Theater in der Provinz - Silvia Stolz - E-Book

Theater in der Provinz E-Book

Silvia Stolz

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Beschreibung

Wenn vom Theater die Rede ist, geht es meist um den urbanen Raum. Aber auch vorm Deich, auf dem Land und zwischen den Metropolen spielt sich Dramatisches ab – von Menschen für Menschen, in Bürgerhäusern und auf Dachböden, in Kirchengemeinden und auf Marktplätzen. Das Theater in der Fläche ist Spielort von Landesbühnen und Tourneetheatern sowie Amateurtheatern und freien Ensembles. Die Publikation wirft einen konzentrierten Blick auf den ländlichen Raum in unserer Theaterlandschaft, lässt die Theatermachenden zu Wort kommen und fragt nach den Aufgaben, aber auch den Herausforderungen und Potenzialen. Wie gestalten Theateranbieter und Theaterveranstalter das Programm? Wie erreichen Landesbühnen und Gastspieltheater ein Publikum? Welche Projekte ermöglichen kulturelle Vielfalt und künstlerische Teilhabe? Welche Theaterpolitik braucht das Land?

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Theater in der Provinz

Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm

Herausgegeben von Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz

Recherchen 146

© 2019 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Gestaltung: Sibyll Wahrig

Umschlagabbildung: Meltem Balkaya (www.meltembalkaya.com)

Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-195-4 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95749-245-6 (ePDF)

ISBN 978-3-95749-246-3 (EPUB)

Theater in der Provinz

Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm

Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz (Hg.)

Inhalt

Vorwort

IMPULSE ZUR KULTUR IM LÄNDLICHEN RAUM

Beate Kegler

Künstlerische Vielfalt als Praxis

Theaterkultur im ländlichen Raum

Thomas Renz

Kulturelle Teilhabe als Programm

Theaterpolitik für Partizipation

Katharina M. Schröck

Die Zukunft der Landesbühnen

Neue Formate in den Darstellenden Künsten

Silvia Stolz

Traditionen auf dem Prüfstand

Veranstalter und Anbieter im Gastspieltheater

REFLEXIONEN ZUM THEATER IN DER PROVINZ

Wolfgang Schneider

Kartografie und Konzeption der Theaterlandschaft neu denken

Ein Plädoyer für die Provinz

Julius Heinicke

Freiräume für Kooperationen

Aufbruchsstimmung im Theater der Provinz

Manfred Jahnke

Paradigmenwechsel in der Provinz

Perspektiven für die Theaterlandschaft

Lena Düspohl, Thilo Grawe, Merle Mühlhausen und Antonia Rehfueß

Lagerfeuer, Leuchtturm, Silbersee

Das Memminger Glossar zum Theater in der Provinz

DISKURSE DER AKTEURE ZUM THEATER DER REGION

Holger Bergmann

Das Theater der Landschaften

Betrachtungen eines Phänomens

Kraftwerk der Zivilgesellschaft

Henning Fülle im Gespräch mit Reinhard Simon und André Nicke von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt

Aus der Provinz agieren

Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz im Gespräch mit Stefan Hallmayer und Simone Haug vom Theater Lindenhof in Melchingen. Bearbeitung von Micha Kranixfeld

Vom Drehkreuz des Spielplans und vom Draht zum Publikum

Sven Scherz-Schade im Gespräch mit Christian Kreppel, Intendant des Theaters der Stadt Schweinfurt und Präsident der INTHEGA, und Werner Müller, Intendant des Stadttheaters Fürth

Ilona Sauer

LIGNA auf dem Lande

Theatrale Kollaborationen in Prozessen der Transformation

POSITIONEN DER PRAXIS IN DER THEATERLANDSCHAFT

Naemi Zoe Keuler

Das Amateurtheater im ländlichen Raum

Eine beobachtende Bestandsaufnahme in Baden-Württemberg

Friederike Lüdde

Wer mit wem?

Das Theater Rudolstadt im polygamen Geflecht der Thüringer Bühnen

Micha Kranixfeld

Dem Abschweifen nachgeben

Die künstlerisch-forschende Raumerkundung von Syndikat Gefährliche Liebschaften

Michael Grill

Publikumspflege im Wandel

Theatergemeinden in der Stadt, in der Provinz, am besten überall

Sabine Reich

Stadt Land Tanz

Das Tanzland durchstreift die Provinz

Anna Scherer

In der Turnhalle knistert die Spannung

Unterwegs mit dem Landestheater

Dirk Schröter

Spießig und provinziell sind immer nur die anderen

Tourneetheater als größte Bühne Deutschlands

ANHANG

VORWORT

Deutschlands Theaterlandschaft ist weltweit einmalig. Sie ist vielfältig und heterogen: Sie ist über drei Jahrhunderte historisch gewachsen – und Reformen sind deshalb längst überfällig. Ausgangspunkt aller Überlegungen für kulturpolitische Perspektiven der Darstellenden Künste sollte künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe sein. Künstlerische Vielfalt ist Völkerrecht, vereinbart von Bund und Ländern über eine Forderung der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung von Diversität kultureller Ausdrucksformen. Kulturelle Teilhabe ist Menschenrecht und die Prämisse der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen. Theater in der Provinz ist, das behaupten wir, zudem ein Auftrag der Kulturpolitik. Theater muss für alle da sein! Wo auch immer Menschen leben, haben sie das Recht auf Zugang. Das ist die Basis von Demokratie.

Die Theaterlandschaft, das sind die Stadt- und Staatstheater, die Landesbühnen, die freien Theater, die Amateur- und Tourneetheater. Sie sind die fünf Finger einer Hand, die zusammengehören; die Gastspielhäuser, die Veranstalter*innen und die Theatergemeinden sind die Handinnenfläche, welche die Basis bilden für die Distribution von Theater in der Provinz.

Aber: „Gesellschaftliche Diskussionen werden von urbanen Zentren dominiert. Doch mit einem defizitären Blick auf ländliche Regionen zu schauen, kann nicht funktionieren.“ Anna Eitzeroth bringt es auf dem Podium unserer Tagung in Memmingen, „Theater in der Provinz“, auf den Punkt. Der Titel ist Programm, wird aber unterschiedlich interpretiert: Unterstreicht er nicht gerade die Kluft zwischen Metropole und Land, zwischen urbanem, pulsierendem Zentrum und der öden, weiten Fläche?

Die Begrifflichkeit polarisiert im Vergleich etwa zu „Theater im ländlichen Raum“. Dabei ist Provinz erst einmal völlig wertneutral und könnte auch positiv konnotiert sein. Aber die Auseinandersetzung um die Provinz zeigt, worum es auch zu gehen hat: um eine Standortbestimmung. Genauer: um eine Positionierung der Akteur*innen, welche die Darstellenden Künste in allen Regionen dieses Landes produzieren, anbieten, veranstalten, vermitteln und nicht zuletzt rezipieren. Theater nicht nur für die, nicht lediglich mit der, sondern in der Provinz, also auch aus ihr heraus, mit ihr verwoben? Diese Überlegung soll den Blick weiten, weg von der Betrachtung der Kulturszenen im urbanen Raum, hin zu einer Beobachtung und Reflexion der Strukturen im ländlichen Raum. Eingeladen haben wir die Verbände, die Theater der Provinz möglich machen: den Deutschen Bühnenverein, die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen, den Bund der Theatergemeinden, den Bundesverband Freie Darstellende Künste und den Bund Deutscher Amateurtheater. All diese unterschiedlichen Stimmen der Theaterlandschaft haben etwas zu sagen und sollen zu Wort kommen, um zusammen zu denken, was zusammengehört, um zu dokumentieren, was ist, und zu debattieren, was sein sollte.

Auch wenn von einer Landschaft die Rede ist, der die Idee eines Netzwerks immanent ist, wird schnell deutlich: Die einzelnen Theaterschaffenden scheinen einander nicht immer so zu kennen und sich auch nicht so wohl gesonnen zu sein, wie man vielleicht vermuten könnte. Wir setzen auf die Gemeinsamkeiten, denn beim Kampf um Zuwendungen und Legitimation werden schnell Gräben geschaufelt und die Differenzen gepflegt. Bisherige Diskurse um Tendenzen in den Darstellenden Künsten, über Strukturfragen und -veränderungen konzentrieren sich meist auf die Städte, insbesondere auf die dort vorherrschenden Erscheinungsformen von Theater: Stadt- und Staatstheater und zunehmend die freie Szene stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Forschung.

Anstoß für die Tagung in Memmingen, diese Veröffentlichung und die Beschäftigung mit dem Theater in der Provinz sind aktuelle Forschungsansätze am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim: eine Betrachtung der Theaterlandschaft in Hinblick auf Landesbühnen und Gastspielhäuser, kulturpolitische Fragestellungen in Bezug auf die Beauftragung, Eigenheiten und Strukturen eben dieser Theaterinstitutionen, die sonst kaum wahrgenommen werden.

Aus diesen Analysen ergaben sich Hypothesen und Überlegungen, die nicht nur einzelne Akteur*innen betreffen, sondern sich klar auf die Landschaft der Darstellenden Künste beziehen und verdeutlichen, dass gerade in der Provinz tatsächlich künstlerische Vielfalt gelebt werden kann. Ausgehend von einem kulturpolitischen Leitbild der flächendeckenden Versorgung mit kulturellen Angeboten und einer Ermöglichung kultureller Teilhabe, ist jedoch auch ein kritischer Blick geboten: Wer erreicht tatsächlich wen mit welchen Programmen? Wer bleibt außen vor? Welche Rolle spielen Kulturvermittlung, kreative Komplizenschaften und faire Kooperationen? Gibt es nur ein Nebeneinanderher oder doch einen Moment des Community-Building am theatralen Lagerfeuer? Blenden die kulturellen Leuchttürme die Umgebung, die kleinen, vielleicht bescheideneren Formen der Darstellenden Künste aus? Wie kann die gegenseitige Wahrnehmung gestärkt, wo gemeinsam Zukunftspläne geschmiedet werden? Vielleicht ist ein Zusammenwirken aber auch gar nicht nötig, wenig hilfreich und kontraproduktiv für die eigene kreative Arbeit?

Gerade das Theater in der Provinz scheint auch durch seine Vielfältigkeit geeignet zu sein, Baustellen aufzuzeigen, welche die gesamte Landschaft der Darstellenden Künste betreffen. Es kann aktuelle Herausforderungen beschreiben und mögliche Zukunftsszenarien aufzeigen. Denn hier treffen alle und alles aufeinander: professionelle Theater und Breitenkultur, Tourneetheater auf Durchreise, freie Theater, die sich im Dorf „einnisten“, Theaterproduktionen, die sich künstlerisch selbst beauftragt haben, und partizipative Ansätze, welche die Aktivitäten der Menschen vor Ort zu Tage fördern und einbinden wollen.

Zugleich sind all diese Formate und Handschriften noch mehr als in den urbanen Strukturen abhängig von Ressourcen: nicht nur von Geld, Räumen und Zeit, sondern in besonderem Maße von Vertrauen, Beziehungen, Konstellationen. Doch es geht nicht nur um Bedingungen und Personal. Schnell werden Überlegungen zu Finanzierungsmodellen zu grundlegenden Fragestellungen: Es gibt zwar eine Theaterförderung, aber wie versteht sich diese als Künstler*innenförderung, wo bleibt die Mobilitäts- oder gar die Publikumsförderung? Und wäre es nicht sinnvoll, neben der Angebots- auch die Teilhabeorientierung als förderungswürdig anzuerkennen? Was ist der Impuls für Kooperationen im ländlichen Raum? Steuert die Förderpolitik die inhaltliche Arbeit? Bestimmt der Auftrag der Kulturinstitutionen das Handeln oder können diese die Freiheiten einer öffentlichen Förderung ausnutzen, um auch im Wald und auf dem Deich experimentelle Formate in das Dorfleben zu implementieren? Doch was, wenn das Dorf gar nicht gewillt ist zu einer Zusammenarbeit? Schließlich hat längst nicht jeder Ort auf die städtischen Künstler gewartet? Und muss wirklich immer jeder partizipativ arbeiten oder darf Publikum auch einfach nur Publikum sein? All diese Fragen, Widersprüche und Potentiale bestimmen den Diskurs und sind auch in diesem Band versammelt.

Befragt werden nicht nur Anlässe und Begründungen von Kooperationen oder Projektarbeit, sondern genauso werden die Künste kritisch betrachtet: Theater für ein junges Publikum und zeitgenössischer Tanz scheinen immer noch und überall eine Sonderstellung einzunehmen – zu Recht oder lästiges Vorurteil? Welches Theater für welche Menschen, scheint immer noch die grundlegende Frage zu sein. Verbunden mit der grundsätzlichen Auffassung, dass Theater in der Provinz als ein Auftrag der Kulturpolitik zu werten ist. Mit einem kulturpolitischen Blick nähern sich die Autor*innen im ersten Teil der Thematik: „Impulse zur Kultur im ländlichen Raum“ geben Einblicke in aktuelle Forschungen und eröffnen die Diskussion um die Begrifflichkeiten. Beate Kegler und Thomas Renz werfen einen Blick auf den ländlichen Raum und das, was da Provinz heißt. Beate Kegler unter dem Blickwinkel der künstlerischen Vielfalt und Thomas Renz unter dem der kulturellen Teilhabe. Wo hört das Urbane auf und fängt das Rurale an? Welche Bedeutung hat die Zuschreibung von Bezeichnungen auf das Selbstverständnis und die Wahrnehmung? Während Katharina M. Schröck die Perspektive und Bedeutung der Landesbühnen befragt, fokussiert Silvia Stolz auf einen der Akteure des Theaters der Provinz und der Distribution: die Gastspielhäuser. Im zweiten Teil bilden Reflexionen zum Theater in der Provinz und zur Tagung in Memmingen den Weg in die Praxis. Wolfgang Schneider diskutiert den Anspruch der demokratischen Teilhabe und plädiert für ein Theater der Provinz, weil es so in den Darstellenden Künsten zu Grenzüberschreitungen kommen müsse. Strukturen von gestern gelte es zu reformieren, öffentliche Förderung dürfe dabei gerne auch auf konzeptionellen Überlegungen basieren, könne sich als Risikoprämie verstehen, um Standortsensibilitäten zu ermöglichen. Julius Heinicke nimmt eine Aufbruchstimmung in der Provinz wahr, deren Basis auch Kooperationen sind. Manfred Jahnke fragt nach der Zukunft des Theaters in der Provinz und Lena Düspohl, Thilo Grawe, Merle Mühlhausen und Antonia Rehfueß legen mit ihrem Glossar zum Theater in der Provinz einen terminologischen Grundstein für den Diskurs.

Im dritten Teil widmen sich Akteure des Theaters in der Provinz diskursiv der Thematik. Holger Bergmann wirft einen Blick auf das Phänomen Landschaftstheater und die Form des Jahrmarkttheaters. Henning Fülle spricht mit dem Intendanten der Uckermärkischen Bühnen Reinhard Simon und seinem Nachfolger André Nicke über die Anforderungen und die Veränderungen der Bühne in und um Schwedt. Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz diskutieren mit Stefan Hallmayer und Simone Haug über die Anforderungen eines Regionaltheaters auf der Schwäbischen Alb. Sven Scherz-Schade nähert sich im Interview mit Christian Kreppel, Präsident der INTHEGA, und Werner Müller, dem Intendanten der Fürther Bühne, den Gastspieltheatern und Ilona Sauer spürt den theatralen Kollaborationen der Künstlergruppe LIGNA auf dem Land nach.

Die abschließenden Beiträge im vierten Teil geben Einblicke in die tatsächlich gelebte Theaterarbeit und zeigen unterschiedliche Positionen und die Vielfalt in der Provinz. Naemi Zoe Keuler weiß die Potentiale von Amateurtheatern zu pointieren, während Friederike Lüdde über das Theater Rudolstadt im Geflecht der Thüringer Bühnen schreibt. Micha Kranixfeld äußert sich zu Erfahrungen des Syndikats Gefährliche Liebschaften in ländlichen Gebieten. Michael Grill bringt die Position und die Herausforderungen der Theatergemeinden näher, Sabine Reich berichtet über das Projekt Tanzland der Bundeskulturstiftung. Anna Scherer schreibt von den Besonderheiten des Lebens und Spielens an der Burghofbühne Dinslaken, insbesondere an den Gastspielorten. Und Dirk Schröter berichtet über seine Erfahrungen mit dem Tourneetheater.

Mögen die Diskurse zum Theater in der Provinz zur Reform der Theaterlandschaft beitragen und ein Umdenken sowie einen Umbau in der Kulturpolitik initiieren. Die Darstellenden Künste entwickeln sich im Prozess gesellschaftlicher Transformationen, die Praxis braucht aber perspektivisch auch strukturelle Veränderungen – mit dem Ziel: mehr Theater für mehr Menschen!

Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz März 2019

In dieser Publikation wurde die jeweilige Autorschaft bei den einzelnen Texten dahingehend berücksichtigt, dass bei jedem Artikel der jeweils gewählte Umgang mit den Geschlechterbezeichnungen nicht durch die Herausgeber angepasst wurde; lediglich die Darstellung wurde durch die Verwendung des Gendersternchens vereinheitlicht. Bei manchen Beiträgen wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf eine geschlechterspezifische Differenzierung verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

IMPULSE ZURKULTUR IMLÄNDLICHENRAUM

Beate Kegler

KÜNSTLERISCHE VIELFALT ALS PRAXIS

Theaterkultur im ländlichen Raum

Gut zwei Stunden unterhielten die bestens präparierten Laien ihre gut gelaunten Zuschauer auf der Freilichtbühne.1

Das Theaterangebot wird vor allem durch Gastspiele getragen, deren Spielorte überwiegend der Bürgersaal des FZB und der Theeshof sind. Im Ort gibt es darüber hinaus die Laienspielgruppe des Verkehrsvereins Schneverdingen e. V., welche beim Festspiel des Heideblütenfestes auf der Höpen-Bühne auftritt.2

Eine Gruppe darstellender KünstlerInnen aus dem Wendland schloss sich 2011 zusammen, um die Region mit bunten, lebendigen und qualitativ hochwertigen Theaterinszenierungen zu bereichern. Gemeinsam gründeten sie daher die Freie Bühne Wendland.3

Diese und ähnliche Zitate machen deutlich: Theaterkultur im ländlichen Raum ist Breitenkultur, Event-, Hoch- und Soziokultur. Die Akteur*innen kommen aus urbanen und ländlichen Räumen, vereinen hochkulturelle Professionalität und breitenkulturelles Expert*innentum. Woran sich die Qualität von Theater im ländlichen Raum bemisst, lässt sich auf den ersten Blick schwer definieren. Die Grenzen von Kunst und Kultur sind fließend. Ebenso unklar bleibt, was unter dem Begriff „ländlicher Raum“ zu verstehen ist. Wo beginnt Provinz und wo endet sie? Gibt es allgemein verbindliche Raumordnungskriterien, die festlegen, wann von ländlichem und wann von urbanem Raum gesprochen wird? Ist es eine Frage der Perspektive oder gar der selbstgewählten Zuordnung nach Fördergebieten, die über die Zugehörigkeit zum ländlichen Raum entscheidet? Gibt es ihn überhaupt – den ländlichen Raum? Und letztlich: Warum kann es relevant sein, sich überhaupt mit künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur im ländlichen Raum zu beschäftigen?

Nix los in der Provinz?

Nix los in der Provinz? war schon vor Jahrzehnten der programmatische wie auch provokative Titel einer Publikation der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ), die damals eine erste Positionsbestimmung der Kulturarbeit in ländlichen Räumen wagte4.

… auf dem Land: Für den einen klingt es bäuerisch, hinterwäldlerisch, riecht nach Misthaufen, schlecht gemachtem Komödiantenstadl, Posaunenchor und Nachbarschaftsklatsch, für den anderen ist es eine Alternative zu den Schrecknissen des Großstadtdaseins, der Technikeuphorie, der zerstörenden Wohnsilos, klingt nach gesundem Leben, nach Alternativprojekten. Beide Perspektiven stehen der Realität des Landlebens sehr fern.5

Die Formulierung von Dorothea Kolland könnte auch heute noch ähnlich klingen. Begriffe wie „die Provinz“ oder „das Ländliche“ scheinen nach wie vor emotional aufgeladen zu sein. Der Beiklang einer heimattümelnden Rückständigkeit und Weltfremde lässt sich nicht ignorieren. Gleichzeitig erfährt das Bild vom Ländlichen als Sehnsuchtsidyll naturnaher Ursprünglichkeit eine umfassende Renaissance. Bilder verlassener Geisterdörfer peripherer Regionen zeigen den Niedergang der Dörfer, werden aber gleichzeitig zu Ikonen einer Romantisierung des Verfalls.6 Neue Trends wie das Urban Imkering, Urban Gardening und andere Do-it-yourself-Bewegungen beschwören die Qualitäten nachhaltigen Wirtschaftens nach dem Vorbild der einstigen Selbstversorger*innengemeinschaften. Kulturelle Community-building-Trends wie das Rudelsingen oder gemeinsame Kochvergnügen folgen im Urbanen den jahrhundertealten Erfolgsrezepten dörflicher Gemeinwesensmodelle. Neben diesen Bewegungen erschüttert gleichzeitig die Realität des zunehmenden Rechtspopulismus in ländlichen Räumen. Die nationalistischen Parteien finden gerade in den alternden und schrumpfenden Dörfern im Osten Deutschlands ihre meist männliche Anhängerschaft. Auch die Wahl Trumps, der Brexit sowie die Erfolge der Rechtspopulist*innen in immer mehr europäischen Ländern sind vor allem den Stimmen der Wähler*innen ländlicher Wahlkreise zuzurechnen.7 Allerdings sind gerade in ländlichen Räumen zahlreiche Menschen in Vereinen und Dorfgemeinschaften in vielfältiger Weise für das Gemeinwohl von Zugezogenen und Alteingesessenen engagiert und tragen mit ihren Aktivitäten und einer umfassenden Teilhabeorientierung intensiv zur Gestaltung ländlicher Gesellschaft bei.

Den ländlichen Raum gibt es nicht!

Als messbare Kriterien von Ländlichkeit gelten Einwohner*innenzahlen und demografische Entwicklungsprognosen, Pendelentfernungen und infrastrukturelle Gegebenheiten, geografische Lage und Flächennutzung sowie diverse andere Faktoren. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) charakterisiert über neunzig Prozent der Fläche Deutschlands als ländliche Räume und stellt fest, dass in ihnen mehr als die Hälfte aller Einwohner*innen im Bundesgebiet beheimatet ist.8

Der ländliche Raum kann als Zuzugsgebiet im Speckgürtel Hamburgs zum kulturellen Hotspot werden, aber auch das Geisterdorf in der Uckermark sein, dessen Leerstände vom Verfall geprägt sind. Er kann im wirtschaftlich stabilen Emsland geprägt sein von überdurchschnittlicher Geburtenrate und geringer Wanderungsdynamik oder wie in den sächsischen Erzgebirgsdörfern betroffen sein von überdurchschnittlicher Bildungswanderung von jungen Erwachsenen und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Die Dynamiken und Entwicklungsprognosen sind so vielfältig wie die geografische Lage und die Geschichte und Geschichten der Zugezogenen, Einheimischen und ehemaligen Bewohner*innen der Dörfer und kleinen Städte. Im Zuge der globalen Transformationsprozesse lassen sich umfassende Veränderungsprozesse insbesondere dort feststellen, wo Strecken von mehr als einer Stunde zu Arbeits- und Bildungsorten zurückzulegen sind.

Die Folgen von Bildungs- und Arbeitsabwanderung, Alterung, zunehmender Armut und leeren Gemeindekassen machen deutlich, dass die grundgesetzlich verankerte Aufforderung zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (§ 72 GG, Abs. 2) nicht mehr so leicht zu erfüllen ist. Ein immer schnellerer gesellschaftlicher Wandel und vor allem die Abwanderung von impulsgebenden Gestalter*innen und Expert*innen dörflicher Gemeinschaften stellen diese vor immense Herausforderungen. Urbane Agglomerationen dagegen waren seit jeher auf die individuelle Vielfalt ihrer wechselnden Bewohner*innen ausgerichtet. Kleine Sozialsysteme in ländlichen Räumen weisen dagegen Interaktionsbeziehungen und Gestaltungselemente auf, die auf Kontinuität und Identifikation mit dem Wir der Dorfgemeinschaft aufbauen. Wo die Impulsgeber*innen und Netzwerker*innen altern oder das Dorf verlassen, besteht jedoch nur zu leicht die Gefahr, dass Gestaltungskraft und -willen einer zunehmenden Resignation weichen. Die Demografieforschung empfiehlt gerade in diesen Regionen mit Nachdruck die Förderung und Wiederbelebung des traditionellen Miteinanders auf Gegenseitigkeit, die Stärkung dorfübergreifender regionaler und zeitgemäßer Identifikation sowie die Förderung von Kreativpotenzialen und Gestaltungswillen.

Kurzum: Die Zukunft der ländlichen Räume ist inzwischen zum Querschnittthema mit transnationaler Relevanz geworden. Zwischen emotionaler Aufladung und wissenschaftlicher Analyse scheint „das Land“ die Gesellschaft im Ganzen zu bewegen. Die ländlichen Räume weisen dabei sehr heterogene Bedingungen und Entwicklungen auf, die in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung und Situation von Kunst und Kultur jenseits der urbanen Agglomerationen stehen.

Von Leuchttürmen und Tiefenbohrungen

Ein abwechslungsreiches Kulturprogramm und vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung machen Hinte lebenswert und sympathisch. Kirchen, Vereine und private Initiativen tragen einen großen Anteil daran. […] Ob Sport oder Musik, ob Schützen- oder Boßelverein – das kulturelle Leben in der Gemeinde wäre ohne ihre Beiträge um vieles ärmer.9

Die Vielfalt kultureller Praxis im Dorf wird gesichert durch zivilgesellschaftliches Engagement. Wie viel künstlerische Vielfalt und Theaterkultur sich dahinter verbirgt, mag ein Blick auf die virtuellen Selbstdarstellungen der ländlichen Gemeinden nicht so leicht offenbaren. Zumeist beschränken sich diese auf die Erwähnung historischer Stätten und das mehr oder weniger rege Vereinswesen. Zuweilen geben Auflistungen von Vereinen weiteren Aufschluss über die Vielfalt, häufig informiert ein Veranstaltungsprogramm über das, was die Gemeinden als Kultur- und Freizeitprogramm für erwähnenswert halten. So lädt im Oktober 2018 die oben zitierte Gemeinde Hinte ein zu Oktoberfest und Rassekaninchenschau, zum Vortrag über Schüßlersalze und zum Plattdeutsch-Abend und kündigt das monatliche Kulturstündchen in der historischen Mühle an. Was sich hinter letzterem verbirgt, bleibt rätselhaft. Der dazugehörige Link führt zu einer virtuellen Baustelle10.

Ist die künstlerische Vielfalt auf dem Land so verborgen, dass sie auf den offiziellen Bekanntmachungen nur mit stark erweitertem Kunst- und Kulturbegriff erkennbar wird? Wissen die Website-Gestalter*innen nicht, was sich in ihrer Gemeinde künstlerisch-kulturell ereignet? Aus der Ferne betrachtet, scheint es ein herausforderndes Unternehmen, mehr als die Leuchttürme auf dem Land zu sehen. Es drängt sich angesichts der fehlenden Informationen die Vermutung auf, dass die ländlichen Räume in der künstlerisch-kulturellen Diaspora auf eine funktionierende Umlandversorgung urbaner Akteur*innen angewiesen sind. Kaum vorstellbar, dass die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen auf dem Land ohne eine kulturelle Dauermedikation urbaner Provenienz herstellbar sein könnte. Aber womöglich lässt sich im Schatten oder am Fuße der kulturellen Leuchttürme eine Vielfalt identifizieren, die sich denjenigen erschließt, die bereit sind, feldforschende Tiefenbohrungen in der Provinz auf sich zu nehmen?

Gerade in den letzten Jahren entstanden aus genau solchen feldforschenden Expeditionen in die Breite der Kultur- und Theaterlandschaft erste Publikationen und Studien zum Thema. Das Weißbuch Breitenkultur11 zeigt die Entwicklung, kulturpolitische Bedeutung und Vielfalt der engagementbasierten und gesellschaftsgestaltenden Phänomene. Studien zur Lage der Amateurtheater in Niedersachsen12 sowie zur Situation und kulturpolitischen Bedeutung von Freilichtbühnen in Niedersachsen13 und Nordrhein-Westfalen14 nehmen Akteur*innen der Theaterlandschaft ländlicher Räume gezielt in den Blick. Für den europäischen Raum lassen sich darüber hinaus weitere Positionen, Praxisbeispiele und kulturpolitische Handlungsempfehlungen im Sammelband Vital Village identifizieren15. Untersuchungen zur Rolle von Landesbühnen (Dissertation Katharina Schröck, Universität Hildesheim) und Bespieltheatern (Dissertation Silvia Stolz, Universität Hildesheim) werden weitere Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen.

Diese und andere Tiefenbohrungen machen es deutlich: Einerseits gibt es die entfernten Dörfer, in denen selbst die Freiwillige Feuerwehr, der Fußballverein und die Kirchengemeinde keine Mitglieder mehr aktivieren können und das gemeinschaftsgestaltende Leben nur noch auf die Begegnungen am Gartenzaun oder der einzigen Bushaltestelle im Ort begrenzt sind16. Allerdings findet sich eine Fülle diverser Kulturausprägungen lokaler, regionaler oder urbaner Akteur*innen, die sich je nach Ausrichtung an ein urbanes, lokales oder nicht näher definiertes Publikum wenden, auf angebotsorientierte Teilhabe ausgerichtet sind oder aber in ihrer gesamten Struktur und ihren Aktivitäten auf zivilgesellschaftliche Partizipation einer Kultur für alle von allen ausgerichtet sind.

Theaterkultur in ländlichen Räumen ist so vielfältig wie die ländlichen Räume selbst. Auch wenn die infrastrukturellen Gegebenheiten aus Sicht der Staatstheater zuweilen ein herausforderndes Abenteuer darstellen, scheint dies der Theaterbegeisterung der ländlichen Bevölkerung keinen Abbruch zu tun. Ganz grob mag unterschieden werden in Theateraufführungen, die als konsumierbare Angebote durch professionelle Akteur*innen aufs Land gebracht werden – und denjenigen teilhabeorientierten Theaterformen, die durch breitenkulturelle oder soziokulturelle Akteur*innen aus den ländlichen Räumen selbst entstehen. Dazwischen lässt sich die freie Szene verorten, die ihrerseits sowohl aus urbanen Kontexten das Land bespielt oder auch den Laborraum Land für sich entdeckt hat, zuweilen abzielt auf ein urbanes Publikum oder die Menschen vor Ort zu erreichen versucht, zuweilen auch hier mit partizipativen Formaten experimentierend. Sonderformen wie beispielsweise die Theatergemeinden, die mit ihren Theaterfahrten Landbewohner*innen sowohl die Anreise als auch die Kulturvermittlung zu urbanen Angeboten offerieren, ergänzen das Spektrum der Akteur*innenlandschaft.

Jahrmarkttheater, Jastorf: Einsame Spitze, im Stillen. Foto: Bert Brüggemann

Freilichtbühnen als Breitenkultur

Die etwa 30 Proben auf ihrer „Lieblingsbühne“ seien von Anfang an von großem Eifer getragen gewesen und dementsprechend erfolgreich verlaufen. […] Eine halbe Stunde vor Premierenbeginn herrschte hinter den Kulissen geselliges Treiben. Da wurde vom duftenden Auflauf gekostet, vom Sekt genippt oder ein Jägermeister gekippt. […] Für viele Horn-Badmeinberger ist die Bühne des Freilichttheaters Anlaufpunkt regelmäßiger Besuche. „Wir kommen jedes Jahr her. Es ist herrlich unkompliziert und die Atmosphäre einfach toll“, findet Melanie Plaß. Sie schätzt die lockere Stimmung im Gegensatz zum klassischen Theater17.

Lockere Stimmung im Publikum und geselliges Treiben hinter den Kulissen – so und ähnlich lauten zahlreiche Umschreibungen dessen, was im Amateur- und insbesondere im Freilichttheater im ländlichen Raum die Attraktivität für Publikum und Mitwirkende gleichermaßen darstellt. Auch jenseits von Auflauf, Sekt und Jägermeister gelingt gerade den Freilichtbühnen das, wovon Kunst- und Kulturakteur*innen seit den Zeiten des Shakespeare’schen Globe Theatres in urbanen Räumen längst nicht mehr zu träumen wagen. Wenn das Publikum zum wiederholten Mal kostümiert und singend das Waldgelände der Freilichtbühne betritt und selbst bei strömendem Regen in die Bühnensongs einstimmt, Jung und Alt vor Begeisterung über die Spielideen und die unübersehbare Spielfreude der Akteur*innen begeistert aufspringen, minutenlangen Applaus spenden und noch lange nach der Aufführung mit den Schauspieler*innen oder anderen ehrenamtlichen Akteur*innen auf der Bühne oder am obligatorischen Bratwurststand stehen, wird die Kunstproduktion gleichzeitig zur kulturellen Lebensweltgestaltung. Anders formuliert: Trotz einer miserablen Wetterlage im Sommer 2017, bei der immerhin fast fünfzig Aufführungen an den Naturbühnen abgesagt oder abgebrochen werden mussten, wurden die rund 1700 Aufführungen an den neunzig Bühnen des Verbands Deutscher Freilichtbühnen (VDF) von durchschnittlich 538 Zuschauenden besucht. Viele davon kommen seit Jahren an „ihre“ Bühne, verstehen sich als Teil der Community und besuchen gern auch mehrere Inszenierungen, teilweise sogar mehrere Aufführungen einer Inszenierung im Jahr.

Allein in Niedersachsen engagieren sich vor und hinter den Kulissen rund 2400 Menschen an den dortigen 18 Bühnen – generationsübergreifend, unbezahlt und freiwillig. Fünfzig Prozent der Mitwirkenden sind dabei seit mehr als neun Jahren an der gleichen Bühne aktiv, die meisten davon (78 Prozent) sind regelmäßig und während der Saison wöchentlich an der Bühne, davon gehören 31 Prozent zu denjenigen, die mehr als zehn Stunden pro Woche in der Saison aktiv sind. Immerhin zehn Prozent sind das ganze Jahr über mehrmals pro Woche im Einsatz. Auch wenn es nicht zu leugnen ist, dass auch hier die jungen Erwachsenen die Bühnen verlassen, weil Studienplätze nicht am Wohnort zu finden sind, kann von Nachwuchsmangel keine Rede sein. Mit eigenen Kinder- und Jugendensembles oder generationsübergreifender Theaterarbeit und einem hohen Grad an Verantwortung für die Jugendgruppen gelingt es den Bühnen, Partizipation auf allen Ebenen zu leben und mit ihren rein engagementbasierten Organisationsformen lebendige Orte permanenter Gesellschaftsgestaltung im ländlichen Raum zu sein.

Die Stücke, die gespielt werden, sind selten spektakuläre Statements innovativer Kunst. Die Qualität bemisst sich weniger an einer Theaterkunst, die „Fragen stellt, uns selbst dazu bringt, Position zu beziehen“18. Gespielt wird, was gefällt, bekannt und beliebt ist. Erwartungshaltungen werden eher erfüllt denn gebrochen. Das Publikum soll im besten Fall mitsingen, Tränen lachen, Teil des gemeinsamen Erlebnisses werden und beschwingt nach Hause zurückkehren. Es geht – wie generell in der Breitenkultur – um das „Wir für uns“, um die Selbstverständigung als Community.19

Auch wenn die Freilichtbühnen die „großen Tanker“ unter den Amateurtheatern sind, können ähnliche Phänomene auch an kleineren Bühnen beobachtet werden. Allein die unglaubliche Anzahl existierender Amateurtheater beeindruckt. Das Spiel auf der Bühne scheint letztlich eines der zentralen Elemente von Breitenkultur zu sein, gibt es doch kaum eine ländliche Gemeinde, in der sich keine entsprechende Gruppierung oder Verein findet. Allein in den 943 Gemeinden Niedersachsens konnten rund 1000 sehr unterschiedliche Amateurtheater identifiziert werden.20 Insgesamt sind 200 Bühnen Mitglied im Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT). Rund 120 000 ehrenamtlich Engagierte wirken an diesen Bühnen aktiv mit. Eine ungeheure Zahl, die umso erstaunlicher zu sein scheint, wenn man bedenkt wie wenig kulturpolitische Aufmerksamkeit und fachliche Wertschätzung diesen Akteur*innen zuteilwird.

Es gibt zwar mehr als fünfzig Mal so viele Amateurtheater wie Stadttheater, viele davon sind nicht Mitglied des BDAT, aber von den rund drei Milliarden Euro jährlich, die aus öffentlichen Mitteln in die Theaterlandschaft fließen, erhalten die Amateurtheater noch nicht einmal ein Promille.21

Problematisch wird die fehlende kulturpolitische Förderung dort, wo durch gesellschaftliche Transformationsprozesse wie den demografischen Wandel und den Wandel im Ehrenamt der Nachwuchs fehlt oder die Bereitschaft zu überdurchschnittlichem Engagement, wie sie z. B. in Vorstandstätigkeiten gefordert ist, angesichts hoher Belastung durch Pendlerentfernungen oder gestiegene Ansprüche am Arbeitsplatz nicht mehr geleistet werden kann. Problematisch mag es ebenso sein, dass sich die auch in den ländlichen Räumen heterogener werdende Gesellschaft nicht in dieser Vielfalt in den Akteur*innencommunitys wiederfindet und der Blick über den Dorfrand längst nicht überall gegeben ist.

Gastspiele der Hochkultur

Bei den Gastspielen zeigt sich neben der künstlerischen Qualität auch die Flexibilität des Theaters Schloss Maßbach – Unterfränkische Landesbühne. Nicht nur die unterschiedlichsten Orte werden bespielt, von Fulda bis Pfronten, von Aschaffenburg bis Fürth, sondern auch die unterschiedlichsten Spielstätten, von Stadttheatern bis hin zu Mehrzweckhallen und Sälen in Kultur- und Gemeindehäusern.22

Die 23 Landesbühnen in Deutschland haben als öffentlich-rechtliche Theaterbetriebe die kulturpolitische Verpflichtung, nicht nur das eigene Haus, sondern vor allem das jeweilige Umland zu bespielen. Mit diesen dezentralen Konzepten soll ein möglichst flächendeckendes Theaterangebot geschaffen werden, das der mangelnden kulturellen Infrastruktur in ländlichen Räumen entgegenwirkt. Allerdings sind auch die Aufführungen der Landesbühnen auf ein Mindestmaß an räumlicher Ausstattung und Zentralität ausgerichtet. Die Bespieltheater, Mehrzweckhallen und Säle finden sich in der Regel in zentralen Klein- und Mittelstädten im Umland der Stammhäuser. Nicht immer scheinen die urbanen künstlerischen Produktionen das Interesse des ländlichen Publikums zu erreichen und längst nicht überall sind die Bespieltheater und anderen Spielstätten für die Bewohner*innen ländlicher Räume aus peripheren Lagen problemlos zu erreichen. Dass überdurchschnittlich wenige Menschen aus den abgelegenen Dörfern das klassische Angebot der Landesbühnen in den Gastspieltheatern und anderen Veranstaltungsräumen nicht besuchen, ist jedoch nicht allein durch eine unzureichende Mobilitätssituation und weite Wege zu begründen. Die Nicht-Besucher*innenstudie von Thomas Renz23 zeigt deutlich, dass in erster Linie der Bildungsgrad und die Milieuzugehörigkeit über Besuch oder Nicht-Besuch entscheiden.

Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung besucht Theater eigentlich nie und zeigt auch kein Interesse an anderen Kunstformen. In dieser Gruppe sind überdurchschnittlich viele formal niedrige Bildungsabschlüsse messbar24.

So verwundert es nicht, dass gerade in entlegenen ländlichen Räumen mit hoher Bildungsabwanderung und niedrigem Durchschnittseinkommen damit gerechnet werden muss, dass ein auf das klassische bildungsbürgerliche urbane Publikum ausgerichtetes Theaterangebot das eigentliche Zielpublikum nicht erreicht.

Glaubt man der örtlichen Presse, kamen etwa 60 Besucher zur Vorstellung – nach der Pause sollen noch elf im Parkett gesessen haben. Intendant Strieb scheint aber derart erschrocken gewesen zu sein, dass er in einer bundesweit wohl einmaligen Art reagierte: Er versprach den enttäuschten Zuschauern die Erstattung des Eintrittspreises. In der Peripherie so Theater machen wie in der Stadt: Das war Anspruch der Landesbühne Niedersachsen Nord. Doch der neue Intendant will schlicht mehr Zuschauer.25

Jahrmarkttheater, Wettenbostel: Jahrmarkt der Einsamkeit (Strohbühne). Foto: Bert Brüggemann

Das Ziel, mit Theaterangeboten mehr Zuschauer*innen zu erreichen, wirft Fragen nach möglichen Veränderungen von Theaterformaten, Vermittlungsstrategien und auch inhaltlichen Schwerpunktsetzungen auf. Vielleicht wäre gar ein Blick in die freie und die Amateurtheaterszene zu wagen, die Soziokultur oder auch die Freilichtbühnen nach Gelingensbedingungen zu beforschen, ja, vielleicht gar in lernenden Kooperationen – wie bereits hier und da erfolgreich erprobt – neue Wege einzuschlagen. Im Projekt TRAFO beispielsweise wagte das Landestheater in Tübingen die Kooperation mit freien Künstler*innen und Kollektiven. In experimentellen Formaten begegneten sie wiederum breitenkulturellen Akteur*innen und suchten gemeinsam mit diesen in partizipativen Ansätzen nach künstlerischen Ausdrucksformen und soziokulturellen Ansätzen dorfbezogene Narrative.

Aus der Winterlinger Begegnungsstätte wurde wieder ein Schulhaus und zwar ein ganz besonderes: Neue und alteingesessene Gemeindemitglieder wurden zu Akteur_innen ihrer eigenen Geschichten. Das Publikum wandelte wie eine Schulklasse durch die Räume und begegnete Erzählungen von Flucht, Ankommen und der Suche nach einem neuen Gefühl von Heimat.26

In wieweit diese Formate und Kooperation auch nach der Förderperiode weitergeführt und verstetigt werden können, bleibt fraglich.

Theater der Soziokultur

Die haben hier nicht auf uns gewartet. Da musste viel Zeit mitbringen, Nachbarn kennenlernen, dableiben, mitarbeiten, Schützenfest und so27.

Wo Theatermacher*innen der freien Szene das Land entdecken und als Raumpionier*innen dort aktiv werden, sind sie nicht zwangsläufig diejenigen „Kulturbringer*innen“, auf die das Dorf seit langem gewartet hat. Akteur*innen, die den Schritt gewagt haben, haben sich entweder dafür entschieden, den ländlichen Raum unabhängig von den jeweiligen Dorfgemeinschaften als konkurrenzärmeren Freiraum mit preisgünstigeren Lebenshaltungskosten für ihre Kunst zu nutzen oder aber sich intensiv auf das Experiment Kunst/Kultur im Dorf einzulassen. Die Gelingensbedingungen erfolgreicher kultureller (Theater-)Arbeit in ländlichen Räumen lassen sich an diversen Praxisbeispielen nachvollziehen. Insbesondere die Soziokultur in ländlichen Räumen blickt hier zurück auf rund vierzig Jahre Erfahrung in der partizipativen Kulturarbeit in ländlichen Räumen.

Da sind z. B. Vera und Peter Henze auf dem Hof Arbste im norddeutschen Niemandsland, irgendwo bei Bremen. Der historische Backsteinhof ist inzwischen nicht nur Wohnort, sondern auch Dorfkulturzentrum. Mit Kund*innen und Mitarbeiter*innen der örtlichen Tafel, Konfirmand*innen der nahegelegenen Kirchengemeinde, Dorfbewohner*innen sowie den Dorfhonoratior*innen spielen sie seit Jahren Theater. Immer wieder ermutigen und befähigen sie das ungewöhnliche Ensemble, das, was die Menschen vor Ort bewegt, auf die Bühne und auf die Straße zu bringen, um so in die Öffentlichkeit hineinzuwirken.28

Im Nordwesten widmet sich die Ländliche Akademie Krummhörn e. V. (LAK) seit fast vierzig Jahren soziokultureller Arbeit in den 19 Dörfern der ländlichen Gemeinde Krummhörn. Auch wenn sich der demografische Wandel in der strukturschwachen Region inzwischen auf Mitgliederschaft und Programm auswirkt, waren noch bis vor wenigen Jahren rund zehn Prozent der Einwohner*innen der Gebietskörperschaft Mitglieder in der LAK. Ein kontinuierliches Angebot in den Bereichen Handwerk, Musik, bildende Kunst, Zirkus, Theater, Tanz und Plattdeutsch wurde von bis zu 800 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen regelmäßig besucht. Darüber hinaus führte der Verein diese Gruppen und andere Akteur*innen aus Breitenkultur, Kirchengemeinden und sonstigen Akteur*innenkonstellationen zu großen Musiktheaterproduktionen zusammen. Ungewöhnliche Orchestrierungen von der Handglocke bis zum Bass-Sound des historischen Lanz-Bulldogs lieferten den Sound für die Theaterwerke, die sich häufig um regionalhistorische Themen mit aktuellem Bezug handelten. Theaterstücke und Orchesterwerke wurden jeweils für die aktuellen Besetzungen geschrieben. Stücke wie das Auswanderermusical Achter de Sünn an – der Weg nach Iowa führte die rund 120 Beteiligten nicht nur zur Beschäftigung mit Flucht- und Auswandererschicksalen und der Frage nach dem Umgang mit alten und neuen „Heimaten“, sondern auch mit einer Gastspielreise bis nach Iowa. Bis heute besteht eine aus dieser Theateraktion entstandene lebendige Gemeindepartnerschaft zwischen der amerikanischen Gastgeber*innengemeinde und der Krummhörn.29

Neben diesen beiden Akteur*innen ließen sich zahlreiche andere Beispiele benennen, in denen partizipative Theaterformate zur Entwicklung ländlicher Räume beitragen und künstlerische Vielfalt mit den Menschen vor Ort entstehen lassen.

Die heute etwa 300 soziokulturellen Akteur*innen in Deutschland, die sich auf gesellschaftsgestaltende Formate in ländlichen Räumen fokussiert haben, sind ebenso vielfältig wie die ländlichen Räume und ihre Sozialgemeinschaften. Die Schnittstellen zur Breitenkultur sind unübersehbar, auch wenn längst nicht überall ein befruchtendes Miteinander gelingt. Positive Beispiele finden sich vor allem dort, wo die Soziokultur als Impulsgeberin und Netzwerkerin auftritt und sich einlässt auf ein gegenseitiges Kennenlernen von Beziehungsgeflechten und Narrativen des ländlichen Aktionsraums. Soziokulturelle Arbeit gelingt dort, wo sich ihre Akteur*innen Zeit nehmen und mit Humor und Ausdauer gemeinsam mit der Breitenkultur und den sonstigen gemeinwesengestaltenden Akteur*innen und Akteur*innenkonstellationen ausgehend von lokalen Lebensweltbezügen Neues erproben. Die Stärke und gleichzeitig auch einer der wesentlichen Unterschiede zur Breitenkultur besteht im Blick von außen auf die Dorfgemeinschaft(en) und deren gesellschaftliche Transformationsprozesse. Soziokultur bringt in ihren partizipativen Projekten und teilhabeorientierten Angeboten Menschen dorf-, generationsund gern auch spartenübergreifend zu gemeinsamer Aktivität zusammen. In soziokulturellen Projekten – nicht nur in ländlichen Räumen – begegnen sich so Akteur*innen, die mit unterschiedlichen Ideen und Lebensweltbezügen spielerisch Neues erproben, Gestaltungskraft entwickeln und Selbstwirksamkeit erfahren. Gute Voraussetzungen für die Entwicklung derjenigen ländlichen Räume, denen es genau daran fehlt.

Die hier versammelten Beschreibungen einer ländlichen Akteur*innenlandschaft sind letztlich nur Ausschnitte aus dem, was Theater im ländlichen Raum ist und sein kann. Nicht betrachtet wurden hier beispielsweise die theatralen Elemente von Brauchtums- und jahreszeitlichen Festen, die Schultheater, aber auch die kirchlich organisierten Theatergruppen, die zwischen Anspiel im Gottesdienst, Krippenspiel und Musical vielerorts eine weitere Facette künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur in ländlichen Räumen darstellen. Was fehlt, ist auch der Rückblick auf die Entstehung ländlicher Theaterkultur als Element der Breitenkultur. Spannend wäre es zudem, in den Blick zu nehmen, wo unterschiedliche künstlerisch-kulturelle Akteur*innen in Kooperationen teilhabeorientierte Formate erproben, die zu zeitgemäßen Narrativen auf dem Land, Blickwechseln und Impulsen zur Gestaltung von Transformationsprozessen führen. Und es bliebe letztlich auch zu fragen, welche Rolle und Verantwortung der Kulturpolitik im Bezug auf die ländliche Theaterarbeit zukommt und mit welchen Maßnahmen die gesellschaftsgestaltenden Impulsgeber*innen sinnvoll unterstützt und nachhaltig begleitet werden könnten.

1Enders, Gisela: „Freilichtbühne Daverden. Zum Wiehern komisch“, in: Achimer Kurier, 12. August 2018, online abrufbar: www.weser-kurier.de/region/achimer-kurier_artikel,-zum-wiehern-komisch-_arid,1757727.html, Zugriff 28. März 2019.

2Stadt Schneverdingen: Stadtmarketingkonzept der Stadt Schneverdingen, Schneverdingen 2012, online abrufbar: www.schneverdingen.de/Portaldata/38/Resources/stadtmarketing/dokumente/5_Stadtmarketingkonzept_der_Stadt_Schneverdingen_2012.pdf, S. 40, Zugriff 14. Oktober 2018.

3Region Wendland: Freie Bühne Wendland, online abrufbar: https://region-wendland.de/sehensw%C3%BCrdigkeit/freie-buehne-wendland, 2018, Zugriff 14. Oktober 2018.

4Vgl. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hrsg.): Nix los in der Provinz? Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen auf dem Lande (= Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Band 3), Berlin 1981.

5Kolland, Dorothea, in: ebd., S. 6.

6Vgl. Brandt, Jan: „Bei uns“, in: Deutsche Bahn AG (Hrsg.): Mobil 10/2018, Hamburg 2018, S. 50–52 und Heferle, Stefan; Hüsler, Eugen E.: Geisterhäuser – verlassene Orte in den Alpen, München 2018.

7Vgl. Schneider, Wolfgang; Kegler, Beate; Koß, Daniela (Hrsg.): Vital Village. Development of Rural Areas as a Challenge for Cultural Policy. Enwicklung ländlicher Räume als kulturpolitische Herausforderung, Hildesheim 2017, S. 357.

8Vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): Willkommen im ländlichen Raum, online abrufbar: www.bmel.de/DE/Laendliche-Raeume/Infografiken/_node.html, 2015, Zugriff 14. Oktober 2018.

9Gemeinde Hinte: Kultur & Freizeit, online abrufbar: www.hinte.de/kultur-freizeit.html, Zugriff 14. Oktober 2018.

10Ebd.

11Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen, Hildesheim 2017.

12Götzky, Doreen; Renz, Thomas: Amateurtheater in Niedersachsen. Eine Studie zu Rahmenbedingungen und Arbeitsweisen von Amateurtheatern, Hildesheim 2014.

13Kegler, Beate: Freilichttheater in Niedersachsen. Studie zur Lage und kulturpolitischen Bedeutung der Freilichtbühnen als breitenkulturelle Akteure, Hildesheim 2018.

14Kegler, Beate: Freilichttheater in Nordrhein-Westfalen. Studie zur Lage und kulturpolitischen Bedeutung der Freilichtbühnen als breitenkulturelle Akteure, Hildesheim 2018.

15Vgl. Endnote 7.

16Kegler, Beate: „Potenzialanalyse/Strukturanalyse. Kulturpolitik und kulturelle Bildung im ländlichen Raum“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Förderpotenziale für die kulturelle Infrastruktur sowie für kulturelle Aktivitäten in ländlichen Räumen. Eine Bestandsaufnahme, Bonn 2015, S. 38.

17O. A.: „Wiederbelebung der Lachmuskeln. Freilichtbühne Bellenberg startet mit Komödie in die Spielzeit“, in: Lippe aktuell, online abrufbar: www.lippeaktuell.de/content/artikel.php?a=355898&menu=lok, Zugriff 14. Oktober 2018.

18Scheytt, Oliver: „Wir brauchen Qualität! Theaterpolitik in öffentlicher Verantwortung“, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Essen, S. 44–50.

19Vgl. Endnote 13.

20Vgl. Endnote 11.

21Schneider, Wolfgang: Festrede zum 125jährigen Jubiläum des BDAT, Berlin 12. Mai 2017.

22O. A.: Gastspiele, online abrufbar: www.theater-massbach.de/index.php?nav=1&kat=j, Zugriff 14. Oktober 2018.

23Vgl. Renz, Thomas: „Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen. Der Forschungsstand zur kulturellen Teilhabe in Deutschland“, in: kubi-online. Wissenstransfer für Kulturelle Bildung, online abrufbar: www.kubi-online.de/artikel/nicht-besucherinnen-oeffentlich-gefoerderter-kulturveranstaltungen-forschungsstand-zur, Zugriff 14. Oktober 2018.

24Renz, Thomas: „Theater in der Provinz – Gastspieltheater als Förderer kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen. Kulturelle Bildung online“, in: kubi-online. Wissenstransfer für Kulturelle Bildung, online abrufbar: www.kubi-online.de/artikel/theater-provinzgastspieltheater-foerderer-kultureller-teilhabe-laendlichen-raeumen, Zugriff 14. Oktober 2018.

25Fischer, Jens: „Ein Theater mit Potenzial“, in: die tageszeitung, 5. Mai 2017.

26O. A.: Theaterwerkstatt Schwäbische Alb. „Schule der Sehnsüchte“ – Ein Winterlinger Stationentheater, online abrufbar: www.landestheatertuebingen.de/Projekte.html?id=127, Zugriff 14. Oktober 2018.

27Die Autorin im Gespräch mit zugezogener Akteurin eines Künstlerkollektivs im ländlichen Raum, 2016.

28Vgl. www.landundkunst.de; vgl. Endnote 7, S. 206f.

29Vgl. www.lak.de.

Thomas Renz

KULTURELLE TEILHABE ALS PROGRAMM

Theaterpolitik für Partizipation

Partizipation und Teilhabe sind gegenwärtig nur selten hinterfragte Ziele kulturpolitischer Aktivitäten. Keine Theaterintendantin und kein Museumsdirektor kommen mehr umher, die Bedeutung des Publikums für die eigene Arbeit hervorzuheben. Auch in ländlichen Räumen stellen sich Theatermacher*innen regelmäßig die Frage, wer denn die eigenen Angebote nutzt und wer nicht. Ob es dabei Unterschiede zur Teilhabe in urbanen Räumen gibt, will dieser Text erörtern. Dies mündet in der Diskussion möglicher theaterpolitischer Konsequenzen für mehr kulturelle Teilhabe als Programm.

Worüber sprechen wir eigentlich, wenn es um Partizipation und Teilhabe geht? Vor allem da diese Phänomene so bemerkenswerte Legitimationsgründe für die Existenz von Kultureinrichtungen darstellen, soll eine erste Differenzierung hilfreich sein, welche die Vielfalt der Dimensionen von Forderungen nach mehr Partizipation deutlich macht.1 Es lassen sich vier unterschiedliche Gründe für ein Streben nach Teilhabe skizzieren.

Legitimatorische Gründe verschaffen einem Phänomen wie beispielsweise einer Kunstsparte oder einer Theaterinszenierung Bedeutung. Dies basiert auf dem Paradigma, dass der Wert einer Entscheidung oder eines Phänomens steigt, wenn mehrere Parteien daran beteiligt sind. Eine solche Argumentation kann auch fundamental für eine Forderung nach kultureller Teilhabe sein. Grundlage ist dabei ein Verständnis von Demokratie, wonach diese ohne Partizipation der Bürger*innen nicht funktioniert. Sind wesentliche Teile von politischen Entscheidungsprozessen systembedingt ausgeschlossen, so wäre das wichtigste Kriterium von Demokratie nicht erfüllt und es würden andere Systeme wie z. B. Oligarchien oder Diktaturen entstehen. Ein demokratisches Gemeinwesen hat also ein Interesse daran, die Strukturen so zu gestalten, dass alle Teilnehmer*innen an systemkonstituierenden Prozessen teilhaben können.2 Auch Hilmar Hoffmann verbindet seine Argumentation in „Kultur für alle“ bereits eng mit diesen Gedanken: Demokratie müsse in allen gesellschaftlichen Subsystemen gelebt werden, sonst könne ein demokratischer Staat nicht funktionieren. Er leitet aus dem demokratischen Prinzip ein „Gebot der Gesetzmäßigkeit“ ab, wonach kulturpolitische Handlungen „möglichst jedem Menschen den organisatorischen Zugang zu und die rezeptive Teilhabe an den verschiedenen Erscheinungsformen von Kunst zu ermöglichen“3 haben.

Ebenfalls wesentliche Grundlage einer solchen „Neuen Kulturpolitik“ ab den 1970er Jahren sind emanzipatorische Gründe für Teilhabe. Jene basieren auf der Annahme, dass Partizipation zur Emanzipation bestimmter Gruppen oder Milieus beiträgt. Emanzipatorische Gründe für Teilhabe finden sich exemplarisch in der Sozial- oder Arbeitspolitik, beispielsweise in der Existenz von Betriebsräten und dem Betriebsverfassungsrecht, das eine Teilhabe von Mitarbeiter*innen eines Betriebs an Unternehmensentscheidungen regelt. In der Kunstproduktion ist diese Dimension nach eher problematischen Versuchen von mehr Mitbestimmung in der Theaterproduktion in den 1970er Jahren4 gegenwärtig beispielsweise in der Existenz von Bürger*innenbühnen festzumachen. Indem die Bürger*innen Teil von künstlerischen Produktionsprozessen im Stadttheater werden, findet auch eine Emanzipation statt.5

Sehr verbreitet sind zudem ökonomische Gründe für Partizipation. Diese gehen von dem betriebswirtschaftlichen Streben nach einer Steigerung der betrieblichen Effizienz aus. Wenn diese z. B. durch Beteiligung der Mitarbeiter*innen erreicht wird, werden – primär durchaus ideologiefrei – Instrumente und Strategien entwickelt, die auf Partizipation setzen. Am populärsten ist dabei im Personalmanagement das „Management by Objectives“, wonach Mitarbeiter*innenführung über gemeinsam vereinbarte Ziele erfolgt und nicht durch hierarchische Anweisungen.6 Auch im Kulturbetrieb sind solche monetär bedingten Gründe für ein Streben nach Partizipation festzustellen. Ganz banal schon in der notwendigen Eigenfinanzierung von Kultureinrichtungen durch Eintrittsgelder.

Schließlich lassen sich auch künstlerische Gründe für die Forderung nach mehr Partizipation benennen. Dabei geht es dann um den Einfluss von Teilhabe auf eine künstlerische Produktion, unabhängig von etwaigen legitimatorischen, emanzipatorischen oder ökonomischen Gründen. Im Theater geht es dann darum, wie sich Partizipation auch im Sinne kollektiver Kreativität auf die Inszenierung oder Aufführung auswirkt. Die Einbeziehung von Laiendarsteller*innen in einer Inszenierung hat eine andere ästhetische Qualität, als wenn diese nur mit professionellen Schauspieler*innen erfolgt. Allerdings sind in dieser Dimension einige Differenzierungen nötig. Die einfachste Form ist Teilhabe in der Theateraufführung durch bloße Anwesenheit. Darüber hinaus haben Besucher*innen klassischer Theatervorstellungen nur bedingte Einflussmöglichkeiten auf die Vorstellung, wie beispielsweise Szenenapplaus, Buh-Rufe oder vorzeitiges Verlassen. Zudem sind jene Aktivitäten im bildungsbürgerlich geprägten Rezeptionsverständnis auch stark normiert, was beispielsweise an der Unart deutlich wird, zwischen einzelnen Sätzen im klassischen Konzert nicht zu klatschen. Bereits mehr Einflussmöglichkeiten haben Zuschauer*innen, wenn diese als aktive Co-Produzent*innen in eine Inszenierung eingeplant werden. Und zwar nicht nur theoretisch im kulturwissenschaftlichen Sinn als Interpret*innen des Textes, sondern aktiv als Mitgestalter*innen. Auf Ebene der Aufführung ist das beispielsweise in der Inszenierung von Ferdinand von Schirachs Terror zu beobachten. Hier entscheiden die Zuschauer*innen in der Pause über den Ausgang des Stücks durch Abstimmung. Auf Ebene der Inszenierung wird diese Rolle als Co-Produzent*in z. B. in der Arbeit von Bürger*innenbühnen deutlich. Die intensivste Ausprägung von künstlerischer Teilhabe liegt allerdings in der Entscheidung über den Spielplan bzw. das zu spielende Stück. Die Zuschauer*innen werden dann zu Intendant*innen, Dramaturg*innen oder Regisseur*innen. Selbstverständlich gibt es in der jüngeren Vergangenheit einige Negativbeispiele, wie beispielsweise unter der Verwendung von Social Media Theater an einer partizipativen Spielplangestaltung gescheitert sind.7 Aber es gibt auch wunderbare Positivbeispiele, wie die Einbeziehung der Zuschauer*innen in solche Grundsatzentscheidungen zu künstlerisch sehr spannenden Ergebnissen führen.

Die Vermessung von Teilhabe