Theatergeschichte - Günther Erken - E-Book

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Günther Erken

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Beschreibung

Das Theater ist im Abendland gleich dreimal erfunden worden: Zum ersten Mal im alten Athen als Darstellungs- und Verhandlungsort einer ganz neuen politischen Lebensform, der Demokratie; zum zweiten Mal in Rom als professionalisierter Kultur- und Unterhaltungsbetrieb; und ein drittes Mal nach mehr als 600 Jahren Spielpause und der kollektiven Theatralität des Spätmittelalters, indem man sich an die antiken Theaterformen erinnerte. Da war der Weg frei für das Schauspieler-Theater der Commedia dell'Arte, für Shakespeare, Molière, Lessing, Goethe; das Theater wurde literatur- würdig und zu einer Kunst, die bis heute alle Sinne und alle Talente zusammenbringt: dramatische Dichtung, die Körperkunst des Schauspiels, die Konzeptkunst der Regie, die bildende Kunst der Bühnen- und Kostümgestaltung und der Theaterarchitektur, die Bühnenmusik. Die reich illustrierte Theatergeschichte des renommierten Theaterwissenschaftlers und -historikers Günther Erken zeichnet diesen imposanten, zweieinhalb Jahrtausende umfassenden Prozess griffig, pointiert und leicht lesbar nach.

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Seitenzahl: 503

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Günther Erken

Theatergeschichte

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Made in Germany 2014

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960616-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010996-0

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Griechisches Theater des 5. Jahrhunderts v. Chr.

Hellenistisches und römisches Theater

Theater im Mittelalter

Theater der italienischen Renaissance

Von der Commedia dell’arte zum Théâtre italien

Englisches Theater der Shakespeare-Zeit

Spanisches Theater des Siglo de oro

Höfisches Festtheater der Renaissance und des Barock

La cour et la ville: Französisches Theater im 17. Jahrhundert

Wege zum bürgerlichen Theater im 17./18. Jahrhundert: Amsterdam, London, Paris

Deutschsprachiges Theater von der Wanderbühne bis Weimar

Wiener Volkstheater bis Raimund und Nestroy

Entwicklungen im europäischen Theater des 19. Jahrhunderts

Theater in der Wende zum 20. Jahrhundert

Westeuropäisches Theater 1918 bis 1945

Russisches Theater der Revolution

Europäisches Theater nach 1945

Zum Theater der Gegenwart

Weiterführende Literatur

Abbildungsnachweise

Personenregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Vorwort

Dieses Buch versucht knapp in die Geschichte des europäischen Theaters einzuführen, indem es einen Überblick gibt. Das geschieht in der Überzeugung, dass ein Überblick einen Informations- und Verstehensprozess in allen Phasen begleiten sollte, ihn nicht nur abschließen. Er bietet immer nur ein vorläufiges Fazit, erinnert aber dringlicher als Einzelstudien an die Ausgangsfragen und das Wozu.

Theater begegnet uns überaus vielfältig, auch wenn man seinen engsten Begriff zugrunde legt. Es zeigt sich als Kunst und Handwerk, Ereignis und Institution, entwerfende und klassifizierende Theorie, soziales und politisches Anliegen und Faktum etc. Keine Darstellung kann all diese Aspekte schlüssig verbinden. Eine Erzählung wäre denkbar, die Geschichte in Geschichten fasst. Hier sei, der Wissenschaft näher, ein Bericht versucht, der aus der langen Theatergeschichte jene Situationen, Vorgänge und Stationen herausgreift, die die europäischen Theatertraditionen besonders geprägt haben. Ein Bericht, der sich vorrangig damit befasst, wie Theater­epochen beginnen. Das jeweils Neue, die Veränderung interessiert.

Er richtet sich also eher an Leser als an nachschlagende Benutzer. An Studierende aller Geisteswissenschaften, an Theaterleute, Theatergänger, kulturell Affizierte. Ihnen möchte er ihre zweifellos vorhandene historische Neugier lohnen durch die eine oder andere Einsicht, wie das heutige Theater mit dem alten zusammenhängt. Ein Bericht somit, der Geschichte als Vorgeschichte der Gegenwart versteht und dem Vergangenen dennoch seine Fremdheit belässt. Historizität als Irritation oder Ferment eines Gegenwartsverständnisses, das so vielleicht auch das Heute als historisch und somit wandelbar, veränderbar begreift.

Allerdings ist zu bedenken, dass »Theater« nicht zu allen Zeiten genau dasselbe bezeichnet und es hier auch keine Entwicklungen gibt, die auf ein Ziel zulaufen. Die Kategorien von Entstehung, Reife und Verfall lassen sich zwar an technische Prozesse herantragen, in der rationalen Stufenfolge von Erfindung, Perfektionierung und Veraltung. Theater generell aber »entwickelt sich nicht, es wandelt sich nur« (Andreas Kotte).

Auch dieser Versuch einer Theatergeschichte kann nur auswählen, was am meisten beachtenswert ist. Hier geht es um die signifikantesten, frühesten und nachhaltigsten Wandlungen und Innovationsschübe einer übernational betrachteten Geschichte, die dennoch oft im nationalen Rahmen dargestellt werden muss. Das deutsche Theater europäisch zu gewichten könnte ein Reiz am Rande sein.

Inwieweit soll die Dramatik einbezogen werden? Das wird heute wieder gefragt. Eine unnötige Polarisierung. Hier soll gerade diese Zweieinheit gelten: dass Theater und Drama einander begründen, bedingen und zur Entfaltung bringen. Das meint nicht »literarisches Theater«, als Gegensatz zum derzeit favorisierten »Körpertheater«, sondern einfach Theater, das Werke/Texte verwendet und damit eine spezielle Semantik vorgibt, wie immer die Bühne damit umgeht und einen eigenen Sinn behauptet. Diesem Theater gilt die Darstellung, wobei die Dramatik kaum einer besonderen Vorstellung bedarf und hier nur als geistiger Bezugspunkt der Spielpraxis Aufmerksamkeit fordert. Das Interesse an historischem Theater geht ja oft von Stücken aus, Grund genug, keine unnötigen Grenzen zu ziehen, die evidenten anzuerkennen und – zu überschreiten.

Eine zweite Vorentscheidung hängt damit zusammen: Von der »Theatralität« unzähliger Kultur- und Lebensphänomene, die neuerdings mitbedacht wird, sieht diese Darstellung ab. Um proto- und paratheatralische Erscheinungen, um theaternahes Brauchtum und Jahrmarktsattraktionen oder bloßes Entertainment kann sich eine bewusst kurzgefasste Theatergeschichte kaum kümmern, sosehr jene das Theaterleben begleiten, seine Motive teilen und es neu beleuchten mögen.

Wünschenswerter wäre es, das musikalische Theater und den Bühnentanz angemessen zu berücksichtigen. Eine integrale Theaterhistoriographie existiert jedoch noch nicht. Sie wird nicht einmal dezidiert gefordert. Geschichtsdarstellungen des Musiktheaters konzentrieren sich meist auf Werk- und Gattungshistorie. Das entspräche einer Literaturgeschichte des Schauspiels. Theater als Anlass, Rahmen, Beweggrund und »Schicksal« der Oper bleibt marginal. Als man im 18. Jahrhundert begann, Theatergeschichte systematischer zu erkunden, war das Spartendenken bei aller Kooperation schon weit fortgeschritten. Schauspiel und Oper unterlagen sogar gegensätzlichen Interessen. Noch immer fehlt es an Konzepten der Zusammenführung, an gegenseitiger Wahrnehmung, Handreichung und kulturpolitischer Anerkennung. Und gewiss auch an Kenntnis.

Schließlich ist an ein altbekanntes Dilemma zu erinnern: Theater als Schauspielkunst kann, als »in ihren Werken transitorisch« (Lessing), nicht überliefert, wiedererlebt und beweiskräftig dargelegt werden. Sie ist nur aus Indizien vage zu bestimmen. Eine Kunstgeschichte des Theaters bleibt ohne Evidenzen. So müssen kultur-, funktions- und ideengeschichtliche Kommentare versuchen, eine Werterfahrung zu vermitteln, die für die verlorene Kunst einsteht.

Zuletzt: Der Verfasser hat eine 1985 veröffentlichte Skizze der europäischen Thea­tergeschichte, die – in einem mit Hans Peter Doll verfassten Band Theater des Belser Verlags – seit langem vergriffen ist, wiederaufgenommen und ausgearbeitet. Was die vorliegende, nicht minder fragmentarische Fassung von dem alten Versuch unterscheidet, verdankt sie einem Vierteljahrhundert reicher internationaler theaterhistorischer Forschung, die in knapper Auswahl, insoweit sie als Einstiegsliteratur zum weiteren Studium oder Hinterfragen einlädt, am Ende des Buches genannt ist.

Respektvoller Dank schließlich dem so selbstverständlichen optimalen Service der Bayerischen Staatsbibliothek München. Und der kritischen Hilfe von Anita Erken und der Förderung durch Thomas Koebner.

Griechisches Theater des 5. Jahrhunderts v. Chr.

Unsere Theatertradition beginnt im antiken Athen. Hier kamen erstmals die wesentlichen Faktoren zusammen, die Theater als gesellschaftliche Einrichtung begründeten. Das Theater, das damals entstand, hat für das nachfolgende europäische Theater definitorische Bedeutung, ohne dieses auszudefinieren. Es stand zwar noch in einem kultischen Rahmen, beanspruchte aber zugleich politische und künstlerische Geltung. Es stiftete Öffentlichkeit und diente der geistigen Auseinandersetzung. Die Polis, jenes verfassungsstaatliche Gemeinwesen, das die Königs- und Adelsherrschaften der Alten Welt ablöste, vergewisserte sich im Theater ihrer Lebensgrund­lagen.

Das erste abendländische Theater entstand zugleich mit der ersten Demokratie der Weltgeschichte. Dass auch sogenannte Tyrannen an seiner Wiege standen, Periander in Korinth, Kleisthenes in Sikyon, Peisistratos in Athen, widerspricht dem nicht, waren doch gerade sie, wenn auch ungewollt, Geburtshelfer der neuen politischen Lebensform. Erweiterte die demokratische Polis den Handlungsspielraum ihrer Bürger und machte Politik zu ihrer zentralen Beschäftigung, so musste auch das Theater ein Organ des Politischen sein, musste teilnehmen am öffentlichen Disput über die Polis-Probleme, ihre Wertorientierungen prüfen und fördern. Der erste Ort theatralischer Darstellung war im Athen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts denn auch die Agora, die kultisches Zentrum, politische Versammlungsstätte und Markt in einem war. (Die römische Bezeichnung Forum vermittelt uns noch etwas von der Bedeutungsfülle des antiken Hauptplatzes.) Erst um die Wende zum 5. Jahrhundert, so vermutet man, haben die Aufführungen ein eigenes Theater am Südhang der ­Akropolis erhalten.

Sosehr die Institution Theater der Volksversammlung nahekam, so fest blieb sie andererseits dem Kult verbunden. Politik und Religion waren ja keine Gegensätze. Es waren sozialpolitische Beweggründe, aus denen heraus Peisistratos einen speziellen Kult neu organisierte: den des Dionysos. Dieser Gott gehörte, der älteren Forschung zufolge, nicht zu den altetablierten wie etwa Zeus, Demeter und Poseidon; sein Kult habe sich erst spät bei den Griechen verbreitet, und dies vor allem bei den niederen Volksschichten und der Landbevölkerung, auf die sich der Tyrann Peisi­stratos stützte. Das wird jedoch neuerdings relativiert: Dionysos sei kein eingewanderter Gott, wie die Handlung der Bakchen des Euripides nahelegen könnte, sondern von alters her, z. B. in mykenischen Inschriften, bezeugt. Er habe auch keine besondere Affinität zum einfachen Volk, und Peisistratos habe andere Kulte ebenso gefördert.

Die altgriechische Redensart »Was hat dies mit Dionysos zu tun?« spielte darauf an, dass der Gott offensichtlich nicht die erwartete dominierende Rolle in den Theaterstücken spielte. In den überlieferten Stücken kommt er jedenfalls nicht häufig vor, und wo er angerufen wird oder auftritt, bleibt sein Bild widersprüchlich. Das verweist auf seine Haupteigenschaft, eine extreme Ambivalenz. Sein Kult enthielt Züge des Rauschhaften, der Ekstase und des Schreckens, stiftete aber auch in besonderem Maße Gemeinschaften, Feierfreude und Versöhnung. Ungewöhnlich, dass er sein Fest selbst mit den Menschen mitfeierte, wie es auf Bildzeugnissen dargestellt ist. Sogar die Hoffnung auf ein Leben im Jenseits konnte sich mit ihm verbinden.

Athen: Dionysos-Theater, Akropolis, Stadtzentrum [1]

Gruppentanz zur Musik des oboen-ähnlichen Doppel-Aulos und die Verwendung von Masken waren wesentliche Elemente seines Kults, welche die Anbindung des Theaters an ihn begünstigt, ja nahegelegt haben mochten. Jedenfalls führte Peisistratos um das Jahr 534 v. Chr. in die Städtischen oder Großen Dionysien – es gab in Attika noch andere Staatsfeste zu Ehren des Dionysos – den Tragödienwettkampf ein. Der legendäre Thespis gewann dabei einen Preis.

Wir stoßen hier neben dem politischen und kultischen auf ein drittes Moment des frühen antiken Theaters, das für die ganze griechische Welt typisch war: den Agon (Wettstreit). Wie die Olympischen Spiele, so beruhten auch die Athener dramatischen Festspiele auf dem agonalen Prinzip. Musische Wettkämpfe wie den der Rhapsoden, die die homerischen Epen vortrugen, gab es bereits, und das Wettsingen der Dithyramben-Chöre, der dionysischen Kultlieder, aus denen die Tragödie entstanden sein soll, blieb noch lange mit den Dionysien verbunden.

Im Theater-Agon des 5. Jahrhunderts traten drei Dramatiker und Produktionsgruppen mit je drei Tragödien und je einem Satyrspiel (anfangs häufig Tetralogien) gegeneinander an, seit 486 bewarben sich außerdem fünf Autoren mit je einer Komödie um Preise, die eine Jury nach einem ausgeklügelt objektiven Verfahren vergab. So war das Theater in dreifacher Hinsicht ein Gemeinschaftserlebnis, im religiösen Vollzug, in der politischen Selbstdarstellung und Rechenschaft und im Appell an ein musisches Urteil. Es war kultische Handlung, staatliche Feier und künstlerische Leistungsschau in einem.

Wichtigstes und ältestes Organ des Theaters war der Chor, nach dem oft die Stücke benannt wurden. Er agierte im Zentrum, auf der Orchestra (was ›Tanzplatz‹ heißt), und war vom Einzugs- bis zum Auszugslied gegenwärtig, bei allem Funktionswechsel eine innerdramatische Öffentlichkeit, solange das Spiel dauerte.

In den gesungenen Chorpartien der Tragödien werden oft Mythen rekapituliert, so wie im Dithyrambos, der in später (spärlich überlieferter) literarischer Gestalt eine Art mythologischer Ballade war. Das macht es plausibel, wenn Aristoteles in seiner Poetik die Tragödie aus jener Gattung herleitet. Es soll Thespis gewesen sein, der dem Chor zum erstenmal einen »Antworter« oder »Ausleger« (Hypokrites) gegenüberstellte, einen dramatischen Sprecher, nicht oratorischen Vorsänger. Damit gab es die Rolle des Protagonisten und ein dialogisches Prinzip. Aischylos entwickelte die Konfiguration weiter und führte den zweiten Schauspieler, oft als berichtenden Boten, ein, Sophokles den dritten, welche Errungenschaft wiederum Aischylos in seinen letzten Werken übernahm. Bei dieser Zahl blieb es, aus welchen Gründen auch immer. (Vielleicht ging es auch hier um den agonalen Reiz, eine dramaturgische Schwierigkeit zu überwinden.) Die Erweiterung des Personals vergrößerte das Gewicht der Handelnden gegenüber dem primär reflektierenden Chor und machte den Ablauf beweglicher. Denn nun konnten die jeweils abgegangenen Schauspieler sich umkleiden und in anderen Rollen wiederauftreten, also neue einführen oder alte weiterführen, gelegentlich sogar die eines Kollegen übernehmen.

Diese theatralische Bereicherung, die zwei Stilbereiche kombinierte, die musikalische Chorlyrik und den gesprochenen Dialog, ist aber nicht gleichzusetzen mit einer allzu modern verstandenen »Dramatisierung«. Das von Aristoteles charakterisierte Drama entspricht kaum dem von Brecht als »aristotelisch« bezeichneten dramatischen Theater (als Gegensatz zu seinem »epischen«). In DiePerser des Aischylos, als ältestes erhaltenes (472) keineswegs ein primitives oder Anfänger-Stück, spielen die zwei Schauspieler vier Rollen, die weitgehend nichtdramatische Reden führen (Traumerzählung, Botenbericht, Prophetie), und der Chor bedient sich vorwiegend der aus dem Schiffskatalog der Ilias bekannten »Katalogdichtung« – wie der dreimaligen detaillierten Truppenschilderung mit ihrer Magie der bloßen Namen – oder der rituellen Formen der Klage und Totenbeschwörung. Soll man das »prädramatisch« nennen? Diese Bezeichnung erscheint auch nicht gerade glücklich, weil sie eine naturgesetzliche Entwicklung über das Dramatische, etwa Shakespeares, bis hin zum »Postdramatischen« suggeriert und so eine Bewertung aus bloßem Systemzwang nahelegt.

Die Dramaturgie der überlieferten Tragödien ist häufig stringent, zügig, zielorientiert und ebenso oft umwegig, sprunghaft, zerklüftet. Letzterer Eindruck wird verstärkt durch den Chor, dessen wichtige Rolle übersehen wird, wenn die Erwartung ganz auf die dramatische Narration gerichtet ist. Die Bedeutung des Chors brauchte vom klassisch-antiken Theater nicht eigens exponiert und erspielt zu werden, sie gehörte zur Voraussetzung, wie Chorisches ja überhaupt ein wesentlicher Bestandteil der damaligen Festkultur war. Diese Erfahrung fehlt uns Mitteleuropäern heute zum Verständnis.

Der Chor ist in der griechischen Tragödie und Alten Komödie ein kostbares, vielseitig verwendetes Gestaltungsmedium, durch seinen Gruppencharakter und sein Spiel von den anderen Rollen geschieden, in wechselnden Funktionen am Bühnengeschehen passiv teilnehmend, doch nie als Person darin aufgehend. Er vermittelt zwischen dem Dargestellten und dem Publikum (nicht ganz konstant in seiner Haltung), er markiert Kontraste, verdeutlicht Konflikte, versprachlicht Probleme, weist auf Parallelen und Normen hin und steuert insgesamt die Aufmerksamkeit der Zuschauer. So ist er eine komplexe Aufgabe für jede Interpretation und kein tradi­tionelles kultisches Relikt. Im 20. Jahrhundert ist er, auch außerhalb von Antiken-Inszenierungen, als ein effektives Theatermittel wiedererweckt worden.

Thematisch sind DiePerser als letztes bekanntes Zeitstück eine Ausnahme. Die entscheidende Seeschlacht bei Salamis (480), die das Abendland endgültig vor der persischen Invasion rettete und bei der Aischylos selbst mitkämpfte, wird nicht als Sieg der Griechen – keiner wird namentlich genannt –, sondern als Katastrophe der Perser dargestellt, wenn auch nach griechischen Kriterien und integriert in eine religiöse Sicht dieser historischen Wende. Mit einigem Recht hat man dies als Mythisierung des zeitgeschichtlichen Stoffes bezeichnet. Umgekehrt wurden die allbekannten Helden- und Göttergeschichten, die fast allen Tragödien stofflich zugrunde liegen, nicht bloß szenisch erinnert und wiederholt, sondern nach ihrer Gegenwartsbedeutung befragt, umgeformt und neu gedeutet, auch dies im Wettstreit der Autoren untereinander, wie sich leicht an den erhaltenen Orest/Elektra-Versionen ablesen lässt.

Dabei machte das tragische Theater, indem es die Selbsterfahrung des Menschen als leidendes Opfer sinnlich wahrnehmbar herausstellte, den Mythos zum Problem und zog den Wert der mythischen Ordnung in Zweifel. Dass die Tragödie des 5. Jahrhunderts keine mythologische Agentur war, sondern im Gegenteil eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Mythos für die eigene Zeit leistete, sollte zur Hauptschwierigkeit seiner späteren Rezeption und Deutung werden.

Am offensichtlichsten bezog Aischylos in den Eumeniden, dem Schlussteil der Orestie (458), seine Stoffvorgabe, die Atriden-Sage, auf die aktuelle Situation Athens. Nach unserem Zeitgefühl ›springt‹ er geradezu aus der Prähistorie in die Gegenwart, wenn er die Göttin Athene ein öffentliches Gericht attischer Bürger einsetzen lässt, den Areopag, der über den Fall des Muttermörders Orest entscheiden soll. Er behandelt damit symbolisch nichts Geringeres als die Geburt der Polis, das heißt einen Rechtswandel, der Stammesbrauch durch Staatsdenken ersetzt. Die besondere Aktualität lag darin, dass vier Jahre zuvor die radikalen Demokraten ebendiesen alten Adelsrat politisch entmachtet und auf die Blutgerichtsbarkeit beschränkt hatten. Wenn am Ende die Rachegeister, die Erinyen, umgestimmt werden zu hilfreichen Stadtgottheiten, den Eumeniden, und Athene deren Kult stiftet, so kehrt auch das nicht einfach zum Mythos zurück, sondern zeigt, wie seine Entstehung gedacht werden kann; es historisiert eine geltende Norm.

Weniger direkt, aber ebenfalls deutlich verknüpfte Sophokles, der im öffentlichen Leben eine bedeutende Rolle spielte, den Mythos mit der Gegenwart. Die Heroen der homerischen Welt verlieren auf der Bühne der Zeit ihren Nimbus und den vertrauten Partnerstatus zu den Göttern. Beim neuen Abgleich mit den Schicksalsinstanzen treten Irritationen, Missverhältnisse und Brüche auf, die aber nicht ohne weiteres als Indizien eines Glaubenswandels zu verstehen sind. Der Titelheld der schon im Altertum berühmtesten Tragödie König Ödipus (Oidipus tyrannos) erscheint uns als weder königlich noch tyrannisch, aber – will man überhaupt charakterologisch urteilen – als egoman und dennoch unfähig, sich selbst zu erkennen, wissbegierig und dennoch blind, gottesfürchtig und dennoch allzu wenig an Orakeln orientiert. Dafür wird er von Apollo derart geschlagen, wie man es seit Jahrhunderten für unangemessen hält. Ist es jedoch dafür? Die solcherart gestellte Frage nach der Schuld der Menschen und Gerechtigkeit der Götter mag uns als heutige Rezipienten bewegen, für die antike Tragödie erbringt sie nichts. Der Mythos zeigt zwar menschliche Katastrophen oft als durch Götter bewirkt, manchmal auch als »Strafe« – so deutet es dieser oder jener – für geringer eingeschätzten Frevel. Im Extremfall des Ödipus ist es anders: Apollo prophezeit nur, was dann tatsächlich eintritt. Aufreizend ist allerdings das bis ins kleinste Detail ironische Verfahren des Sophokles, auf welche Art der Heros seiner tragischen Existenz innewird. Die Virtuosität dieser analytischen Dramaturgie hat schon Aristoteles zu höchstem Lob hingerissen.

Für Euripides ist der überlieferte Sinn des Mythos kaum mehr verbindlich. Die Götter agieren zwar mehr denn je auf der Bühne, wirken aber weitgehend destruktiv und da, wo sie Konflikte am Ende zu lösen meinen, seltsam unzuständig. Manche Mytheme nähern sich der literarischen Fiktion. Das scheint der Religionskritik der modisch gewordenen Athener Philosophen- und Rhetoren-Schule der Sophisten im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts Raum zu geben, ist aber ihr entschiedenes Gegenteil. Das Theater des Euripides behauptet weiterhin die tragische Weltsicht. Was ihn von Aischylos und auch von Sophokles unterscheidet, ist die realistisch-skeptische bis äußerst pessimistische Sicht auf die Verfallserscheinungen der Polis am Ende des langen Kriegs gegen Sparta, die politische Kriminalität, menschliche Dummheit und Schäbigkeit, die er mit in den Blick nimmt, wenn er vom mythisch Verbürgten handelt.

Dem entspricht die dramaturgische Einführung der Intrige, die auch der späte Sophokles ansatzweise übernimmt (Philoktet), und die Verstärkung der Ironie in Handlung und Dialog. Sogar komische Züge begegnen in tragischem Zusammenhang. Alles zusammen bezeugt in paradoxer Zuspitzung, unerbaulicher Härte und großartiger künstlerischer Vollendung – als gleichsam dreifacher Gabe des Dionysos – die letzte erhaltene griechische Tragödie Die Bakchen (405 postum uraufgeführt). Ihre »modern« anmutende tragische Konsequenz war vorzüglich geeignet, die theatrale Wiederentdeckung des Euripides in den 1960er Jahren mit anzustoßen.

Eng verbunden mit der Tragödie durch den gleichen Entstehungsumkreis und dieselben Autoren war das heitere Satyrspiel, im Dramen-Agon das Nachspiel zu den drei Tragödien, aber nicht deren Parodie. Hier gerieten Helden und Götter an den Chor der Satyrn, der lächerlichen Begleiter des Dionysos mit ihren Pferdeohren und -schwänzen und dem Lederphallos. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts erschöpfte sich die Gattung, von der nur ein einziges Stück vollständig erhalten ist, der Zyklop des Euripides. Schon 438 konnte Euripides seine Alkestis an die Stelle des Satyrspiels setzen, die allerdings mit dem trunkenen Herakles noch an das Genre erinnert. Im Hellenismus war das Satyrspiel wieder beliebt, die Römer haben es nicht übernommen, aber genügend Ersatz dafür gefunden.

Die Komödie hatte andere Verfasser und eine andere Vorgeschichte. Sie kam von Fruchtbarkeitsriten her und behielt lange den Phallos im männlichen Kostüm bei. Die Figuren waren an Bauch und Gesäß grotesk ausgestopft. Komödien wurden bevorzugt an den Lenäen aufgeführt, den älteren und stärker orgiastischen Kultfesten, die von den Athenern im Januar/Februar, wo die Seefahrt noch ruhte, ohne große Beteiligung von auswärtigen Besuchern gefeiert wurden. Obwohl also möglicherweise die ältere Gattung, ist uns die Komödie erst ein halbes Jahrhundert nach der ersten Tragödie literarisch überliefert, in der hochentwickelten Form des Aristophanes (seit 425), aber immer noch von unbändiger Vitalität. Hier tritt bei allem Überschwang an Witz und Laune und aller Phantastik das zeitgenössische Alltagsleben deutlich in Erscheinung, werden politische Missstände beim Namen genannt, spricht sich die Friedenssehnsucht vieler Bürger im Peloponnesischen Krieg aus. Scharfe Satire und eine Fülle von Anspielungen kennzeichnen den unmittelbaren konkreten Publikumskontakt. In einem besonderen Formabschnitt, der Parabase, nahm sich der Chor sogar die Freiheit, völlig aus der Handlungsfiktion herauszutreten und die Zuschauer direkt anzusprechen. Das populäre Genre konnte sich auch Mythentravestien und literaturkritische Ausfälle gegen die Tragödie leisten – besonders der geistesverwandte Euripides wurde von Aristophanes mit Hohn und Spott verfolgt –, wobei die vielen Zitate zeigen, wie geläufig die Werke mittlerweile auch durch Möglichkeiten der Lektüre gewesen sein müssen.

Leider besitzen wir heute nur noch einen kleinen Bruchteil der antiken Dramatik. Allein aus dem 5. Jahrhundert kennen wir die Namen von 46 Autoren und mehrere hundert Titel von Stücken. Aufgeführt wurden wohl weit über tausend. Erhalten haben sich jedoch nur sieben des Aischylos von etwa 80–90, sieben des Sophokles von über 120, achtzehn des Euripides von etwa 90 und elf des Aristophanes von ca. 44. Dazu kommen aus der späteren, quantitativ steigenden Produktion in Griechenland nur noch einige fragmentarisch erhaltene Komödien des Menander, von über 100, und eine Tragödie (Rhesos), die ihre Überlieferung der (falschen) Zuweisung zum Werk des Euripides verdankt. Was an Texten auf uns gekommen ist, hat allerdings nicht nur der Zufall bestimmt, sondern auch die frühe Vorbildwirkung gerade dieser Autoren. So wurden zum Beispiel von allen Stücken der drei großen Tragiker (und nur von diesen) schon um 330 v. Chr. im Athener Staatsarchiv Musterabschriften hinterlegt, die ihren authentischen Wortlaut vor den Eingriffen der Theaterleute sichern und für künftige Aufführungen verbindlich machen sollten. Zwei Generationen später begann die hellenistische Literaturwissenschaft im ägyptischen Alexandria sich ihrer anzunehmen. Es entstanden ab 200 v. Chr. kommentierte kritische Sammelausgaben. Dazu hatte man sich jene Mustertexte aus Athen gegen eine hohe Kaution ausgeliehen; zurückerstattet wurden nur Kopien.

Im Wechselspiel von Auswahl und Kanonisierung (für den Schulgebrauch?) schrumpfte dieser Bestand dann mehr und mehr zusammen. Er verringerte sich ein weiteresmal in den byzantinischen Abschriften des Frühmittelalters, die zumeist im 15. Jahrhundert nach Italien gelangten, wo man die übriggebliebenen Stücke kurz nach 1500 druckte. Von den früh ausgemusterten kam später noch einiges durch ägyptische Papyrusfunde ans Licht.

Das literarisch so kostbar Gewordene war ursprünglich für eine einzige Theatervorstellung geschrieben. Im Dionysostheater von Athen gab es über ein Jahrhundert lang nur Uraufführungen; Wiederaufführungen sind erst ab 386 bezeugt. Nur für Aischylos beschloss die Volksversammlung nach seinem Tod eine Ausnahme, und 405 wiederholte man die Frösche. Die Dichter waren zugleich ihre Regisseure und anfangs auch Schauspieler. Als Sophokles allerdings die Erfahrung machen musste, dass seine Stimme nicht genügend trug, gab er das Spielen auf; Aristophanes ließ sich auch beim Inszenieren ablösen.

Mitwirkende eines Satyrspiels. Rotfigurige Vasenmalerei auf dem 75 cm hohen Pronomos-Volutenkrater aus Ruvo in Apulien (um 400 v. Chr.; Ausschnitt).

In der unteren Reihe sitzt links der Dichter Demetrios mit einer Schriftrolle in der Hand. Vor ihm tanzt ein Satyr auf Fußspitze, der einzige Choreut mit aufgesetzter Maske. Einen Ehrensitz nimmt in reichem Kleid der Doppelflöten-Spieler ein; die fast durchgehende Beschriftung weist ihn als den bekannten Pronomos aus. Ihm zugewandt der Lyra-Spieler, nur mit kurzem Mantel. Im Zentrum der oberen Reihe: Dionysos und Ariadne, auf der Kline mit Fußbank hingelagert – ohne Maske; ein Weinstock signalisiert die reale Präsenz. Mit auf der Kline sitzend eine weibliche, wohl auch mythische Figur oder Personifikation mit weiblicher Maske; ein Erote befasst sich mit ihr. Es folgen die Schauspieler des Herakles und des Papposilenos, des »Großvaters« der Satyrn (vergrößert als Farbbild 2). Wie ein weiterer, unbenannter Schauspieler (links) tragen beide ihr Bühnenkostüm: Herakles reichgeschmückt und mit seinen Attributen Keule und Löwenfell, der Papposilen mit zotteligem Ganzkörpertrikot, einem Stab und ebenfalls einem Fell über der Schulter [2]

Die Theaterarbeit war bald vielfach aufgeteilt und komplex organisiert. Verantwortlich für die Städtischen Dionysien war der höchste politische Staatsbeamte, der auf ein Jahr gewählte ArchonEponymos. Er wählte die Autoren aus, bestellte für jeden einen Produzenten (Choregen) und verpflichtete und bezahlte die Hauptdarsteller. Als Choregen kamen nur Bürger in Frage, die reich genug waren, einen Chor von 12, später 15 Männern in der Tragödie beziehungsweise 24 in der Komödie (die Choreuten), die Musiker, allenfalls auch Nebenchöre, Statisten und technische Helfer zu honorieren und zu verköstigen und für die gesamte Ausstattung und passende Probenräume aufzukommen. Es war für die Wohlhabenden eine Art ehrenvoller Besteuerung und für politisch Ambitionierte eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Themistokles, Perikles, Nikias, Alkibiades haben diese Gelegenheit wahrgenommen. Bei der Zuerkennung der Preise wurden die Choregen zuerst genannt. Erst Mitte des 4. Jahrhunderts mussten die Produzenten zwangsverpflichtet werden, bis schließlich seit etwa 315 die Staatskasse einsprang.

Wie liefen die Großen Dionysien ab? Bevor die Feiertage Ende März / Anfang April begannen, wurden die Beteiligten und ihre Stücke öffentlich vorgestellt (seit 444 im Odeion des Perikles neben dem Theater) und das Kultbild des Dionysos aus einem Tempel außerhalb der Stadt ins Theaterareal eingeholt. Den ersten Tag eröffnete die spektakuläre Opferprozession. Im Theater, in dem Sitzplätze wohl Eintritt kosteten, folgten politische Erklärungen und Ehrungen, die Tributübergabe der Gesandten des Attischen Seebunds und dann der Dithyramben-Agon der Männer- und Knabenchöre aus den zehn attischen Bezirken. Am zweiten Tag wurden nach dem Opfer die fünf Komödien aufgeführt. Die nächsten drei Tage gehörten jeweils einem Dichter mit vier Inszenierungen; Chöre und Schauspieler hatten also jeweils vier Stücke hintereinander zu bewältigen. Nach Nennung der Jury und Bekanntgabe der Sieger, die in Listen (Didaskalien) protokolliert wurden, fand noch eine Volksversammlung statt, bei der man die Veranstaltungen kritisch besprach.

Es war ein Theaterfest mit großer Volksbeteiligung, innerer und äußerer. Allerdings muss der Begriff »Volk« in der attischen Demokratie eingeschränkt werden auf die männlichen Vollbürger. Man schätzt sie auf etwa 25 000 – 40 000. Die zugezogenen Fremden und die Frauen hatten nur begrenzte Teilnahmerechte, die Sklaven, die über ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, gar keine. Bei der hohen Zahl der Mitwirkenden – allein beim Wettgesang des ersten Tages müssen es 1000 gewesen sein, bei den Aufführungen mindestens 350 Spieler – waren sicher auch viele der Zuschauer schon einmal im Theater aktiv gewesen. Das Publikum professionalisierte sich ebenso, wie sich unter den Darstellern Spezialisten herausbildeten. Seit 449 wetteiferten auch die tragischen Protagonisten um einen Schauspielerpreis.

Alle Frauenrollen wurden im antiken griechischen Theater von Männern gespielt, also auch die weiblichen Chöre und Hauptfiguren eines Euripides oder Aristophanes. Berücksichtigt man ferner, dass bestimmte Figuren bei Mehrfachauftritten von verschiedenen Schauspielern dargestellt werden konnten, so wird man sich die Spielweise zumindest nicht realistisch charakterisierend vorstellen, aber hoffentlich auch nicht so pompös und deklamatorisch, wie sie lange unsere konventionelle Bettlaken-Antike geprägt hat. Über den Inszenierungsstil wissen wir so gut wie nichts. Wir können uns nur an wenige Indizien halten, zum Beispiel an die nur von Philologen ganz zu ermessende Differenziertheit der Versmaße, die uns vor allem an die musikalische und choreographische Bedeutsamkeit erinnert. Ansonsten gilt es davor zu warnen, Bildzeugnisse der Spätzeit auf die Zeit eines Sophokles rückzubeziehen.

Alle Schauspieler der klassischen Zeit trugen Leinenmasken, die zusammen mit den Perücken den ganzen Kopf bedeckten. Die aus Wandgemälden und Reliefs bekannten Masken mit dem starren Schreckensausdruck, dem weitgeöffneten Mundloch, den verschatteten Augen und dem hohen bogenförmigen Haaraufsatz gehören erst einem späten, hellenistischen Typ an. Er war ganz auf Fernwirkung bedacht. Die Masken der griechischen Klassik dürften nicht so demonstrativ zeichenhaft gewesen sein. Die Tragöden hatten lange, Arme und Beine vollständig umhüllende Gewänder an, so dass sie mit einem relativ einfachen Kostüm- und Maskenwechsel in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen konnten. Der Kothurn (›Stiefel‹) bekam erst im 3. Jahrhundert eine dickere Sohle und wurde erst in der römischen Kaiserzeit der stelzenartige Klotz, den wir für gewöhnlich damit verbinden. Man hat auch diese Theatralisierung mit einem Wandel der hellenistischen Bühne erklärt, der Verlegung des Spielorts auf eine hohe, dem Zuschauer fernergerückte Plattform hinter der Orchestra.

Das Theater von Epidauros, nahe dem weltberühmten Heilbad. Erbaut kurz nach 300 v. Chr., fasste es nach der Erweiterung um den oberen Rang (zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) etwa 14 000 Zuschauer. Ausgegraben wurde es 1881. Das Foto aus den frühen Fünfzigerjahren zeigt den Zustand vor Beginn der alljährlichen Festspiele; der verfallene Flügel des Koilons wurde dafür restauriert. Die Abbildung marginalisiert die Skene und das Proskenion, von denen nur die Grundmauern erhalten sind, und betont die Zentrierung auf die makellose kreisrunde Orchestra, die unser Theaterbild von der Antike so stark geprägt hat [3]

An den Theateranlagen orientiert sich zuallererst, wer eine Vorstellung von Aufführungen im 5. Jahrhundert gewinnen will. Ihre Größe und Offenheit, ihre Einbettung in die Natur, oft mit dem Blick aufs Meer, das der Seemacht Athen so viel bedeutete, das Miteinander der vielen tausend Zuschauer im breit flankierenden Theatron (›Schauanlage‹), ihr umfassender Sichtkontakt, die Ausrichtung aller Kommunikation auf die Orchestra inmitten der Menge – das waren Spielbedingungen, die viele spätere Epochen bei ihrer Suche nach der »Einheit« von Bühne und Publikum zum Ideal erhoben und baulich nachgeahmt haben.

Das Theatron und die Orchestra der klassischen Zeit mussten nicht kreisrund und symmetrisch sein. Das vielleicht älteste erhaltene griechische Steintheater (Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., mit Spuren einer Anlage sogar vor 500) in der altattischen Bergbau- und Hafenstadt Thorikos nördlich von Sounion gilt der neueren Forschung nicht mehr als formale Ausnahme. Hinter der breiten Orche­stra, zwischen Dionysos-Tempel und Altar, fällt das Gelände steil ab. Eine Skene ist hier kaum vorstellbar; eine Skenothek wird außerhalb des Theaters angenommen. Als intim wirkendes Kleintheater fasste es im unteren Koilon immerhin 3200 Besucher. (Grundriss von H. F. Mussche, 1978.)

Heute ist das Koilon restauriert, die Stätte als archäologische Sehenswürdigkeit aber aufgegeben [4]

Wer jedoch Genaueres wissen will, stößt allenthalben auf Lücken und Verwirrung, so rege die Archäologie auch seit weit über hundert Jahren am Werk war. Es gibt vom Theater der griechischen Klassik kaum Überreste, denn es war weitgehend aus Holz errichtet. Die römischen Umbauten durchkreuzen fast alle Evidenzen, am folgenreichsten beim Athener Dionysostheater. Dafür bestimmt ein anderes Theater eindrücklich unsere Vorstellung, zumal es rein griechisch und am besten erhalten ist und überdies seit 1954 antiken Klassikerinszenierungen dient. Schon im Altertum wurde seine Harmonie gerühmt. In vollkommener Kreisform schmiegt sich das steinerne Theatron in die Hangmulde und umschließt, über die Hälfte hinaus, den Kreis der Orchestra. Nur: es liegt nicht in Attika und ist kein Theater des 5., sondern des 3. Jahrhunderts, wohl bald nach 300 als Kurtheater in dem damals weltberühmten Heilbad Epidauros gebaut. Nach der neueren Forschung ist es als Inbild für die Zeit der großen Tragiker besonders ungeeignet, denn nirgendwo finden sich in jener Zeit Indizien für Ähnliches, aber über ein Dutzend Theater, sogar noch des 4. Jahrhunderts, hatten Orchestren von nachweislich rechteckigem Grundriss. Von der beliebten Vorstellung einer kreisrunden Orchestra für die Werke des Aischylos, Sophokles oder Euripides müssen wir also Abschied nehmen. Das fällt schwer, wie die popularisierende Literatur zeigt, weil die Kreisform so sehr unserer Imagination von der fundamentalen Tanzform des Reigens entspricht und als geometrische Grundform auch alle klassizistischen Ordnungswünsche erfüllt. Die historische Kritik verabschiedet aber auch die latente Vorstellung, auf der Orchestra habe sich eine Urhorde ausgetobt. Der Chor war immer das besonnenste Tragödienpersonal, zwar engagierter Mitspieler, doch zugleich distanz- und urteilsfähiger Zuschauer, symbolischer Repräsentant des Publikums und oft auch Vertreter der Polis.

Aus der Vieldeutigkeit der archäologischen Befunde ist vor allem der Schluss zu ziehen, dass die griechischen Theateranlagen nicht wie die römischen einem einheitlichen architektonischen Konzept entsprangen, sondern dass hier drei Teile in drei Epochen allmählich zusammenwuchsen: die archaische Orchestra, das klassische Theatron und die hellenistische Skene (›Zelt‹, ›Hütte‹). Letztere war ursprünglich nur eine simple Baracke zum Umkleiden, womöglich auf steil abfallendem Hang hinter der Stützmauer der Spielterrasse den Blicken ganz entzogen, und später höchstens eine niedrige hölzerne Schirmwand, auf die das Spiel sich zeitweilig beziehen konnte, aber nicht musste. Die beiden Seitenzugänge zur Orchestra (Parodoi) bedeuteten im Athener Dionysostheater, was sie real waren: Wege vom Meer oder von der Stadt her.

In der Forschung, in der oft noch die Guckkastenbühne insgeheim die Theaterauffassung prägt, zerbricht man sich über »Schauplätze der Handlung« und ihre »Verwandlung« allzu sehr den Kopf. Die Handlung bestimmende Lokalitäten wie Tempel, Palast oder Grab ließen sich doch von jeher im Spiel hinreichend definieren und abwechselnd fokussieren; ihre topographische Beziehung zueinander bedurfte keiner konkret räumlichen Darstellung, es genügte, wenn die Imagination, vom Spiel gelenkt, ›mitwandert‹, auch in den Eumeniden, wo die Szene bedeutungsvoll von Delphi nach Athen wechselt. Die Skenographie, die Mitte des 5. Jahrhunderts aufkam, konstatiert zwar eine Skene, meinte aber keineswegs Bühnenbilder im heutigen Sinne; sie bezeichnete Architekturmalerei, vielleicht auf Holzplatten zum Aufhängen, und zielte weder auf Illusion noch Illustration, sondern sollte einfach ausschmücken.

Wichtiger ist, dass sich in der Orestie (458) ein neues, geordneteres Raumdenken anzeigt. Es gibt im antiken Drama zwar keine Szenen, die in Innenräumen spielen, (dem widerspräche schon die Dauerpräsenz des Chors), wohl aber gewinnt in Agamemnon, dem ersten Teil, die Spannung von einem Außen, wo Figuren und Chor miteinander reden, und einem Innen (des Palasts), wo die Morde geschehen, eine große Bedeutung, und damit werden auch Zentralachse und Symmetrie zu wichtigen Raumkoordinaten. Das könnte mit einer baulichen Begradigung zusammenhängen, während man zuvor wohl recht flexibel mit unregelmäßigen Gegebenheiten des Geländes umgegangen war.

Auch eine erhöhte Bühnenposition ist erstmals am Anfang der Orestie vorgesehen. Der Wächter erwartet auf dem Dach des Palastes von Argos die Feuerzeichen vom Ende des Trojanischen Kriegs. Ein Dach wird auch über eine Leiter erstiegen zur Mauerschau zu Beginn der Phoenizierinnen des Euripides. Im Orestes desselben Autors kommen in der hochdramatischen Schlussszene gleich vier Personen auf das Dach; Orest führt einen wilden Streitdialog mit dem unten tobenden Menelaos und droht sogar, einen Sims loszutreten und ihn damit zu erschlagen. Spektakulär einstürzende Paläste sind bei Euripides in Herakles und den Bakchen mitten im Stück vorgegeben – beiläufiges Indiz, dass hier die Skene nicht geopfert wurde und nicht aus Stein war. Hausähnliche Bühnenbauten mit Dach sind auch in Aristophanes’ Wolken und Wespen vorgesehen.

Einen optischen Trumpf hält Euripides überdies für seine Schlusspointen bereit, für Medea auf dem Wagen des Helios und die vielen Götter ex machina, die plötzlich höher als jedes Dach erscheinen und die Handlung überraschend beenden. Das Technische des Begriffs verrät, dass die praktikable Lösung in einer (Dichter-)Werkstatt kalkuliert und hergestellt und durch einen Kran (Mechane) bewerkstelligt wurde, wie er den Athenern aus dem Schiffbau geläufig war. Die offen einsehbare, knarrende Mechanik weist dieses Hereinhieven eines kaum überzeugenden Happy Ends nicht ohne Ironie als pure Theatralik aus. Aristophanes parodiert den Tragödien-Salto in seiner Komödie Der Frieden, wenn er die Hauptfigur auf einem Mistkäfer gen Himmel schweben lässt. Sophokles geht im Philoktet ernsthafter mit dem Deus ex machina um.

Ein vergleichbares Kuriosum wie der Bühnenkran war der Bühnenwagen, das Ekkyklema (›Herausrollen‹), das signifikante Schaubilder auf einer Plattform aus der Skene herausrollte, nicht um »Innenszenen« vorzuführen, sondern um einen dramatischen Fakt demonstrativ darzubieten wie zum Beispiel den Doppelmord in den ersten beiden Stücken der Orestie, Aias unter den von ihm geschlachteten Tieren, den schlafenden Herakles mit seiner im Wahnsinn getöteten Familie. Der verhandelte Horror der Tragödie wird pointiert ins Bild gefasst, in ein Tableau der theatralischen Erinnerung. Natürlich hat Aristophanes auch dies parodiert.

Hellenistisches und römisches Theater

Der Hellenismus (politische Eckdaten: 323–31 v. Chr.), das Zeitalter der Ausbreitung des Griechentums über die ganze östliche Mittelmeer-Welt bis zu dessen endgültiger Integration ins römische Imperium, wird in der Theatergeschichte meist übergangen, weil allzu wenig Konkretes über seine Dramatik und Theaterkultur bekannt ist. Damit verliert das übliche vergleichende Kontrastschema ›griechisch/römisch‹ aber seine historische Präzision, denn die Römer haben die Elemente ihres Dramas und Thea­ters mehr oder weniger vom hellenistischen übernommen und kaum in der Auseinandersetzung mit dem klassisch griechischen entwickelt. Auch ist der entscheidende epochale Umbruch in vielen Theaterbereichen weit eher ins letzte Drittel des 4. Jahrhunderts zu datieren als in die lange Folge des Übergangs zur Römerzeit. Er markiert also deutlicher einen Wandel zum hellenistischen als den zum römischen Theater.

Theater erhielt eine neue Dimension. Aus der Athener Institution wurde ein weltweit etabliertes System, das bis in die späte Kaiserzeit vorhielt. Nur wenige außer­attische Orte hatten bereits in vorhellenistischer Zeit Theateraufführungen gekannt, so etwa die von griechischen Kolonisten ab Mitte des 8. Jahrhunderts gegründeten Niederlassungen in Süditalien und Sizilien (Großgriechenland). Bekanntestes Beispiel für diese Ausstrahlung und den Theateraustausch mit dem Mutterland ist der zweimalige Besuch des Aischylos in Syrakus, wo er auch ein Stück mit lokalem Stoff und die Perser aufgeführt haben soll. (Er starb im sizilischen Gela.) Fast explosionsartig verbreitete sich das Theater nun (nach 330 v. Chr.) über alle Regionen des griechischen Festlands, der kleinasiatischen Küste und der ägäischen Inseln, bald auch über weitere griechische Siedlungsgebiete in Sizilien und Süditalien, die Cyrenaika (heute Libyen) und die Schwarzmeerküste und endlich auch im Gefolge der Globalisierung durch Alexander den Großen über die Diadochen-Reiche der Antigoniden, Ptolemäer, Seleukiden und Attaliden. Das belegen am klarsten die Theaterbauten, über die noch zu sprechen ist.

Bezugsrahmen des Theaters war nun nicht mehr die geschlossene Gemeinschaft der Polis, sondern die überstaatliche, panhellenische, urban gebliebene Gesellschaft, die durch die gemeinsame griechische Verkehrssprache verbunden war. Das Theater, nicht mehr paradigmatisches Medium, rückte ein in die Reihe der neuen kulturellen Errungenschaften. Seine politischen Funktionen wurden mehr und mehr von Philosophie und Rhetorik übernommen; Dramatik verstand sich zunehmend auch als Literatur und konkurrierte mit neuen literarischen Gattungsformen; die Naturwissenschaften überraschten mit »modernsten« Entdeckungen und Erfindungen und genossen die größte Beachtung. Athen verlor sein Monopol, blieb aber geistiger Bezugsort neben den Metropolen Alexandria, Pergamon, Antiochia, Syrakus und anderen.

Im Rahmen eines neubelebten und stark erweiterten Festwesens und diversifizierten Spielbetriebs behielt Theater seinen agonalen Charakter, die Dramatiker-Agone wurden jedoch nach und nach durch Schauspieler-Agone verdrängt. Eine bedeutende und charakteristische Rolle für die Organisation spielten nunmehr die neuen Berufsverbände der Künstler(Techniten) des Dionysos. Dabei handelt es sich um Kultvereine, Bühnengenossenschaften, Agenturen, liturgische Dienste – je nach den vielfältigen Aufgaben, die sie übernahmen. Starschauspieler hatte es in Athen schon in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts gegeben, nun gab es weltweit den Berufsstand, der aber nicht überall gleich intensiv gefragt war. Es begann die Ära des mobilen Mimen, die bis heute währt. Um 280 v. Chr. schlossen sich in Athen und Alexandria Tragödien- und Komödien-Protagonisten mit Sängern und Musikern, aber auch Veranstaltungs-Organisatoren und -Technikern zu überregional agierenden Verbänden zusammen, um den Theatermarkt zu regulieren. Es folgte ein isthmisch-nemeischer und ein kleinasiatischer Techniten-Bund, später ein sizilischer; sogar in Rom, kaum gab es Theater, fasste die Idee Fuß.

Nach Dionysos nannten sich die Techniten, weil er überall der Theatergott war und ihrer Profession einen sakrosankten Status verhieß. (In Rom trat Minerva, nicht Bacchus, für ihn ein.) Und da Alexander als »Neuer Dionysos« galt, konnte der politisch korrekte Name auch den Alexandrinern gefallen. Aber nicht nur zu Dionysien reisten die Techniten an, die Festspiele, die sie in Kooperation mit lokalen Instanzen ganzjährig ausrichteten, fanden auch zu Apollos Ehren statt und schließlich ebenso, um Königen und Kaisern die Vergöttlichung zuzugestehen, die schon Alexander erstrebt hatte. Wenn es nicht die Feste alter Tradition wie zum Beispiel die Pythien waren – neue Anlässe wurden gerne wahrgenommen, dienten sie doch auf jeden Fall der Profilierung der Festgeber und damit auch der Techniten.

Ihre Vereinigungen genossen neben Prestige und Ehren schätzenswerte Sicherheiten und Privilegien: längerfristige Arbeitsverträge, Reiseversicherung, Asylie, Immunität, Befreiung von Steuer und Militärdienst, kurzum einen nahezu völkerrechtlichen Sonderstatus. Ihre Mitglieder, noch immer nur Männer, konnten sogar als Diplomaten im zwischenstaatlichen Verkehr fungieren. So hoch hing der Bühnenhimmel nie mehr, jedenfalls nicht in Rom.

Was lässt sich nun aber vom künstlerischen Aspekt sagen? Wenig Sicheres. Die Hauptquellen für die Tätigkeiten der Techniten, die Inschriften, lassen offen, was genau im Theater vor sich ging. Unter den aufgebotenen Kräften begegnen neben den Schauspielern und verbandseigenen Priestern und Herolden manch unerwartete: Tänzer, Rhapsoden, lyrische und epische Dichter, Lobredner, und neben Begleitmusikern auch Instrumentalsolisten (Kitharaspieler, Trompeter). Nimmt man zu solchen Zeugnissen die wenigen literarischen Nachrichten hinzu, so lässt sich vermuten, dass ein Gutteil der Darbietungen Konzerte, Gesang, Tänze, Lesungen und Reden waren und Theateraufführungen auch fragmentarisch sein konnten, nur Gala-Nummern, ›Arien‹ und szenische Bravourstücke, ›Best of …‹. Der Akzent lag jedenfalls auf der performativen Artistik.

Ältere Tragödien, vor allem die des Euripides, wurden außer Konkurrenz wiederaufgeführt, die zeitgenössischen sind nicht überliefert. Für die Komödie bleibt uns nur das Beispiel Menander, und dieses erst seit kurzem. Es wiegt aber vieles auf, denn es belegt entscheidend Neues. Menander schrieb von 321 bis 292 v. Chr. über hundert Komödien, von denen nur gesammelte Sentenzen und lexikalische Inhaltsangaben die Neuzeit erreichten, obwohl er bis in die Kaiserzeit hoch geschätzt und viel gespielt war. Durch spektakuläre Papyrus-Funde 1905, 1958 und in den 1960er Jahren sind der vollständige Dyskolos (Der Schwierige) und die spielbar zu machenden Komödien Epitrepontes (Das Schiedsgericht), Samia (Die Samierin) und Aspis (Der Schild) nebst weiteren Fragmenten heute wieder da.

Sie zeigen einen radikalen Themenwechsel: keine Mythen, keine Phantastik, keine Politik mehr wie bei Aristophanes, sondern der zeitgenössische Familienalltag in ironischer Beleuchtung, distanziert genug, um den Chor als Reflexionsrahmen entbehren zu können. Den Chor hatte schon Euripides in den Phönizierinnen und Iphigenie in Aulis betont abseits gestellt. Menander gibt ihm keinen Text mehr, nutzt ihn aber als Kontrast; wenn er auftritt, räumen ihm die Figuren das Feld zum Tanz. So ergibt sich eine Gliederung in fünf Akte.

Euripides, eher als Aristophanes, bleibt Vorbild auch in der dramaturgischen Durchrationalisierung: kein freier Umgang mehr mit Ort und Zeit, die Konfiguration wird auf die Motivik abgestimmt, die Intrige wichtigstes Handlungselement. Doppelhandlungen werden riskiert, gegenläufige oder parallele. Prologe, manchmal erst nach Beginn, erläutern die verzwickte Vorgeschichte und garantieren das glückliche Ende. Die Autorität, die das vermag, ist paradoxerweise Tyche, die Göttin des Zufalls. Die Zufälle sind also kalkuliert und entsprechen gern der optimistischen Grundhaltung des Hellenismus. Die Konflikte lösen sich stereotyp durch ein bewährtes Tragödienmotiv, die Wiedererkennung.

Zu den Konventionen der Neuen Komödie gehören die oft abgebildeten Masken: strenge, polternde Väter, leichtsinnige Söhne, scheue Töchter und Ammen, schlaue und schlichte Sklaven, Soldaten, Parasiten, Hetären, wichtigtuerische Köche und viele andere. Sie sorgen für die Komik und stabilisieren die Gattung. Geistreich variiert und sogar gekontert wird das Schema aber durch die etwas komplizierteren Träger dieser Masken mit ihren erstaunlichen Problemen. Ein junger Offizier hat seiner Geliebten im Affekt die Haare abgeschnitten; ein Jüngling hat im Rausch eines Festes ein Mädchen vergewaltigt und es unwissentlich später geheiratet, das zur Unzeit geborene Kind wurde heimlich ausgesetzt; ein Vater und sein Adoptivsohn quälen sich mit einer Vertrauenskrise wegen des Kindes im Haus; ein sympathischer Alter richtet die schlimmsten Konfusionen an; ein aggressiver Bauer gewinnt Sympathien, weil er seine Armut mit Selbstachtung zu meistern versucht. In der Typenkomödie erscheinen Charaktere mit Feingefühl und Scham. Menander sensibilisiert auch das Publikum (indem er es informiert hält) für die Ironien seiner Handlungsführung: Was alle wollen, wird dennoch zum Problem, vor den Konflikten sind die Lösungen schon parat. Nichtwissen bringt Erkenntnis. Das Erwartete tritt unerwartet ein. Bezeichnend, dass Menander häufig mit Molière, Lessing, Hofmannsthal verglichen wird. Ein spätes Überraschungsgeschenk der Antike steht dem Theater wieder zur Verfügung.

Ein spätes Zeugnis der Neuen Komödie ist dieses oft abgebildete Marmorrelief des 1. Jahrhunderts aus Pompeji (oder neuerdings Rom), das sich heute im Nationalmuseum von Neapel befindet. Sein Bildinhalt kopiert, wie viele römische Bildwerke und Skulpturen, ein hellenistisches Original der Menander-Zeit, sei es Malerei oder plastische Darstellung. Das ist durch motivgleiche frühere Ko­pien in anderen Kunstbereichen (Terrakotta-Figuren, Gemmen u. a.) belegt.

Eine komisch-dramatische Situation: Sein Stirnband schwenkend, das man bei Trinkgelagen trug, kehrt ein vielleicht selig singender, aber auch stützungsbedürftiger Jüngling von seinen Ausschweifungen nach Hause zurück. Sein Sklave sieht das Unheil bereits kommen: der zornige Vater – der Krummstab deutet an, dass er alt aber auch bewehrt ist – tritt dem Sohn schon vor dem Tor entgegen, von einem anderen Alten kaum zu halten. Und in der Mitte macht eine zierliche Auletin ungerührt die Musik dazu. Der Vorhang, römisch Siparium genannt, gibt Rätsel auf.

Natürlich können solche Bildzeugnisse nur den groben Theaterspaß der Neuen Komödie erweisen. Doch gehört er zu den Lektürefreuden unbedingt dazu [5]

Die Römer haben Theater theoretisch durch die Etrusker, praktisch durch die Kolonialgriechen kennengelernt, sich aber spät entschlossen, ein eigenes zu begründen. Mit der militärischen Überlegenheit nach dem Ersten Punischen Krieg kam die Einsicht in den kulturellen Nachholbedarf. Die Republik beauftragte den freigelassenen Griechen Livius Andronicus, eine lateinische Tragödie und Komödie bei den staatlichen Kultfesten in Rom aufzuführen (240 v. Chr.). Er übersetzte und bearbeitete griechische Vorlagen, studierte selbst ein und spielte mit. In der Folge entstand (neben dem römischen Epos) eine ganze Literatur heroischer Erbauungs- und lustiger Unterhaltungsstücke, die sich vorzugsweise an Euripides und Menander orientierten. So gut wie nichts ist überliefert.

Institutionell fanden die Aufführungen bald in weiteren Staatsfesten und bei Siegesfeiern, Tempelweihen und Leichenbegängnissen ihren Ort. Aber Theater war nicht wie im Athen des 5. Jahrhunderts die Leistung einer Gemeinschaft, sondern blieb zu einem gewissen Grad eine fremde Einrichtung. Es bekam nicht den Rang eines Wettbewerbs unter römischen Künstlern, sondern wurde von Sklaven, Freigelassenen und Zugezogenen ohne Bürgerrechte produziert. Die kleinen Truppen erhielten zwar von den Spielbehörden Zuschüsse, die von den Beamten, den Ädilen, oft noch privat erhöht wurden – also Mischfinanzierung –, doch sie hatten keine festen Gebäude, sondern spielten auf temporären Budenbühnen im übergroßen Circus Maximus oder sonst wo, das Publikum stand. Das römische Projekt ›Theater‹ begann zwiespältig: die Weltstadt Rom schuf und förderte es und marginalisierte und verachtete es zugleich, während in den Provinzen die Techniten den internationalen Standard hielten.

Die Komödien von Plautus und Terenz retteten die Ehre Roms. Zwanzig Stücke und ein Fragment sind von Titus Maccius Plautus erhalten, geschrieben zwischen 210 und 184 v. Chr. Zugeschrieben, wohl fälschlich, wurden ihm weit mehr – Zeichen seiner Beliebtheit. Er beerbte die griechische Neue Komödie, indem er mit seiner Fabula palliata ein neues Genre schuf. Der Name, der sich vom Pallium, dem griechischen Mantel, herleitet, zeigt an, dass es bei der Adaption stofflich beim alten blieb, was für das römische Publikum den Reiz einer exotischen Gegenwelt haben mochte. Die Subtilität eines Menander ging allerdings verloren.

Der vital zupackende Plautus hielt sich an Situationen, gab den Figuren drastisch-plastische Konturen, erhöhte das Tempo und überspitzte die Komik. Vor allem mit seiner überbordenden Sprachphantasie bezauberte er die Mit- und Nachwelt. Philologen verderben uns diesen Spaß, wenn sie die Stücke wegen des hohen musikalischen Anteils an der Textartikulation unbedacht mit Singspiel, Operette oder Musical vergleichen. Das nun gerade nicht. Besonders die Verwechslungskomödien des Plautus haben unzähligen Meisterwerken der Weltliteratur als Vorlage gedient. Man denke an Amphitruo oder Menaechmi, und was Shakespeare, Molière, Goldoni, Kleist bis Hacks daraus gemacht haben. Plautus kann daneben bestehen.

Der früh gestorbene Publius Terentius Afer schrieb 166–159 sechs Stücke, die für die europäische Komödie des 15./16. Jahrhunderts noch wichtiger geworden sind. Er ging behutsamer mit der Dramaturgie seiner griechischen Muster um und entschuldigte sich sogar, wenn er Szenen von zweien in einer Komödie verknüpfte. Sein Bestreben, kultivierter lachen zu machen, konnte misslingen, wie er selbst im Prolog zur Hecyra gestand: gleich zweimal liefen ihm die Zuschauer davon, als Boxer, Seiltänzer und Gladiatoren attraktivere Spektakel boten. Im Verein mit Wagenrennen, Schiffsschlachten und Tierhatzen war dies die erdrückende Konkurrenz, die – im Gegensatz zu den hellenistischen Festivals – nichts mehr mit dem »sakralen« Anlass von Theater zu tun hatte.

Das ernste römische Theater belegen vor allem die acht mythologischen Dramen des Lucius Annaeus Seneca aus der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Aber es ist immer noch umstritten, ob sie jemals aufgeführt wurden und überhaupt für die Bühne bestimmt waren. Sie verweisen alle außer Thyestes auf griechische Tragödien, die schon damals zum Kanon gehörten, sind aber trotz formaler Ähnlichkeiten (Chor) Gegenentwürfe. Sie spiegeln die Greuel und Schrecken der Zeit Neros (Seneca war sein glückloser Erzieher) und sind dabei konzentriert, ja geradezu fixiert auf das affektbestimmte Innenleben der Figuren. Deren monomaner Rückzug auf das Ich lässt sich politisch als Verweigerung gegenüber dem Kaiser-Staat verstehen. Das dominante individualpsychologische Interesse verbindet den Dramenautor mit dem stoischen Philosophen Seneca (das Mittelalter hielt sie für zwei Personen), doch die statische, monologische Expressivität seiner Menschendarstellung war dem öffentlichen Theater seiner Zeit fremd. Sie traf den dramaturgischen Nerv erst in der Neuzeit.

Wer die Chronologie des antiken Theaters überblickt, bemerkt irritierende Verspätungen im Theaterbau. Die Architekturgeschichte des Theaters begann, als die große Zeit des griechischen Dramas vorbei war, und auch Rom erhielt seine prachtvollen Theater erst, als die anspruchsvollere dramatische Produktion so gut wie versiegt war. Das zeigt, dass der antike Theaterbau nicht einzig einem spielpraktischen Bedarf folgte, sondern vor allem für sich selbst symbolische Repräsentanz erstrebte. Die suggestive Wirkung antiker Spielstätten ist ja heute noch frappierend, auch menschenleer erfährt man sie imaginativ als Faktor eines öffentlichen kommunikativen Geschehens. Das liegt sicher an der schwingenden Weite und zugleich zentripetalen Ausrichtung der ringförmig in die Tiefe gestaffelten Theatron-Muschel, diesem städtebaulichen Unikum, das um 350–330 v. Chr. erstmals bezeugt ist, erfunden oder in der Natur entdeckt, jedenfalls eine Findung von kanonischer Wirkung.

Sie erschien fast gleichzeitig in Megalopolis (Arkadien), Aigai (Mazedonien), Korinth, Troja, Syrakus und wohl auch Epidauros. Die Priorität wird jedoch Athen zugestanden, wo sie in das umfassende Bauprogramm passte, das in schwieriger Zeit den Machtanspruch der Kulturstadt unterstrich. Unter Lykurg wurde das neue Theater in Stein vollendet. Es war dreimal so groß wie das alte und soll 17 000 Plätze gehabt haben. Es fällt schwer, sich Menanders feinsinnige, intime Dialoge darin vorzustellen, eher doch Volksversammlungen und Großveranstaltungen; diese belegen die erweiterte Funktion der Theater. Dass sie mit Porträtstatuen der drei Tragiker geschmückt waren, verdeutlicht ihren Denkmal-Charakter.

Das Theatron umschloss nun den Kreis der Orchestra zu mehr als der Hälfte, manchmal hufeisenförmig. Im Fokus der Zuschauerblicke war sie jedoch mehr oder weniger funktionslos geworden, da der Chor nur noch bei Klassiker-Reprisen auftrat und sonst höchstens Intermezzi tanzte. Die Zuschaurichtung verschob sich hin zur Tangente, zur Skene, die in Athen wahrscheinlich eine breite Säulenhalle war – der geläufige Gebäudetyp der Stoa – mit seitlich kurz vorspringenden Risaliten (Paraskenien). So umgriff nun auch die Skene von der Gegenseite her den offengebliebenen Teil der Orchestra – ein erster Schritt auf die räumliche Einheit zu, zumindest im Grundriss.

Die ungleiche Höhe von Skene und oberem Rand des Theatrons mag einen zweiten Schritt bedingt haben. Zuerst im hellenistischen Theater der kleinasiatischen Westküste, in Priene, wurde die Skene zweistöckig hochgezogen (technisch jetzt möglich) und bekam eine flache Stützenhalle, das Proskenion, vorgeblendet, auf dessen Dach, dem Logeion (›Sprechort‹), die Schauspieler nun dem Publikum etwas mehr auf Augenhöhe gegenübertraten. Diese »Reliefbühne« existierte in Variationen, mit bloßer oder dekorierter Rückwand, von Paraskenien seitlich eingefasst oder über Rampen zugänglich gemacht. Die Möglichkeit, ebenerdig zu spielen, blieb dabei unbenommen.

Ein dritter Schritt zum baulichen Zusammenschluss ist perspektivisch schon römisch. Im 1. vorchristlichen Jahrhundert wurde die kreisrunde Orchestra – ein Idol, das nur in wenigen Beispielen noch sichtbar oder vorstellbar geblieben ist – auf den Halbkreis reduziert. Das führte Zuschauerraum und Bühne enger zusammen. So geschah es bei allen Umbauten im hellenistischen Bereich, zuerst in Ephesos und auf Sizilien. Auch fünfzehn mittelitalienische Städte, allen voran Pompeji, können in dieser Hinsicht als Vorläufer der römischen Norm gelten.

Rom erhielt sein erstes ständiges (steinernes) Theater 55 v. Chr. durch Pompeius. Als Symbol demokratischer Verständigung gefürchtet und lange verhindert, diente es jetzt nur noch dem Popularitätsstreben eines einzelnen und der politischen Notwendigkeit, eine unruhige großstädtische Menge mit Brot und Spielen zu befrieden. Formaljuristisch war dieser Bau kein Theater, sondern ein Tempel der siegreichen Venus (passend zum siegreichen Feldherrn) als oberer Abschluss des Zuschauerrunds mit dessen Stufen als Freitreppenaufgang. Solche Lösungen hatte es schon einige Male gegeben.

Der römische Theatertyp war damit perfekt. Die halbe Orchestra war nun voller Ehrensessel für die städtische Prominenz und illustre Gäste, in der Cavea herrschte eine Sitzordnung nach Klassen, die Bühne schloss auf gleicher Höhe mit der Cavea ab, ein Arkadengang lief oben um das Halbrund, die Parodoi waren überwölbt durch Logen, wo die Ädilen saßen, die Bühne (Pulpitum) warbegrenzt durch eine prunkvolle dreistöckige Szenenrückwand (Scaenae frons) mit Säulen, Nischen und figuralem Schmuck. Entscheidend: das Theater war nicht mehr auf einen Hang und heiligen Bezirk angewiesen, sondern konnte auf jedem Gelände, also auch im Stadtzentrum, als Hochbau errichtet werden. Die neue römische Technik des Beton-Gewölbebaus ermöglichte es, den Zugang zur Cavea über Treppen und Gänge im Innern zu regulieren.

Das Theater von Priene. Die Rekonstruktionszeichnung von Armin von Gerkan (1921) gibt eine Anschauung von den Neuerungen im Theaterbau um 300 v. Chr. [6]

Diese Gestalt, die Aussichten in die Natur ausschloss, wurde in vielen Provinzen verbindlich. In Norditalien und Gallien, in Nordafrika und Vorderasien entstanden im 1. und 2. Jahrhundert Theater dieses Typs, während in Griechenland und Kleinasien manche Städte an der hellenistischen Tradition festhielten. Die Scaenae frons blieb das ehrgeizige römische Signum. Sie wurde schon früh im sizilischen Tyndaris entworfen und findet sich in unterschiedlichem Zustand erhalten in Orange, Merida (Spanien), Taormina (Sizilien), Sabratha, Leptis Magna (beide Libyen), Timgad (Algerien), Dougga (Tunesien), Aspendos, Perge (beide türkische Südküste) und Bosra (Syrien).

Zur Pracht kam eine Annehmlichkeit: »Vela erunt« (›Es gibt Sonnensegel‹), hieß es oft auf Ankündigungen. Es gab schließlich auch zwei Vorhänge: das Aulaeum, aus Syrien und Pergamon bekannt, das die ganze Bühne verdeckte, bei Spielbeginn herabfiel und in Rillen verstaut wurde, und das kleinere Siparium, mit dem man im komischen Theater störende Hintergründe abhängte. So näherte man sich zaghaft der noch nicht expliziten Schauplatzfrage.

Die Scaenae frons des römischen Theaters von Aspendos (um 160 n. Chr.). Rekonstruktionszeichnung von George Niemann (1890) [7]

Und was wurde in den großartigen römischen Theatern gespielt? Immer ausschließlicher jene Pantomimen, die – aus dem östlichen Imperium übernommen – einigermaßen bekannte Tragödienstoffe durch einen Solotänzer und Chor und Orchester darstellten (Masken mit geschlossenem Mund haben sie verewigt) und jene geistlosen bis obszönen Mimen, die in krassem Verismus, ohne Masken und mit erstmals auch weiblichem Personal Kolportagethemen wie Ehebruch, Giftmischerei, Schiffbruch und mythologische Kalamitäten mit abschließendem Striptease vorführten. Es ließ sich aber auch nicht vermeiden, dass Spektakel, für die in Rom Amphitheater vorgesehen waren, in die Theater eindrangen. Halten wir uns an die positive Bilanz, die Theaterbauten selbst. Ein dreibändiges Inventar der Unesco (1994) verzeichnet über 600 in Resten erhaltene antike Theater, von Spanien bis Afghanistan und von England bis Jordanien, ein Panorama ungeahnter Vielfalt und ein überwältigendes Zeugnis für die Lebensfähigkeit der singulären athenischen Schöpfung Theater. Ein Jahrtausend lang war sie in einem Großteil der Welt präsent.

Theater im Mittelalter

Im 3. Jahrhundert dürften im römischen Imperium die letzten Theater gebaut worden sein. Doch wird Mitte des 5. Jahrhunderts das Pompeius-Theater in Rom noch einmal ausgebessert. Theateraufführungen werden für das Jahr 509 letztmalig erwähnt, 526 wurden sie von Justinian verboten. Zu dieser Zeit gehörte Theater längst zur Subkultur, jedenfalls zur Gegenkultur der christlichen. Bei den lateinischen Kirchenvätern finden sich die ausführlichsten Zeugnisse über die späten Spectacula. Tertullian und Novatian widmeten ihnen sogar besondere Schriften, und auch Augustinus, der sie in seiner Jugend besucht hatte, polemisierte öfter gegen sie. Dabei richteten sich die Angriffe nicht generell gegen schauspielerische Darstellung; das Bilderverbot, das im Frühchristentum diskutiert wurde, war nicht der Anlass. Es ging um die Inhalte und Umstände. Selbstverständlich verabscheuten die christlichen Wortführer Sensationen wie die Gladiatorenkämpfe (denen schon kaiserliche Verbote drohten), aber was in den Theatern gezeigt wurde, erschien ihnen schlimmer. In den noch immer beliebten Mimen dominierten schlüpfrige Abenteuer und blasphemische Szenen. Nicht selten wurde der Christ, solange er Außenseiter war, als komische Type verspottet. Der »Spaß« machte nicht halt vor den Sakramenten. Besonders die Taufe diente als Vorwand für groteske Wasserplansch-Nummern. Mit solchen Perversionen war Theater inakzeptabel, hier gab es nichts christlich umzudeuten, Aufführungen blieben Pompa diaboli.

Theater verschwand für mehrere Jahrhunderte aus dem öffentlichen Leben. Wer heute von »über zweieinhalb Jahrtausenden« europäischer Theatergeschichte spricht, sollte nicht unterschlagen, dass sie über ein Viertel dieser ganzen Zeit unterbrochen war und dass in der Repertoiregeschichte sogar eine weit größere Lücke klafft. Zwar haben sich einige Theaterhistoriker, um Kontinuitäten nachzuweisen, gerne an die immer wieder bezeugten Spielleute gehalten, die Ioculatores und Histriones. Aber deren sporadisches Auftreten leistete nur Beiträge zur Geselligkeit und versprach keine kohärente theatrale Aktivität, zumal ihr darstellerisches Wirken und Treiben ohne die Stütze des Dramas blieb. Auch die hochmittelalterliche Kultur des europäischen Rittertums kannte zwar den Minnesang, das Heldenepos, das Turnier, aber nicht das Theater und Drama.

Es bedurfte der besonderen Lebensformen, Bedürfnisse und Organisationsmöglichkeiten des erstarkenden Stadtbürgertums, um Theater in einem langen Prozess seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in Gestalt des geistlichen Spielswiederentstehen zu lassen. Seine volle Ausbildung und gesamteuropäische Blüte erreichte es im Spätmittelalter, etwa zwischen 1450 und 1550. Als sinnlicher und spiritueller Höhepunkt der Stadtkultur blieb es dennoch ohne autonome Praxis, nämlich Laienspiel, zwar meist in Bruderschaften, Magistraten und Zünften institutionell verankert, doch ohne eigene Spielstätten und selbstgeregelten Betrieb, in vielem eher dem Brauchtum zuzurechnen als mit antiken und neuzeitlichen Begriffen von Theater zu fassen. Und so musste, um endlich jene Tradition wiederzubegründen, das Theater in der Renaissance ein drittesmal ›erfunden‹ werden.

Spielleute wurden gelegentlich auch abgebildet, wie hier in einer Sammlung liturgischer Musik, Limoges (um 1000) [8]

Um das geistliche Spiel vom bisher »Theater« Genannten zu unterscheiden, werfen wir einen Blick auf den Entstehungsprozess. Die Voraussetzungen bot die christliche Religion in den biblischen Berichten und im Gottesdienst. Zunächst gab die Kirche dem Theatralen einen bescheidenen Spielraum in der Osterliturgie. Um 965 beschrieb der Bischof Ethelwold von Winchester in seiner benediktinischen Regelkonkordanz, die jüngsten Neuerungen aufgreifend, wie die Osterfeier mit bestimmten Wechselgesängen und Zeremonien auszuschmücken sei. Die Liturgie selbst ist ja voll symbolischen Geschehens und dialogischer Ansätze, und das Osterfest war für diese Weiterungen besonders geschaffen, weil es ein gewissermaßen ›dramatischer‹ Höhepunkt des Kirchenjahres ist, eine Wende vom Tod zur Auferstehung, mit der Architheatralik des Übergangs vom Dunkel zum Licht, von Trauer zu Jubel.

Das Neue der Ausgestaltung bestand darin, dass vier Geistliche jetzt eine Situation – die drei Marien besuchen das Grab Christi und begegnen dem Engel – durch Wechsel der Messgewänder, ostentative Gänge und zeichenhafte Gesten andeuten und wenige Zeilen wie aus dem Munde dieser Personen, die sie vorstellen, lateinisch singen. Es ist keine Darstellung, sondern ein Anzeigen. »Als ob«, sagt Bischof Ethelwold stets und bezeichnet, was ›gemeint‹ ist. Man kann also nicht von Rollen, einer Szene oder gar einer Handlung sprechen, auch nicht bei den bald folgenden Ergänzungen wie: die Apostel Petrus und Johannes laufen ›wie‹ um die Wette zum Grab, oder: der Auferstandene selbst erscheint der Maria Magdalena als Gärtner. (Dass Jesus hier erstmals ›auftritt‹, war durch die Bildkunst vorbereitet.)

Auch solcherart vervollständigt ist das keine Aufführung, sondern eine Montage liturgisch verfügbarer Elemente, wobei es nicht auf die Stimmigkeit der Textzuweisung und ihrer logischen oder zeitlichen Folge ankommt. So wird die Visitatio sepulchri gleich wiederholt (ein liturgischer Zug), wenn der Engel die Marien zurückruft, ihnen das leere Grab zeigt und sie das zurückgelassene Leintuch dem Chor und den Gläubigen vorweisen, »als wollten sie zeigen, dass der Herr auferstanden und nicht mehr darin eingewickelt sei«. Es handelt sich um die Re-Präsentation, die Erinnerung (Commemoratio als Gedächtnis und Anmahnung) einzelner biblisch verbürgter Momente der Heilsgeschichte im Rahmen einer paraliturgischen Osterfeier zur Bestätigung der christlichen Botschaft.

In solchen Spielansätzen lockerte sich immerhin die traditionelle Theaterfeindlichkeit der Kirche. Andere Vergegenwärtigungen knüpften daran an, zum Beispiel in den Weihnachtsfeiern, in denen ebenfalls Visitationes stattfanden, die der Hirten und der Heiligen Drei Könige. Dies wiederum brachte Herodes ins Spiel, den ersten Christenfeind, und den von Rachel beklagten bethlehemitischen Kindermord. Schließlich verkündeten die Propheten des Alten Testaments lateinisch gesungen die heilsgeschichtliche Zukunft. Ähnliche Anlagerungen gab es im Umkreis der Osterfeier: das Hin und Her des Pilatus und der Hohenpriester mit den Wächtern am Grab; die drei Marien beim Kauf der Salbe für den Leichnam Christi – der Krämer (Mercator) und sein ungebärdiger Gehilfe (oft Rubin genannt) sind die ersten bibelfremden Figuren in diesem Erweiterungsprozess –; schließlich die Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern und die »Szene« in Emmaus. Entschieden überschritten wurde der gewohnte Stoffkreis mit dem Abstieg Christi zur Hölle (Descensus), bei dem er die Altväter aus der Gewalt des Teufels befreit und ins Paradies führt.

Das waren nun doch Darstellungen, bei denen man fragte, ob sie in die Messfeier und in die Kirche gehörten. Der Descensus kommt zwar im Credo vor und war als Motiv in der Bildkunst geläufig, doch den Teufel hatten Bibel und Messe weitgehend ausgespart. Als Gegenspieler Gottes war er der Repraesentatio dramaturgisch und theatralisch willkommen, fast vonnöten, aber dem Spielanlass entsprach diese Bewertung nicht. Die Differenz, die sich hier zwischen christlichen Instanzen auftat, zeigte sich auch im Aufgreifen neuer Quellen für die Darstellung: apokrypher Evangelien, Legenden, bibelexegetischer Schriften, Predigten und theologischer Tradition. (Ein Sujet zu erfinden war dem mittelalterlichen »Theater« noch fremd.)

Einige fragmentarisch überlieferte, großteils lateinische Spieltexte des 12. und 13. Jahrhunderts übergehend, fragen wir nach dem qualitativen Sprung zum geistlichen Spiel des Spätmittelalters. Was war das Neue? (1) Die Durchführung der Spiele war nun weitgehend Sache der Städte. (2) Gespielt wurde überwiegend von Laien (im kirchlichen Sinn) für ein großes Publikum auf öffentlichen Plätzen. (3) Die gesprochenen Texte waren volkssprachig, also diesem Publikum verständlich. Der Gesang trat zurück. (4) Die Darstellung war mimetisch, auf gegenwärtige Lebenswirklichkeit bezogen. (5) Die Dimensionen hatten sich potenziert: die paraliturgischen Einlagen dauerten wenige Minuten, die Spiele Stunden, Tage, Wochen.

Ältere theatergeschichtliche Erläuterungen haben diese Unterscheidungen zwar berücksichtigt, sie indessen nicht modellhaft, sondern als Evolution aufgefasst. Die geistlichen Spiele sind jedoch nicht aus den paraliturgischen Festbräuchen schlichtweg »hervorgegangen«, knüpften aber an sie an (indem sie ihre Motive übernahmen), lösten sie auch nicht ab, ersetzten sie nicht, denn es gab diese daneben und danach bis ins 16. Jahrhundert und vereinzelt darüber hinaus. Also wurde das Spiel auch nicht einfach vom Kirchenraum auf den Marktplatz »verlegt«. Es handelt sich um einen prinzipielleren Genre-, fast Medienwechsel.