Alain
Boulanger und die unbekannte Tote von Paris: Frankreich
Krimi
von Henry Rohmer
Im Kampf gegen das Verbrechen setzt der Pariser
Privatermittler Alain Boulanger auf ungewöhnliche Methoden – hin
und wieder aber auch auf die Schusskraft seiner Pistole.
Während Alain Boulanger im Bois de Boulogne am Morgen joggt,
hört er einen Schrei, der ihn alarmiert. Schnell greift er ein, als
er feststellt, dass zwei Männer einer Frau hinterherjagen. Doch die
Frau ist ihm ein Rätsel, denn sie lehnt seine Hilfe ab. Als er sie
dann als unbekannte Tote in der Presse abgebildet wiederfindet,
wird es für ihn immer mysteriöser und – gefährlicher!
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Henry Rohmer ist ein Pseudonym von Alfred Bekker
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
1
Paris, 1991 …
Ein heller, gellender Schrei durchschnitt die Stille im
Park.
Alain Boulanger sog die kalte Morgenluft in gleichmäßigen
Zügen in sich hinein, während er in gemäßigtem Tempo seine
morgendliche Jogging-Tour durch den Bois de Boulogne in Paris
machte. Zur Rechten hatte er die Vierwindgrotte, einen Teich, an
dessen Ufern sich ein kleines Vogelreservat befand. Das Gezwitscher
bildete einen angenehmen Kontrast zu den Geräuschen, die die
Großstadt Paris sonst beherrschten.
Eine friedliche, stille Oase in der pulsierenden Stadt – aber
nicht an diesem Morgen …
Aus einiger Entfernung sah Boulanger drei Menschen auf sich zu
laufen, zwei Männer und eine Frau. Aber das waren keineswegs
Jogger, die zum Vergnügen oder wegen der Gesundheit liefen.
Die drei kamen sehr schnell näher. Die Frau schien auf der
Flucht vor den beiden Männern zu sein, die ihr im Abstand weniger
Meter auf den Fersen waren. Aber dieser Abstand wurde immer
kleiner.
„Nein!“
Die Frau keuchte und sah sich verzweifelt um. Sie trug
sportliche Kleidung. Ihr langes, schwarzes Haar flog wirr durch das
fein geschnittene, bräunliche Gesicht, während ihre Verfolger sie
fast erreicht hatten.
Dann stolperte sie, strauchelte und ging zu Boden. Die beiden
Kerle beugten sich über sie und packten sie roh. Sie schnappte nach
Luft und hatte nicht einmal mehr genug davon, um zu schreien. Die
junge Frau war völlig ausgepowert. Ihre Versuche, sich doch noch
loszureißen, wirkten kraftlos.
Dem eisernen Griff ihrer beiden Kontrahenten hätte sie wohl
ohnehin auch nicht allzu viel entgegenzusetzen vermocht.
Indessen hatte Alain mit einen kleinen Spurt den Ort des
Geschehens erreicht. Er wollte wissen, was hier gespielt
wurde.
„Was machen Sie da?“, fragte Alain, an die beiden Männer
gerichtet, die ihr Opfer inzwischen an den Armen emporgerissen und
auf die Füße gestellt hatten. Sie zitterte, und in ihren Augen
stand nackte Angst. Als sie Alain sah, schien so etwas wie ein
Hoffnungsfunke in ihnen aufzuglimmen.
Die beiden Männer trugen elegante Kleidung und machten einen
gut trainierten Eindruck. Der eine hatte dunkle Haare und einen
Oberlippenbart. Der andere war blond und blauäugig. Sein Gesicht
wirkte grobschlächtig und brutal.
„Joggen Sie einfach weiter!“, zischte der Dunkelhaarige. „Na
los, verschwinden Sie schon!“
„Nein!“, rief die Frau, aber der Blonde verschloss ihr mit
seiner großen Pranke den Mund.
„Dies ist eine Polizeiaktion und kein Schauspiel“, behauptete
der Dunkelhaarige frech. Aber das erschien Alain nicht besonders
glaubwürdig.
„Das sieht eher nach etwas anderem aus“, erwiderte er
kühl.
„Glauben Sie, was Sie wollen!“
„Sie werden doch sicher Dienstausweise haben!“
Alain trat nahe an das Trio heran. Die beiden wechselten einen
kurzen Blick miteinander. Es schien ihnen nicht zu gefallen, mit
Alain an jemanden geraten zu sein, der sich nicht so leicht
abwimmeln ließ. Der Dunkelhaarige entblößte seine Zähne und
knurrte: „Klar, haben wir Ausweise!“ Er griff in die Innentasche
und hatte in der nächsten Sekunde eine 8-Millimeter-Pistole in der
Hand.
Alain hatte etwas in der Art erwartet. Sein Handkantenschlag
kam daher blitzschnell und schleuderte dem Kerl die Waffe aus der
Hand. Die nachfolgende Linke traf ihn mitten im ungedeckten
Gesicht, ließ ihn rückwärts taumeln und zu Boden gehen. Er schien
etwas benommen zu sein.
Die junge Frau nutzte ihre Chance und riss sich los. Sie hatte
kaum noch Kraft, aber sie versuchte dennoch davonzulaufen. Sie
strauchelte und fiel beinahe vor Schwäche hin. Wer mochte wissen,
wie lange sie schon auf der Flucht war. Ihre Bewegungen wirkten
kraftlos und erschöpft, aber ihr Widerstandswille war ungebrochen.
Sie war fest entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen.
Der Blonde legte Alain indessen mit einem gekonnten Judogriff
auf die Matte und griff dann zum Schulterholster. Es verging nur
der Bruchteil eines Augenblicks und Alain blickte in eine
Pistolenmündung, die grell aufblitzte. Alain hatte sich jedoch
bereits herumgerollt, so dass der Schuss in den Boden krachte. Ehe
der Kerl zum zweiten Mal feuern konnte, schnellte Alain mit dem Fuß
vor und fuhr seinem Gegner in die Kniekehle. Der Blonde verlor
augenblicklich das Gleichgewicht.
Sein Schuss ging in die Wolken. Ehe er sich versah, war Alain
dann über ihm, bog ihm den Waffenarm herum und entwand ihm die
Pistole. Der Kerl atmete tief durch und erstarrte dann. Er war
alles andere als begeistert davon, dass er nun in die Mündung
seiner eigenen Waffe blicken musste.
„Mistkerl!“, knurrte der Blonde, während Alain sich
erhob.
Der Dunkelhaarige hatte sich nicht weiter um seinen Komplizen
gekümmert, sondern seine Waffe aufgehoben und unverdrossen die
Verfolgung der jungen Frau wieder aufgenommen. Alain sah, dass er
sie bald einholen würde.
Er wandte sich an den am Boden liegenden Blonden, der eine
höllische Angst zu haben schien. Alain machte mit dem Pistolenlauf
eine eindeutige Bewegung.
„Verschwinde!“, zischte er, während der Kerl ihn ungläubig
anstierte. „Na los, hörst du schwer?“
Alain wich einen Schritt zurück, während der Blonde wieder auf
die Beine kam. Er schien Alain nicht zu trauen, vielleicht rechnete
er damit, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Alain brannte ihm
stattdessen eins vor die Füße. Jetzt spurtete der Blonde los, wobei
er sich immer wieder umdrehte.
Doch Alain hielt sich nicht länger mit ihm auf, sondern setzte
dem Dunkelhaarigen nach.
Alain war gut in Form und holte schnell auf. Der Dunkelhaarige
hielt seine Waffe in der Hand und hatte die Frau fast erreicht. Ihr
Vorsprung schmolz von Sekunde zu Sekunde. Sie schluchzte und
stolperte nur noch mehr oder weniger vorwärts.
Als etwas Alain näher heran war, stoppte er und brachte die
Pistole in Anschlag.
„Waffe fallen lassen!“, rief er.
Der Dunkelhaarige antwortete auf seine Weise. Er drehte sich
blitzartig um und feuerte sofort. Aber der Schuss war schlecht
gezielt und ging einen halben Meter über Alain hinweg. Der hatte
eine solche Reaktion insgeheim einkalkuliert, und so krachte sein
Schuss nur einen Sekundenbruchteil später. Die Kugel fuhr dem
Dunkelhaarigen in den Arm. Er fluchte lauthals, versuchte noch
einmal die Waffe hochzureißen, aber der Arm gehorchte ihm nicht so
richtig. Die Waffe fiel zu Boden, während Blut durch seinen edlen
Zwirn sickerte.
Mit verkniffenem Gesicht sah er sich kurz nach der jungen Frau
um, die in einiger Entfernung einer Parkbank Halt gemacht hatte und
nach Luft schnappte. Als Alain näher kam, ergriff der Verletzte die
heillose Flucht.
„Stehenbleiben!“, rief Alain und ballerte einmal über den Kopf
des Flüchtenden hinweg. Aber der Kerl blieb nicht stehen. Er lief
einfach weiter, und Alain dachte sich, dass es jetzt vielleicht
Wichtigeres gab als eine wilde Verfolgungsjagd.
Er wandte sich der Frau zu, die auf der Bank niedergesunken
war. Als er sich ihr näherte, blickte sie auf. Ihre Augen waren
dunkel und voller Furcht.
Sie schien etwas sagen zu wollen, aber es kam kein Ton über
ihre Lippen. Mit der Hand strich sie sich die Haare aus dem
Gesicht.
„Haben Sie keine Angst“, sagte Alain ruhig. „Es ist
vorbei.“
Sie seufzte, versuchte so etwas wie die Ahnung eines Lächelns
und nickte. Sie hatte Ringe unter den Augen, wie jemand, der
tagelang nicht geschlafen hat. Sie musste Teil irgendeines Dramas
sein, von dessen Hintergründen Alain nicht den Hauch einer Ahnung
hatte.
„Ich danke Ihnen“, sagte sie. Ihr Französisch hatte einen
minimalen Akzent. Südeuropa, schätzte Alain. „Wer weiß, was die
Kerle mit mir angestellt hätten, wenn Sie nicht gewesen
wären.“
Alain nickte.
„Ja, das war knapp.“
„Ich dachte immer, der Park wäre relativ sicher, zumindest für
Pariser Verhältnisse.“
„Ist er auch.“
Sie zuckte mit den Achseln.
„Na ja, wie es scheint, gibt es auch hier Gesindel.“
Alain wog die Pistole in seiner Hand, die er dem Blonden
abgenommen hatte. Es war eine Beretta.
„Es wäre vernünftig, zur Polizei zu gehen“, meinte er.
Aber sie schüttelte entschieden den Kopf. Dann versuchte sie
zu lächeln, diesmal schon etwas erfolgreicher.
„Das bringt doch nichts“, meinte sie mit einer wegwerfenden
Geste.
Alain zog die Augenbrauen hoch.
„Warum denn nicht?“
„Das kennt man doch! So etwas verläuft im Sand.“
„Aber Sie haben das, was die meisten nicht haben, Mademoiselle
…“ Alain erwartete, dass die dunkeläugige Schönheit ihm vielleicht
jetzt ihren Namen sagte, aber das tat sie nicht.
„Trotzdem“, sagte sie „Es ist ja nichts passiert.“
„Was wollten die Kerle eigentlich von Ihnen?“
Sie zögerte eine Sekunde, ehe sie die Antwort parat hatte.
„Ich nehme an, mein Geld. Was denn auch sonst?“
Alain hatte den Eindruck, dass sie selbst nicht so recht von
dieser Version überzeugt war.
„Das sah mir nicht so aus“, stellte der Privatdetektiv daher
im Brustton der Überzeugung fest.
Die junge Frau zuckte mit den Achseln.
„Was weiß ich, wie es aussah oder was sie wollten!“ Sie wirkte
ein wenig genervt, stand auf und musterte Alain. „Warum fragen Sie
mich eigentlich so aus?“
„Sorry, ist wohl eine Berufskrankheit. Ich bin Privatdetektiv.
Mein Büro ist übrigens ganz in der Nähe. Sie sehen aus, als könnten
Sie eine Tasse Kaffee und ein Frühstück gut vertragen.“
Sie schien ein wenig irritiert. Ihre dunklen Augen sahen Alain
an, als versuchte sie, dessen Gedanken zu lesen.
„Warum machen Sie das?“, fragte sie schließlich. „Schließlich
war das ja alles andere als ungefährlich. Sie haben Ihr Leben
riskiert.“
„Ich hatte den Eindruck habe, dass Sie Hilfe brauchen. Und an
diesem Eindruck hat sich auch nichts dadurch geändert, dass die
beiden Kerle sich davongemacht haben.“
„Der Eindruck täuscht.“
„Tut mir leid, es war nur ein Angebot.“
„Es war nicht so gemeint, Monsieur …“
„Boulanger. Alain Boulanger.“ Alain sah sie offen an. „Ich
hoffe nur, dass Sie wissen, mit wem Sie sich da eingelassen haben.
Die beiden Angreifer waren sicher keine Straßendiebe. Das waren
Fische, die ein paar Nummern größer waren.“
Sie wandte ein wenig den Kopf und blickte an Alain vorbei. Er
folgte ihrem Blick, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit der jungen
Frau erregt hatte.
In einiger Entfernung stand da ein untersetzter, aber sehr
kräftig wirkender Mann mit gelocktem Haar. Als Boulanger zu ihm
hinblickte, drehte der Lockenkopf sich zur Seite und ging mit immer
schnelleren Schritten davon.
„Kannten Sie den Mann?“‘
„Nein. Wie kommen Sie darauf?“
„Es sah so aus.“
Sie versuchte zu lächeln.
„Sehen Sie, das ist nicht der erste Mann, der mir
hinterhersieht. Finden Sie das wirklich so ungewöhnlich?“ Sie
machte eine Pause und schien einen Moment lang nachzudenken. Dann
sagte sie plötzlich: „Vielleicht nehme ich das Frühstück
doch.“
Alain lächelte. „Zu gütig! Was hat den Stimmungsumschwung
bewirkt?“
„Ich glaube, dass man Ihnen trauen kann!“
„Oder glauben Sie, dass die Kerle an der Straßenecke wieder
auf Sie warten, um Sie in Empfang zu nehmen?“
„Glauben Sie, was Sie wollen! Gilt Ihr Angebot nun noch oder
nicht?“
„Gehen wir!“
2
Wenig später befanden sie sich in Alains Residenz, die
gleichzeitig als Wohnung und Büro fungierte und sich in einer
Traumetage an der Rue Saint-Dominique befand.
„Nanu“, wurde der bekannte Privatdetektiv von seiner
attraktiven Assistentin Jeanette Levoisier begrüßt. „Bringst du
deine Klienten jetzt schon vom Joggen mit?“
Alain grinste der blonden Jeanette schelmisch ins
Gesicht.
„Was glaubst du, wen ich morgens alles im Park treffe! Wenn
ich Kaufmann wäre, würde ich dort meine Kontakte pflegen. Da hat
man das ganze Business auf einem Haufen.“
Jeanette lachte.
„Und alle im Jogging-Anzug.“
„… und ohne Vorzimmerdrachen, die einen mit Terminen bis nach
der Jahrtausendwende vertrösten!“
Sie wandten sich zu der jungen Frau um, die den Raum eingehend
musterte.
„Könnte ich mich erst ein bisschen bei Ihnen
frischmachen?“
Alain nickte.
„Natürlich.“ Er wies ihr den Weg zum Bad und als er zurückkam,
fragte Jeanette: „Wer ist die Kleine?“
„Sie hat es mir noch nicht gesagt.“
„Ihre Frisur hat ja wirklich etwas gelitten. Was ist
passiert?“
„Ein paar Kerle waren hinter ihr her, und ich bin dazwischen
gegangen.“ Er legte die Beretta auf den Tisch.
„Die scheinen ja gut ausgerüstet gewesen zu sein“, meinte
Jeanette beim Anblick der Waffe und Alain nickte.
„Kann man wohl sagen! Mit wem auch immer sich diese junge Frau
angelegt hat – einfache Straßenräuber waren das nicht.“
„Steht sie unter Schock?“
„Glaube ich nicht. Sie wirkt auf mich außerordentlich cool,
wenn man bedenkt, in welcher Lage sie gerade noch gewesen
ist.“
Als die Fremde wenig später aus dem Bad kam, saßen Alain und
Jeanette schon beim Frühstück. Sie setzte sich dazu. Im Gesicht
hatte sie eine kleine Schramme und ihre Kleider wiesen ein paar
Flecken auf. Aber sonst schien alles in Ordnung mit ihr zu
sein.
„Wollen Sie uns nicht Ihren Namen sagen?“, hakte Jeanette
nach, die vor Neugier platzte.
Die junge Frau hob den Kopf, als müsse sie überlegen und sagte
dann: „Es ist besser für Sie und besser für mich, wenn Sie ihn
nicht wissen.“
Jeanette runzelte verwundert die Stirn. Sie schien mit dieser
Antwort kaum etwas anfangen zu können. Indessen wandte sich die
junge Frau an Boulanger und versuchte so schnell wie möglich das
Gespräch auf irgendein unverfängliches Terrain zu lenken. Sie
musste große Angst haben und dazu ein schier grenzenloses
Misstrauen.
„Sie sind also Privatdetektiv“, murmelte sie gedehnt und
schien dabei über irgendetwas nachzudenken.
„Ja“, nickte Alain.
„Ihr Geschäft scheint ja nicht schlecht zu gehen. Wenn ich mir
Ihre Residenz hier so ansehe.“
„Ich kann nicht klagen.“
„Was sind das so für Leute, die Sie hier aufsuchen?“
„Leute wie Sie.“
„Nehmen Sie mich nicht auf den Arm!“
„Es ist so, wie ich sage. Es sind Leute mit Problemen, Leute,
die kein Vertrauen zur Polizei haben und solche, denen die Polizei
nicht helfen kann.“
„Einer wie Sie arbeitet doch sicher nur für Millionäre und
große Versicherungskonzerne.“
„Ich habe nichts gegen Geld“, erwiderte Alain. „Aber ich habe
auch schon für kleine Leute gearbeitet. Ich bin in der glücklichen
Lage, mir meine Aufträge aussuchen zu können.“
Sie aß das Frühstück mit großem Appetit. Vor allem vom Kaffee
konnte sie kaum genug bekommen. Sie war übernächtigt, schien sich
aber unbedingt wach halten zu wollen.
„Ich fahre gleich zu Commissaire Dubois von der hiesigen
Polizei“, meinte der Privatdetektiv wie beiläufig. „Dubois ist mein
Freund. Ich könnte Sie mitnehmen. Das wäre kein Problem.“
„Was soll ich dort?“
„Sie schauen sich paar Fotos an. Vielleicht sind die Kerle ja
schon einmal aufgefallen. Dann könnten Sie sie identifizieren. Das
kostet Sie nicht mehr als ein bisschen Zeit.“
„Ich sagte schon einmal nein, Monsieur Boulanger.“
„Nennen Sie mich Alain.“
„Alain.“
Sie wollte keine Polizei und ihr Nein klang ziemlich
endgültig. Wahrscheinlich hatte sie ihre Gründe dafür.
„Haben Sie Angst, dass sich jemand an Ihnen rächen könnte,
wenn Sie die zwei in die Pfanne hauen?“
Sie seufzte und strich sich dabei das blauschwarze Haar
zurück.
Eine schöne Frau, dachte Alain. Eine sehr schöne Frau sogar.
Und dann ertappte er sich dabei, dass sein Blick wie
magnetisch von ihr angezogen wurde.
„Ich habe es Ihnen doch schon einmal klarzumachen versucht,
Alain“, sagte sie jetzt in einem etwas milderen Tonfall.
„Versuchen Sie es ruhig noch einmal“, lächelte Alain.
Sie hob beschwörend die Arme.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie für mich getan
haben, aber der Rest ist meine Sache. Ganz allein meine Sache,
verstehen Sie?“
„Um ehrlich zu sein – nein. Denn mir scheint, dass Ihnen da
etwas über den Kopf gewachsen ist. Die Kerle, die Ihnen aufgelauert
haben, sind sicher keine Idioten. Die werden Sie überall wieder
auftreiben. Glauben Sie mir!“
Alain merkte, dass er gegen eine Wand rannte. Je mehr er in
sie zu dringen versuchte, desto mehr verschloss sie sich – aus
welchem Grund auch immer.
Plötzlich sagte sie: „Ich glaube, ich muss jetzt los. Vielen
Dank für alles. Ich werde es irgendwann wieder gutmachen, wenn ich
kann.“
„Warum ein so plötzlicher Aufbruch?“, fragte Jeanette.
Die junge Frau versuchte ein Lächeln.
„Es ist nicht plötzlich“, erklärte sie wenig überzeugend. „Ich
muss jetzt einfach los, das ist alles.“ Sie erhob sich und Alain
folgte ihrem Beispiel.
„Soll ich Sie nach Hause bringen?“, fragte der
Privatdetektiv.
„Nein, danke.“
„Wie gesagt, ich bin gleich sowieso unterwegs!“
„Dann nehmen Sie mich ein Stückchen mit!“
„Okay“, nickte Alain. Sein Blick versank in ihren dunklen
Augen und er dachte: Was mag in diesem hübschen Kopf wohl vor sich
gehen? Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Er wurde
aus dieser Frau einfach nicht schlau. Sie machte es einem aber auch
nicht gerade leicht.
3
„Sie müssen mir schon sagen, wo es hingehen soll“, meinte
Alain, als er zehn Minuten später am Steuer seines
champagnerfarbenen Mercedes 500 SL saß.
Die dunkeläugige Schönheit saß auf dem Beifahrersitz und
meinte knapp: „Fahren Sie nur! Ich werde Ihnen schon sagen, wann
ich aussteigen möchte.“
„Wie gesagt, am besten steigen Sie überhaupt nicht aus,
sondern kommen mit mir zu Polizei.“
„Lassen wir das!“
„Manchen ist nicht zu helfen.“
„Schon möglich.“ Sie seufzte. „Und was machen Sie jetzt bei
der Polizei?“
„Ach, es geht um eine Gegenüberstellung. Ich möchte gerne
dabei sein. Mein Freund Dubois und ich sind an einen Drogenring
herangekommen. Jetzt kommt die Kleinarbeit. Aber die muss auch
gemacht werden. Am Ende kann davon nämlich abhängen, ob es auch zu
Verurteilungen kommt.“
„Was haben Sie mit Drogen zu tun, Alain? Sind Leute Ihrer
Sorte nicht eher für den raffinierten Mord oder den spektakulären
Diamantenraub zuständig?“
Alain blickte kurz zu ihr hin.
„Sie irren sich“, erklärte er. „Obwohl … Es war eigentlich
auch eine Art Mord.“
„Das müssen Sie mir erklären.“
„Ein ziemlich verzweifelter Mann kam zu mir. Sein
siebzehnjähriger Sohn hatte sich den goldenen Schuss gesetzt. Das
war der Auslöser des Ganzen, deshalb bin ich in der Sache
drin.“
„Aber das ist doch kein Mord“, meinte sie. „Der Junge wusste
doch wohl, was er tat. Er wollte es so.“
„Glauben Sie das wirklich?“
„Ja, so sehe ich das!“
„In diesem Fall war es mit Sicherheit anders. Der Junge war
von seinem Dealer plötzlich mit Stoff einer Qualitätsstufe
beliefert worden, die er nicht gewohnt gewesen war. Er hatte nicht
mehr als seine normale Ration genommen und war nun tot. Und das war
ganz eindeutig Mord, auch in juristischem Sinn.“ Aber Alain hatte
keine Lust, weiter darüber zu diskutieren. „Das Thema scheint Sie
zu interessieren“, stellte er fest.
„Mich interessiert vieles.“
Alain Boulanger gab dem Gespräch einen abrupten Schwenk.
„Seit wann sind Sie auf der Flucht?“
Sie lächelte. „Sie können es nicht lassen, was?“
„Wie gesagt: Berufskrankheit.“
„Ich habe die Kerle heute zum ersten Mal getroffen.“
„Mich brauchen Sie nicht anzulügen.“
„Sie wissen alles am besten, was?“
„Ich gebe mir Mühe“, lächelte Alain. „Wissen Sie, was ich
glaube? Ich glaube, dass Sie schon tagelang vor ihnen
davonlaufen.“
Sie versuchte sich in aufgesetzter, künstlich wirkender
Heiterkeit.
„Haben Sie Beweise?“
„Bin ich der Staatsanwalt?“
Sie deutete plötzlich mit ihrem schlanken Arm nach rechts und
fragte: „Sehen Sie die Ecke dort hinten?“
„Ja.“
„Lassen Sie mich dort aussteigen.“
„Und dann? Wo wollen Sie hin?“
„Eine Straße weiter ist die Metro.“
Alain fuhr an den Straßenrand. Die junge Frau wollte schon
aussteigen, aber Alain hielt sie noch zurück.
„Was ist noch?“
„Nehmen Sie das hier!“ Sie nahm es und schaute stirnrunzelnd
darauf. Es war eine von Boulangers Visitenkarten. „Vielleicht
überlegen Sie sich ja noch einmal, ob Sie sich helfen lassen
wollen.“
Sie steckte die Karte ein.
„Leben Sie wohl, Alain!“
Und dann war sie auch schon weg. Alain sah sie zwischen den
Passanten verschwinden. Sie blickte sich ständig um, so als fühlte
sie sich beobachtet. Man konnte nur hoffen, dass sie nicht eines
Tages als Wasserleiche aus der Seine gefischt wurde.
4
Commissaire Paul Dubois vom Morddezernat Paris-Mitte war ein
massiger Koloss, der von seiner Figur her hervorragend dazu
geeignet gewesen wäre, als Double von Bud Spencer zu
fungieren.
„Du bist ein bisschen zu früh, Alain. Wir müssen noch auf ein
paar Leute warten. Aber ich kann dir einen frisch gebrühten Kaffee
anbieten.“
„Danke, aber ich habe gerade gefrühstückt.“
„Wenn die Sache heute glatt geht, dann sind wir schon ein
ganzes Stück weiter“, meinte Dubois. „Ich bin ganz
zuversichtlich.“
Alain nahm die Beretta hervor, die er einem der beiden Kerle
im Park abgenommen hatte. Er hatte die Waffe in eine Plastik-Tüte
getan, obwohl es dazu wohl längst zu spät gewesen war. Alain hatte
die Pistole schließlich in die Hand genommen und benutzt – und
damit vermutlich fast alles an Spuren vernichtet, was irgendetwas
aussagen konnte.
„Was ist das?“, fragte Dubois.
„Heute Morgen hatte ich beim Joggen Gelegenheit, mein
Nahkampftraining etwas aufzufrischen“, meinte Alain sarkastisch und
erzählte Dubois in knappen Sätzen, was geschehen war.
„Und wo ist die Frau jetzt?“, erkundigte sich der dicke
Commissaire.
„Auf und davon.“ Alain zuckte mit den Schultern. „Was sollte
ich machen, sie zwangsweise zur Polizei schleppen?“
„Sich überfallen zu lassen ist ja nicht strafbar!“
„Du sagst es!“
„Und was soll ich jetzt mit der Beretta?“
„Einfach mal ins Labor geben. Vielleicht kommt ja etwas dabei
heraus.“
Paul Dubois holte tief Luft und blies sich dabei auf wie ein
Walross.
„Glaubst du eigentlich, das Labor hat nicht genügend zu tun,
Alain? Mit dieser Waffe ist niemand umgebracht worden, und wenn sie
aus dem Verkehr gezogen wird, wird das auch niemals geschehen.“ Er
hob die Beretta hoch und sah sie sich von allen Seiten an. „Die
Nummer ist abgefeilt“, murmelte er.
„Eine Hand wäscht die andere, Paul. Also, was ist mit dem
Labor? Wenn ich die Waffe dir überlasse, sind meine Chancen größer,
sie untersucht zu bekommen, als wenn ich es allein versuche.“
Dubois seufzte und fixierte Alain mit seinem Blick.
„Okay, Alain.“
„Danke.“
„Dann beantworte mir aber bitte eine Frage: Warum hängst du
dich in diese Sache hinein?“
„Reine Neugier“, grinste Alain.
Ein Commissaire kam herein und wandte sich an Dubois.
„Es sind alle versammelt, Monsieur Dubois!“
Dubois schlug sich klatschend auf die Schenkel und stand auf.
„Dann kann es ja losgehen!“
Alain steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie
an.
„Drücken wir uns selbst die Daumen dafür, dass Cédric
Lamprouse heute ins Loch geschickt wird!“
Sie gingen gemeinsam in einen schmucklos eingerichteten Raum,
von dem aus man durch eine Scheibe in ein Nebenzimmer sehen
konnte.
Dubois begrüßte eine vierzig- bis fünfzigjährige dunkelhäutige
Frau von untersetzter Statur, die einen ziemlich verschüchterten
Eindruck machte.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, Madame Gravonge“,
behauptete Dubois. Die Schwarze nickte, schien dem Commissaire
allerdings nicht so recht zu glauben.
„Das sagen Sie so einfach, Monsieur Dubois!“
„Man kann Sie durch diese Scheibe nicht sehen“, ergänzte
Boulanger.
Sie nickte und wandte den Blick zur Seite.
Marie Gravonge war die Vermieterin von Marius Bergére gewesen
– jenem Jungen, dem jemand beim goldenen Schuss etwas nachgeholfen
hatte, indem er ihn mit reinem, statt wie sonst üblich mit
großzügig verlängertem Heroin belieferte.
Indessen hatte sich auf der anderen Seite der Glasscheibe eine
Riege hochgewachsener, aschblonder Männer aufgebaut. Einer von
ihnen war Cédric Lamprouse, Bergéres Dealer. Marita Gravonge hatte
bei ihrer ersten Vernehmung am Tatort ausgesagt, dass ein Mann
Bergére regelmäßig besucht hätte und auch kurz vor dessen Tod noch
dort gewesen sei. Ihre Beschreibung passte auf Lamprouse wie die
Faust aufs Auge, aber jetzt musste sie ihn noch identifizieren, ihn
als den Mann bezeichnen, der kurz vor Bergéres Tod noch bei ihm
gewesen war und ihn vermutlich beliefert hatte.
Diesmal eine tödliche Lieferung.
„Was ist?“, fragte Dubois vielleicht eine Spur zu ungeduldig.
„Ist der Mann dabei?“
Marita Gravonge schluckte.
„Ich bin mir nicht sicher!“
„Aber das gibt es doch nicht! Sie konnten ihn doch ganz genau
beschreiben“, schimpfte Dubois.
Sie hatte Angst, das lag deutlich auf der Hand. Wovor auch
immer.
Vielleicht hatte Lamprouse jemanden bei ihr vorgeschickt, der
ihr unmissverständlich klargemacht hatte, wie sie sich verhalten
musste, wenn sie bei guter Gesundheit bleiben wollte. Vielleicht
war sie auch einfach gekauft worden.
„Ich bin mir nicht sicher, ob er dabei ist“, sagte sie wenig
überzeugend. „Vielleicht der dort ganz rechts. Oder doch der in der
Mitte? Sie sehen sich alle so ähnlich!“
„Hören Sie!“, wurde sie dann von Dubois beschworen. „Sie
brauchen wirklich keine Angst zu haben. Wenn Sie nur einen Ton
sagen, dann können wir diesen Kerl ins Loch stecken!“
„Für wie lange?“
„Für sehr lange, denn dann geht es um Mord!“
„Können Sie mir das garantieren? Oder läuft am Ende nicht so,
dass ein geschickter Anwalt ihn doch rauspaukt?“
„Ich bin weder Richter noch Geschworener, aber wenn Sie ihn
wiedererkennen, dann hätten wir eine Chance!“
„Und wenn ich ihn nicht identifizieren kann?“
Dubois schwieg und atmete tief durch. Er ging zwei, drei
Schritte hin und her und murmelte dann: „Ich fürchte, dass er uns
dann durch die Lappen geht!“
Sie schien noch einmal zu überlegen. Man konnte ihrem Gesicht
förmlich ansehen, wie der Kampf in ihr tobte. Dann war er
entschieden – und zwar endgültig, wenn man nach dem Klang ihrer
Stimme ging.
„Tut mir leid, von diesen Männern hier war es keiner!“, sagte
sie sehr bestimmt. Sie kniff ihre Lippen zusammen. Ihr Gesicht war
eine Maske geworden.
Dubois machte einen letzten Versuch.
„Einer dieser Männer ist ein Mörder, und Sie wissen, welcher.
Marius Bergére hätte vom Alter her Ihr Sohn sein können. Denken Sie
an Marius‘ Eltern, was es für sie bedeutet, wenn sein Mörder
davonkommt!“
Sie wandte den Blick an Dubois und seufzte: „Ich wünschte, ich
könnte Ihnen helfen, Monsieur Commissaire. Aber ich kann doch nur
sagen, was der Wahrheit entspricht, oder?“
Der dicke Commissaire sah ein, dass die Sache verloren
war.
„Natürlich“, sagte er.
„Kann ich jetzt gehen?“
Dubois nickte.
„Gehen Sie nur!“ Als sie weg war, schlug er wütend mit der
flachen Hand gegen die Wand.
„Der Tag fängt wirklich schlecht an, was?“, meinte
Alain.
5
Es war zwei Tage später, als Alain Boulanger die dunkeläugige
Schöne zum zweiten Mal sah – diesmal allerdings nur als
Schwarz-weiß-Foto in der Zeitung. Jeanette hatte ihn darauf
aufmerksam gemacht und ihm die entsprechende Seite unter die Nase
gehalten.
WER KENNT DIESE FRAU?, stand dort in großen Lettern.
Das Foto war nicht besonders gut, ein Zeitungsfoto eben, aber
Alain hatte so etwas schon oft genug vor Augen gehabt, um auf den
ersten Blick zu sehen, dass es sich um das Bild einer Toten
handelte.
„Ich habe es geahnt“, murmelte Alain tonlos, als er den
dazugehörigen Text las. In Montrouge war eine junge Frau umgebracht
worden. Man hatte sie mit einer Kugel in der Herzgegend in einer
Seitenstraße aufgefunden. Der Toten fehlte leider alles, was sie
hätte identifizieren können. Sie hatte keinen Pass, keine Etiketten
in der Kleidung, keine Brieftasche, keine Kreditkarte.
„Scheint, als hätten die beiden Kerle sie doch noch erwischt“,
meinte Jeanette. „In der Zeitung steht, dass sie vorgestern
ermordet wurde.“
„Nichts Näheres?“
„Nein.“
„Ich habe sie in der Nähe der Metro-Station abgesetzt“, sagte
Alain. „Sie muss sich auf ziemlich direktem Weg nach Montrouge
aufgemacht haben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie hätte auf mich
hören sollen.“
„Das hätte sie.“ Jeanette machte eine kurze Pause und fuhr
dann fort: „Ich weiß, dass dir das näher geht, als du zugeben
willst. Ich habe gesehen, wie du sie angesehen hast.“
Alain stand auf und ging zum Fenster und blickte hinaus. Es
war ein trüber Tag. Paris war heute eine Waschküche. Der letzte
Schauer war gerade zwei Minuten vorbei, aber der nächste kam
bereits über den Park.
„Die Polizei in Montrouge sucht Zeugen, die die Tote kennen“,
murmelte Alain. „Ich werde mal auf einen Sprung vorbeifahren.“ Er
machte eine unbestimmte Geste und ließ seine Hände dann in den
Hosentaschen verschwinden. „Mehr kann ich wohl nicht mehr für sie
tun.“
6
Der Mann, dem Alain Boulanger in dem miefigen, engen Büro
gegenübersaß, hieß Monsieur Karge und war Commissaire der
Mordkommission von Montrouge. Karge war klein und drahtig und in
seinen tiefen Augenhöhlen lauerten zwei giftige Augen. Ein kleiner
Terrier, so wirkte er auf Alain. Einer, der zubiss und dann nie
wieder losließ.
Na ja, dachte Alain. Jeder hat eben seinen Weg.
„Ihr Name ist also Boulanger“, raunte der Giftzwerg mit einem
Unterton, der nichts Gutes ahnen ließ. „Kann es sein, dass ich
diesen Namen schon mal gehört habe?“
„Durchaus.“
Karge schlug urplötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch
und schnellte mit dem Kopf wütend nach vorne. Seine Augen waren aus
ihren Höhlen hervorgetreten und funkelten angriffslustig.
„Ich will Ihnen gleich zu Anfang etwas klarmachen, Monsieur
Boulanger! Ganz gleich, ob Sie Ihr Büro in einer Nobel-Etage oder
in einem Hinterzimmer haben, ob Sie ein Star Ihrer Branche oder nur
so ein Schmalspur-Schnüffler sind: Ich mag keine
Privatdetektive!“
Alain zuckte die Achseln.
„Das tut mir leid!“
„Und ich mag es auch nicht, wenn Ihr Schnüffler uns Profis ins
Handwerk pfuscht!“
Alain atmete tief durch.
„Erstens sind wir Privaten genauso Profis in diesem Geschäft
wie Ihresgleichen, und zweitens habe ich nicht die Absicht, Ihnen
dazwischenzufunken, Karge. Ich ermittle in diesem Fall gar nicht,
sondern bin als Zeuge hier.“
„Okay“, sagte Karge und grinste sarkastisch. „Ich will Ihnen
das mal für eine Minute glauben. Erzählen Sie, was Sie zu der Sache
beizusteuern haben! Sagen Sie bloß, Sie kennen die Tote!“
„Ich habe sie am Montagmorgen im Bois de Boulogne gesehen, als
ich meine tägliche Jogging-Runde machte. Zwei Kerle waren ihr auf
den Fersen, und ich bin dazwischen gegangen.“
„Wie nobel, Monsieur Boulanger. Findet man heute selten so
etwas. Die meisten schauen einfach weg. Wer ist die Frau?“
„Sie hat mir ihren Namen nicht gesagt.“
„Zu schade! Wann war das genau am Montagmorgen?“
„So gegen sieben. Einem der Kerle konnte ich die Beretta
abnehmen. Sie befindet sich noch im Labor. Erkundigen Sie sich bei
Commissaire Dubois, wenn Sie an dem Befund interessiert
sind!“
„Bin ich nicht.“
Alain runzelte die Stirn. Fast glaubte er, sich verhört zu
haben.
„Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja, das haben Sie“, nickte Karge. „Sehen Sie, die Sache ist
ganz einfach. Zu dem Zeitpunkt, an dem Sie die namenlose Lady im
Park gesehen haben wollen, war sie schon mindestens eine halbe
Stunde tot.“
Für Alain war das wie ein Schlag vor den Kopf.
„Ich bin mir aber völlig sicher.“
„Tut mir leid, Monsieur Boulanger, aber wie es scheint, haben
Sie den Weg hierher nach Montrouge umsonst gemacht.“ Es stand Karge
im Gesicht geschrieben, dass es ihm nicht ein bisschen leid tat.
Aber das war Alain ohnehin ziemlich gleichgültig.
Seine Gedanken waren bei der namenlosen Toten, deren Bild er
in der Zeitung gesehen hatte. „Sie war es“, sagte er. „Ich bin mir
da hundertprozentig sicher. So ein Gesicht vergisst man
nicht.“
„Sie muss sehr hübsch gewesen sein, bevor man aus ihr eine
Leiche gemacht hat.“ Karge zuckte mit den Schultern.
„Wahrscheinlich haben Sie eine andere Frau gesehen, Boulanger.
Vielleicht eine, die der Toten sehr ähnlich sah und die Sie dann
auf dem Foto wiederzuerkennen glaubten.“
Aber Alain schüttelte entschieden mit dem Kopf.
„Das glaube ich nicht.“
„Dann gehen Sie ins Leichenschauhaus und sehen Sie sie sich im
Original an! Vielleicht geht es dann in Ihren Schädel!“
Alain ließ nicht locker. Er hatte ein Paar gut
funktionierender Augen im Kopf, und es gab keinen Grund, ihnen
nicht zu trauen. Also bohrte er weiter.
„Es gibt Mittel und Wege, Todeszeiten zu manipulieren. Ist
eine Obduktion durchgeführt worden?“
„Die Todesursache liegt auf der Hand. Sie starb durch eine
Kugel aus einer 8-mm-Pistole. Ein Schuss aus nächster Nähe. Und da
hat sich niemand die Mühe gemacht, irgendetwas zu manipulieren. Es
war ein ganz simpler, brutaler Mord. Fast wie eine
Hinrichtung.“
„Wer hat sie gefunden?“
„Wissen Sie was, Boulanger, es ist genau so, wie ich
befürchtet habe! Sie versuchen mir Fragen zu stellen anstatt
umgekehrt. Und genau das kann ich nicht leiden. Sie sagten, dass
Sie in dieser Sache nicht ermitteln, also sehe ich auch nicht ein,
weshalb ich Ihnen irgendetwas sagen soll.“
Alain verzog das Gesicht.
„Und wenn ich nun doch an der Sache arbeiten würde?“
„Dann würde ich Ihnen vielleicht erst recht nichts sagen,
damit Sie mir nicht dauernd in die Quere kommen!“
„Na, dann kann ich ja froh sein, dass ich mein Büro im siebten
Arrondissement und nicht in Montrouge habe!“
„Allerdings! Bei mir hätten Sie nicht viel zu lachen! Und ich
gebe Ihnen auch jetzt den Rat, sich den Kopf über Ihre eigenen
Sachen zu zerbrechen.“
Alain wandte sich zum Gehen. Aus diesem Terrier würde er kaum
mehr herausbekommen. Und er fragte sich, ob er das überhaupt
versuchen sollte. Schließlich war es Karges Aufgabe, den Mörder der
jungen Frau zu finden, nicht Boulangers. Es hatte ihn niemand
beauftragt.
Bevor sich Boulanger auf den Rückweg ins Zentrum machte,
wollte er sich die Tote aber doch noch einmal ansehen. Er wollte
sichergehen, sich nicht geirrt zu haben.
Der Arzt, der Alain durch die Katakomben des
Leichenschauhauses führte, war fast so bleich wie die Körper, die
er zerschnitt. Kein Wunder, dachte Alain. Schließlich kommt der
Kerl wohl ziemlich selten mal ans Tageslicht.
„Kannten Sie die Tote?“, fragte der Arzt und Alain nickte
zögernd.
„Könnte man so sagen.“
„Sie sind der erste, der sie zu kennen glaubt“, meinte der
Arzt. „Und dabei steht es doch jetzt sogar in der Zeitung.“
„Vielleicht kam sie nicht von hier.“
„Alles möglich.“
Dann wurde eine Leiche aus dem Kühlfach gezogen. Der Arzt
deckte das Gesicht ab und gähnte dabei ungeniert. Ihr Gesicht hatte
fast jegliche Farbe verloren. Jemand war so pietätvoll gewesen, ihr
die Augen zu schließen.
Aber sie war es.
Für Alain gab es keinen Zweifel mehr.
„Todeszeit?“, fragte Alain.
Der Arzt schaute in seine Unterlagen. „Montagmorgen, circa
halb sieben. Wahrscheinlich früher.“
„Und wann wurde sie gefunden?“
„Steht auch hier: Kurz nach halb acht.“
„Kein Irrtum möglich?“
„Wovon sprechen Sie?“
„Von der Todeszeit.“
Der bleiche Arzt runzelte die Stirn.
„Was wollen Sie eigentlich? Glauben Sie, wir machen hier
Pfusch?“
„Nein, es ist nur so, dass ich die Tote noch quicklebendig
gesehen habe, als sie nach Ihren Angaben schon auf dem Weg hierher
war. Deshalb frage ich, ob es da nicht sein könnte, dass Sie sich
bei der Todeszeit geirrt haben.“
Er blickte auf seinen Boden.
„Mein Kollege Schneider war um halb acht am Tatort und hat den
Tod festgestellt“, murmelte er. „Und wann bitte wollen Sie sie noch
gesehen haben?“
„Schon gut“, meinte Alain. „Vergessen Sie‘s!“
Um halb acht hatte die Tote in Boulangers Residenz noch an
ihrem Kaffee geschlürft.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
7
Als Alain Boulanger zurück in die Rue Saint-Dominique kam, war
es Nachmittag und es regnete wieder. Diesmal war es kein Schauer,
sondern eher eine Art Dauerregen, die Alain den ganzen Weg von
Montrouge bis hierher begleitet hatte. Ein scheußlicher Tag – und
das in mehrfacher Hinsicht.
Aber die Unannehmlichkeiten hatten sich mit der Feuchtigkeit,
die da unablässig von dem grauen Himmel herabrieselte, noch lange
nicht erschöpft. Das merkte Alain ziemlich bald, nachdem er sich
wieder in seinem Büro befand.
Er ließ die Türen auseinander fliegen und warf den nassen
Mantel in eine Ecke.
„Was Neues, Jeanette?“, fragte er seine Assistentin.
„Im Büro sitzen zwei Klienten.“
Alain pfiff durch die Zähne.
„Gleich zwei? Haben sie gesagt, was sie wollen?“
„Nein“, schüttelte Jeanette den Kopf und warf dabei ihre
blonde Mähne in den Nacken. „Sie wollen nur mit dir persönlich
sprechen. Von mir wollten Sie nicht einmal eine Tasse
Kaffee!“
Das Erste, was Alain missfiel, als er sein Büro betrat, war,
dass jemand hinter seinem Schreibtisch saß und die Füße hochgelegt
hatte. Der zweite Besucher lehnte am Fenster und hatte die Hände in
den Hosentaschen.
Alain erstarrte.
Das waren die beiden Männer, vor denen die junge Frau
davongelaufen war, deren Foto jetzt in den Zeitungen bewundert
werden konnte. Der Dunkelhaarige hatte seinen rechten Arm
bandagiert und trug ihn in einer Schlinge. Wenigstens fiel er
dadurch als Schütze erst einmal aus. Anders der Blonde, dessen Hand
in der Manteltasche ruhte und wahrscheinlich einen Pistolengriff
umfasste.
Das Gesicht des Dunkelhaarigen blieb sehr ernst und war fast
eine Leichenbittermiene. Der Blonde hingegen grinste frech und
kaute dabei auf irgendetwas herum.
„So sieht man sich wieder“, murmelte Alain.
„Schließen Sie die Tür!“, befahl der Dunkelhaarige und ließ
seine Worte durch seinen Komplizen dadurch unterstreichen, dass
dieser jetzt seine Waffe aus der Manteltasche hervorholte und sie
auf Alain richtete. „Ich hoffe, Sie machen keine Dummheiten,
Monsieur Boulanger!“
„Das hoffe ich umgekehrt auch“, erwiderte Alain, nachdem er
die Tür geschlossen hatte. „Was wollen Sie von mir?“
Auf dem Schreibtisch lag noch die Zeitung, die Alain am Morgen
gelesen hatte. Der Dunkelhaarige schlug die Seite auf, auf der das
Bild der namenlosen Toten war.
„Sie haben das hier sicher gelesen, nicht wahr?“
„Ja.“ Boulanger trat näher an den Schreibtisch heran. Bevor er
sich in den davor stehenden Sessel fallen ließ, deutete er auf das
Foto. „Das ist eure Arbeit, nicht wahr?“
„Sie werden nicht im Ernst erwarten, dass wir dazu etwas
sagen, Monsieur Boulanger.“
„Nein, allerdings nicht. Ich werde unter anderem dafür
bezahlt, dass ich zwei und zwei zusammenrechne und meine Schlüsse
ziehe.“ Alain zeigte auf die Waffe des Blonden. „Acht
Millimeter?“
„Die Fragen stellen wir hier, auch wenn Ihnen das nicht
passt!“
„Bitte! Sie sind wahrscheinlich nicht hier, um mir einen
Auftrag zu geben.“
„Nein, das sicherlich nicht. Es geht um etwas anderes.“
„Da bin ich aber gespannt!“
„Sie erinnern sich an die junge Frau, Montagmorgen im Bois de
Boulogne … Sie haben uns leider dazwischen gefunkt.“ Er hob ein
wenig den bandagierten Arm an.
„Diese Frau hatte etwas in ihren Besitz gebracht, das ihr
nicht gehörte. Wir hatten die Aufgabe, es ihr wieder
abzunehmen.“
„Und wie kann ich Ihnen da helfen?“
„Indem Sie es uns jetzt aushändigen.“
„Warum nehmen Sie an, dass ich es habe?“
„Weil sie es bei Ihnen deponiert haben wird, wenn sie einen
Funken Verstand gehabt hat. Es kann auch sein, dass Sie es ihr
abgenommen haben. Der Fantasie sind da keine Grenzen
gesetzt.“
„Das wird ja immer interessanter“, meinte Alain
sarkastisch.
„Jedenfalls glaube ich nicht, dass diese Begegnung im Park
reiner Zufall war.“
Alain zuckte die Achseln.
„Bedaure, ich weiß noch nicht einmal, worum es geht.“
Das Gesicht des Dunkelhaarigen blieb regungslos. Mit der
Linken machte er eine unbestimmte Geste. Unterdessen bewegte sich
der Blonde seitwärts. Er öffnete einen der Büroschränke und begann
damit, den Inhalt auf den Boden zu streuen.
„Scheint, als würde Ihre Antwort meinen Freund hier nicht sehr
überzeugen, Monsieur Boulanger.“
Der Blonde grinste unverschämt. Es machte ihm Spaß, was er tat
– besonders als seine Hand dann über ein Regal strich und ein paar
recht wertvolle Vasen auf dem Boden zerdeppern ließ.
Jetzt wurde es Alain zu bunt.
Er gab dem Schreibtisch einen kräftigen Tritt, so dass er dem
Dunkelhaarigen entgegenkam und dieser mitsamt Sessel nach hinten
kippte. Er fluchte unterdrückt, während der Blonde die Waffe hob.
Alain warf sich zu Boden, bevor der Kerl schoss.
Genau diesem Augenblick flog die Tür auf, und Jeanette kam
herein. Der Krach hatte sie angelockt. Auf jeden Fall tauchte sie
genau im richtigen Moment auf, denn der Blonde wirbelte mit der
Waffe in der Hand herum in ihre Richtung.
Alain rollte sich am Boden herum und riss die Automatik
heraus. Blitzschnell ging das. Der Blonde zögerte nur den Bruchteil
einer Sekunde, und doch war es jetzt bereits zu spät für ihn. Er
blickte direkt in den Lauf von Boulangers Automatik und konnte sich
seine Chancen an zwei Fingern ausrechnen, schneller zu schießen als
der Privatdetektiv.
„Der Gedanke taugt nichts, der Ihnen da im Kopf herumspukt“,
zischte Alain. „Werfen Sie Ihr Schießeisen lieber weg, wenn Sie
kein Loch in den Kopf wollen!“
Der Blonde zögerte noch einen Moment und atmete dann tief
durch. Er sah ein, dass er auch diese Runde verloren hatte, so sehr
er sich darüber auch ärgern mochte. Er warf seine Pistole zu Boden.
Sein dunkelhaariger Komplize arbeitete sich indessen unter
Schreibtisch und Sessel hervor. Er schien Schmerzen zu haben, wenn
man nach dem verzerrten Gesicht ging. Vielleicht hatte es seinen
verletzten Arm erneut erwischt. Alains Mitleid hielt sich
allerdings in Grenzen.
„Jetzt drehen wir den Spieß mal um“, meinte Alain. „Wer
schickt Sie?“
Der Blonde schielte zu seinem Komplizen hinüber und schien
abzuwarten, wie dieser reagieren würde. Der Dunkelhaarige schien
bei den beiden für das Denken zuständig zu sein.
„Sie können mich mal, Boulanger!“, zischte dieser.
Alain wandte sich an Jeanette.
„Du kannst schon mal die Polizei rufen!“
Der Blonde wurde unruhig. Ihm schien die harte Linie des
Dunkelhaarigen nicht zu gefallen, er sagte aber nichts.
Jeanette hob indessen die Waffe des Blonden vom Boden auf und
ging ins Vorzimmer.
Alain befahl inzwischen dem Dunkelhaarigen, sich zu seinem
Komplizen an die Wand zu stellen.
„Sie bluffen, Boulanger!“
„Glauben Sie?“
Inzwischen hörte man Jeanette aus dem Nebenzimmer die Polizei
anrufen. Der Blonde bekam einen panischen Zug im Gesicht.
„Der Kerl ist verrückt!“, knurrte er. „Der bringt es fertig
und liefert sich selbst mit ans Messer!“
„Halt‘s Maul!“, zischte der Dunkelhaarige.
„Vielleicht können wir uns so mit ihm einigen.“
„Ich sagte: Halt‘s Maul!“
Jetzt mischte sich Alain ein: „Das mit der Frau in Montrouge –
wart ihr das?“
„Kein Kommentar“, zischte der Dunkelhaarige.
„Wir haben damit nichts zu tun“, schnatterte der Blonde, der
es langsam mit der Angst zu tun bekam.
Alain hielt sich daher an ihn.
„Die Frau wurde mit einer 8-mm-Pistole erschossen. Wenn ich
mich nicht irre, dann ist Ihre Waffe von demselben Kaliber.“
„Es gibt viele 8-mm-Pistolen.“
„Im Labor wird sich herausstellen, ob es diese hier
war.“
„Willst du mir was anhängen?“
„Warum nicht? Meine Beziehungen zur Polizei sind
hervorragend.“
„Ich sage dir, der Kerl blufft“, knurrte der Dunkelhaarige
dazwischen. Alain hielt sich länger mit dem Katz- und Mausspiel
auf. Bis die Polizei kam, hatte er noch ein bisschen Zeit, und die
nutzte er, indem er die Taschen der beiden Kerle durchsuchte. Er
fand ihre Brieftaschen.
Der Blonde hieß Léon Durand, der Dunkelhaarige Gaston Fournier
– jedenfalls wenn man nach dem ging, was in den Führerscheinen
stand. Aber die beiden waren natürlich nur Handlanger. Alain
hoffte, durch sie vielleicht eine Etage höher zu gelangen. Er
wollte wissen, wer dahintersteckte – und das jetzt nicht mehr nur
deshalb, weil er diesen Hintermännern den Mord in Montrouge nicht
verzeihen konnte, sondern weil er jetzt selbst in der Sache mit
drinsteckte. Ob es ihm passte oder nicht.
In der Brieftasche des dunkelhaarigen Fournier steckte ein
kleiner Zettel, auf dem eine Adresse stand. Alain hob die
Augenbrauen. Es stand kein Name dabei, aber das machte nichts.
Es war eine Adresse, die er kannte.
Cédric Lamprouse. Wenn das keine Überraschung war!
8
Zwei Polizisten kamen wenig später vorbei und nahmen Durand
und Fournier mit. Vielleicht ergab die Untersuchung der 8-mm-Waffe
ja etwas.
Alain machte sich indessen an die Verfolgung einer anderen
Spur. Wer immer letztlich diese beiden Typen in sein Büro gehetzt
hatte – er würde kaum lockerlassen. Und wenn Cédric Lamprouse in
der Sache mit drinsteckte, dann war es auch nicht allzu schwer,
sich auszumalen, worum es hier eigentlich ging: Entweder Drogen
oder Schwarzgeld. Oder beides.
Cédric Lamprouse bewohnte ein elegantes Penthouse, aber dort
suchte Alain ihn gar nicht erst, weil er aus Erfahrung wusste, dass
man ihn dort nur in Ausnahmefällen um diese Zeit antreffen konnte.
Lamprouse war ständig unterwegs. Ein umtriebiger Mann, der die
Unterwelt-Hierarchie schon ein paar Stufen nach oben gefallen war.
Er dealte – Kokain und Heroin, vielleicht auch noch andere
Sachen.
Vor einiger Zeit hatte er versucht, auch in der Prostitution
Fuß zu fassen, hatte sich da aber ganz gehörig die Finger
verbrannt. Seitdem hatte er eine Narbe am Hals, trug daher meistens
Rollkragen-Pullover und kümmerte sich nur noch um Geschäfte, von
denen er etwas verstand.
Boulanger klapperte einige Lokale in Montmartre ab, von denen
er wusste, dass Lamprouse sich dort bevorzugt aufhielt. Schließlich
ermittelte er ja schon eine ganze Weile in Lamprouses Dunstkreis
und kannte die Gewohnheiten des Dealers ganz gut.
Alain traf ihn schließlich in einer Bar vor einem Martini
sitzend. Sein Outfit war vom Feinsten. Allein das Sakko kostete
sicher mehr, als der Barmixer im ganzen Monat verdiente.
Maßgeschneidert.
Ein breites Grinsen ging über Lamprouses Gesicht, wobei er ein
paar Jacketkronen entblößte.
„So sieht man sich wieder, Boulanger!“, gurgelte er vergnügt.
„War wohl ein Schlag ins Wasser, die Show von heute Morgen!“
Alain setzte sich zu ihm.
„Irgendwann erwischt dich jemand, verlass dich drauf! Wenn ich
es nicht bin, dann vielleicht mein Freund Dubois. Oder einer deiner
sauberen Freunde.“ Alain zuckte mit den Schultern.
Lamprouse ließ das kalt.
„Ich wusste gar nicht, dass du ein so schlechter Verlierer
bist, Schnüffler.“
Alain zuckte die Achseln.
„Bin ich eigentlich gar nicht. Vielleicht liegt es daran, dass
ich Leute wie dich nicht leiden kann.“
Lamprouse lachte heiser und verzog das Gesicht.
„Das Kompliment kann ich ohne Umschweife zurückgeben.“
„Irgendetwas hast du mit der Frau angestellt, um sie
umzudrehen“, stellte Alain fest. „Vielleicht eine Art Pension, um
ihr den Mund zu stopfen – oder eine handfeste Drohung. Ich schätze,
es war eine Kombination aus beidem. Zuckerbrot und Peitsche, so
sagt man doch dazu, oder?“
Lamprouse hob die Augenbrauen hoch. Bis jetzt hatte ihm
Boulangers Auftreten offenbar noch nicht die Laune verdorben, was
nur heißen konnte, dass er sich sehr sicher fühlte.
„Was willst du jetzt unternehmen, Boulanger?“
„Mal sehen.“
„Mich die ganze Zeit über beschatten, bis du glaubst, dass die
Gelegenheit da ist, um zuzuschlagen?“ Er lachte trocken. „Da kannst
du lange warten.“
„Wart‘s ab, Lamprouse! Vielleicht kommt das früher, als du es
für möglich hältst!“
„Wie wär‘s, wenn du und dein Freund Dubois mal einsehen
würdet, dass ihr euch schlicht und ergreifend geirrt habt. Ich bin
kein Mörder. Und ich habe auch nichts mit dem puren Heroin zu tun,
das dem Jungen über den Jordan geholfen hat.“ Er zuckte mit den
Schultern. Um seinen Mund spielte ein zynischer Zug. „Allerdings“,
murmelte er gedehnt, „ich muss schon sagen: Wer das Zeug nimmt,
sollte es auch dosieren können. Oder die Finger davon
lassen!“
„Wenn ich dich reden höre, wird mir schlecht“, gestand
Alain.
„Es zwingt dich ja niemand.“
„Leider doch. Ich bin nicht wegen des Jungen hier.“
Lamprouse runzelte die Stirn.
„Weswegen dann? Willst du mir irgendeine andere Sauerei
anhängen? Dir traue ich alles zu, Boulanger!“
Alain hatte sich die Zeitungsseite mit der Toten aus Montrouge
herausgerissen und hielt sie Cédric Lamprouse jetzt unter die Nase.
Dieser warf nur einen beifälligen Blick auf das Bild und die
Überschrift und meinte dann: „WER KENNT DIESE FRAU? – Ich kenne sie
jedenfalls nicht!“
„Merkwürdig“, meinte Alain. „Da wird jemand umgebracht, und
die Spur führt geradewegs zu dir! Erklär mir das, wenn du es
kannst!“
„Ich weiß von nichts!“
„Und was mit Léon Durand und Gaston Fournier? Sagen die dir
etwas?“
„Jetzt begreife ich gar nichts! Was haben die mit der Frau in
Montrouge zu tun?“
„Sie waren hinter ihr her. Und jetzt ist sie tot. Zufällig
hatte einer der beiden deine Adresse dabei. Hast du die Typen
angeheuert?“
„Nein.“
„Ich hoffe, die Polizei glaubt dir das auch.“
„Warum sollten sie nicht?“
„Durand hatte eine 8-mm-Pistole bei sich. Und mit genau so
einer Waffe ist die junge Frau in Montrouge erschossen worden …
Aber es weiß doch jeder, dass die beiden kaum aus eigenem Antrieb
gehandelt haben. Das sind doch Lakaien. Man wird also nach einem
Auftraggeber Ausschau halten …“
„… und auf mich kommen. Willst du mir das sagen?“
Alain nickte. „Du hast es erfasst.“
„Warum sollte ich die Frau umbringen wollen?“
„Was weiß ich? Bei dem Jungen hattest du ja auch einen Grund.“
Alain faltete die Zeitungsseite wieder zusammen und steckte sie in
die Manteltasche, während das Gesicht von Cédric Lamprouse zu einer
eisigen Maske geworden war.
„Du willst mir Ärger machen, nicht wahr, Boulanger?“
„Ja, und du kannst dich darauf verlassen, dass ich es auch
schaffen werde!“
Lamprouse tickte nervös mit den Fingern auf dem Tisch herum.
„Also gut, ich kenne Durand und Fournier.“
„Sie stehen auf deiner Gehaltsliste, stimmt‘s?“
„Nein. Sie haben mal für mich gearbeitet, als es darum ging,
ein paar säumige Schuldner daran zu erinnern, dass man Cédric
Lamprouse nicht so einfach vergisst.“
Alain konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese Erinnerung in
der Praxis aussah. Zu den Schulden kam in solchen Fällen noch eine
saftige Krankenhausrechnung …
„Für wen arbeiten die beiden jetzt?“
„Keine Ahnung!“
Alain erhob sich, packte Cédric Lamprouse am Revers seines
edlen Jacketts und zog ihn zu sich heran.
„Du willst mich für dumm verkaufen, Lamprouse. Aber dazu
musste du schon entschieden früher aufstehen!“
Der Dealer ruderte mit den Armen.
„Ich weiß es wirklich nicht, Boulanger! Aber du kannst ja mal
bei Antoine Voelpel nachfragen.“
Alain ließ Lamprouse los, während der Barmann fragte:
„Probleme?“
„Nein!“, knurrte dieser und zog sich sein Jackett wieder
glatt.
„Antoine Voelpel? Der Geschäftsführer vom Tour de minuit?“,
erkundigte sich Alain.
„Genau der. Ich habe Durand und Fournier als Rausschmeißer
dort empfohlen. Kann sein, dass sie bei Voelpel gelandet
sind.“
„Ich hoffe für dich, dass das stimmt!“
„Und ich hoffe, dass ich dich nun fürs Erste los bin,
Boulanger!“
Alain zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen.
Lamprouse hatte etwas von einem schleimigen Aal. Immer wenn man
schon glaubte, ihn gepackt zu haben, glitt er einem durch die
Finger.
9
Als Alain wieder in seinem champagnerfarbenen 500 SL saß,
erreichte ihn ein Telefonanruf von Jeanette.
„Was gibt es?“
„Alain, hier hat sich gerade jemand am Telefon gemeldet, der
seinen Namen nicht nennen wollte. Aber er kannte offenbar die Frau,
der du im Park geholfen hast.“
„Hat er sonst noch was gesagt? Den Namen der Frau
vielleicht?“
„Nein, er sprach nur von der Kleinen aus dem Bois de Boulogne.
Es ging ziemlich schnell, Alain. Er wollte dich persönlich
sprechen, aber damit konnte ich leider nicht dienen.“
„Will er sich wieder melden?“
„Hat er nicht gesagt.“
„Hat er wenigstens gesagt, was er von mir will und warum er
sich nicht bei diesem Polizei-Terrier in Montrouge meldet? Der ist
doch ganz wild auf jemanden, der die Frau identifizieren
kann.“
„Keine Ahnung, Alain. Ich habe das Gespräch aufgenommen – wenn
man es denn überhaupt so nennen will. Wenn du nachher zurückkommst,
kannst du dir die Stimme ja mal anhören. Vielleicht ist es ein
alter Bekannter … Was ist übrigens mit der Lamprouse-Spur? Ist sie
heiß?“
„Eher lauwarm.“
Alain wollte schon auflegen, aber da hörte er Jeanette sagen:
„Ehe ich es vergessen, Alain! Unser Freund Paul Dubois hat sich
übrigens ebenfalls gemeldet.“
„Wegen den beider Kerle, die mir einen unfreundlichen Besuch
abstatten wollten?“
„Nein, Alain, wegen der Beretta.“
„Und?“
„Vor drei Jahren wurde ein Mann aus der Seine gefischt, der
mit dieser Waffe erschossen wurde.“
Alain pfiff durch die Zähne.
„Weißt du noch mehr darüber?“
„Dubois geht der Sache nach!“
„Okay. Wer weiß? Vielleicht ist das ja ein Punkt, an dem man
ansetzen kann, um das Knäuel zu entwirren.“
Ein paar Minuten später hatte Alain Boulanger das Tour de
minuit erreicht.
Es war schon mehr als ein Jahr, seit er hier zum letzten Mal
ermittelt hatte, aber in der Zwischenzeit hatte sich der Laden in
erstaunlicher Weise verändert. Aus einem billigen Strip-Lokal war
so etwas wie eine Nobel-Disco mit Laser-Show und allen nur
denkbaren Schikanen geworden.
Alain staunte.
Um diese Zeit war natürlich an einem Ort wie diesem noch
nichts los, und so ging er schnurstracks dorthin, wo er Antoine
Voelpels Büro vermutete. Es war immer noch am selben Platz und war
eines der wenigen Dinge hier, die sich kaum verändert hatten.
Ja, dachte Alain, von ihrem Outfit her hätten Durand und
Fournier in einen Laden wie diesen hineingepasst.
Antoine Voelpel war alles andere als erfreut, als er Alain
hereinplatzen sah. Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Der
Mann, der sich in einen der protzigen Ledersessel gefläzt hatte,
war wie ein Kleiderschrank gebaut und vermutlich nicht für die
Buchführung angeheuert worden.
Als er Alain eintreten sah, bildeten sich auf seinem
konturlosen Gesicht tiefe Furchen, die Schlimmes ahnen ließen. Aber
Alain wusste, dass dieser Wachhund nur beißen würde, wenn sein Herr
es ihm befahl.
„Was willst du?“, fragte Antoine Voelpel. „An deinen letzten
Besuch habe ich keine guten Erinnerungen. Im Endeffekt läuft es
doch immer darauf hinaus, dass du mir meine Gäste
verscheuchst.“
Alain grinste.
„Das könnte auch an den Gästen liegen“, meinte er. „Aber wie
auch immer – im Moment ist dein Laden ja leer.“
„So etwas spricht sich leider herum.“
„Dann machen wir es kurz. Ich will mich mit dir unter vier
Augen unterhalten.“
Antoine Voelpel atmete tief durch und nutzte diesen Augenblick
zum Nachdenken.
Dann wandte er sich an den Gorilla.
„Geh ein bisschen frische Luft schnappen!“, wies er diesen
an.
Der Typ baute sich zu voller Größe auf, unterzog Alain einer
kritischen Musterung und gehorchte dann – mit sichtlichem
Widerwillen.
„Scheint sich viel verändert zu haben, was das Tour de minuit
betrifft.“
„Ja. Es ist ganz anderer Laden geworden mit völlig verändertem
Publikum.“
„Publikum mit mehr Geld, wie ich annehme.“
„Da nimmst du richtig an.“
„Ich frage mich, woher das Geld für solche Investitionen
kommt.“
Voelpel verzog das Gesicht.
„Wer weiß, vielleicht drucke ich es einfach!“
„Jedenfalls muss jemand viel Geld hier ‘reingesteckt haben.
Wem gehört das Tour de minuit jetzt?“
Voelpel ließ die Frage unbeantwortet und meinte: „Was willst
du hier?“
„Léon Durand und Gaston Fournier – arbeiten die für
dich?“
„Seit ein paar Wochen, ja. Sechs Tage die Woche ab acht Uhr
abends. Warum?“
„Dann hast du mir die Kerle auf den Hals geschickt.“
„Für wen hältst du mich?“
Boulanger kramte das Bild von der Montrouge-Toten heraus und
hielt es Voelpel hin.
„Kennst du sie?“
„Nein.“
„Sie hat nicht zufällig für dich gearbeitet?“
„Nein, bestimmt nicht. Und ich habe sie auch noch nie hier
gesehen. Sie wäre mir aufgefallen, so hübsch wie sie ist.“ Voelpel
hob die Augenbrauen. „Sonst noch was – oder war es das?“
„Durand und Fournier, haben die vielleicht noch eine Art
Nebenjob?“, hakte Alain nach.
Voelpel zuckte betont gleichgültig die Achseln.
„Das geht mich nichts an“, meinte er. „Ich kümmere mich nur um
meine Angelegenheiten.“
Alain lächelte dünn.
„Diese Sache könnte schneller deine Angelegenheit werden, als
dir lieb ist.“
„Was meinst du damit?“ Und dann fiel sein Blick erneut auf das
Bild der Toten. Jetzt begriff er. „Ich vergebe keine Mordaufträge,
wenn es das ist, was du meinst.“
„Wer dann?“
„Kein Kommentar.“
„Kennst du jemanden, dem in letzter Zeit vielleicht etwas
abhanden gekommen ist? Schwarzgeld, Stoff, irgendetwas in der
Art.“
Voelpel kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen und lehnte
sich etwas zurück. Er fühlte sich jetzt sichtlich unwohl in seiner
Haut. Alain hatte irgendeine Saite in Voelpel zum Klingen gebracht.
Aber nach dessen Gesicht zu urteilen, musste es wohl ein Misston
sein.
„Ich kann mich ja umhören“, grunzte Voelpel.
„Tu das!“, nickte Alain in der Gewissheit, von diesem Kerl
nicht mehr zu hören zu bekommen. Es musste seinen Grund haben, dass
Voelpel auf einmal solche Manschetten bekommen hatte.
Vielleicht lag es daran, dass er besonders nah am Vulkan saß
und keine Lust hatte, etwas abzubekommen, wenn er zum Ausbruch
kam.
10
Der Mann war klein, aber sehr kräftig. Aber das Auffallendste
an ihm waren nicht seine breiten Schultern, die ihn noch etwas
kleiner wirken ließen, als er in Wirklichkeit war, sondern sein
gelocktes, dunkles Haar.