Theodor Fontane: Kriegsgefangen - Erlebtes 1870 & Reisebriefe vom Kriegsschauplatz - Theodor Fontane - E-Book
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Theodor Fontane

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Beschreibung

In 'Kriegsgefangen - Erlebtes 1870 & Reisebriefe vom Kriegsschauplatz' präsentiert Theodor Fontane eine Sammlung von Berichten über seine Erlebnisse als Kriegskorrespondent während des deutsch-französischen Krieges von 1870. Fontanes literarischer Stil zeichnet sich durch eine präzise und anschauliche Beschreibung der Kriegsschauplätze sowie durch eine einfühlsame Darstellung der menschlichen Erfahrungen im Krieg aus. Die Reisebriefe bieten einen faszinierenden Einblick in die politischen und sozialen Verhältnisse dieser Zeit und geben dem Leser einen tieferen Einblick in Fontanes Erlebnisse und Beobachtungen während des Krieges. Fontanes Werk ist von historischer Bedeutung und zeigt sein außergewöhnliches Talent als Schriftsteller und Beobachter seiner Zeit.

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Theodor Fontane

Theodor Fontane: Kriegsgefangen - Erlebtes 1870 & Reisebriefe vom Kriegsschauplatz

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2583-5

Inhaltsverzeichnis

Kriegsgefangen. Erlebtes 1870
Reisebriefe vom Kriegsschauplatz

Kriegsgefangen. Erlebtes 1870

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

«In's alte, romantische Land.»
1. Domrémy
2. Neufchateau.
3. Langres
4. Von Langres bis Besançon.
5. Die Citadelle von Besançon.
6. Rückblicke.
«Comme officier supérieur.»
1. Von Besançon bis Lyon.
2. Lyon.
3. Moulins.
4. Guéret
5. Poitiers - Rochefort.
6. Marennes.
Ile d'Oléron.
1. Die Insel Oléron.
2. Ankunft.
3. Die Citadelle.
4. Rasumofsky.
5. Blanche.
6. Le Rempart.
7. Mittag.
8. Theestunde.
9. Regentage
10. Der Überfall von Ablis.
11. Drei von den 3. Garde-Ulanen.
12. Fünf vom 14. Jäger-Bataillon
13. Begräbniß.
14. Sturm im Glase Wasser.
15. «Sentinelle, prenez garde à vous.»
Frei.
1. Unverhofft kommt oft.
2. Der letzte Sonntag.
3. Der letzte Abend.
4. Abschied.
5. Rückreise.

«In's alte, romantische Land.»

1. Domrémy

Inhaltsverzeichnis

Wie heißt der Ritter?

Baudricourt. Er steht Kaum einen Tagesmarsch von Vaucouleurs.

Ich bin nur eines Hirten niedre Tochter Aus meines Königs Flecken Domrémy, Der in dem Kirchensprengel liegt von Toul.

(Jungfrau von Orleans.)

Am 2. Oktober war ich in Toul. Ich kam von Nancy. Nancy ist eine Residenz, Toul ist ein Nest. Es machte den Eindruck auf mich wie Spandau vor dreißig Jahren. Die Kathedrale ist bewunderungswürdig, das Innere einer zweiten Kirche (St. Jean, wenn ich nicht irre) von fast noch größerer Schönheit, aber von dem Augenblick an, wo man mit diesen mittelalterlichen Bauten fertig ist, ist man es mit Toul überhaupt.

In 2 Stunden hatt' ich diese Sehenswürdigkeiten hinter mir und dennoch war ich gezwungen,  2 Tage an dieser Stelle auszuhalten. Dies hatte darin seinen Grund, daß unmittelbar südlich von Toul das Jeanne d'Arc—Land gelegen ist, und daß es, Dank dem Kriege und den Requisitionen unmöglich war, in der ganzen Stadt einen Wagen aufzutreiben. Die Partie selber aufzugeben schien mir unthunlich, ich hätte jede Mühe und jeden Preis daran gesetzt. Endlich, am Nachmittage des zweiten Tages, hieß es: Madame Grosjean hat noch einen Wagen. Ich athmete auf. In einem schattigen Hinterhause, dicht neben der Kathedrale, fand ich die genannte Dame, die bei zurückgeschlagenen Gardinen in einem großen Himmelbette saß. Sie war krank, abgezehrt, hatte aber die klaren, klugen Augen, die man so oft bei hektischen Personen findet, und die nie eines Eindrucks verfehlen. Wir unterhandelten in Gegenwart zweier Gevatterinnen, die mindestens eben so gesund waren, wie Madame Grosjean krank. Das Geschäftliche arrangirte sich leicht, nur ein Uebelstand blieb, an dem auch jetzt noch die Partie zu scheitern drohte: das einzig vorhandene Gefährt, ein char à banc, war nämlich zerbrochen, und Mr. Jacques, Schmied und Stellmacher, hatte erklärt, überbürdet mit Arbeit, die Reparatur nicht machen, keinesfalls aber den Wagen abholen lassen zu können. In diesen letzten Worten schimmerte doch noch eine Hoffnung. Ich eilte also auf die Straße, engagirte zwei Artilleristen vom Regiment «Feldzeugmeister», spannte mich selbst mit vor, und im Trabe jagten wir nun mit der leichten Kalesche über das holprige Pflaster hin, in den Arbeitshof des Mr. Jacques hinein. Dieser war ein Hüne, also gutmüthig wie alle starken Leute. Meine Beredsamkeit in Etappen–Französisch amüsirte ihn ersichtlich und wir schieden als gute Freunde, nachdem er versprochen hatte, bis Sonnenuntergang die Reparatur machen zu wollen. Er hielt auch Wort.

In der Dämmerstunde klopfte es an meine Thür. Ein Blaukittel trat ein, teilte mir mit, daß er der «Knecht» der Madame Grosjean sei, und daß wir am andern Morgen 7 Uhr fahren würden. Soweit war Alles gut. Aber der Blaukittel selbst flößte mir wenig Vertrauen ein, am wenigsten, als er schließlich versicherte: die Partie sei in einem Tage nicht zu machen, wir würden nach Vaucouleurs fahren, von dort nach Domrémy und von Domrémy wieder zurück nach Vaucouleurs, aber mehr sei nicht zu leisten; in Vaucouleurs müßten wir übernachten. Er berief sich dabei auf einen russischen Grafen, mit dem er vor Jahresfrist dieselbe Partie gemacht habe, und begleitete seine Rede, die mir aus nichts als aus den vollklingenden Worten «Kilometer» und «quatre-vingt-douze» zu bestehen schien, mit den allerlebhaftesten Gesten. Ein starker Verdacht schoß mir durch den Kopf; wer indessen viel gereist ist, weiß aus Erfahrung, daß auf solche Anwandlungen nicht allzuviel zu geben ist, und ich entließ ihn ohne Weiteres mit einem kurzen: Eh bien, demain matin 7 heures. Ich freute mich sehr auf diesen Ausflug. Das Mißtrauen, das so plötzlich in mir aufgestiegen war, galt mehr dem Blaukittel in Person, als der Gesammtsituation, und dieser Person glaubte ich schlimmsten Falls Herr werden zu können. Ich lud meinen Lefaucheux Revolver und wickelte ihn derart in meine Reisedecke, daß ich durch einen Griff von rechts her in die nun muffartige Rolle hinein, den Kolben packen und eine «Gefechtsstellung» einnehmen konnte. Ich muß dies erwähnen, weil es zu einer späteren Stunde von Wichtigkeit für mich wurde. Daß ich den Revolver nicht mit mir führte, um etwa auf eigene Hand Frankreich mit Krieg zu überziehen, brauch ich wohl nicht erst zu versichern; man hat aber die Pflicht, sich gegen mauvais sujets und die Effronterien des ersten besten Strolchs zu schützen.

7 Uhr früh rasselte der Wagen über das Pflaster und hielt vor meinem Hotel. Ich war fertig; eine Viertelstunde später lag Toul hinter uns.

Bis Vaucouleurs sind 3 Meilen. Von rechts her traten mächtige Weingelände, in der Mitte des Abhangs mit hellleuchtenden Dörfern geschmückt, bis an die Straße heran; nach links hin dehnten sich Fruchtfelder, dahinter Bergzüge, oft in blauer Ferne verschwimmend. Es war eine entzückende Fahrt; die Chaussee bergansteigend und wieder sich senkend, dann und wann ein Flußstreifen, eine Wassermühle, dazu rund umher das Herbstlaub in hundert Farben schillernd. Ehe wir noch die erste große Biegung des Weges erreicht hatten, erfüllte sich, was sich immer zu erfüllen pflegt: ein Fußgänger stand am Wege und bat, aufsteigen zu dürfen. Der Kutscher stellte ihn mir als einen seiner «Freunde» vor. Ich kann nicht sagen, daß er mir dadurch besonders empfohlen worden wäre, und ich rückte meine Reisedecke unwillkürlich etwas zurecht. Ich hatte aber unrecht. Der neue Fahrgast erwies sich als ein freundlicher, angenehmer Mann; plaudernd über Krieg und Frieden fuhren wir um 10 Uhr in Vaucouleurs hinein.

Ein reizender kleiner Ort. Der Kutscher hatte zwei Stunden dafür festgesetzt, Zeit genug, die alte Kapelle und das leidlich wohlerhaltene Schloß des «Ritters Baudricourt», das die Stadt beherrscht, zu besuchen. Ueber diese Erinnerungsstätte zu berichten, ist hier nicht der Ort. Um 12 Uhr weiter nach Domrémy.

Domrémy — das von den Bewohnern dortiger Gegend immer nur Dórmy ausgesprochen wird — liegt noch dritte halb Meilen südlich von Vaucouleurs. Das Terrain verändert sich hier etwas und nimmt mehr und mehr den Charakter eines Defilées an. Die Höhenzüge zur Rechten bleiben dieselben, aber von gegenüber treten die Berge näher heran, während unmittelbar zur Linken ein breites Wiesenthal sich zieht, drin die Meuse fließt; das Ganze nicht ohne Reiz, aber ein wenig kahl und verbrannt, voll frappanter Ähnlichkeit mit dem Nuthethal, das sich von Potsdam aus, an Saarmund vorbei, bis hinauf an die alte sächsische Grenze zieht. Halben Wegs erreicht man Burey en Vaux, das Dörfchen, wohin Jeanne d'Arc zu ihrem Oheim Durand Laxart ging, als sie im elterlichen Hause nicht länger wohlgelitten war; dann (zur Linken) ein mittelalterliches, halb schloßartiges Gehöft, bis endlich, bei einer Biegung des Weges, Domrémy selbst mit einzelnen seiner blitzenden Dächer sichtbar wird. Nicht mit seiner Kirche. Es hat nur eine Kapelle, die, etwas tief gelegen, sich hinter Pappeln und anderem Baumwerk versteckt. 

Die letzten zehn Minuten vor Einfahrt in das Dorf waren die schönsten. Es war, als ob die Reisegötter hier noch einmal den Zweck verfolgten, ein Übriges für mich tun und die ganze Szene künstlerisch abrunden zu wollen. Ein Geistlicher in weißem Haar und dreikrempigem Hut kam des Weges; wir grüßten einander. Ein Hirt folgte; strickend schritt er seiner Herde vorauf. Durch die herbstlich klare Luft zogen Tausende von Sommerfäden, und auf meine neugierige Frage, welchen Namen diese weißen Fäden in Frankreich führten, antwortete der Kutscher: les cheveux de la Ste Vierge. War es denkbar, unter glücklicherer Vorbedeutung in das Dorf der Jeanne d'Arc einzuziehen? Und doch täuschten alle diese Zeichen.

Um 3 Uhr etwa fuhren wir in die Hauptstraße von Domrémy hinein. Es ist ein Dorf von mittlerer Größe, eher klein. Der Eindruck trotz hellen Sonnenscheins und des weißen Anstrichs der Häuser, war ein düsterer; alles schien auf Verfall und Armuth hinzu deuten. In der Mitte des Dorfes hielten wir vor einem rußigen anscheinend herabgekommenen Gasthause, das in verwaschenen Buchstaben die Inschrift trug: Café de Jeanne d'Arc. Es war unheimlich. Ich hatte dieselbe, mich direkt ins Herz treffende Empfindung wie am Abend vorher, wo der Blaukittel mich besucht und seine Botschaft ausgerichtet hatte.

Ich eilte, mich diesem Eindruck zu entziehen; die geweihte Stätte, wo «la Pucelle» geboren wurde, schien mir der geeignetste Platz dazu. Ich brach also unverzüglich auf. Es waren nur 150 Schritt; in einem Stück Gartenland lag das ehrwürdige Gemäuer. Ich zog die Glocke an einem sauberen drahtgeflochtenen Gitterthor, das den Garten von der Straße schied. Eine «Religieuse» öffnete und machte die Führerin. Und siehe da, als ich erst in der Nische über der niederen Eingangsthür das in Stein gemeißelte Bild der gewappneten Jungfrau, innerhalb des Hauses selbst aber den alten eichenen Wandschrank sah, der ihr Jahre lang als Truhe gedient hatte, fiel alles Mißtrauen wieder von mir ab und ich fühlte mich ganz dem Zauber dieser Stunde hingegeben. Ich machte meine Notizen, trat dann zurück in den Garten und versenkte mich noch einmal in den Anblick dieses in Geschichte und Dichtung gleich gefeierten Ortes. Convolvulus rankte sich um die Stämme einiger Cypressen; Resedabeete füllten die Luft mit ihrem Duft, die Religieuse sprach leise freundliche Worte; — Alles war Poesie.

In unmittelbarer Nähe des Hauses «de la Pucelle» liegt die Kapelle. Sie ist gothisch. Einige Glasfenster, namentlich eines, dessen bunte Scheiben das Wappen der Jeanne d'Arc aufweisen, deuten auf das 15. Jahrhundert zurück; das meiste aber ist modern. Ich verweilte wohl eine Viertelstunde an dieser Stelle, mir jedes Kleinste einprägend, und trat dann wieder vor das Portal der Kapelle, zu deren Linken sich eine Statue der Pucelle erhebt. Diese kniet im Gebet, preßt die linke Hand aufs Herz, während sie die rechte gen Himmel hebt; — eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit.

Ich klopfte eben mit meinem spanischen Rohr an der Statue umher, um mich zu vergewissern,  ob es Bronce oder gebrannter Thon sei, als ich vom Café de Jeanne d'Arc her eine Gruppe von 8 bis 12 Männern auf mich zukommen sah, ziemlich eng geschlossen und unter einander flüsternd. Ich stutzte, ließ mich aber zunächst in meiner Untersuchung nicht stören und fragte, als sie heran waren, mit Unbefangenheit: aus welchem Material die Statue gemacht sei? Man antwortete ziemlich höflich: «aus Bronce», schnitt aber weitere kunsthistorische Fragen, zu denen ich Lust bezeugte, durch die Gegenfrage nach meinen Papieren ab. Ich überreichte ein rothes Portefeuille, in dem sich meine Legitimationspapiere befanden, selbstverständlich nur preußische. Man suchte sich darin zurecht zu finden, kam aber nicht weit und forderte mich nunmehr auf, zu besserer Feststellung sowohl meiner Person, wie meiner Reiseberechtigung ihnen in das Wirthshaus zu folgen.

Die ganze Scene, so peinlich sie war, hatte, der Gesammthaltung der Dorfbewohner nach, nicht gerade viel Bedrohliches gehabt und schien nach unserm Eintreten in das Wirthshaus, wo  bald Wein und Reimser herumgegeben wurden, ein immer helleres Licht gewinnen zu wollen. Ich machte alle Umstehenden, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, mit dem Inhalt meiner Legitimationspapiere bekannt und setzte ihnen offen den Zweck meiner Reise und dieser speziellen Excursion nach Domrémy auseinander, was alles wohl aufgenommen wurde. Aber der kleine Lichtstrahl, der eben durchbrechen wollte, sollte bald wieder schwinden. Ich war eben noch im besten Peroriren, als ein junger Bauer, der sich mit meinem Stock zu thun gemacht hatte, die Krücke aus der Stockscheide zog und mit einem «ah, un poignard» die mir zuhörende Gesellschaft überraschte. Es durchfröstelte mich etwas, weil ich klar einsah, was jetzt nothwendig kommen mußte. Ich faßte mich aber schnell und zur Initiative greifend, die allein einem Schlimmeren vorbeugen konnte, sagte ich mit Ruhe: Naturellement, Messieurs, je suis armé . Ich sprach es so, daß man heraushören m u ß t e: mit diesem Poignard allein ist es nicht getan. Man verstand mich auch sofort und von mehreren Seiten hieß es jetzt: «ah, ah! Sans doute un revolver» , während Andere dazwischen riefen: «où est-il? où sont ses effets? cherchez! apportez!»«wo ist er? Wo sind seine Sachen? Sucht sie! Bringst sie her!] Man brachte alsbald meine Reisedecke und bestand seltsamerweise darauf, daß ich sie selber öffnen solle. Es war, als hätte ich sie mit Torpedos geladen. Ich konnte mich selbst in diesem Augenblicke eines Lächelns nicht erwehren, löste die Riemen, wickelte die Decke auseinander und überreichte meinen Revolver. Er ging von Hand zu Hand; ich konnte wahrnehmen, daß er mit sehr verschiedenen Gefühlen betrachtet wurde.

Die Situation war bereits heikel genug, aber schlimme Momente kommen nie allein; so auch hier. In eben diesem Augenblick, wo die Stimmung gegen mich ziemlich hoch ging, drängte sich durch den dichtesten Haufen ein wüst aussehender Geselle, der, gedunsen und kurzhalsig, seiner apoplektischen Anlage durch 6 Litre Wein täglich zu Hülfe zu kommen schien, stellte sich sperrbeinig vor mich hin, schlug mit der Faust auf seine Brust und erklärte mit lallender Zunge: «Je suis le Maire.» Dies kam mir sehr ungelegen. Ich griff zu einem verzweifelten Mittel und sagte ihm unter Verbeugung, «daß ich erfreut sei, ihn zu sehen», was bei Einzelnen (ich hatte also richtig gerechnet) sofort eine gewisse Heiterkeit zu meinen Gunsten erweckte und die Gebildeteren veranlaßte, die Dorfobrigkeit, die noch allerhand faselte, bei Seite zu schieben. Dies war sehr wichtig für mich. Solch trunkener Imbecile , an dem Alles, was Vernunft und Wahrheit ist, nothwendig scheitern mußte, war das Schlimmste, was mir in solchem Momente begegnen konnte.

Einer aus dem Kreise der Minorität trat jetzt an mich heran und fragte ruhig: ob ich damit einverstanden sei, daß man mich nach Neufchateau auf die Souspräfektur führe? Ich mußte lächeln; ebenso gut hätte er mich fragen können, ob ich damit einverstanden sei, gehängt zu werden? Ich mußte eben tragen, was über mich beschlossen wurde.

Meine Einwilligung war ausgesprochen, als man meinen Kutscher, der mich übrigens nicht verrathen hatte, antrieb, seinen Braunen wieder einzuspannen. Ich bezahlte meine Zehrung, die Wirthin nahm das Geld und sah mich mitleidsvoll an. Sie schien sagen zu wollen: die Welt ist toll geworden. Im Moment, wo ich auf den Flur hinaustrat, legte ein hübsch aussehender, rothblonder Mann seine Hand auf meine Schulter und flüsterte mir zu: «Monsieur, encore un moment!» Er wies auf ein großes Hinterzimmer, in das er voranschritt; ich folgte. Als wir allein waren, zeigte er mir ein Papier, das an seiner Spitze ein umstrahltes Dreieck und in dem Dreieck, soviel ich erkennen konnte, einige hebräische Zeichen trug. «Connaissez-vous cela?» Es schien mir ein Freimaurer–Papier. Ich antwortete: «Nein», hinzusetzend, daß ich die Bedeutung allerdings zu kennen glaubte. «Ah! c'est bon!» Er steckte sein Papier wieder ein und ich war entlassen. Ob er wirklich meine Freilassung durchsetzen wollte, oder ob das Ganze umgekehrt nur eine Falle war, darüber kann ich bloß Vermuthungen hegen. Das Eine ist so gut möglich, wie das Andere. 

Wir stiegen auf. Rechts der Kutscher, links ein Franctireur, ich eingeklemmt zwischen beiden; hinter uns, auf einem Strohbündel, lagen zwei Blousenmänner. Die Sonne war im Niedergang, der Abend klar und schön; so ging es auf Neufchateau zu.

2. Neufchateau.

Inhaltsverzeichnis

What may this mean, That thou Revisit'st thus the glimpses of the moon?           *   *   * How now! a rat?

Hamlet.

Die Blousenmänner schliefen; mein Nachbar der Franctireur aber plauderte und rauchte seine Cigarrette. Er war frisch, patriotisch bescheiden; meine Situation flößte ihm eine gewisse Theilnahme ein. Ich fragte nach dem Souspräfekten. Der Franctireur nannte mir den Namen: Mr. Cialandri, ein Corse. Ich kann nicht sagen, daß mir bei diesem Zusatz besonders wohl geworden wäre. Ein Corse! Die Engländer haben ein Schul- und Kinderbuch, das den Titel führt: «Peter Parley's Reise um die Welt, oder was zu wissen noth thut.- Gleich im ersten Kapitel werden die europäischen Stationen im Lapidarstyl charakterisirt. Der Holländer wäscht sich viel und kaut Tabak, der Russe wäscht sich wenig und trinkt Branntwein; der Türke raucht und ruft Allah. Wie oft habe ich über Peter Parley gelacht. In Grunde genommen stehen wir aber allen fremden Nationen gegenüber mehr oder weniger auf dem Peter-Parley-Standpunkt; es sind immer nur ein, zwei Dinge, die uns, wenn wir den Namen eines fremden Volkes hören sofort entgegentreten: ein langer Zopf, oder Schlitzaugen, oder ein Nasenring. Unter einem Corsen hatte ich mir nie etwas anderes gedacht als einen kleinen braunen Kerl, der seinen Feind meuchlings niederschießt und drei Tage später von dem Bruder seines Feindes niedergeschossen wird. Man kann daraus abnehmen, welcher Trost mir aus der Mittheilung erwuchs, daß Mr. Cialandri ein Corse sei.

Es dunkelte schon, als wir in Neufchateau einfuhren. Die Straßen waren wenig belebt; nach einigem Hin- und Herfragen hielten wir vor der Souspräfektur. Der Anblick war der freundlichste von der Welt. Ein Gitter, ein kiesbestreuter Vorhof, dahinter eine Villa, im italienischen Castell-Styl aufgeführt. Das Baumaterial war rother Ziegel; Wein und Pfirsich rankten am Spalier. Nach erfolgter Anmeldung wurde ich Trepp' auf geführt. In einem mit türkischem Teppich ausgelegten Salon saßen die Damen des Hauses; ein Diener brachte eben die Lampen; ich verneigte mich. Mr. Cialandri empfing mich an der Schwelle des dahinter gelegenen Zimmers, das dieselbe Eleganz zeigte: Marmorkamin, breite Spiegel, Fauteuils. Auf einem derselben wurde ich gebeten, Platz zu nehmen. Mr. Cialandri setzte sich mir gegenüber. Das Kaminfeuer beleuchtete seine Züge.

Es war ein schmächtiger Mann, von vollkommen weltmännischer Tournüre, dabei augenscheinlich krank. Er entschuldigte sich, daß er im Flüstertone sprechen müsse. Sein Auge war dunkel; sein Teint erdfahl; wenn sich irgend eine Blutrache an ihm vollzogen hatte, so konnte sie nur den Charakter anhaltender Aderlässe gehabt haben. Er drückte sein Bedauern aus, bei den Zeitläuften, die leider herrschten; mich nicht ohne Weiteres in Freiheit setzen zu können; der Capitain der Gensdarmerie, nach dem er bereits geschickt habe, werde das Weitere veranlassen.

Die Situation, Alles in Allem genommen, schien mir nicht hoffnungslos; aber sie sollte sich bald verändern. Der Capitain trat ein, verbeugte sich leicht und nahm dann den mit leiser Stimme gegebenen Bericht des Souspräfekten entgegen. Dann und wann warf er ein kurzes Wort ein und blickte, scharf musternd, mit seinen dunklen Augen zu mir herüber. Ich hasse im Allgemeinen nichts mehr als diese thörichten Augenkämpfe die, aus einer falschen Vorstellung von Muth und Mannhaftigkeit hervorgehend, schon so viel Unheil angerichtet haben; diese Blicke aber hielt ich aus. Woher mir, bei sonstiger Scheuheit, die Kraft dazu kam, weiß ich nicht. Gleichviel, ich hielt aus. Gefühl der Unschuld, Abwehr gegen offenbare Provokation, endlich die ruhige Ueberzeugung, daß man durch sich Kleinmachen noch nie das Herz eines Feindes erobert hat — all' das mochte zusammenwirken. 

Der Capitain wandte sich jetzt an mich:

Vous êtes officier prussien?

Non!

Vous avez fait une «excursion» à Domrémy?

Oui!

Vous suivez votre armée?

Oui et non! En tout cas je n'en dépends pas.

Ah, ah! — Vous avez été à Toul?

Oui!

A Nancy!

Oui!

Vous êtes médecin?

Non.

Mais vous portez la croix rouge!

Oui; comme légitimation.

Ah, ah!

Nun folgte wieder ein Geflüster und eine Seitenmusterung, worauf ich gebeten wurde, ihm zu folgen. Ich verbeugte mich gegen den Souspräfekten, die Damen im Salon erwiederten höflich meinen Gruß und ich stieg rasch in den Flur des Hauses nieder. Im Hinaustreten auf den Vorhof besann sich der Capitain (wofür ich ihm danke) plötzlich eines Besseren, ließ eine hintere Pforte öffnen und führte mich auf abgekürztem Wege und durch Straßen, wo Niemand unserer achtete, in das Gefängnis der Stadt.

Es war ein weitschichtiges Gebäude, Corridore, ein Gewirr von Treppen; endlich öffneten wir ein Zimmer, darin der Greffier von Neufchateau seine Wohnung hatte. Im Kamin knackten die großen Scheite; die Flamme schlug hoch auf und gab dem niedrigen aber geräumigen Gemach mehr Licht, als die kleine Lampe, die auf dem Tische stand. Im Moment unseres Eintretens erhob sich der Greffier, nahm die Lampe, schlug den Schirm zurück und schritt uns entgegen. Ich war wie vom Donner getroffen; das leibhaftige Ebenbild meines Vaters stand vor mir. Wir schrieben den 5. Oktober; vor drei Jahren; fast um dieselbe Stunde, war er gestorben; — hier sah ich ihn wieder, frisch, lebensvoll, hoch aufgewachsen, mit breiten Schultern und großen Augen, im Auge selbst jene Mischung  von Strenge und Gutmüthigkeit, wie sie ihm eigenthümlich gewesen war.

Der Capitain übergab mich dem Greffier, der den vollklingenden Namen Mr. Palazot führte, verbeugte sich gegen mich mit einem Anflug von Ironie und ließ mich mit meinem Hüter allein. Ich war jetzt Gefangener.

Mr. Palazot rückte seinen Stuhl vom Kamin an den Tisch, stellte die üblichen Fragen und machte einige Notizen, nachdem ich Uhr und Geld und ein kleines Perlmuttermesser, das gerade ausgereicht haben würde, einen Maikäfer zu ermorden, bei ihm deponirt hatte. Nachdem so alles Dienstliche abgemacht worden war, glättete sich die Stirn des Alten! er warf ein neues Scheit in die Flamme und forderte mich auf, an seiner Mahlzeit theilzunehmen. Es waren Karotten in einer Petersiliensauce. Ich lehnte dankend ab, bat aber um ein Glas Wasser, und einen Löffel Cognac. Mein alter Gascogner nickte, gab in die Küche hinaus die Ordre und alsbald erschien Madame Palazot, um mir das Gewünschte zu bringen. Wir saßen nun zu dritt um den runden Tisch und sprachen von Krieg und Frieden. Die üblichen Trivialitäten wurden ausgetauscht und aufs Neue festgestellt, daß Krieg eine sehr böse und Friede eine sehr schöne Sache sei. Nachdem wir uns innerhalb dieses Glaubensbekenntnisses gefunden, wurden die Herzen immer offener. «Madame», eine herzensgute Frau, holte das Bild ihres Sohnes, eines hübschen Husaren-Offiziers, dessen Regiment die großen Kavalleriechargen bei Mars la Tour mitgemacht hatte und von dem seit der Einschließung von Metz keine Nachrichten mehr eingetroffen waren. «Il est mort», — dabei liefen der Alten die Thränen über das Gesicht; der Alte sah starr vor sprach hin, spießte eine Carotte auf, legte aber die Gabel wieder nieder, ohne gegessen zu haben. Ein braunfleckiger, weißer Hühnerhund, der dem Sohn gehörte; stimmte winselnd in die Familientrauer mit ein. Eine halbe Stunde später kam Besuch, ein junger Advokat, natürlich Republikaner. Mr. Palazot war Orléanist. Die Debatte wurde immer lebhafter, der Advokat sprach sich mehr und mehr in Feuer und Flamme hinein: «L'Alsace et laLorraine à l'Allemagne?! jamais, jamais! Vous voulez une guerre d'extermination, une guerre à outrance, — eh bien vous l'aurez.» Mir schwindelte der Kopf. Die furchtbaren Aufregungen dieses Tages, die sich immer wieder aufdrängende Frage: «was wird?» die Diskussionen in einer fremden Sprache, — eine völlige Erschöpfung kam über mich und ich bat, mich in mein Zimmer zu führen. Ich glaube, ich sagte wirklich Zimmer.

Es mochte 9 Uhr sein. Mad. Palazot, auf meine Bitte, gab mir vier wollene Decken mit; der Alte selbst nahm ein Licht und führte mich in mein «Zimmer» hinüber. Es trug die Aufschrift «cachot» . Wir sagten einander gute Nacht, der Bolzen wurde vorgeschoben.

Ich kann nicht sagen, daß mich ein Schrecken angewandelt hätte; im Gegentheil, ich hatte das Gefühl einer innerlichen Befreiung; ich war allein. In diesem Wort liegen Himmel und Hölle. Ich empfand zunächst nur jenen. Der übliche Gefängnißapparat, der Schemel, der Wasserkrug, das eiserne Bett machten mich lächeln. Ich sprach vor mich hin: alles ächt. Das Ganze hatte zudem nichts Abschreckendes. Die Wände waren weiß, die Laken sauber, durch das breite Gitterfenster fiel das Mondlicht bis in die halbe Tiefe des Zimmers, drunten, in weißem Schimmer, lag die Stadt. Ich schritt eine Viertelstunde lang auf und ab; dann entkleidete ich mich und wickelte mich in die Decken. Ich war todmüde und hoffte «einen guten Schlaf zu thun«.

Es war anders beschlossen. Ich mochte 5 Minuten geschlafen haben, als mich ein lautes Nagen und Knabbern weckte. Ich fuhr auf und horchte. Kein Zweifel, Ratten. Wie mir dabei zu Muthe wurde, kann ich nicht beschreiben. Ich wußte sofort: einen Schlaf giebt es in dieser Nacht nicht mehr für mich. Hätt' ich auch anders darüber gedacht; die Bewohner hinter Wand und Diele hätten mich bald eines andern belehrt. Nie hab' ich diese Thiere mit solcher Frechheit sich gebärden sehen; sie waren überall; zupften und zerrten an den Decken, ließen sich durch mein Husten und Zurufen nicht im Geringsten stören und machten, wenn sie unter dem Fußboden geschwaderartig und mit stampfendem Gepolter hinjagten, den Eindruck einer infernalen Kavallerie auf mich. Jeden Augenblick mußt' ich fürchten, daß sie mein Bett mit Sturm nehmen würden.

Der erste Seufzer kam aus meiner Brust. Bis dahin hatt' ich mich gehalten. Ich stand auf, kleidete mich an, wickelte mich in meine Reisedecke und setzte mich auf das Fensterbrett, das gerade breit genug war, meinem Körper Platz zu geben. In solcher Stellung, nur mal rechts, mal links meine Rückenlehne suchend, durchwachte ich die Nacht, zählte ich die Viertelstunden. Das höllische Gethier, das mich einfach als einen Eindringling betrachtete, ließ übrigens auch jetzt nicht von mir ab; sie drängten sich an den Schemel, den ich als eine Art Treppenstufe an das Fenster geschoben hatte und suchten diesen zu erklettern; als sie aber ihre Anstrengungen scheitern und mich beständig auf Wache sahen, gaben sie endlich ihre Chargen auf. Um 4 Uhr wurde es still; um 5 Uhr dämmerte es.

Um 7 Uhr erschien Mr. Palazot. Ich sagte ihm, daß ich nicht geschlafen hätte und weshalb nicht. Er lächelte. «Ja, ja.» Am Kaminfeuer sollten jetzt die Gespräche vom Abend vorher wieder aufgenommen werden; aber, trotz angeborner Höflichkeit, — ich konnte nicht. Eine Viertelstunde lang, während ich wieder ein wenig Wasser und Cognac trank, hielt ich es aus; dann fragte ich ihn, ob er mir wohl erlauben wolle, in seinem Sorgenstuhl den versäumten Schlaf der Nacht nachzuholen? Er nickte, gab mir sein bestes Kissen und ich rückte mich zurecht. An Schlaf war natürlich nicht zu denken; auch lag mir nur an Ruhe, an der Möglichkeit, mir selber anzugehören.

So saß ich eine Stunde; das Feuer knisterte, der Hühnerhund gappste nach den Fliegen, der Alte las, Mad. Palazot ging leise, wie auf Socken, auf und ab. Mit dem Schlage neun wurde es draußen laut; schwere Schritte klangen auf der Treppe; drei Gensdarmen, große schöne Leute, traten ein. Unter ihrer Eskorte, so erfuhr ich jetzt, sollte ich nach der Festung Langres, zum Brigadegeneral gebracht werden. Abschied war bald genommen: meiner freundlichen Wirthin sprach ich die Hoffnung aus, daß sie ihren Sohn wiedersehen möge. Sie weinte: jamais, jamais!

Der Bahnhof lag an der entgegengesetzten Seite der Stadt. Ich mußte also die Hauptstraße der ganzen Länge nach passiren. Es war eine Art Volksfest; die Nachricht von meiner Verhaftung hatte sich schon am Abend vorher in den Schichten der Bevölkerung verbreitet. Als ich so Haus bei Haus, an den Gruppen Neugieriger vorüber mußte, ging mir die Strophe eines alten Liedes durch den Sinn:

Mary Hamilton schritt die Straß entlang, Alle Mädchen schauten herfür, Die Männer und die Frauen Standen fragend in der Thür.

So das Lied. Mary Hamilton schritt auf einen Hügel zu, um dort zu sterben. Wohin schritt ich?

3. Langres

Inhaltsverzeichnis

Was schüttelt Dich nun? was erschüttert den Sinn? Ein innrer Schauer durchfährt mich.

Egmont.

Von Neufchateau bis Langres werden 12 Meilen sein. Wir machten die Fahrt in vier Stunden, im allgemeinen durch Neugier, oder Schlimmeres, wenig belästigt. Die einzige Klasse von Personen, die sich hier, wie auch späterhin, durch eine gewisse feindselige Zudringlichkeit auszeichnete, waren Beamte niedern Grades, die in noch junger Beziehung zum «rothen Bändchen» standen, kleine Carrièremacher, die auf diese Weise ihre nationalen, aber mehr noch ihrer persönlichen Eitelkeit frönen wollten. Sie traten an das Coupéfenster, unterwarfen mich einem Kreuzverhör, musterten mich, und verschwanden wieder sie waren nicht geradezu unhöflich, nur das ganze Verfahren überhaupt bildete eine Unart.

Es war gegen 2 Uhr, als wir Langres erreichten. In halbstündiger Entfernung vom Bahnhof, auf einem Bergrücken, lagen Stadt und Festung; dort mußten wir hinauf. Trotz Oktober war eine glühende Hitze, die Sonne stach. Halben Wegs bat ich, einen Augenblick rasten zu dürfen; man war sogleich bereit, und stellte mir anheim, diese Bergbesteigung in so viel Etappen zu machen, wie mir bequem sei. Endlich waren wir oben, das Festungsthor nahm uns auf.

Gefängnisse und Verhörslokale, zu meinem nicht geringen Leidwesen, lagen hier, wie an den anderen Orten, die ich zu passiren hatte, immer am entgegengesetzten Ende der Stadt, so daß ich das Spießruthenlaufen durch eine feindlich gesinnte Bevölkerung gründlich kennen lernte. Ich erweiterte auf die Weise zwar meine Städtekenntniß, aber ich hätte auf diesen Wissenszuwachs gern Verzicht geleistet. Die Straßenjugend, auch hier in Langres, war ziemlich arg hinter mir her namentlich in den engeren Gassen, und wenn mir von den Zurufen auch vieles entging, so hatte ich doch gerade Ohr genug, um das immer wiederkehrende «pendre» und «fusiller» sehr deutlich herauszuhören.

Endlich standen wir vor dem Verhörslokal; die Militairgerichtsbarkeit der Brigade hatte hier ihren Sitz. Man führte mich in ein niedriges Büreau-Zimmer, an dessen großem Doppel-Schreibtisch zwei Capitaine beschäftigt waren. Der Gensdarmerie-Wachtmeister entlud seine Ledertasche und legte allerhand Papiere, darunter auch die Legitimationskarten, Briefe und Notizbücher, die man mir in Domrémy abgenommen hatte, auf den Tisch. Der scharfe Gang bergan (der eingebüßten Nachtruhe ganz zu geschweigen) hatte mich so angestrengt, daß ich einer Ohnmacht nahe war. Da ich aber zugleich empfand, daß es auf die Antworten, die ich hier zu geben haben würde, sehr erheblich ankommen müsse, so bat ich zuvor um ein Glas Wasser. Man brachte mir Wein. Ich stürzte es herunter und war nun wie neubelebt. Die Fragen, die an mich gerichtet wurden, waren dieselben wie in Neufchateau, aber ruhiger, weniger feindselig. Man wollte auch hier einen Officier aus mir herauspressen, um so mehr als das vom Gensdarmeriecapitain ausgestellte Begleitpapier mich ohne weiteres als solchen angemeldet hatte, meine Erscheinung und Sprachweise aber, vor allem die Notizen meines Taschenbuchs, die ein Interprete rasch durchfliegen mußte, schienen im Ganzen die Situation zu meinen Gunsten zu ändern. Es kam nur darauf an, ob dieser Eindruck dauern oder durch irgend etwas anderes paralysirt werden würde.

Das ganze Verhör hatte kaum 10 Minuten gedauert; ich wurde entlassen und durch meine Begleiter einige Straßen weiter in ein graues schloßartiges Gebäude geführt. Ich betrat es mit einer gewissen Zuversicht, die sich darauf gründen mochte, daß ich, am Schluß meines Zwiegesprächs mit den beiden Capitainen, das Wort «Kaserne» gehört zu haben glaubte, ein Wort, das mir in der Lage, in der ich mich befand, schon halb wie Freiheit klingen mußte. Ich sollte indeß nicht lange in diesem Irrthum bleiben. Ein kleiner, schwarzäugiger Franzose (Monsieur Bourgaut, wie ich später erfuhr) nahm mich in in Empfang, stellte die üblichen Fragen und führte mich dann Trepp' auf; über lange Corridore hin in ein geräumiges, in allem übrigen aber meinen Erwartungen wenig entsprechendes Zimmer. Mr. Bourgaut selbst war ungemein beweglich und geschäftig, plapperte mit halblauter Stimme lange Sätze vor sich hin, die ich nicht verstand, und verschwand dann rasch, nachdem er sich wie ein Kreisel verschiedene Male umgedreht hatte. Das Ganze gefiel mir nicht allzu sehr. Mit einer Art Sehnsucht dachte ich an meinen alten Palazot zurück.

Ich war nun allein und suchte mich mit meiner neuen Behausung bekannt zu machen. Die Thür war auf geblieben, das schien mir ein gutes Zeichen, aber freilich auch das einzige. Das breite Fenster war dicht vergittert, der Deckenkalk in großen Stücken herabgestürzt, die Dielen zernagt oder durchgetreten. An den weißen Wänden war nichts sichtbar als breite, braune Flecke, wo es durchgeregnet, und lange schmale Streifen, mal grau, mal roth, wo ein Vorbewohner ein Zündholz probirt hatte. Der Kamin war zugemauert, nur ein zweihandgroßes Loch hatte man gelassen, das jetzt durch einen rostigen Eisenschieber geschlossen war. Der Zugwind machte, daß dieser Schieber beständig hin und her klapperte, was mir alsbald unerträglich würde. Ich wollte also durch eingeklemmtes Papier nach Möglichkeit Ruhe schaffen und zog den Schieber in die Höhe. In dem dunklen Loch dahinter lagen abgenagte Knochen. Es war nichts Aengstliches, nur Ueberreste eines Mahls, das ein Gefangener von besserem Appetit als ich selber, an dieser Stelle eingenommen hatte; aber ich kann doch nicht sagen, das ich angenehm dadurch berührt worden wäre.

Ich trat nun an das Fenster und durch die Gitterstäbe hinunterblickend, mußte ich jetzt den letzten Rest der Vorstellung aufgeben, daß ich mich in einer Kaserne befände. Auf dem von allen vier Seiten eingeschlossenen Hofe, zum Theil unter den Säulen, die ihn colonnadenartig umstanden, saßen 20 oder 30 Graujacken und zupften Wolle. Ich wußte nun wo ich war. Auch an der allerdirektesten Bestätigung sollte es alsbald nicht fehlen. Monsieur Bourgaut erschien mit einem Tische in der Thür, drehte sich mit demselben wieder dreimal herum, schob ihn in eine der Ecken und sagte dann, als er meiner in der Fensternische gewahr wurde: «Retirez-vous; vous ne connaissez pas ces gens là-bas; ce sont des Condamnés.» Es überlief mich ein wenig. Im Verlaufe meiner Kriegsgefangenschaft bin ich später Tag um Tag mit «Condamnés» zusammengewesen und habe dabei erfahren, daß auch ein wegen Trunkenheit oder Disciplinarvergehen zu drei Tagen Gefängniß verurtheilter diesen für unser Ohr entsetzlichen Namen führt. Damals aber waren mir die Condamnés noch einfach «Verdammte» und ich hatte durchaus das Gefühl mich «tra la perduta gente» zu befinden.