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Theo ist der Neffe von Bestseller-Autor Daniel Glattauer. Bei seiner Geburt fasste sein Onkel den Entschluss, das Kind beim Älterwerden zu beobachten und zu beschreiben, wie es die Welt der Erwachsenen für sich erobert. Einmal jährlich erschienen Porträts des Ein-, Zwei- und Dreijährigen. Mit drei gab Theo sein erstes Exklusivinterview. Danach war bald klar, dass sein Mitteilungsbedürfnis noch lange nicht gestillt sein würde. Nach Theos vierzehntem Geburtstag wurden die Rollen getauscht und das gemeinsame Projekt würdig abgeschlossen: Theo führte ein Revanche-Interview mit Onkel Daniel. Eines der witzigsten, herzerwärmendsten Bücher, das je über Kinder geschrieben wurde.
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Seitenzahl: 273
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Deuticke eBook
Daniel Glattauer
Theo
Antworten aus dem
Kinderzimmer
Deuticke
Die Geschichten des dreijährigen Theo sind 1997 unter dem Titel »Theo und der Rest der Welt« erstmals erschienen, die jährlichen Porträts waren in der Tageszeitung Der Standard erstmals zu lesen.
eBook ISBN 978-3-552-06151-4
Alle Rechte vorbehalten
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2010
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
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www.hanser-literaturverlag.de
www.daniel-glattauer.de
www.danielglattauer.com
Inhalt
7Oktober 1994
9Theo ist hier
16Theo lebt sich langsam ein
25Theo weiß, wovon er redet
33Theo schaut
40Theo spricht
52Theo telefoniert
56Theo bewegt sich (doch)
66Theo unter Menschen
84Theo unter Tieren
104Theo am Steuer
126Theo geht einkaufen
145Theo in Bibione
166Theo und die Kinder
179Theo im Gespräch
189Er fragt sich durch
Theo ist drei – und liebt das Bahnhofsmilieu
197Er spricht nicht mehr mit jedem
Theo ist vier – und erduldet die Bremer Stadtmusikanten
205Er feiert unter anderem sich
Theo ist fünf – und beherrscht den passiven Widerstand
213Er lebt für den Fußball
Theo ist sechs – und trägt die Nummer 6 von Mauerbach
220Er kann nur der Sieger sein
Theo ist sieben – und frönt dem türkischen Kartenspiel
226Er merkt sich viel zu viel
Theo ist acht – und besitzt zweieinhalb Meerschweinchen
234Er braucht Harry Potter nicht
Theo ist neun – und sinniert über Urlaube und Urzeitkrebse
240Er will Chinesisch reden
Theo ist zehn – und widerspricht den Ergebnissen der PISA-Studie
248Er kennt die Welt von A bis Z
Theo ist elf – und ignoriert das Internet
255Er bewegt sich nie genug
Theo ist zwölf – und lehnt Gespräche über Mädchen ab
263Oktober 2007
265Er nimmt Interview-Revanche
Theo ist vierzehn – und befragt Daniel Glattauer zum Schriftstellerdasein
Theo
Antworten aus dem
Kinderzimmer
Als ich Theo kennenlernte, war er ein außergewöhnlich kleiner Mensch. Er lag im Brutkasten, maß 47,5 Zentimeter Länge und behauptete 2570 Gramm Körpergewicht. Neugeborener ging es nicht. Er war seiner geplanten Gegenwärtigkeit im Lichte der Welt stolze dreißig Tage voraus. (Ein Vorsprung, den er bis heute nicht eingebüßt haben sollte.) Die Miniaugenlider waren zugeklappt. Der Mund hatte die Ausprägung und die Form eines Gedankenstrichs. Theo tat nur das Notwendigste, das er zum Leben brauchte (Luft holen), aber dies auf eine bewundernswert friedvolle Weise, in einer Gelassenheit, von der sich so mancher ordentlich etwas abschneiden könnte. Theos Anblick löste heftige Reaktionen rund um die Glasglocke aus. Wer ihn so sah, konnte gar nicht anders, als sich zu überlegen, was aus ihm einmal werden würde.
Einer von denen, die so dachten, war ich. Und ich hatte dabei einen schriftstellerischen Hintergedanken, der sogleich in den Vordergrund drängte und rasch den ganzen Kopf besetzte: Wie wäre es, einen Menschen zu beschreiben, der gerade erst begonnen hatte, ein solcher zu sein? Und ein Jahr später wieder, da wäre er dann schon wirklich wer. Und ein Jahr später wieder, da wäre er doppelt so alt wie der, der er gerade noch war. Und ein Jahr später wieder. Und wieder. Und immer wieder. Jedes Jahr. Meine Leser dürften stellvertretend für die Weltöffentlichkeit am Werdegang eines Neugeborenen Anteil nehmen, dabei zusehen, wie sich sein Ich entfaltet, wohin es ihn treibt, was ihn prägt, was er erlebt, was ihn beschäftigt, was er erzählt, wie er auf dem Bestehenden aufbaut und sich dennoch immer neu erfindet, wie er mit jedem Einzelnen von uns um die Wette reift und altert. Er soll es sein, der für uns die Jahresringe zeichnet. Er soll es sein, der für uns die Vergänglichkeit misst. Er hilft dem Lauf der Zeit auf die Sprünge, macht ihm Beine, stellt ihm sein Schuhwerk zur Verfügung.
Da lag er nun friedlich im Brutkasten. Theo, mein Neffe, mein Auserkorener, mein Held, mein Opfer, Instrument meines schriftstellerischen Ehrgeizes. Das Projekt konnte beginnen. Ach ja, eine 47,5 Zentimeter kleine Kleinigkeit war dabei wohl noch zu berücksichtigen: er! Er musste sich dafür hergeben. Er musste mitspielen. Ich brauchte sein Einverständnis. Ich brauchte sein Jawort. »Theo, ich bin’s, dein Onkel«, flüsterte ich ihm durch die Glaswand zu. »Nur eine kleine Frage: Lässt du dich von mir jährlich porträtieren?« – Keine Regung, kein Signal. »Theo, wenn du dagegen bist, öffne die Augen. Wenn du dabei bist, dann lass sie zu.« Ich wartete drei Minuten. Die Antwort war eindeutig.
Theo sucht. Er weiß zwar noch nicht, wonach, aber er spürt, dass es irgendwo mehr gibt als … Als was eigentlich? Theo kennt sich noch nicht aus. Er ist ziemlich neu hier. Wo eigentlich?
Die Schwangerschaft war angenehm. Dass Theo dabei herauskommen würde, wusste damals noch niemand. Für ihn war es beruhigend, eine Ärztin als Mama rundherum zu haben. Einmal, es muss im fünften Monat gewesen sein, flog er nach Griechenland. Dort blieb er drei Wochen. Dann flog er wieder zurück. War nicht so aufregend.
Theo ist ein Wunschkind. Zum Geburtstag wünschte er sich den 25. Oktober. Eigentlich hätte er erst viereinhalb Wochen später zur Welt kommen sollen. Überraschung!
Mamas Blutbild war schlecht. Theo hatte sich unkonventionell schräg in der Plazenta plaziert und Druck gemacht. Dienstag früh war es so weit. Der Operationstisch in der Wiener Semmelweis-Klinik war saukalt. Aber das berührte Theo nicht.
»Kaiserschnitt« klingt so, als würde die Sache wehtun. In Wirklichkeit hätte es Theo gar nicht besser erwischen können. Charakterbildung kann nicht früh genug beginnen: Theo, der Unerpressbare, von Geburt an offen für einschneidende Erlebnisse. Auch körperlich ist es die bessere Loslösung. Man ist nicht so verknautscht und verdrückt. Mama braucht sich nicht zu beschweren. Sie stand ohnehin unter Vollnarkose.
Papa stand außerhalb des Brutkastens und winkte. Er wog bei der Geburt 72 Kilogramm und war 1,76 Meter groß. (Theo 2570 Gramm bei 47,5 Zentimetern.) Papa ist Psychologe. Er glaubte, Theo in die Arme nehmen zu müssen, noch ehe er wusste, wie.
Mittlerweile ist das alles Routine. Rührend besorgt sind sie. Papa macht das volle Programm mit. Er ist der Typ, der Theo sogar stillen würde, wenn das technisch irgendwie einrichtbar wäre.
Theo wurde übrigens nicht bestimmt, sondern gewählt. Er verdankt sich der Fachliteratur »800 Vornamen von A bis Z«. Dort stand er unter »T«. Wäre er ein Mädchen geworden, so hätte er wahrscheinlich Oskara geheißen. Vielleicht wurde er deshalb ein Bub.
Die Verwandten und Bekannten hatten von »Theo« vehement abgeraten. Sie forderten (in Sprechchören): Lukas. Das stimulierte die Eltern. Und sie sollten recht behalten. Die, die vor der Geburt die Nase gerümpft und ein entsetztes »Theeeo? Wirklich?« ausgestoßen hatten, hört man jetzt »Theeeo! Da is er ja, na freilich, na so ein Süßer, der Theeeo!« jubeln.
Wem »Theo« zu wenig ist, der darf auch »Spatz« sagen, wie Mama es manchmal tut. Theos echter Kosename ist »Bebeto«. Dazu gibt es eine kleine Geschichte. (Erwachsene erzählen sich gerne kleine Geschichten über Babys.) Im fünften Monat war eine Fußballweltmeisterschaft, unter anderem im Fernsehen. Da hat ein gewisser Bebeto aus Brasilien ein Tor geschossen. (Oder hat er danebengeschossen?) Jedenfalls glaubte Mama im selben Moment ein leichtes Kitzeln im Bauch gespürt zu haben. Theo hat offensichtlich auf Bebeto reagiert.
Solche Geschichten entwickeln sich. Wenn Theo erwachsen ist, wird es heißen, er hätte Mama bei Bebetos Torschuss einen kräftigen Fußtritt, einen echten »Spitz«, in den Bauch versetzt. Man stelle sich vor, aus Theo wird einmal ein berühmter Fußballer: Die »Bebeto«-Story aus der Schwangerschaft würde gewiss ausufern. Kein Sportreporter, der Theo im Mutterbauch nicht schon erste Fallrückzieher trainieren und Eckbälle getreten haben ließe. Und der offizielle Grund für die Frühgeburt würde lauten: Freiluft-Kicker Theo hatte die Bedingungen in der Halle endgültig satt.
Theo wird wahrscheinlich kein Fußballer. Er wird Arzt oder Psychologe oder weder noch. Er darf alles werden. Er muss nur glücklich dabei sein. Papa würde Theo (und somit sich selbst) wünschen, dass er ein Denker wird. Er dürfte sich dabei ruhig (fast) so viel Zeit lassen wie Papa. Mama wäre es wichtig, dass sich Theo bei den praktischen Dingen im Leben zurechtfindet. Er soll mutig, entschlossen und zielstrebig sein. Gut verdienen darf er auch.
Beide wünschen ihm Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Offenheit gegenüber Fremden und ein Herz für die Schwachen. Er soll viel Geduld haben, aufrichtig sein und über sich selbst lachen können. Anerziehen kann man ihm nichts von alledem. Nur vorleben. Die Chancen stehen gut.
Im Jahr 2000, wenn Theo die erste Klasse Volksschule besucht – sollte eine solche dann noch existieren –, wird er eine Riesen-Schultüte tragen – sollten solche dann noch produziert werden. Er wird wahrscheinlich blond sein, sollten ihm ernsthaft einmal Haare wachsen. Es wird Buben mit dünneren Nasen und schmäleren Lippen als den seinen geben.
Theos Augen dürften groß werden und hellblau bleiben. Körpertyp: ziemlich athletisch (behauptet die Mama). Schuhgröße: 44 aufwärts. (Der Fußabdruck des Neugeborenen kann an Propheten nicht spurlos vorübergehen.)
Nach fast zwei Monaten auf der Welt, einem verfrühten und einem regulären, ist Theo jedenfalls reif für den ersten Titel. Er ist ein »Easy Baby«. Er gibt, den Umständen entsprechend, ziemlich klare Botschaften von sich, macht keine Geheimnisse daraus, wie er sich gerade fühlt und was er gerade will. Viel kann es ohnehin nicht sein: Entweder ihn drückt ein – Buh (sagt man bei Babys). Oder er ist müde. Dafür bleibt ihm allerdings nicht allzu viel Zeit. Derzeit verschläft er 16 von 24 Stunden.
Oder er ist hungrig. Theo konsumiert vier- bis fünfmal täglich. Es sind dies zweifellos die Höhepunkte seines Neugeborenen-Daseins. Meistens übertreibt er es mit der Menge. Sein Standpunkt: Lieber sich fünfmal übergeben als einmal hungrig zu Bett gehen. Dafür spart er sich viele dieser ungustiösen Rülpsgeräusche.
Zu geregelten Mahlzeiten hat er sich noch nicht durchgerungen. Am Anfang glaubte er, Milch fließt automatisch in seinen Mund, wann immer er die Unterlippe nach vorne wölbt. Dann kam er dahinter, dass da schon ein festes Etwas im Mund sein muss, ohne das sich keine Flüssigkeit gewinnen lässt.
In der Abgeschiedenheit des Gitterbetts spielen sich mitunter dramatische Szenen ab: Theo saugend auf der Suche nach dem Gegenstand, der Milch hergibt. Alle Kopfpolsterzipfel sind bereits hoffnungslos ausgelutscht. Immer wieder geraten ihm die eigenen Finger in den Mund. Sie fühlen sich jedes Mal vielversprechend an, sodass Theo unermüdlich dran saugt, bis sein Kopf rot wird.
Wenn sich dann noch immer kein Tropfen Milch gelöst hat, beginnt sich Theos Gesicht in Kummerfalten zu legen. Und es überkommen ihn immer heftigere Schübe von Unlust und Zweifel. Erst nur an der Tauglichkeit der Milchzufuhr, dann an der gesamten Existenz. Denn ohne Milch ist das Leben freudlos. Es tut richtig weh. Und Theo wünscht sich augenblicklich wieder in den für seine funktionierende Nahversorgung so beispielhaften Mutterbauch zurück.
Am Höhepunkt seines erbärmlichen Zustands besinnt er sich, ein »Easy Baby« zu sein, und beschließt, seine Verzweiflung der Außenwelt mit Pieps- oder Krächzgeräuschen, je nach Stimmpotenzial, kundzutun. Gleich darauf erscheint eine der beiden zuständigen schemenhaften Gestalten. Ist es Mama, gibt es sofort Milch. Ist es Papa, verzögert sich die Sache noch ein bisschen. Zum Glück hat Papa Lippen. An denen saugt sich Theo noch einmal beherzt fest – entweder im Glauben, er habe den Vorratsspeicher endlich gefunden, oder schlicht, um die Wartezeit zu überbrücken.
Optisch ist Theo noch nicht auf der Höhe. Seine Blicke finden nirgendwo Halt. Glaubt er, etwas erkannt zu haben, ist es auch schon wieder weg. Dann blendet er sich aus und klappt die Augen zu. Groß bleiben sie nur, wenn er sein Lieblingsbild studiert. Es besteht aus horizontalen schwarzen Stäben. Die verfolgt er mit stiller Andacht und Faszination der Reihe nach von unten nach oben. Wenn er am Ende eines Stabes angelangt ist, wirkt er meist ein wenig traurig. Entweder bedauert er die Vergänglichkeit, oder er hätte sich eine Pointe erwartet. Auf halber Höhe des vierten Stabes schläft er meistens ein.
Menschliche Gesichter findet er eher uninteressant. Sein Lieblingsporträt könnte das Phantombild eines Räubers sein. Aus der Kombination der beiden bevorzugten Zeichnungen (Gitterstäbe und Phantombild) lassen sich erste Rückschlüsse auf ein künftiges Hauptinteressensgebiet Theos ziehen.
Die Gerüche, die von Theo ausgehen, sind babygerecht. Er selbst kann sich (damit) ganz gut riechen. Meistens überwiegt die Duftnote der Körpercreme, manchmal setzt sich das Säuerliche von Milchresten in Mund und Rachen durch. Am Abend, nach dem Genuss von zwei Vitamintropfen gegen Rachitis, schwingt er eine leichte Alkoholfahne. An seine Umwelt stellt er geruchlich noch wenig Ansprüche.
Auf Musik kann er verzichten. Bei Frank Sinatra beginnt er zu gähnen. Das Glockenspiel eines Nilpferd-Mobiles über seinem Bett versetzt ihn in Furcht und Unruhe. Baby-Rasseln nerven ihn. Am friedlichsten stimmt ihn noch der elektrische Summton des Milch-Abpumpgeräts.
Wie es Theo geht? Danke, er kann nicht klagen. Die Umstände passen. Viel Freizeit. Wenig Stress. Gepflegtes Äußeres. Gesunder Schlaf. Geregelte Mahlzeiten. – Leider nur knausrige vier am Tag. Das kann auf Dauer nicht genügen. Da wird Theo mit seinen Verköstigern einmal ein ernstes Wort reden müssen. Eines von neun, die er bereits aussprechen kann.
Ein turbulentes Jahr ist vergangen, seit wir von Theo, dem Neugeborenen, erzählt haben. Theo nützt die Zeit. Er entwickelt sich. Er hat im Jahr fünf vor 2000 um ein Vielfaches mehr vom Leben gelernt als wir. Bei ihm bildet sich soeben das Urvertrauen. Er wird es gut gebrauchen können.
Wer Theo ist? Ein Baby. Irgendeines, möchte man meinen. Aber das ist ein Irrtum. Kein Baby ist irgendeines. Theo schon gar nicht. Er ist so besonders, wie jene ihn finden, an denen er reift. Die finden ihn ganz besonders. Das macht ihn ganz besonders.
Momentan ist Theo besonders fixiert. Nach vierzehn Monaten auf der Welt ist er auf den Geschmack gekommen. Essen, das allein schon ist es, wofür es sich lohnt, täglich aufzuwachen. Und zwar möglichst früh, um nichts aus der Küche zu versäumen.
Theo isst alles. Er unterscheidet dabei Grundnahrung von Feinkost. Gerichte der ersten Gruppe kommen von alleine auf ihn zu (er muss nur den Mund aufmachen). Um die Beschaffung der zweiten hat er sich selbst zu kümmern. Automatisch treffen ein: Milch im Morgengrauen, Marmeladebrot zum Frühstück, Hipp zu Mittag, Banane zur Jause, Brei oder Müsli in den Abendstunden.
Das ist freilich nur Theos Notprogramm, die eiserne Ration, der Überlebensbissen, den ihm keiner nimmt. Vorrang genießen die jeweiligen Menüs der Mitmenschen, imposant allein schon durch ihre gewaltigen Ausmaße auf den Tellern. Erwachsenen-Schnitzel – das sind Geräte. Würstel – treten nie allein auf, immer paarweise. Spaghetti Carbonara – Berge hoch drei.
Theos Problem: Er kann nicht zuschauen, wenn andere essen. Also mischt er mit. Also macht er sich bemerkbar. Also macht er: »Mmmm.« Es ist dies sein erster stimmkräftiger Durchbruch des Urvertrauens. Denn was mit »Mmmm« bezeichnet wird, ist von Theo so gut wie gegessen und schmeckt daher schon im Voraus exzellent. (Erwachsene neigen aus unerklärlichen Gründen dazu, »Mmmm« erst am Ende einer Mahlzeit von sich zu geben.)
Das Zeremoniell ist einfach: Theo erkennt die Umrisse von etwas Essbarem, fixiert es mit dem Blick, damit es nicht flüchten kann, lehnt sich gelassen zurück und hebt und senkt rhythmisch seine Mundwinkel (um schon einmal im Geiste vorzukosten). Höchste Zeit für ein erstes hingebungsvolles »Mmmm«. Dezentes Öffnen des Mundes. Augen leicht zukneifen, um den Genuss zu erhöhen. Schon liegt das Ding auf der Zunge.
Der Rest des Verspeisens ist Routine. Bei jedem weiteren »Mmmm« wiederholt sich der Vorgang. An starken Tagen bringt es Theo auf gut hundert »Mmmm«.
Die Gefahr des Missbrauchs ist gering. Kommt irrtümlich ein unerwünschter Bissen auf ihn zu, ist dieser mit einem kurzen »Wäää« mühelos abzuwenden. Bei großem Heißhunger, oder wenn die Alten wieder einmal auf der Leitung stehen, beschließt Theo spontan, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Aus traditionellen Gründen streckt er das eben Ergriffene dann einem der ausgebildeten Fütterer entgegen und macht genussvoll »Mmmm«. Dieser kleine Umweg garantiert einen sicheren Landeanflug des Bissens in den Mund.
Theo kann übrigens nicht nur essen. Er kann auch reden. Er spricht fließend: »Mama« (jede Frau). »Papa« (jeder Mann). »Dada« (jeder Gegenstand, sofern man ihn nicht essen kann, sonst hätte ihn Theo mit »Mmmm« bezeichnet). »Pupa« (Puppe, Stofftier). »Baba« (keine Bedeutung, steht für Theos spontane Lust, irgendwas zu sagen). »Hauhau« (auf die Frage: »Wie macht der Hund?«). »Tata« (auf die Frage: »Wie macht die Uhr?«).
Theos Eltern legen Wert auf die Feststellung, dass ihr Burli noch nie in seinem Leben »Auto« über die Lippen gebracht hat, obwohl ihm Motorengeräusche durchaus nachahmenswert erscheinen. (»Wie macht ein Auto?« – »Brrr.«)
Sein erstes Wort war »Bär« und galt – tatsächlich – seinem Stoffbären. Theos bisher größte verbale Leistung liegt in der Benennung der hauseigenen Pfeffermühle (»Fefamü«). Noch weiß er nicht, was dieses faszinierende Ding von sich gibt. Auf die Frage: »Wie macht die Pfeffermühle?« schwankt er zwischen »Hauhau« und »Tata«.
Theo kann übrigens nicht nur essen und reden. Er kann auch spielen. Dazu braucht er (unter anderem) Spielzeug – die Summe aller greifbaren, aber ungenießbaren Dinge, die sie einem nicht gleich wieder wegnehmen. Da wäre einmal der Holzwagen, eine Art Güterzug. Die Güter sind Ringe, die man auf das Dach stecken kann. Theos Problem: Er kriegt sie nicht mehr runter, denn da müsste er die Schwerkraft besiegen. Stecken alle Ringe auf dem Dach, scheint das Spiel beendet. Theo bleibt nichts übrig, als eine schreckliche Zugkatastrophe herbeizuführen, infolge derer die Ringe wieder frei herumrollen.
Derzeit sehr beliebt: ein Holzkasten mit drei Öffnungen, in die Kugeln, Drei- und Vierecke einzuwerfen sind. Die Hinterlist: Jede Form geht nur durch je eine Öffnung. Theos erbitterter Ehrgeiz besteht darin, alle Formen durch das Kugelloch zu bringen. Gelingt nur in 33,3 Prozent aller Fälle.
Theo ist kein Märtyrer. Bevor sein gesunder Zorn in Depression übergeht, modifiziert er das Spiel. Er vergrößert die Öffnung durch Abnehmen des Deckels und wirft alle Formen – durchaus erfolgreich – in den Kasten.
Sein Lieblingsspiel heißt »Geben und Nehmen«. Er spielt es, abgesehen von schlaf- oder essensbedingten Pausen, täglich durchgehend. Das Reizvolle daran ist, dass Erwachsene mitspielen müssen, ob sie wollen oder nicht.
Das Spiel wird mit »Da!« eingeleitet. Bei »Geben« hält Theo dem Partner einen Gegenstand seiner Wahl (Schuh, Gabel, Pfeffermühle) entgegen. Bei »Nehmen« fordert er die sofortige Rückgabe. Die Güter sind variabel, die Zahl der gegenseitigen Aushändigungen ist unbegrenzt. Theo »gibt und nimmt« bis zur vollkommenen Erschöpfung.
In diesem Zusammenhang fällt des Öfteren das Wort »danke«, bruchstückhaft – Theo sagt »ang«. Da für ihn das Schöne am Geben das anschließende Wiederbekommen ist, bedankt er sich bereits anlässlich seiner Überreichung. Im Augenblick der Rückgewinnung kann er sich vor Freude nicht mehr halten und bricht offen in Heiterkeitsstürme aus.
Das Wort »bitte« verwendet Theo übrigens nicht. Erstens kann er noch kein »I«. Zweitens fehlt jede Veranlassung. Mit »bitte« ist derzeit nichts zu erreichen. Die meisten Wünsche werden ohnehin erfüllt, die muss er nicht erst mühsam einfordern. Und manch faszinierendes Ding (Glühbirne, Bierglas, Schere) ist offensichtlich unerreichbar, damit muss er leben, da könnte er »bitte« schreien, bis er blau wird.
Wir sind mit Theos Spielen noch nicht fertig. Denn der Haushalt führt auch eine Stereoanlage, welche auf dem Kriechweg bequem zu erreichen ist. Theos Faszination gilt den Knöpfen, konkreter: zwei Knöpfen. Sie unterscheiden sich von den vielen reizlosen dadurch, dass sie mit »Nein!« bezeichnet werden. Und das ist auch schon der Spaß daran: Will man Papa und Mama »Nein!« sagen hören, muss man nur an einem dieser beiden Knöpfe drehen. (Der eine verstellt den Sender, der andere regelt die Lautstärke.)
Manchmal hat Theo das Gefühl, das Knopfspiel liegt seinen Eltern nicht. Sie können richtig unfreundlich werden. Dabei macht auch er mitunter alle Höhen und Tiefen durch. Als wäre das Drehen allein nicht schon aufregend genug, setzt plötzlich grässliches Zischen oder unerträglicher Lärm ein – und bewirkt, dass Theo über seine eigene Courage zu Tode erschrickt. Das anschließende »Theo, nein!« in ungemütlichem Tonfall hat ihm dann gerade noch gefehlt. In solchen Situationen überlegt er ernsthaft, sich einmal so richtig gehenzulassen – und kräftig loszuheulen.
Geweint wird nämlich selten, und wenn, dann nur in Notlagen. Vor ein paar Wochen erlitt er eine grobe Enttäuschung. Er hatte, von seinen Eltern unbeobachtet (die müssen ja auch nicht überall dabei sein), einen Stuhl von hinten bestiegen, um die Lehne zu besuchen. Plötzlich kippt das Ding um – und fällt genau auf seinen Kopf. Ja, er hat geweint, und zwar bitterlich, und er bekennt sich dazu! Er hat bis an die Grenze der Bewusstlosigkeit tief Luft geholt, um den Schmerz mit Leibeskräften in die Welt hinauszubrüllen. Denn der Stuhl hat ihm einfach verdammt wehgetan.
Wie nah Lachen und Weinen beieinander liegen, beweist die Waschmaschine. Sie verursacht bei Theo emotionale Wechselbäder. Dem ersten Teil ihrer Tätigkeit wohnt er mit Begeisterung und Andacht bei. Schön, wie sie wäscht, wie sie pritschelt und herumwurschtelt. Doch plötzlich wird sie bösartig, da rumpelt sie und zuckt und rattert und ruckt.
Leider hat Theo noch nicht gelernt zu flüchten. Also verharrt er am Unglücksort, Auge in Auge mit dem schleudernden Gespenst, und wartet unter Heulkrämpfen auf das Eintreffen der Rettungsmannschaften.
Noch sensibler reagiert er auf den Staubsauger. – Er hat ihn nur einmal in Aktion erlebt. Das hat genügt. Von diesem Schreck wird er sich nie wieder erholen. Jetzt kann das Gerät noch so entspannt im Eck herumlungern. Wenn Theo den Staubsauger sieht, muss er weinen.
Menschen findet er durchwegs heiter, nicht nur wegen ihrer erstaunlichen Geber-Nehmer-Qualitäten. Er mag das Lachen an ihnen, das Singen, die Grimassen und die Art, wie sie »au!« sagen, wenn man in ihre Nasen beißt. Größere Menschenansammlungen meidet er. Es gibt für ihn kaum Schlimmeres, als beim Geben-Nehmen-Spiel die Kontrolle zu verlieren und nur noch drei von fünf ausgeteilten Dingen rückerstattet zu bekommen.
Theo gilt als sonniges Gemüt. Enthalten ihm Mama oder Papa Gegenstände seines spontanen Verlangens vor, kann er allerdings ziemlich garstig werden. Nützt auch der Trotz nichts, ist mit geheimen Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen. Theo hat die Phase der »Objektpermanenz« schon erreicht. Er weiß, wo der Thermostat für die Dusche ist. Er muss ihn nicht sehen, um ihn zu finden. Eine leichte Drehung am Schalter – schon haben wir siebzig Grad Wassertemperatur.
Sonst ist Theo lieb. Das ist ihm durchaus bewusst – und er lässt sich dafür auch entsprechend feiern. Übertriebene Zärtlichkeiten schätzt er nicht. Gegen trockene Bussis zwischendurch ist nichts einzuwenden. Für Kuschelorgien ist ihm allerdings die Zeit zu schade. Es gibt im Umfeld einfach noch zu viele unerforschte Gegenstände und Geräusche – und Speisen natürlich auch.
Theo kann übrigens nicht nur essen, reden und spielen. Er kann auch schlafen. Derzeit bringt er es auf rund vierzehn Bettstunden, drei davon konsumiert er tagsüber. Die Nachtruhe hält er hoch, seit Monaten schläft er ohne Unterbrechung (zuletzt sehr konstant von neunzehn Uhr bis sechs Uhr dreißig).
Beim Schlafengehen dürfen die Eltern auf Showeinlagen verzichten. Theo braucht man keine Gutenachtgeschichten zu erzählen. Man muss auch nicht so tun, als wolle man die Nacht an seinem Bett verbringen. Theo lässt sich hellwach in sein Gitterbett stellen. Solange er etwas erkennt, wird er es nehmen und geben. Dreht jemand das Licht ab – dann ist das Programm beendet. Und es zählen nur noch zwei Dinge. Ein Daumen im Mund. Und eine Windel in der Faust. (Sie ist seine engste nächtliche Vertraute. Ohne sie kann er beim besten Willen nicht einschlafen.)
Plärren im Finstern überlässt er anderen Babys. Er lässt sich widerstandslos hinlegen, zudecken und abküssen. Dann sind die Erwachsenen entlassen. Und Theo ist endlich einmal mit sich allein.
Theo hört sich gerne reden. Da spürt er sich. Da weiß er, wie sehr es ihn gibt. Und darüber freut er sich.
Unter anderem freut er sich für uns. Denn er wird das Gefühl nicht los, ein Supertyp zu sein. Publikumsmagnet, Showmaster, Entertainer. Gesangsvirtuose, Essensverteiler, Autoverleiher. Immer im Zentrum des Geschehens, stets umringt von fröhlichen Gesichtern. Und sollten sich die Mienen gelegentlich verdüstern, nimmt er’s weder persönlich noch tragisch. Der Mitmensch ist eben ein launenhaftes Wesen.
Theo ist ausbildungsmäßig flott unterwegs. Innerhalb eines Jahres hat er sein Lebensalter verdoppelt und seinen Wortschatz vervielfacht. Mittlerweile spricht er fließend, wenn auch nicht immer deutsch. Ein Zweijähriger sollte seine ersten Drei-Wort-Sätze bilden können. Unter Sieben-Wort-Sätzen macht es Theo selten, je nach Dringlichkeit können es bis zu Zwanzig-Wort-Sätze werden. Zum Beispiel: »Theo will Affelsaft, Affelsaft, Affelsaft, Affelsaft …« Bis er ihn kriegt.
Sinn seiner unermüdlichen Alltagsplauderei ist es, die Umwelt einzubinden. Nichts begeistert ihn derzeit mehr (nichts außer »Billa einkaufen«, aber davon später) als das angeregte Gruppengespräch, der offene verbale Schlagabtausch.
Sagt Theo »Bib«, erwartet er sich von uns »Bab«, eine Pointe mit beträchtlichem Unterhaltungswert für ihn. Kommt »Bob«, ist er hellauf begeistert. So viel Originalität hätte er Erwachsenen gar nicht zugetraut. Bei »Bub« lacht er verschämt, als wäre das bereits ein Witz an der Grenze des guten Geschmacks.
Mit einem zusammenfassenden »Bib, Bab, Beb, Bob, Bub« gelang mir bei Theo der Durchbruch. – Er bog sich vor Lachen. Nun hält er mich für einen der lustigsten Menschen der Welt. Hoffentlich kann ich das Niveau halten.
Für mich ist es wichtig, bei Theo hoch im Kurs zu bleiben. Denn dieses dritte ist mit Sicherheit das letzte Theo-Porträt ohne seine persönliche Einwilligung. Er versteht nämlich langsam, was da läuft. Und er ahnt, dass sich seine Storys, in welcher Form auch immer, ganz gut verkaufen. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem er das erste Mal das hässliche Wort »Honorar« über die Lippen bringen wird.
Diesmal ist er noch zum Selbstkostenpreis hochgradig kooperativ. Einen Unsicherheitsfaktor sieht er lediglich in der Tatsache, dass die Bedeutung seiner Leistungen unterschätzt werden könnte. Deshalb bekräftigt er jede lobende Erwähnung seiner Person mit stürmischem Nicken und wartet ungeduldig auf meine eindeutigen Gesten des erstaunten Entzückens.
Dann beugt er sich über meinen Schoß, auf welchem das magische gelbe Heft liegt, deutet auf den Bleistift in meiner Hand und fordert: »Theo aufschreiben!« Erst danach ist er überzeugt, dass ich meiner Sorgfaltspflicht ausreichend nachgekommen bin.
Beginnen wir Theos Bestandsaufnahme mit einem seiner Lieblingsthemen: Essen. Theo isst gern und viel. Er kann es sich leisten. Erstens ist er bereits in der Lage, den Kühlschrank zu öffnen. Zweitens verfehlt er nur noch selten seinen Mund. Drittens wiegt er schwache 12,40 Kilo (Größe 87 Zentimeter, Schuhgröße 22, falls ihm jemand Schuhe kaufen will).
Seine Lieblingsspeisen: Kalbsleberstreichwurstbrot, Mandarinen und gelbe Fruchtzwerge. Auch nicht schlecht: ungarische Salami, Schnitzel mit Pommes (Pommes mit Ketchup, Ketchup mit Mayonnaise), Hipp und Kuchen von der Oma. Für den kleinen Hunger: Fluortabletten, nach denen ist er süchtig, keiner weiß, warum. (»Theo Fluortabletten aufschreiben!«, befiehlt er mir.)
Salat und Gemüse kommen ihm bestenfalls auf den Tisch, nur irrtümlich in den Mund, und wenn, dann schnell wieder heraus. Bei den Getränken setzt er die Baby-Tradition des Kakaokonsums fort. Im Kommen ist derzeit der Hollersaft, geil schmeckt Cola, zu »Bier« fällt ihm »Opa« ein. Und auf die Frage: »Theo, hast du Durst?« antwortet er gelegentlich: »Der Durscht bringt mi um!« (Es geht eben nichts über gut einstudierte Trinksprüche.)
Um noch kurz beim Thema zu bleiben, sagt er: »Mandarine!« Mama: »Später.« Theo: »Mandarine, Mandarine!« – Im Sinne von: jetzt oder nie. Mama: »Später!« – In ebendiesem Sinne. Theo (siegessicher): »Der Papa holt eine!«
Was passiert? – Der Papa steht auf und holt eine. Sein Prinzip: Man muss Kindern Vertrauen in die Kraft ihrer Worte geben. Theos Prinzip: Will man Dinge haben, dann kriegt man sie, wenn man so darüber spricht, als hätte man sie bereits.
Nächstes Thema: Schlaf. Eigentlich kein Thema. Theo steht auf, wenn er soll, und legt sich nieder, wenn er muss. Um halb sieben Uhr früh geht der Radiowecker los. Da Theo nicht ahnt, dass man ihn abdrehen kann, wacht er auf. Da er weder Frühstück machen noch arbeiten gehen muss, ist er gut aufgelegt.
Wenn Mama oder Papa vor dem Gitterbett auftauchen, ist der Tag gerettet. Wenn sie ihn gegen acht Uhr abends dort wieder abliefern, ist der Tag beendet.
Er verbringt die letzten Sekunden im Stehen, über den Rand des mit Bilderbüchern gefüllten Gitterbettes gelehnt, wie ein stolzer Seemann an der Reling eines aufbruchbereiten Dampfers. Mit verdächtigem Wohlwollen beobachtet er den Abgang des jeweiligen Verabschieders. Oft leitet er ihn mit den Worten »Mama (oder Papa) geht jetzt!« ein, was so viel wie »Entferne dich!« bedeutet (um es nicht noch derber zu formulieren).
Wahrscheinlich ist Theo derzeit der einzige Zweijährige Österreichs, der sich selbst das Licht abdreht, um sich vorsätzlich schlafen zu legen. Angst (vor der Finsternis) hat er nie. Er ist ja nicht allein. Er hat seine weiße Stoffwindel, eine psychologische Lebensstütze, die auch tagsüber immer in seiner Nähe sein muss. Schon beim leisesten Anflug von Unsicherheit verlangt er nach ihr. In der Nacht drückt er sie ganz fest an sich. Gemeinsam sind sie unbezwingbar.
Theo ist zwar manchmal aufrichtig verzweifelt (wenn er Worte fünfmal wiederholen muss, und sie noch immer keiner versteht), aber nie wirklich traurig. – Was kein Widerspruch dazu ist, dass er perfekt weinen kann. Tränen sind für ihn Perlen der Taktik. Sie stehen auf Abruf bereit, treten blitzartig und kerzengerade aus den Augen und trocknen in Bruchteilen von Sekunden, wenn sie überflüssig geworden sind.
Theo verträgt es nicht, wenn man »Nein!« sagt. Er verlangt ja die Dinge (Messer, Feuerzeug, Glas, Suppentopf …) nicht grundlos. Er will sie eben haben. Das erste »Nein!« steckt er meist noch mit ungläubigem Lächeln weg. (Kann doch nur ein Witz sein!) Beim zweiten »Nein!« wird er unruhig, beim dritten ungemütlich. Beim vierten versucht er es mit der Überrumpelungstaktik. Sagt Papa »Nein!«, antwortet Theo: »Das hat die Mama aber nicht gesagt!« und umgekehrt.
Nützt auch das nichts, helfen nur noch Tränen. Besonders effektiv sind sie in Kombination mit heftigem Zappeln und vorgetäuschter Atemnot. Wird sein Wunsch auch dann noch nicht erfüllt, bricht er die Katastrophenstimmung abrupt ab und wird wieder lustig. – Er muss mit seinen zerstörerischen Kräften haushalten, so viele hat er nicht.
Theo ist ein Glücksspieler. Wenn er spielt, ist er glücklich, also spielt er den ganzen Tag. Alibihalber mag er Puppen, da freut sich die Mama (dass sie keinen Macho großzieht). Tatsächlich mag er Autos, da freut sich der Papa (dass er mitspielen darf).
Recht attraktiv ist die Fädelraupe, am attraktivsten im ausgefädelten Zustand, in welchem sie sich bequem auf fünf Zimmer verteilen lässt. Das großartigste aller Spiele ist direkt aus dem Leben gegriffen und heißt »Billa einkaufen«. Mit »Billa« meint Theo jeden Supermarkt, egal, ob er sich gerade Merkur, Zielpunkt, Spar (…) oder sonst wie nennt. Billa hat bei ihm quasi das Vorkaufsrecht, weil sich ein Kaufhaus der Kette gleich ums Eck befindet. Außerdem lässt sich der Name vortrefflich schön aussprechen. An dieser Stelle muss auf Theos »L« hingewiesen werden – sein Lieblingsbuchstabe, bei dem er sich gern länger aufhält. Er holt sich ihn tief aus dem Rachen und schleudert ihn mit leicht gedrehter, an den Vorderzähnen abgestützter Zunge wuchtig ins Freie.
Besonders bemüht ist er bei den Wörtern Familie (Famillle) und Daniel (Danelll), bei »Hoch soll er leben« (llleben) und eben bei der Bezeichnung des absoluten Highlights seines Daseins: »Billlla einkaufen!«
Das Spiel sieht ihn in der glanzvollen Doppelrolle des Käufers und Verkäufers, die einander stundenlang alles geben und nichts schenken. Die Lust steigert sich durch die Anwerbung neuer Käuferschichten (Mama, Papa, Oma …) und in der Verwendung echter Güter, wie Bananen oder Mandarinen, die Theo am Ende auch noch essen darf.
So schön wie ein echter Kaufhausbesuch kann freilich das beste Spiel nicht sein. Deshalb drängt Theo (an guten Tagen bis zu fünfzigmal): »Gemma Billa einkaufen!« Drei-, viermal pro Woche erfüllt sich sein Wunsch. Dann thront Theo hoch oben im Einkaufswagen und lässt sich von einem Waren-Dorado ins nächste schieben. Alle paar Sekunden verliebt er sich in eine neue Packung und legt all seine Überzeugungskraft in die Worte: »Müss ma kaufen!« Oder er startet mit einem entzückten »Da!«, erfährt zum Beispiel: »Das ist ein Eierlikör.« Und antwortet in höchster Dringlichkeit: »Eierlikör brauch ma!«
»Billa einkaufen« ist für Theo aber nicht nur Sehen, sondern auch Gesehenwerden. Im Merkur, einem zweiten »Billa« in der Wohngegend, hält er sich gern in der Schuhabteilung auf, um Passanten seine neuen grünen Lederböcke entgegenzustrecken. Mit leicht nasalem Unterton erklärt er, falls es jemand nicht erkannt haben mag: »Doktor Martens!« Sinngemäß soll das heißen: Ihr könnt aufhören zu suchen, die steilsten besitze ich.
»Theo Doktor Martens aufschreiben!«, befiehlt er mir bei dieser Gelegenheit. – Damit nicht genug. Er holt drei Paar Schuhe, legt sie auf den Tisch, sagt: »Theo Schuhe!« und nimmt Gratulationen entgegen. Mama sagt: »So, Theo, und jetzt räum die Schuhe wieder weg!« Theo: »Nein.« (An ihn gerichtete Befehle liegen ihm nicht.) Mama: »Theo, räum die Schuhe weg!« Theo (weinerlich): »Nein.« Mama: »Theo, was hab’ ich gesagt?« Theo: »Schuhe nicht wegräumen.« Also ein klassisches Missverständnis.
Für Theo ist Kaufhaus mit Schlaraffenland gleichzusetzen. Unvorstellbar, dass es da irgendwas nicht geben könnte. Hierzu eine kleine Episode: Theo liegt auf dem Wickeltisch, lernt ein bedeutsames Körperteilchen kennen und stellt fest: »Theo hat ein Spatzi.« Papa kann es offenbar nicht erwarten, ihn aufzuklären und sagt: »Mama hat kein Spatzi.« Theo trägt’s mit Fassung: »Müss ma Billa kaufen!«