier zu bleiben. Wir beide werden genau wie gestern den Gasthof in der Nacht verlassen.“
„Doch nicht etwa wieder durch das Fenster?“ Beth verhehlte nicht, was sie davon hielt.
Charlie schüttelte den Kopf. „Nein, diesmal nehmen wir die Treppe.“
„Und wann?“
„Ich komme dich holen, sobald er eingeschlafen ist. Du solltest dich noch ein bisschen hinlegen. Es dürfte eine lange Nacht werden.“ Sie wartete, bis Beth zum Bett gegangen war, und schlüpfte wieder in den Korridor hinaus, gerade als Radcliffe aus dem Zimmer trat, welches sie geteilt hatten.
„Geht es ihr gut?“, erkundigte er sich besorgt. „Sie erschien mir ein wenig blass.“
Charlie winkte ab. „Sie hat nur nicht so gut geschlafen, weil ihr zu vieles durch den Kopf ging. Ich riet ihr, sich noch ein wenig hinzulegen.“
Radcliffe nickte und stieg, von Charlie dichtauf gefolgt, die Treppe hinunter. „Sie erinnert mich an meine Schwester“, sagte er übergangslos, womit er natürlich Charlies Neugierde weckte.
„Wie heißt sie?“
Eine Weile schwieg er mit finsterer Miene. „Mary“, antwortete er dann.
„Ist sie verheiratet?“
„Sie war es.“
„Wie bitte?“
„Ich nehme an, sie ist es noch immer, doch sie und ihr Gatte leben nicht mehr.“
Während Charlie ihm in den Schankraum folgte, schwieg sie. Nachdem sie an einem der Tische Platz genommen hatten, warf sie einen Blick auf sein Gesicht, das jetzt so hart wie Granit wirkte. Zweifellos setzte er diese Miene auf, um anzudeuten, dass weitere Fragen unerwünscht waren.
Bei dieser Erkenntnis entspannte sich Charlie zum ersten Mal. Ein Teil ihrer Unbehaglichkeit verflog, und ihre Beherrschung kehrte zurück.
Jetzt merkte sie überhaupt erst, dass sie ihre Beherrschung verloren hatte, seit der Mann ihr und Beth in den Stallungen begegnet war. Das war für sie ein eigenartiges und unangenehmes Gefühl gewesen, welches sich nun jedoch legte, nachdem sie erkannt hatte, dass Jeremy Radcliffe durchaus menschliche Seiten zeigte.
Zwischen ihr und Beth gab es einen merkwürdigen Unterschied. Sie glichen einander aufs Haar und hatten in den meisten Fällen auch den gleichen Geschmack, doch jede von ihnen verfügte im Umgang mit anderen Leuten über andere Talente. Beth konnte mit körperlichen Krankheiten gut umgehen. Sie brauchte einen Menschen nur anzusehen und wusste sofort, woran er körperlich litt und womit sie ihm helfen konnte.
Charlie dagegen vermochte die Beweggründe anderer Personen rein gefühlsmäßig zu durchschauen. Sie erkannte den Schmerz, den sie empfanden und über den sie sprechen wollten. Ebenso merkte sie, wenn jemand sein wahres Selbst verbarg.
Beispielsweise hatte sie Onkel Henry von Anfang an nicht gemocht, obwohl er sich scheinbar gütig und sanftmütig gezeigt hatte, als er nach dem Tod ihrer Eltern bei den Zwillingen aufgetaucht war. Beth hatte sich von seiner Fassade blenden lassen, bis er sein wahres Ich zeigte. Danach war sie furchtbar gekränkt gewesen, weil Charlies Einschätzung sich als richtig erwiesen hatte, was diese nicht im Geringsten verwunderte.
Nun lenkte Charlie diese Wahrnehmungskraft auf Lord Radcliffe und spürte, dass er zwar nie über seine Schwester und deren Tod sprach, es jedoch tun wollte.
„Wie kamen sie ums Leben?“, erkundigte sie sich wie nebenbei.
Radcliffes Miene verfinsterte sich. Einen Moment lang dachte sie, er würde ihr sagen, sie solle sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Doch dann antwortete er, und die Worte kamen ihm über die Lippen, als hätte er schon lange auf diesen Augenblick gewartet.
„Sie wollten mir einen Besuch abstatten. Ihr Besitz grenzte an meinen, und sie ritten herüber. Ein Wegelagerer hatte die Gegend zwar unsicher gemacht, doch bis dahin war noch niemand ernsthaft zu Schaden gekommen, sondern nur ausgeraubt worden, und das auch nicht in großem Ausmaß. Meine Schwester und ihr Gatte blieben zum Abendessen, und es war bereits dunkel, als sie die Rückreise antraten. Ich bot ihnen an, sie mit meiner Kutsche heimzubringen …“
Er sprach nicht gleich weiter. Ein unbestimmbarer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht Bedauern? Schmerz? Zorn? „Ich hätte darauf bestehen müssen.“
Schuldbewusstsein also. Seufzend lehnte sich Charlie zurück. Aber weshalb fühlte sich Radcliffe schuldig, wenn er von seiner Schwester sprach?
„War sie jünger als Sie?“
„Ja.“ Seufzend setzte er seinen Becher an die Lippen.
„Und Ihre Eltern?“
„Sie starben, als wir beide jünger waren – ich achtzehn und Mary zwölf.“
„Dann haben Sie Ihre Schwester aufgezogen und bis zu ihrer Hochzeit für sie gesorgt?“
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. „So ist es. Woher wusstest du das?“
Charlie zuckte die Schultern. „Wer außer Ihnen hätte es tun sollen? Sie erwähnten doch niemanden sonst“, sagte sie geistesabwesend. Mit den Gedanken war sie bei dem eben Gehörten. Jetzt kannte sie den Grund für sein Schuldbewusstsein: Er schien zu glauben, er hätte seine Schwester im Stich gelassen.
Wahrscheinlich hatte er auch deshalb Beth und ihr seinen Schutz angeboten. Dass Beth ihn an Mary erinnerte, hatte er ja selbst gesagt. Die vergangene Nacht musste ihm ähnlich erschienen sein wie jene, die seiner Schwester den Tod gebracht hatte – ein Mann und eine Frau allein in der Nacht auf einer Landstraße. Ja, jetzt war ihr klar, weshalb er ihnen hatte helfen wollen.
Radcliffe blickte düster drein. Wahrscheinlich machte es ihn verlegen, und es ärgerte ihn, dass er so viel preisgegeben hatte. Offensichtlich war es ihr gelungen, ihm mehr zu entlocken, als er seit vielen Jahren je einem Menschen anvertraut hatte.
„Kannst du schießen?“, fragte er plötzlich ungehalten. „Oder hat es dir noch niemand beigebracht?“
Charlies kurzes Schweigen war Radcliffe Antwort genug. Er erhob sich. „Euer Onkel wird es euch sicherlich nicht gelehrt haben. Einen Mann, der seine Nichte an Carland verkauft, schert es wohl kaum, ob sein Neffe sich verteidigen kann oder nicht.“
Er lächelte Charlie zu. „Komm mit“, befahl er schroff.
Charlie kletterte hinter dem Tisch hervor und folgte dem Lord gehorsam.
„Wo wart ihr denn?“ Beth eilte herbei, als Charlie und Radcliffe zwei Stunden später den Gasthof betraten.
Charlie las die Besorgnis in der Miene ihrer Schwester, doch Radcliffe beantwortete ihre Frage.
„Ich habe deinem Bruder das Schießen beigebracht.“
Beth staunte. „Wirklich? Wie ist es denn gelaufen?“
Charlie lachte in sich hinein, als Radcliffe nicht gleich antwortete. Sie wusste, dass man sie nicht gerade als Naturtalent bezeichnen konnte. Nicht ein einziges Ziel hatte sie getroffen. Überraschenderweise hatte Radcliffe mit ihr nicht die Geduld verloren, sondern sie immer wieder ermutigt und ihr am Ende versichert, dass sie noch besser werden würde, wenn sie nur genug übe. Wenn sie sehr viel übe …
„Was deinem Bruder an Treffsicherheit fehlt, macht er mit seinem Enthusiasmus wieder wett. Er wird es noch lernen. Er braucht nur Übung“, erklärte Radcliffe schließlich, und Charlies Kichern wurde zu lautem Gelächter bei seinem Versuch, sich diplomatisch auszudrücken.
Als er über ihre Erheiterung leicht lächelte, verneigte sich Charlie etwas spöttisch vor ihm, nahm Beth am Arm und führte sie in den Raum, in dem sie zuvor gespeist hatten. „Ich fürchte, als Mann bin ich ein kompletter Versager“, vertraute sie ihrer Schwester beim Gehen an. „Ich könnte auf zehn Schritt Entfernung nicht einmal das Stalltor treffen.“
Beth schaute zweifelnd drein und brach dann in Lachen aus. So erreichten sie den Tisch.
Radcliffe war dem Pärchen gefolgt und lächelte nun wie ein gütiger Monarch auf seine Schutzbefohlenen hinunter. Er setzte sich ihnen gegenüber, hörte zu, wie Charles von den Ereignissen dieses Nachmittags erzählte, und merkte dabei, dass der Junge nicht etwa entmutigt war, sondern alles wie ein großartiges Abenteuer ansah.
Die Zwillinge schwatzten während des Mahls weiter, wobei sie Radcliffe immer wieder ein Lächeln entlockten. Am Ende entschuldigte sich Beth und erklärte, sie wolle zu Bett gehen. Radcliffe fand, die Kleine habe wohl eine sehr zarte Konstitution, wenn sie so viel ruhen musste, äußerte indessen nichts dazu.
Charlie dagegen schaute ihrer Schwester seufzend hinterher. Beth setzte voraus, dass Charlie so lange wartete, bis Radcliffe schlief, damit sie dann seine Pistole stehlen und schließlich zu ihr kommen könnte. Doch langsam missfiel Charlie diese Vorstellung immer mehr. Radcliffe war wirklich … nett, und er hatte sich sehr bemüht, ihnen zu helfen. Der Plan, ihm die Pistole zu entwenden, behagte ihr nicht mehr, einerlei, ob sie nun dafür ein paar Schmuckgegenstände zurückließen oder nicht.
Sie blickte in ihren Bierkrug und verzog das Gesicht. Schließlich mussten sie zu Vetter Ralphy gelangen, und nachdem sie nun gehört hatte, wie Radcliffes Schwester ums Leben gekommen war, wollte sie auf keinen Fall mehr ohne eine Waffe reisen. Die Gefahren der Landstraße erschienen ihr plötzlich durchaus glaubhaft.
Sie schob ihren Krug zurück, stand auf, sagte, sie müsse Beth noch etwas erzählen, und begab sich eilig zum Zimmer ihrer Schwester.
„Ich kann ihm seine Pistole nicht stehlen“, erklärte sie bei ihrem Eintreten und schloss die Tür hinter sich.
„Gut.“ Beth streifte sich gerade den Nachtmantel ab und legte ihn über einen Sessel neben dem Bett.
„Was soll das heißen ‚gut‘?“
„Er ist nett“, erklärte Beth fest, löste ihr Haar und ließ es in langen Wellen über ihre Schultern fallen. „Und es wäre Diebstahl, auch wenn wir ein Armband hinterließen.“
Seufzend ließ sich Charlie auf die Bettkante sinken. „Ich weiß. Und was machen wir jetzt?“
„Dir wird schon etwas einfallen“, meinte Beth zuversichtlich, und Charlie wurde ärgerlich. Es war doch immer dasselbe! Wenn sie in der Klemme saßen oder einen Plan benötigten, wurde stets von ihr erwartet, dass sie eine Lösung fand. Seltsamerweise hatte Charlie das bisher nie gestört, bis jetzt.
Ehe sie etwas zu äußern vermochte, meinte Beth: „Zu schade, dass wir uns nicht in einer Ortschaft befinden. Dort könnten wir uns einfach eine Waffe kaufen.“
Einen Moment blickte Charlie ihre Schwester verblüfft an. Dann lächelte sie. „Ausgezeichnete Idee!“
„Was?“, fragte Beth, die gerade ins Bett steigen wollte.
„Ich werde mich einmal erkundigen, ob der Gastwirt eine Steinschlosspistole besitzt. Die werde ich ihm dann abzukaufen versuchen.“
„Und wenn er sie nicht verkaufen will?“
Charlie ging zur Tür. „Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.“
Sie veranlasste Beth mit erhobener Hand zum Schweigen und lauschte auf die Schritte draußen. Jemand kam die Treppe herauf. Die Tür des Zimmers, das sie mit Radcliffe geteilt hatte, öffnete und schloss sich wieder, und Charlie musste lächeln. Das bedeutete, dass sie mit dem Gastwirt reden konnte, ohne befürchten zu müssen, dass Radcliffe davon etwas mitbekam.
„Wecke mich auf, falls er sie dir verkauft“, flüsterte Beth, während Charlie die Zimmertür öffnete und die Treppe hinunterstieg.
Der Gastwirt war ein stämmiger Mann mit rauer Stimme. Charlie setzte sich an einen Tisch, ließ sich ein Bier bringen, nippte daran und überlegte sich, wie sie ihn am besten auf die Pistole ansprechen konnte. Nach einer Weile schaute sie sich im Raum um, der bis auf sie und den Gastwirt leer war, und winkte den Mann heran.
„Wünschen Sie etwas, M’lord?“
„Ja. Gesellschaft, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir. Setzen Sie sich doch.“
Verblüfft holte der Gastwirt einen neuen Krug Bier und einen Becher. Dann setzte er sich Charlie gegenüber, schenkte ihr nach und goss sich selbst ebenfalls ein. Schweigend tranken sie zusammen eine Weile.
„Ich hörte, auf den Landstraßen könne es gefährlich sein“, sagte Charlie schließlich.
„So ist es.“ Der Gastwirt nickte ernst. „Ich würde mir allerdings keine großen Sorgen machen, zumal Sie ja Seine Lordschaft bei sich haben. Er kennt sich bestens aus.“
Charlie nickte. „Heute hat er mich das Schießen gelehrt.“
Der Gastwirt grinste. Er hatte die beiden heute draußen beobachtet. „Sie lernen es schon noch“, versicherte er mitfühlend.
Charlie verzog das Gesicht und lächelte kläglich. „Sicher doch.“
Der Gastwirt beugte sich vor und füllte ihren Krug noch einmal auf. Charlie sah erstaunt zu. Sie hatte überhaupt nicht gemerkt, dass sie so rasch trank. Das musste sie sofort ändern.
„Besitzen Sie eine Pistole?“, erkundigte sie sich.
„Oh ja, M’lord. Ein feines Stück! Wollen Sie sie einmal sehen?“
Charlie nickte eifrig, und der breitschultrige Mann zwängte sich hinter dem Tisch hervor und verließ eilig den Schankraum. Während des Wartens nippte Charlie an ihrem Bier und schaute wieder hoch, als der Gastwirt mit der Pistole in der Hand zurückkehrte.
„Da.“ Vorsichtig legte er die Waffe auf den Tisch, und während Charlie sie aufnahm, schenkte er ihr aufs Neue Bier nach.
Die Pistole schien tatsächlich ein feines Stück zu sein – dreizehn Zoll lang und mit Stahlgravuren auf dem Lauf. Erstaunt blickte Charlie auf die in den Kolben eingeschnitzten Initialen R. N. und schloss daraus sehr richtig, dass der Gastwirt sich ein so schönes Stück nicht hatte leisten können.
„Ich bekam sie von einem Lord“, erklärte er, als er ihr Interesse an den Initialen bemerkte. „Der konnte seine Rechnung nicht begleichen, und da hat er mir lieber die Pistole gegeben, als womöglich in den Arrest zu wandern.“
„Üble Sache, das – sich mitten in der Nacht aus einem Gasthof zu schleichen.“
Charlie hätte beinahe ihren Krug umgestoßen, als sie das hörte. Sie fuhr herum und sah Radcliffe hinter sich stehen. In seinen Augen blitzte der Schalk.
„Ich dachte, Sie wären zu Bett gegangen, Mylord.“ Gereizt reichte sie dem Gastwirt die Pistole zurück.
„Wir haben doch fast den ganzen Tag geschlafen“, meinte Radcliffe, setzte sich an den Tisch und hielt den Gastwirt zurück, als dieser aufstehen wollte. „Meinetwegen brauchst du nicht zu gehen, Wirt. Ich wollte euch beiden eigentlich Gesellschaft leisten.“
„Ich hole Ihnen nur ein Glas, Euer Lordschaft“, erklärte der Gastwirt glücklich und eilte davon.
Charlie blickte ihm seufzend nach. Der Mann war über diese Wendung der Ereignisse hocherfreut. Wahrscheinlich kam es nicht so oft vor, dass sich zwei Mitglieder der besseren Gesellschaft mit ihm an einen Tisch setzten. Zu schade, dass sie sein Vergnügen nicht teilen konnte, und in diesem Moment wünschte sie, Radcliffe wäre überall, nur nicht hier.
„Vom nächsten Gasthof, bei dem wir anhalten, dauert es bis London weniger als einen Tag“, sagte Radcliffe. „Von dort werde ich einen Boten vorausschicken, der mir meine Kutsche holen soll. Das ist ein geschlossener Wagen. Ich fände es besser, wenn man dich und deine Schwester nicht eintreffen sieht. Ihr könnt in meinem Stadthaus wohnen, und ich werde euch als meine Verwandten vorstellen. Das gibt euch ein wenig Zeit, bevor euer Onkel euren Aufenthaltsort herausfindet. Mit etwas Glück werden wir deine Schwester bis dahin bereits verheiratet haben.“
Er schwieg einen Moment und erläuterte dann seine Pläne weiter.
„Am Tag nach unserer Ankunft werde ich euch zu einem mir bekannten Juwelier bringen, der euch einen fairen Preis für den Schmuck eurer Mutter machen wird. Ich würde allerdings nicht empfehlen, alles auf einmal zu veräußern, sondern nur so viel, dass ihr euch Garderobe kaufen und einige kleine Investitionen tätigen könnt. Ich wollte selbst in ein Unternehmen in London investieren. Vielleicht möchtet ihr euch ja ebenfalls beteiligen. Es ist zwar eine etwas riskante Sache, doch wenn alles gut geht, könnte es ungemein profitabel werden.“
Charlie blickte den Mann nur ratlos an. Von dem, was er sagte, war sie wie betäubt. Er bot viel mehr an als seinen Schutz, und das war geradezu erstaunlich. Er stellte ihnen sein Haus und seine Unterstützung zur Verfügung. Mit seiner Hilfe konnte sie sich ein Vermögen ausbauen und Beth mit einem netten, ungefährlichen Mann verheiraten, der ihr gefiel …
Falls ich wirklich Charles und nicht Charlie wäre, mahnte sie sich. Von den beiden Schwestern war Beth nicht wirklich die gefährdete. Sie hätte zwar den armseligen Seguin geheiratet, doch sie würde keine Not leiden müssen. Die einzige Gefahr bestand für Charlie selbst: Als Mann würde sie kaum einen Ehegatten finden.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Es war zwar ein hübscher Gedanke, doch sie durfte es nicht riskieren, dass Beth entdeckt wurde. Auch nicht unter einem falschen Namen. Ihnen blieb nur, zu Ralphy zu fliehen. Also beschloss sie zu warten, bis Radcliffe zu Bett gegangen war, und dann den Gastwirt noch einmal auf seine Pistole anzusprechen.
„Der Bursche scheint ein wenig berauscht, M’lord“, meinte der Gastwirt erheitert. „Ich glaube, er ist starkes Bier nicht gewohnt.“
Radcliffe sah Charles’ leeren Gesichtsausdruck und lächelte gequält. „Und ich glaube, du hast recht, Wirt“, pflichtete er bei und packte den Jungen schnell beim Genick, als dieser plötzlich auf seinem Sitz nach vorn kippte und im nächsten Moment mit dem Gesicht auf die Tischplatte geknallt wäre.
„Nun ist er ganz hinüber.“ Der Gastwirt lachte.
„Stimmt.“ Radcliffe richtete sich auf, hielt noch immer den Kopf des Burschen hoch und hob sich Charles schließlich auf die Arme.
„Ein schmales Bürschchen, was?“ Der Gastwirt betrachtete den Jungen, der schlaff in den Armen des Lords hing. „Sieht seiner Schwester sehr ähnlich. Verhält sich auch wie sie. Doch wenn er erst einmal erwachsen ist, wird er ein feiner Mann sein.“
„Stimmt“, sagte Radcliffe noch einmal und ging zur Treppe. „Wenn ich morgen die Rechnung begleiche, werde ich ein paar Münzen hinzufügen. Vielen Dank für deine Gesellschaft und das Bier.“
„Nichts zu danken. War mir ein Vergnügen.“