Thriller Quartett 4094 - 4 Krimis in einem Band - Henry Rohmer - E-Book

Thriller Quartett 4094 - 4 Krimis in einem Band E-Book

Henry Rohmer

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: (499) Commissaire Marquanteur und der Pate aus Korsika (Alfred Bekker) Alain Boulanger und der Mord an der Seine (Henry Rohmer) Alain Boulanger und der Irre aus Paris (Henry Rohmer) Kommissar Jörgensen und die goldene Pistole (Alfred Bekker) Der Pariser Privatdetektiv Alain Boulanger leidet unter einer Auftragsflaute und seine Assistentin Jeanette befürchtet schon, dass man sich künftig eine billigere Adresse als die Rue Saint-Dominique suchen muss. Da geschieht folgendes: Ein bis dahin friedliebender Mann namens Leon Battiste läuft Amok und wird dabei selbst getötet. Für die Polizei ist der Fall klar, sie schließt somit die Akte. Doch die Freundin des Mannes kann sich damit nicht abfinden. Sie wendet sich an den Privatdetektiv Alain Boulanger, der den Grund des Amoklaufs herausfinden soll … Henry Rohmer (Alfred Bekker) ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Alfred Bekker, Henry Rohmer

Thriller Quartett 4094 - 4 Krimis in einem Band

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Inhaltsverzeichnis

Thriller Quartett 4094 - 4 Krimis in einem Band

Copyright

​Commissaire Marquanteur und der Pate aus Korsika: Frankreich Krimi

​Alain Boulanger und der Mord an der Seine: Frankreich Krimi

​Alain Boulanger und der Irre von Paris: Frankreich Krimi

​Kommissar Jörgensen und die goldene Pistole

Thriller Quartett 4094 - 4 Krimis in einem Band

von Alfred Bekker, Henry Rohmer

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Commissaire Marquanteur und der Pate aus Korsika (Alfred Bekker)

Alain Boulanger und der Mord an der Seine (Henry Rohmer)

Alain Boulanger und der Irre aus Paris (Henry Rohmer)

Kommissar Jörgensen und die goldene Pistole (Alfred Bekker)

Der Pariser Privatdetektiv Alain Boulanger leidet unter einer Auftragsflaute und seine Assistentin Jeanette befürchtet schon, dass man sich künftig eine billigere Adresse als die Rue Saint-Dominique suchen muss. Da geschieht folgendes: Ein bis dahin friedliebender Mann namens Leon Battiste läuft Amok und wird dabei selbst getötet. Für die Polizei ist der Fall klar, sie schließt somit die Akte. Doch die Freundin des Mannes kann sich damit nicht abfinden. Sie wendet sich an den Privatdetektiv Alain Boulanger, der den Grund des Amoklaufs herausfinden soll …
Henry Rohmer (Alfred Bekker) ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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​Commissaire Marquanteur und der Pate aus Korsika: Frankreich Krimi

von Alfred Bekker

Commissaire Marquanteur und der Pate aus Korsika: Frankreich Krimi

von Alfred Bekker
Als in Marseille beim Dreh eines Actionfilms der Star eine echte Kugel abbekommt, beginnen die Ermittlungen von Commissaire Pierre Marquanteur und seinem Team – denn es handelt sich nicht um einen Unfall, wie sich schnell herausstellt. Es scheint eine Verbindung zu Don Giorgio Andreotti zu geben, einem kalabrischen ‘Ndrangheta-Paten, der auf Korsika residiert.
Ein Actionstar, der tief in die Machenschaften des organisierten Verbrechens verstrickt ist, gegen die er in seinen Filmen immer kämpfte, und ein Machtkampf innerhalb der Unterwelt – damit hat es Marquanteur in diesem Fall zu tun.
Und schon bald steht Commissaire Pierre Marquanteur ebenfalls auf der Abschussliste…
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Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Marseille 1997
Antoine Macraux stieß einen grimmigen Schrei zwischen den makellos weißen Zähnen hervor. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske. Der unruhige Blick seiner dunklen Augen glitt über die bröckelnden Fassaden der heruntergekommenen Häuser, die kaum mehr als Ruinen waren.
Macraux packte den riesigen Flammenwerfer mit beiden Händen. Das Gewicht dieser furchtbaren Waffe schien Macraux nicht das Geringste auszumachen. Sein Hemd bestand nur noch aus Fetzen. Die Ärmel waren herausgerissen, so dass Macrauxs gewaltige Muskeln deutlich sichtbar wurden.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.
Braungelber Nebel kroch in dichten Schwaden über den Asphalt.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Macraux plötzlich eine Bewegung wahr. Er wirbelte herum. Ein schwarz gekleideter Angreifer war aus einem der Hauseingänge herausgesprungen und riss seine Maschinenpistole hoch. Der Lauf deutete auf Macraux.
Der Angreifer war maskiert. Er trug eine schwarze Sturmhaube, die lediglich die Augen freiließ.
Macraux reagierte eiskalt.
Ein Muskel zuckte kurz unterhalb seines linken Auges. Genau in dem Moment, in dem das Mündungsfeuer der Maschinenpistole wie die hungrige Flammenzunge eines Drachen hervorschnellte, feuerte Macraux.
Der Feuerstrahl des Flammenwerfers erfasste mit einem zischenden Geräusch den Maskierten.
Macraux ließ sich seitwärts fallen, während einige Kugeln dicht an ihm vorbeischossen. Sie ritzten ihre unverwechselbare Signatur in die Fassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein.
Der Maskierte schrie auf, als ihn das Feuer erfasste. Die Wucht des Feuerstrahls riss ihn nach hinten und fegte ihn gegen die Wand.
Macraux wirbelte derweil herum. Er griff zu dem Futteral, das ihm seitlich am Gürtel hing.
Eine überdimensionale Spezialpistole mit ultralangem Lauf steckte darin. Mit ihr konnte man besondere Explosivgeschosse auf den Weg schicken. Macraux riss die Waffe heraus und feuerte ohne zu zielen. Das Projektil schoss heraus und pfiff in eines der Fenster hinein. Eine Sekunde später gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Eine gewaltige Explosion ließ den Asphaltboden erzittern. Die Wand brach auf einer Länge von mehreren Metern auseinander, und ein menschlicher Körper wurde aus dem Gebäude herausgeschleudert. Der Todesschrei ging in dem Explosionsgeräusch unter. Schwer wie ein nasser Sack schlug der Körper auf dem Asphalt auf, wo er in seltsam verrenkter Stellung liegenblieb.
Steine flogen durch die Luft. Ganze Mauerteile brachen heraus und rutschten in die Tiefe. Ein rotes Flammenmeer züngelte aus dem Fenster heraus. Die Hitze war bis hinunter zu Macraux zu spüren. Schweiß stand dem ungewöhnlich muskulösen Mann auf der Stirn. Das dunkle Haar klebte ihm am Kopf. Er bleckte die Zähne wie ein Raubtier und setzte dann zu einem Spurt auf die andere Straßenseite an. Aus einer Fensteröffnung blitzte es dunkelrot heraus. Macraux feuerte seine Pistole ab. Das Explosivgeschoss machte ganze Arbeit, als es durch die Fensteröffnung flog und dort detonierte. Ein Schrei mischte sich in das Explosionsgeräusch.
Die Schüsse verebbten. Ein Teil der Decke schien herunterzukrachen. Beißender, schwarzer Qualm mischte sich mit grauem Staub und quoll aus dem Gebäude heraus.
Macraux stand völlig erstarrt da.
Das Geräusch eines einzelnen Schusses war in dem Getöse untergegangen.
Macraux wankte.
Sein Gesicht war so starr wie immer. Die Augen traten aus ihren Höhlen hervor. Nicht mehr grimmige Entschlossenheit stand in ihnen, sondern …
Der Tod!
Ein roter Punkt befand sich mitten auf der Stirn und wurde rasch größer. Er wirkte fast wie ein drittes Auge, das rote Tränen vergoss.
Macraux sackte in sich zusammen. Eine Sekunde später lag er ausgestreckt auf dem Rücken.
Antoine Macraux, einem Millionenpublikum besser bekannt als Der Bestienkiller war so mausetot, wie die Legion seiner zahllosen Feinde, mit denen er kurzen Prozess gemacht hatte.
2
„Ich habe Ihnen diesen Ausschnitt aus dem bisher fertiggestellten Filmmaterial des neuesten Antoine Macraux-Streifens keinesfalls in der Absicht gezeigt, Ihnen ein Beispiel für vorbildliche Verbrechensbekämpfung zu geben“, erklärte Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police, der Chef der Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri, in Marseille.
Wir saßen in Monsieur Marteaus Dienstzimmer und genossen das besondere Aroma des Kaffees, den seine Sekretärin Melanie gebraut hatte. Ein Kaffee, der im gesamten Präsidium für seinen besonderen Geschmack berühmt war. Eine Schande, dass wir ihn aus Pappbechern trinken mussten.
Rechts von mir hatte mein Freund und Kollege François Leroc in einem der schlichten Ledersessel Platz genommen, mit denen Monsieur Marteaus Büro ausgestattet war. Außerdem waren noch die Commissaires Boubou Ndonga und Stéphane Caron anwesend und lauschten interessiert Monsieur Marteaus Ausführungen.
Monsieur Marteau machte ein ernstes Gesicht.
„Wie ich annehme, haben Sie alle in den letzten Tagen mal Zeitung gelesen oder die Nachrichten gesehen. So wissen Sie, dass der Schuss, den Antoine Macraux in die Stirn bekam, keineswegs eine tricktechnische Meisterleistung war, sondern die Realität. Jemand hat ihn bei den Dreharbeiten seines neuesten Streifens umgebracht.“
„Ich habe davon gehört“, meldete sich Boubou zu Wort. Boubou nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
Monsieur Marteau schaltete den Projektor aus. Er atmete tief durch und vergrub eine Hand in der Hosentasche. „Wir haben den ballistischen Bericht inzwischen vorliegen. Und der spricht eine eindeutige Sprache. Macraux starb mit einer Waffe, die auch bei zwei Morden aus dem Mafia-Milieu benutzt wurde. Die Details können Sie sich in dem Bericht ansehen, den ich Ihnen zusammengestellt habe.“
„Macraux wurden doch immer Kontakte zur Mafia nachgesagt“, meinte Caron.
„Seine Mutter ist Italienerin“, warf Boubou ein. „Das macht ihn in dieser Hinsicht natürlich sofort verdächtig.“
Caron runzelte etwas ärgerlich die Stirn. Die Ironie in der Bemerkung seines Kollegen und Partners schien ihm völlig entgangen zu sein. „Ach, ja?“
„Sollte ein Witz sein“, meinte Boubou etwas kleinlaut und rückte sich die edle, mit 585er Gold beschichtete Krawattennadel in die richtige Position. Bei ihm eine Geste der Verlegenheit.
François meinte: „Jedenfalls wäre Macraux nicht der erste, der im Showgeschäft durch Verbindungen zur Ehrenwerten Gesellschaft nach oben gekommen ist.“
Monsieur Marteau wandte sich herum und ging zu seinem Schreibtisch. Er kehrte mit ein paar großformatigen Schwarzweißfotos zurück, die er mit einer gekonnten Handbewegung vor uns auf den Tisch ausbreitete.
„Diese Männer wurden mit derselben Waffe wie Macraux umgebracht“, erläuterte Monsieur Marteau dazu. „Leute aus den mittleren Etagen des organisierten Verbrechens. Geschäftsführer von gut gehenden Nachtclubs, die als Geldwaschanlagen benutzt werden oder maßgebliche Leute in Reedereien, die in den Drogenschmuggel verwickelt sind.“
„Immer derselbe Killer?“, murmelte ich skeptisch.
„Ein Profi, so wie unsere bisherigen Erkenntnisse ergaben. Vermutlich wurde ein Schalldämpfer benutzt. Der Killer spähte seine Opfer vermutlich sehr sorgfältig aus, bevor er zuschlug. Er wusste stets genau Bescheid. Die Anschläge waren bis ins Detail geplant. So gut, dass er seine Opfer stets allein antraf. Es gibt keine Beschreibungen des Täters, keine Zeugen, die irgendetwas an brauchbaren Informationen hätten liefern können. Nur eine Kugel, fast immer genau in die Stirn, etwas oberhalb der Augen … Was allerdings das Attentat auf Macraux angeht, so scheint der Killer für eine sorgfältige Vorbereitung keine Zeit gehabt zu haben. Am Film-Set müssen etwa hundert Personen gewesen sein. Alles war durch private Sicherheitskräfte abgeriegelt, um Fans daran zu hindern, ihr Idol beim Dreh zu stören.“
„Der Täter ging ein ziemlich großes Risiko ein“, sagte mein Kollege François Leroc.
Monsieur Marteau bestätigte das.
„Der Mord fand gewissermaßen vor Dutzenden von Zeugen statt. Die Kollegen der Polizei haben von allen Aussagen aufgenommen, die zum Tatzeitpunkt am Ort des Geschehens waren. Diese Aussagen stehen Ihnen natürlich für Ihre Ermittlungen zur Verfügung. Leider scheint kaum etwas dabei zu sein, was einen Anhaltspunkt liefern könnte. Der Killer feuerte von einem Hausdach aus. Zuerst fiel den meisten Anwesenden wohl gar nicht auf, dass es sich nicht um einen Trick handelt. Sie haben die Explosionen auf dem Schirm gesehen. Bei dem Getöse fällt ein einzelner Schuss nicht auf.“
„Den Killer hat niemand gesehen?“, fragte Boubou.
„Nein“, schüttelte Monsieur Marteau den Kopf. „Auch den Sicherheitsleuten, die das ganze Gebiet absuchten, ist niemand aufgefallen, der verdächtig wirkte. Offenbar hat der Killer das Chaos geschickt genutzt, um zu verschwinden. Wie er sich überhaupt auf das Gelände gestohlen hat, ist allen ein Rätsel. Vielleicht hat er sich unter die Packer gemischt, die Requisiten am Drehort ausgeladen haben. Jedenfalls hat er es geschafft.“
„Die Frage ist also, für wen dieser Killer arbeitet“, stellte ich fest. „Denn es ist wohl nicht anzunehmen, dass er auf eigene Rechnung unterwegs ist.“
„Sie sagen es, Pierre.“
„Also müssen wir nach weiteren Anhaltspunkten suchen“, stellte François fest und machte dabei ein wenig optimistisches Gesicht.
„Immerhin wissen wir, dass die Toten allesamt dem Andreotti-Clan im Wege standen“, stellte Monsieur Marteau fest. „Und dieser Clan gehört zur europaweit agierenden ‘Ndrangheta aus Kalabrien.”
„Und wie passt Macraux dann in diese Reihe?“, fragte ich.
„Überhaupt nicht“, erwiderte Monsieur Marteau. „Es gibt mehr als nur Gerüchte darüber, dass Don Giorgio Andreotti Macrauxs Filmkarriere überhaupt erst ermöglichte oder zumindest doch sehr förderte.“
Ich sah Monsieur Marteau offen an.
„Sie hoffen, dass wir am Ende nicht nur den Lohnkiller dingfest machen können, der Macraux auf dem Gewissen hat, sondern auch den Andreotti-Clan lahmlegen“, stellte ich fest.
„Ganz genau, Pierre.“
„Sie sind ein Optimist“, stellte ich fest. „Bislang konnte man den Andreottis nie etwas nachweisen. Jedenfalls nichts Gerichtsverwertbares. Jeder weiß, dass sie ihre Finger im Drogenhandel, im Glücksspiel und in einigen anderen illegalen und daher sehr lukrativen Branchen haben, aber wenn jemand über die Klinge springen musste, dann waren das immer nur die niederen Chargen.“
„Und das ärgert mich seit Langem, Pierre!“ Monsieur Marteau setzte sich nun ebenfalls in einen der dunklen Sessel. Er schlug die Beine übereinander. Sein Gesicht strahlte Entschlossenheit aus. Er deutete mit einer knappen Bewegung auf die Fotos auf dem Tisch.
„Wenn ein Mafia-Pate die mittleren Chargen der Konkurrenz umbringt, will er vielleicht sein Gebiet ausdehnen. Aber, wenn er einen Mann wie Macraux umbringen lässt, dann muss es dafür entweder einen verdammt guten Grund geben oder man muss an Don Giorgios Intelligenz zweifeln.“
„Möglichkeit Nummer zwei ist wohl absurd“, stellte François fest.
Monsieur Marteau nickte.
„Das sehe ich auch so. Schließlich kann man sich in einem Fall wie dem von Antoine Macraux sicher sein, dass die Ermittlungen peinlich genau von den Medien verfolgt werden. Das ist keine Sache, die irgendwann zu den Akten gelegt werden kann. Die Polizei, die FoPoCri, die Staatsanwaltschaft – keiner könnte sich das leisten, ohne sich unangenehme Fragen gefallen lassen zu müssen. Also wird es besonders hartnäckige Ermittlungen geben. Das liegt in der Natur der Sache – und Don Giorgio kann sich das an zwei Fingern ausrechnen. Er ist lange genug im Geschäft, um so etwas zu wissen.“
„Don Giorgio muss ziemlich nervös sein“, nickte ich.
„Und vielleicht macht er dadurch Fehler“, ergänzte Monsieur Marteau. Nach einer kurzen Pause fügte er düster hinzu: „Irgendetwas geht da vor sich, von dem wir bislang noch keine Ahnung haben.“
3
François und ich verbrachten einige Zeit in unserem gemeinsamen Dienstzimmer, um uns einen Überblick über die Fakten zu verschaffen. Unser wichtigstes Hilfsmittel war dabei der Computer. Per Internet waren wir in Sekundenschnelle mit allen wichtigen Archiven und Datenbanken verbunden, darunter dem Zentralarchiv des FoPoCri in Paris.
Insbesondere interessierten uns natürlich alle verfügbaren Informationen, die im Laufe der Jahre über die Andreotti-Familie gesammelt worden war.
Don Giorgio hatte seine wilden Sturm- und Drangjahre eigentlich längst hinter sich. So hatten wir jedenfalls geglaubt. Es hatte schon Gerüchte geben, der große Boss wollte sich vollständig aus dem illegalen Bereich zurückziehen und sein Geld nur noch in saubere Geschäfte investieren.
Marseille war ein Dorf – und das Zentrum erst recht. Jedenfalls, was die Verbreitungsgeschwindigkeit von Gerüchten und Halbwahrheiten anging.
Was die Informationen über Antoine Macraux angingen, waren unsere üblichen Informationsquellen dafür wohl eher ungeeignet. Er war nie straffällig geworden, hatte seine Fingerabdrücke nie auf einer Waffe hinterlassen, mit der jemand umgebracht worden war, und war nur ein einziges Mal mit der Polizei in Berührung gekommen. Als er nämlich seine erste Frau verprügelt hatte, und die Nachbarn die Polizei gerufen hatten. Aber damals war Antoine Macraux noch kein Star gewesen, sondern ein mehr oder minder erfolgloser Schauspieler, der sich mit Auftritten in Werbespots über Wasser hielt und die kleinen Summen, die er damit verdiente, in Fitnessstudios trug.
Später war dann mal in einem Magazin zu lesen, dass der Gebrauch von Anabolika zum Muskelaufbau seine Persönlichkeit verändert und ihn aggressiv gemacht habe.
Seltsamerweise wurde diese Story, die erst als großer Aufmacher angelaufen war, nicht weiter verfolgt. Der Verdacht lag nahe, dass da vielleicht jemand die Hand im Spiel gehabt hatte. Jemand, dessen Angebote man nicht ablehnen konnte.
François und ich durchstöberten alles, was an Presseinformationen, Filmarchiven oder Internet-Seiten von Antoine Macraux-Fanclubs online auf unseren Bildschirm zu holen war. Macraux war zum Zeitpunkt seines Todes vielleicht noch nicht ganz da angekommen, wo Schwarzenegger, Bruce Willis, Van Damme und Ralf Möller heute schon waren, aber die Fachwelt traute ihm den Aufstieg in die Superliga der Hau-Drauf-Helden durchaus zu.
Für den späteren Nachmittag hatten wir uns mit Jules Jabot, dem Regisseur des letzten Macraux-Streifens am Tatort verabredet.
Es handelte sich um eine Industriebrache in Marseille La Villette, ganz in der Nähe der Süderelbe gelegen. Bei gutem Wetter war im Hintergrund die typische Skyline von Marseille La Villette zu sehen. Die Gebäude sahen aus wie eine Ansammlung von Ruinen. Ehemalige Bürokomplexe gab es hier ebenso wie Lagerhäuser.
Eine Import/Export Firma hatte ihren Sitz gehabt, war ins Trudeln gekommen und inzwischen Pleite. Einen Käufer für das Gelände gab es bereits. Alles, was hier stand, würde abgerissen werden. Eine ideale Voraussetzung, um hier vorher noch einen Action-Film abzudrehen, in dessen Verlauf so einiges in die Luft fliegen sollte. Das Aufräumen würde das Abrisskommando übernehmen.
Als François und ich mit meinem Sportwagen auf dem Gelände eintrafen, war Jules Jabot schon dort. Er trug eine Brille mit Spiegelgläsern und ein grellbuntes Hemd mit Riesenkragen im Siebziger-Jahre-Look. Ein hagerer Mann mit blassem Teint, dessen nervöse Finger eine Zigarette zerdrückten, während er gegen den Kotflügel seines gelben Porsche lehnte.
Im Wagen saß eine hinreißende Blondine mit tief ausgeschnittenem Kleid und gelangweiltem Blick.
Wir stiegen aus.
Jabot begrüßte uns mit einem nachlässigen „Salut!“
Wir zeigten ihm erst mal unsere Ausweise, für die Jabot allerdings kaum einen Blick übrig hatte. Er kaute auf irgendetwas herum.
„Ich hoffe, Sie kriegen den Kerl, der Antoine auf dem Gewissen hat“, meinte Jabot grimmig. „Wir stehen alle ziemlich auf dem Schlauch. Das ganze Team.“
„Aus dem Film wird nichts“, stellte ich fest.
Jabot nickte.
„Ja, und an meiner Beteiligung am Einspielergebnis auch nicht. Mein Gott.“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, so als könnte er es immer noch nicht fassen, dass Macraux auf der anderen Seite des Jordan war. Antoine Macraux, der Star, an dem das gesamte Projekt gehangen hatte.
Ich ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Ich versuchte, die Stelle zu finden, von wo aus der Killer auf Macraux angelegt haben musste. Dem ballistischen Bericht nach musste sich der Täter auf dem Dach eines Gebäudes befunden haben. Ich würde mir die Stelle noch genauer ansehen, aber es sprach viel dafür, dass der Mann, den wir suchten, ziemlich sportlich war.
Und schwindelfrei.
Es hat schon Fälle gegeben, in denen unsere Karten deutlich besser waren, ging es mir bitter durch den Kopf. Die Kollegen von der Spurensicherung des zentralen Erkennungsdienstes aller Marseiller Polizeieinheiten hatten das gesamte Gelände millimetergenau abgesucht. Nichts hatten sie gefunden, was auch nur einen vagen Hinweis liefern konnte. Nicht einmal eine Patronenhülse.
Da war nur die Kugel, die man aus dem Kopf des toten Antoine Macraux herausgeholt hatte.
Nichts weiter.
Ich war überzeugt davon, dass unser Freund auch die am liebsten wieder eingesammelt hätte, wäre er dazu in der Lage gewesen.
„Haben Sie irgendeine Ahnung, weswegen jemand Macraux töten wollte?“, fragte ich.
Jabot machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ein netter Kerl war er jedenfalls nicht“, meinte er. „Weder in seinen Filmen noch im wahren Leben. Er war Der Bestienkiller, manchmal aber auch die Bestie. Besonders, wenn am Set irgendetwas nicht nach seiner Mütze lief. Mein Gott, er war ein Tyrann. Aber was macht man nicht alles für einen Batzen Scheine? Man spielt sogar unter einem Antoine Macraux den Regisseur.“
„Klingt sehr zynisch.“
„Ach, ja? Sagen Sie bloß, für Sie bricht eine Welt zusammen, wenn ich am Image des toten Helden kratze?“
„Das wohl kaum.“
„Na, dann.“ Er atmete tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Macraux war der absolute Boss. Vielleicht hätte er das Zeug zu einem netten Menschen gehabt – wenn sein erster Film ein Flop geworden wäre. Aber der Bestienkiller machte ihn berühmt und steinreich. Und dann folgten die unsäglichen Fortsetzungen. Die Rückkehr des Bestienkillers und Die Rache des Bestienkillers. Teil vier sollte den Titel Der Zorn des Bestienkillers tragen. Aber daraus wird nun wohl nichts mehr. Und wahrscheinlich gehen die meisten aus dem Team mit einem finanziellen Minus aus der Sache heraus.“
„Wieso das?“, fragte François.
Jabot sah ihn mit einem Blick an, in dem sich Überheblichkeit widerspiegelte. Er nahm uns nicht so ganz für voll. Wir waren nicht vom Fach, und das ließ er uns spüren.
„Die Millionen, die Macraux der Bestienkiller eingebracht hat, investierte er in die Fortsetzungen. Macraux war der Hauptproduzent. Tja, und wer bezahlt, bestimmt auch, welche Musik gespielt wird, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Wir wussten es sehr gut. Die Tatsache, dass Macraux nicht nur vor, sondern auch hinter der Leinwand eine beherrschende Figur geworden war, war mir aus unseren bisherigen Ermittlungen bereits bekannt.
„Erfolg hat Neider“, meinte Jabot. „Und ich wette, einer von denen hat den starken Mann umgenietet.“
„Wir haben den Filmausschnitt gesehen.“
Jabot nickte.
„Eine Einstellung ohne Schnitt. Macraux brauchte so etwas nicht. Er wollte so wenig Tricks wie möglich. Wahrscheinlich wollte er einfach nur jedem am Set beweisen, dass seine aufgeblasenen Muskeln nicht aus Pudding waren. Jedenfalls konnte er mit diesem riesigen Flammenwerfer herumwedeln, als ob es sich um eine Attrappe aus Pappmaché handelte.“
„Sie scheinen keine sehr hohe Meinung von dem zu haben, was Sie da tun“, stellte ich fest.
Jabot zuckte die Achseln.
„Künstlerisch anspruchsvoll sind die Bestienkiller-Filme jedenfalls nicht. Aber wenn man das Glück hat, bei einem dieser Streifen Regie führen zu dürfen, ist das wie ein Gewinn in der Lotterie. Diese Filme sind alle gleich. Antoine Macraux säubert als der Bestienkiller ein zukünftiges Marseille von einer großen Anzahl von Fieslingen, die keine hohe Lebenserwartung haben, sobald Macraux mit seinem Flammenwerfer auftaucht.“
„Dauert es noch lange?“, meldete sich die Blondine etwas maulend zu Wort. Sie hatte die Arme vor den Brüsten verschränkt und zog einen Schmollmund.
„Das hängt nicht von mir ab“, knurrte Jabot. Sein Blick auf die Uhr sprach Bände. Er wollte uns so schnell wie möglich wieder loswerden.
Ich trat an den gelben Porsche heran, dessen Verdeck nach hinten geklappt war. Ich stützte mich auf die Oberkante der Tür und warf einen Blick auf die Blonde.
„Mein Name ist Marquanteur. Und wer sind Sie?“
Sie hob die Augenbrauen.
„Rita Larôche“, murmelte sie.
Erneut hob sie die Augenbrauen, die sich im Übrigen gerade erst gesenkt hatten.
Ich fragte: „Waren Sie auch am Set, als der Mord geschah?“
„Ja. Aber alles, was es dazu zu sagen gibt, habe ich bereits Ihren Kollegen von der Polizei zu Protokoll gegeben. Mein Gott, als Macraux plötzlich zu Boden stürzte und wir alle nach und nach begriffen, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, gab es fast so etwas wie eine Panik. Die meisten haben erst einmal zugesehen, dass sie in Sicherheit kamen. Wenn jemand einen Mann wie Antoine Macraux in aller Öffentlichkeit erschießt, dann muss es sich um einen Wahnsinnigen handeln. Irgendein Irrer, der auf diese Weise in die Medien will.“ Rita atmete tief durch. Sie drückte die Faust zwischen ihre sich deutlich durch den eng anliegenden Pullover heraushebenden Brüste und schluckte.
„Wir dachten alle, dass der Irre noch mal schießt und ein Massaker anrichtet“, ergänzte Jabot.
„Ich verstehe.“
„Ich hoffe nur, dass ich wenigstens bald das Geld für die geleisteten Drehtage bekomme“, knurrte Jabot.
„Wieso haben Sie da Sorge?“, fragte François.
„Weil seine Witwe Haare auf den Zähnen hat. Sie ist Macrauxs dritte Frau, und ich vermute, es wird ein Riesengerangel um das Erbe geben. Schließlich gibt es auch Kinder aus den ersten beiden Verbindungen.“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Aber das muss ja nicht Ihre Sorge sein.“
„Kommen Sie“, sagte ich. „Zeigen Sie uns genau, wie es passiert ist!“
4
Wir gingen zwischen den Gebäudezeilen entlang. In Wirklichkeit sah die Szenerie in dem Filmausschnitt ganz anders aus. Der Eindruck war durch die Auswahl des Bildausschnitts so manipuliert worden, dass der Eindruck einer kilometerweiten Ruinenlandschaft entstand.
Eine weiße Markierung zeigte an, wo Antoine Macraux gestorben war.
„Ich stand dort drüben, neben dem Kameramann“, erklärte Jabot. „Rita war auch in meiner Nähe. Sie hatte dafür zu sorgen, dass Änderungen sofort ins Skript eingetragen wurden.“
Ich deutete auf das fünfstöckige Flachdach-Gebäude.
„Von dort oben wurde geschossen … Haben Sie dort nichts bemerkt?“
„Der Schuss schien aus dem Nichts zu kommen. Wenn Sie sagen, dass es von dort oben gekommen ist, muss ich Ihnen das glauben. Gesehen habe ich dort nichts. Aber um ehrlich zu sein, habe ich auch nicht darauf geachtet. Es war ein einziges Chaos. Die Explosionen, der Nebel aus der Nebelmaschine, das zum Teil panisch reagierende Team.“ Er sah mich an. Seine Augenbrauen bildeten eine Schlangenlinie. „Sagen Sie, warum interessiert sich eigentlich die FoPoCri für den Fall? So wie ich das sehe, handelt es sich um einen ganz gewöhnlichen Mord.“
„Das wird sich noch herausstellen“, sagte ich.
„Das beantwortet nicht meine Frage. Trauen die hohen Tiere der normalen Polizei nicht zu, die Sache aufzuklären?“
„Antoine Macraux war auch ein italienischer Staatsbürger“, sagte ich ausweichend. „Und da er hier in Marseille ermordet wurde …“
„Klingt für mich wie an den Haaren herbeigezogen“, sagte Jabot.
Mir gefiel es nicht, wie er das Frage-und Antwortspiel einfach umdrehte. Aber Jabot war es gewohnt, eine Hundert-Personen-Filmcrew herumzukommandieren. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm ganz gewiss nicht.
Ich lächelte dünn.
„Dann sagen Sie mir doch eine Version, die weniger an den Haaren herbeigezogen klingt!“
Er kratzte sich am Kinn.
„Nun, es gab doch da immer ein paar unbestätigte Gerüchte über Macraux.“
„Ach ja?“ Ich wollte ihn aus der Reserve locken.
„Er soll Verbindung zur Mafia gehabt haben. Ermitteln Sie deshalb?“
„Wissen Sie etwas darüber?“
„Nur das, was man so hört. Aber um das beurteilen zu können, kenne ich ihn nun wirklich nicht gut genug. Bislang hatte ich ohnehin den Verdacht, dass es sich bei diesen Gerüchten um einen PR-Gag seines Managers handelt, um Macraux noch ein bisschen interessanter zu machen.“
Seitlich nahm ich eine Bewegung war. In einer der durch die Detonation ausgebrannten und von einem Rand aus schwarzem Ruß umgebenen Fensteröffnungen sah ich für den Bruchteil eines Augenblicks eine Gestalt.
„Was ist los, Pierre?“, fragte François.
„Wir werden beobachtet.“
Mein Griff ging reflexartig zur Pistole vom Typ Sig Sauer P 226, die ich im Gürtelholster stecken hatte. Ich fasste die Waffe mit beiden Händen.
„Bleiben Sie zurück!“, sagte ich an Jules Jabot und sein Script-Girl gewandt.
Natürlich konnte es Zufall sein, dass sich jetzt dort jemand herumtrieb. Und vielleicht war die Erklärung dafür auch ganz harmlos. Aber irgendwie glaubte ich nicht so recht daran.
5
Als ich das Gebäude erreichte und den Blick schweifen ließ, konnte ich nirgends etwas Verdächtiges sehen. Keine Bewegung, kein Laut, nichts.
François hielt sich ein ganzes Stück hinter mir und sorgte für meine Rückendeckung. Sicherheit ist das höchste Gebot in der Polizeiarbeit.
„Hallo! Ist da wer?“, rief ich.
Meine Worte verhallten zwischen den ausgebrannten und durch die Detonationen sichtlich mitgenommenen Ruinen. Ganze Mauerstücke waren herausgebrochen und auf die Straße gesackt. „Hier spricht Pierre Marquanteur von der FoPoCri! Kommen Sie heraus!“
Wieder keine Antwort.
Die Tür hatte jemand ausgehängt. Der Eingang war offen. Ich tastete mich vorsichtig hinein. François folgte mir. Man konnte nur raten, wofür dieses Gebäude mal benutzt worden war. Der Raum, der sich vor meinen Augen erstreckte, war groß und kahl. Sicherlich zweihundert Quadratmeter. Vielleicht ein Großraumbüro. Die Reste von Teppichboden sprachen jedenfalls dafür, dass es sich nicht um einen ehemaligen Lagerraum handelte.
Auf der linken Seite bewegte sich etwas Dunkles.
Ich wirbelte herum. Eine fette Ratte huschte über den Boden, blieb einen Augenblick lang stehen, hob den Kopf und blickte in unsere Richtung. Dann huschte sie davon.
Ich deutete zur Türöffnung, die aus diesem Raum herausführte. Dahinter wurde eine Art Flur sichtbar.
Vorsichtig durchquerten wir den Raum und tasteten uns dann zum Flur vor. Nirgends war etwas zu sehen oder zu hören. Und auch von uns sagte keiner ein Wort.
Der Flur war lang und endete vor dem Aufzug, der aber mit Sicherheit außer Betrieb war. Dahinter befand sich ein Treppenaufgang.
Mit der Waffe im Anschlag schlichen wir weiter voran.
Eine Tür führte nach rechts. Sie war angelehnt. Mit einem Tritt öffnete ich sie. Mit der P 226 im Anschlag stürmte ich hinein. François kam hinterher und deckte mich. Der Raum war nicht so groß wie jener, in dem wir uns zuerst befunden hatten. Man hatte auch hier ein paar Möbel zurückgelassen. Preiswerte Regalwände aus Spanplatten, die sich durch die Feuchtigkeit etwas verzogen hatten. Zu gebrauchen waren sie kaum noch.
Das Fenster stand offen.
Eine dunkle Gestalt wirbelte herum. Ein Mann mit ungepflegtem, struppigen Vollbart, Baseballmütze und einem zerschlissenen Parka, der für die Jahreszeit viel zu warm war.
Der Mann duckte sich, riss etwas empor, das wie eine ziemlich große Pistole wirkte und feuerte.
Es gab keinen Laut.
Ich sah das Aufblitzen des Mündungsfeuers und warf mich zur Seite. François machte dasselbe. Die Kugel fuhr in die schmucklose Raufasertapete hinter uns und splitterte ein Stück aus dem Putz heraus. Ich rollte mich am Boden herum, während ich undeutlich ein Geräusch wahrnahm, das wie ein kräftiges Niesen oder der Schlag mit einer Zeitung klang. Der Schuss einer Waffe mit Schalldämpfer. Das Projektil ritzte dicht neben mir den Boden. Ich hatte den Luftzug spüren können, mit dem es an meiner Stirn vorbeigeschossen war.
Ich riss die P 226 hoch und feuerte.
Nicht, um zu treffen, sondern um zu warnen.
Ich ballerte zweimal kurz hintereinander los und hielt dabei etwas seitwärts. Die Scheibe des offen stehenden Fensters ging zu Bruch. Der Knall hallte ein halbes Dutzendmal in den leeren Räumen wider.
Der Kerl war weg.
Ich war innerhalb eines Sekundenbruchteils wieder auf den Beinen. Schnell hatte ich die wenigen Meter bis zum Fenster hinter mich gebracht und starrte hinaus. Die Pistole hielt ich mit beiden Händen umfasst.
Der Kerl rannte davon, auf eine Dreiergruppe von Lagerhallen zu. Dieses Gelände war ein einziges Labyrinth. Es war schwierig, hier jemanden zu stellen, wenn man nicht gerade eine Hundertschaft von entsprechend ausgebildeten Beamten zur Verfügung hatte. Das hatte sich schon der Mörder von Antoine Macraux zunutze gemacht, als er sein Attentat durchführte.
„Stehenbleiben! FoPoCri!“, rief ich dem Kerl hinterher.
Während seines Laufs drehte er sich kurz um und feuerte nochmals in meine Richtung. Ein ziemlich ungezielter Schuss, der irgendeines der noch vorhandenen Fenster zu Bruch gehen ließ. Ein Regen aus messerscharfen Splittern ging hernieder. Sie glitzerten in der Sonne wie Lametta.
Ich brannte dem Kerl einen Warnschuss neben die Hacken. Aber das schien ihn nicht zu beeindrucken. Als ob der Leibhaftige persönlich hinter ihm her gewesen wäre, beschleunigte er noch. Seine Kondition schien dabei nicht die beste zu sein. Er fasste sich in Höhe der Milz an die Seite.
Seitenstiche!
Vielleicht verbesserte das unsere Chance, ihn doch noch zu kriegen.
„Der scheint mit uns nichts zu tun haben zu wollen“, kommentierte François gallig.
„Los, schnappen wir ihn uns!“, rief ich, während ich mich mit einem Satz über die Fensterbank schwang. Mit der Waffe in der Hand setzte ich zu einem Spurt an. François folgte mir in einem Abstand von wenigen Metern.
Was immer der Kerl hier gesucht hatte – es schien mir mehr als ein Zufall zu sein, genau hier, zwei Tage nach Antoine Macrauxs Tod, einen Mann anzutreffen, der mit einer Schalldämpferwaffe bedenkenlos auf Polizisten feuerte.
Es gab mehrere Möglichkeiten, die denkbar waren.
Eine war, dass der Killer doch nicht so sorgfältig alle Spuren verwischt hatte, wie es nach Angaben der Polizei und der Spurensicherung zunächst den Anschein gehabt hatte. Möglicherweise hatte der Täter etwas zurückgelassen, was bislang übersehen oder falsch gedeutet worden war. Und jetzt war er hier, um jedes Risiko auszuschalten.
Er keuchte.
Sein Lauf bekam etwas Taumelndes. Er feuerte erneut.
Nein, dachte ich. Ein so schlechter Schütze kann das Attentat nicht begangen haben.
Ich duckte mich kurz.
„Geben Sie auf und bleiben Sie stehen! Dann passiert Ihnen nichts!“, rief François.
Zwecklos!
Seine Augen traten aus den tiefliegenden Höhlen hervor.
Grenzenlose Panik sprach aus diesem Blick, und ich fragte mich, was die wohl verursacht hatte.
Sein Gesicht war grimmig verzogen. Er hob die Waffe und feuerte zweimal kurz hintereinander.
Wir feuerten zurück.
Der Flüchtende taumelte in das offene Tor der Lagerhalle hinein und verschwand dort.
Im nächsten Moment gab es einen durchdringenden, metallischen Laut. Ein Stöhnen und Quietschen betäubte die Ohren. Das Tor setzte sich in Bewegung. Es senkte sich von oben herab. Offenbar war die elektrische Anlage noch in Ordnung.
Der Spalt zwischen dem betonierten Erdboden und dem Metalltor wurde immer schmaler.
Ich spurtete los. François war dicht hinter mir.
Sekunden nur vergingen, ehe ich das Tor erreichte. Ich warf mich zu Boden und rollte mich unter dem sich unaufhaltsam niedersenkenden Tor hindurch, ehe es mit einem donnernden Geräusch auf dem Boden aufkam. Ich wirbelte herum, riss die Waffe empor und blickte in den blanken Schalldämpfer, der auf die Waffe meines Gegners aufgeschraubt war.
6
Der Mann keuchte. Er atmete unruhig und hielt sich mit einer Hand noch immer die Seite, während die andere zitternd die Waffe hielt. Es war eine Automatic – allerdings eine, an der verschiedene Veränderungen vorgenommen waren. Der Lauf war länger als üblich, der Schalldämpfer verlängerte ihn zusätzlich. Und dann war da das große Zielfernrohr, das eigentlich zu einem Präzisionsgewehr gehörte. Mir fiel ein rotes Leuchten von unglaublicher Intensität auf – ein Laserpointer zur Zielerfassung.
Der Strahl traf in meiner Herzgegend auf den Stoff meiner Jacke.
Meine Waffe deutete auf ihn, mit der seinen hatte er mich ins Visier genommen.
Ein unangenehmes Patt.
Ich sah, wie sich der Druck seines Zeigefingers auf den Abzug verstärkte. Die Knöchel seiner Hand wurde so weiß wie sein Gesicht.
Einen Herzschlag lang hing alles in der Schwebe. Ich konnte versuchen, mich zur Seite zu werfen und blitzschnell zu feuern, in der Hoffnung, ihn mit dem ersten Schuss so zu erwischen, dass er nicht mehr feuern konnte.
Er war kein guter Schütze, trotz Laserpointer. Ich hatte also eine Chance.
Aber mein Instinkt warnte mich.
Außerdem wollte ich dem Kerl ein paar Fragen stellen, wozu er mit einer Kugel im Kopf wohl kaum noch in der Lage sein würde.
Ich hörte, wie François von draußen versuchte, das Metalltor wieder zu öffnen. Natürlich vergeblich.
„Dein Freund kann dir jetzt nicht helfen“, lachte mein Gegenüber.
„Nehmen Sie die Waffe runter!“
„Das könnte dir so passen!“
Mein Gegenüber grinste schief und entblößte zwei Reihen sehr schlechter Zähne. Angefaulte Stümpfe, mehr schien in in seinem Mund nicht mehr drin zu sein. Ich fragte mich unwillkürlich, wie alt er wohl war. Zwischen dreißig und sechzig schien alles möglich zu sein. Er wirkte ziemlich verkommen. Der Bart war völlig verfilzt, desgleichen die Haare, die unter der schmuddeligen Baseball-Kappe hervorragten. Auf seinem Handrücken zeigte sich ein rötlicher Ausschlag. Und das Furunkel neben seiner knollenförmigen Nase sah auch übel aus.
„Geben Sie auf!“, sagte ich. „Ich bin von der FoPoCri! Sie sitzen hier in der Falle. Mein Freund da draußen wird Verstärkung rufen, und dann umstellt ein Sondereinsatzkommando das ganze Gebiet.“
„Ich glaube dir nicht“, zischte er. Seine Zunge kam beim Sprechen ziemlich weit zwischen den Zähnen hindurch. Es war nicht ganz einfach, ihn zu verstehen. „Du gehörst zu ihnen, ich weiß es.“
„Von wem sprechen Sie?“, fragte ich.
„Sobald ich diese Waffe senke, wirst du mich über den Haufen ballern wie einen räudigen Hund.“
„Nein, ich …“
„Keine Bewegung!“ Seine Stimme überschlug sich.
„Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen!“
„Das ist nur ein Trick.“
„Glauben Sie nicht, ich hätte Sie längst über den Haufen schießen können, wenn ich das gewollt hätte?“ Es war bisschen übertrieben, was ich ihm da entgegenschleuderte. Aber es beeindruckte ihn. Ich konnte ihm die Verwirrung förmlich ansehen.
Ein Profikiller ist das auf keinen Fall, ging es mir durch den Kopf. Aber andererseits glaubte ich nicht daran, dass er sich zufällig hier herumtrieb und mit einer Waffe hantierte, die die Tatwaffe sein konnte. Sowohl vom Kaliber als auch von der Zielgenauigkeit her.
Mit einer schnellen Bewegung zog ich den FoPoCri-Dienstausweis aus der Jacke. Ich ließ ihn aus der Hand segeln, so dass er eine Sekunde später auf den Boden klatschte. Das FoPoCri-Emblem war deutlich zu sehen. Mein Foto auch, obwohl es vielleicht nicht mehr das allerneueste war.
Der Kerl zuckte zusammen, und für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich schon, er würde schießen und mir keine andere Wahl lassen, als ihn zu töten.
Aber er war vernünftig.
Ich sah den Zwiespalt in ihm. Den verstohlenen Blick zu dem Ausweis am Boden.
Er flüsterte: „Mein Gott, ich dachte …“ Er sprach nicht weiter.
„Was?“, fragte ich und machte einen Schritt nach vorn. Ich war jetzt auf eine Distanz von zwei, drei Metern an ihn herangekommen. Das machte ihn nervös.
„Bis jetzt ist nichts passiert“, sagte ich. „Sie haben mit der Show, die Sie hier abgezogen haben, niemanden verletzt. Sie wissen, dass auf Polizistenmord in Frankreich zwingend die lebenslängliche Haftstrafe verhängt wird, oder?“
„Hör mal …“
„Über den Angriff auf einen Bundesbeamten kann man gegebenenfalls hinwegsehen, wenn Sie jetzt hier aber noch für eine Tragödie sorgen, ist Ihnen das sicher.“
Er atmete tief durch. Und dann ging eine ruckartige Bewegung durch seinen ganzen Körper. Er warf die Waffe in seiner Hand von sich wie ein glühend heißes Eisen. Und dann hob er die Hände. Alle beide. Er zitterte.
„Alles in Ordnung, François!“, rief ich laut, so dass es in der leeren Lagerhalle widerhallte.
Dann holte ich die Handschellen heraus.
„Sie haben das Recht, zu schweigen“, sagte ich und begann dann die übliche Litanei herunterzubeten, mit der wir einen soeben Verhafteten über seine Rechte aufklären mussten.
7
Mit großem Getöse öffnete sich das Tor der Lagerhalle wieder. Metall schabte auf Metall. Ein durchdringender Laut, der etwas Sägendes hatte. Ich hatte den Hebel schnell gefunden, mit dem die Anlage in Gang zu setzen war.
François stand mit dem Handy in der Hand da und klappte das Gerät gerade zusammen.
„Alles in bester Ordnung“, sagte ich, während ich den Mann aus der Halle führte.
François nickte.
„Es wird gleich Verstärkung anrücken.“
„Gut, dann brauchen wir diesen Herrn nicht selbst ins Hauptquartier bringen.“
Ich hatte die P 226 wieder ins Gürtelhalfter gesteckt. In der Linken hielt ich mit einem Taschentuch die Waffe des Bärtigen.
„Was hältst du davon?“, fragte ich François.
„Sieht aus, als wäre jemandem die Standardversion dieser Waffe nicht gut genug gewesen.“
„So sehe ich das auch. Laserzielerfassung, ein hochpräzises Fernrohr und der verlängerte Lauf … Eine Waffe, die auch über weite Distanzen eine Zielgenauigkeit haben dürfte, wie sie sonst nur ein Gewehr bietet.“
„Ja, aber das Ding ist nicht so groß und sperrig.“ François nickte und fügte dann hinzu: „Die Waffe eines Attentäters.“
„Ich habe damit nichts zu tun!“, rief indessen der Festgenommene.
„Ach, nein?“, fragte ich. „Wovon sprechen wir denn?“
Irgendwie schien er zu merken, dass er sich verplappert hatte oder zumindest auf bestem Wege dahin war. Er schluckte, sah mich nachdenklich an und versuchte abzuschätzen, wie er sich jetzt am besten zu verhalten hatte.
„Na, von diesem Schauspieler. Oder?“, meinte er.
„Wie kommen Sie darauf?“, hakte ich nach.
„Steht doch in jeder Zeitung, was mit Antoine Macraux, dem Bestienkiller passiert ist … Bumm und aus!“
Ich bedachte ihn mit einem kühlen, durchdringenden Blick.
„Wer sind Sie?“, fragte ich.
„Ich habe das Recht, die Aussage zu verweigern“, sagte er.
„Sicher haben Sie das, aber es ist die Frage, ob es schlau ist, von diesem Recht ausgerechnet jetzt Gebrauch zu machen.“
„Warum sollte das unklug sein?“
Ich trat nahe an ihn heran und hielt ihm die Waffe unter die Nase, mit der er vor wenigen Augenblicken noch auf mich geschossen hatte.
„Wir werden dieses Ding von unseren Spezialisten genauestens auseinandernehmen und untersuchen lassen. Jede Schraube und jeden Bolzen einzeln. Und am Ende werden wir wissen, ob mit dieser Waffe vielleicht einige Morde begangen wurden. Und was glauben Sie wohl, auf welchen Gedanken wir und die Staatsanwälte kommen, wenn wir berücksichtigen, dass diese Waffe bei Ihnen gefunden wurde?“
Der Mann schluckte.
„Ich habe niemanden umgebracht!“
„Das mag sein. Aber wenn Sie uns jetzt erzählen, wie Sie an das Ding herangekommen sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das auf uns überzeugend wirkt, noch beträchtlich größer, als wenn Sie damit erst so lange warten, bis alle Beweise vor Ihnen auf dem Tisch liegen und Ihnen ein Richter dann die Rechnung präsentiert. Und was Ihren Namen und Ihre Personalien angeht, die bekommen wir auch ohne Ihre Hilfe heraus. Dauert nur ein bisschen länger. Aber das bedeutet nur, dass wir Sie länger festhalten müssen.“
Und François ergänzte: „Sie sollten nicht mit uns pokern. Nicht bei dem miesen Blatt, das Sie haben.“
Der Mann sah erst mich, dann François einen Augenblick lang nachdenklich an. Er schluckte. Sein Gesicht wirkte finster. Dann brummte er: „Louis Matisse.“
„Was?“, fragte ich.
„Mein Name. Ich heiße Louis Matisse.“
„Haben Sie Papiere?“
„Nein.“
„Und was machen Sie hier?“
„Ich wohne hier“, sagte er. „Na ja, wenn das der richtige Ausdruck ist. Ich bin obdachlos.“
„Und woher haben Sie die Waffe?“
„Ich habe sie …“, er zögerte, „… gefunden.“
8
Wenig später war die Verstärkung, die François herbeigerufen hatte, am Ort des Geschehens eingetroffen. Uniformierte Beamte der Polizei und außerdem eine Handvoll von unseren Leuten. Boubou und Stéphane Caron waren auch darunter.
Jules Jabot, der Regisseur des letzten und nicht mehr vollendeten Bestienkiller-Movies hatte zusammen mit seinem Script-Girl Rita beobachtet, was sich um die Lagerhalle herum abgespielt hatte.
„Ich erkenne den Mann wieder“, sagte Jabot.
„Sind Sie sich sicher?“, hakte ich nach.
„Absolut. Ich bin ihm das erste Mal begegnet, als ich mit Heiko Karland, dem Executive Producer über das Gelände ging, um es dahingehend zu prüfen, ob es als Schauplatz für den Bestienkiller infrage kommt. Antoine Macraux war auch dabei. Das hat er sich nie nehmen lassen. Er wollte immer alle Fäden in der Hand halten.“
„Erzählen Sie mir mehr darüber, wie Sie Monsieur Matisse begegnet sind“, forderte ich.
„Richtig. Matisse war sein Name. Ich konnte ihn mir nicht merken.“ Jabot zuckte die Achseln. „Kann auch nicht jeder so einen Allerweltsnamen wie ich haben.“ Er fand das lustig. Aber die einzige, die darüber etwas giggeln konnte, war Rita. Jabot sah mich an. „Er tauchte plötzlich aus einem der Häuser auf, in dem er wohl sein Lager aufgeschlagen hatte. Ich wollte ihn erst vom Gelände schmeißen, aber das wollte Macraux nicht. Antoine hatte immer ein sentimentales Herz für Underdogs.“ Jabot wandte den Blick in Matisses Richtung und sagte: „Sorry!“
„Schon gut“, erwiderte der Bärtige. „Es ist ja schließlich wahr. Ein Glückskind bin ich nicht gerade.“
Jabot wandte sich wieder mir zu. Er strich sich das Haar nach hinten, und ich hatte den Eindruck, dass das bei ihm eine Geste der Verlegenheit war. Schließlich fuhr er fort: „Antoine erlaubte Monsieur Matisse, auch während des Drehs hier auf dem Gelände zu bleiben. Nur nicht gerade da, wo wir etwas in die Luft sprengen wollten.“
Ich wandte mich an Matisse.
„Sie haben bei den Arbeiten zum neuen Bestienkiller-Film zugesehen?“
„Ja. Hin und wieder.“
„Haben Sie gesehen, wie auf Macraux geschossen wurde?“
Matisse schluckte. Er druckste etwas herum, und ich fragte mich, warum eigentlich. Er hatte doch nichts zu verlieren. Keiner glaubte, dass er der Killer war. Er hatte kein Motiv und auch nicht die nötigen Schießfertigkeiten. Im Moment gaben wir ihm eine Vorlage nach der anderen zu seiner Entlastung. Eigentlich hätte es aus Louis Matisse heraussprudeln müssen wie bei einem Wasserfall. Aber er blieb noch immer sehr zurückhaltend. Mein Instinkt sagte mir, dass es dafür einen Grund geben musste.
„Ich zeige es Ihnen“, sagte er dann.
„Okay“, nickte ich.
Er hob die mit Handschellen zusammengeketteten Hände.
„Glauben Sie, das die wirklich nötig sind?“
„Sie haben gerade noch auf uns geschossen“, stellte François fest. „Ist noch gar nicht so lange her.“
„Das war doch nur, weil …“
„Warum?“, hakte ich sofort nach.
Unsere Blicke begegneten sich. Er taxierte mich und biss sich auf die aufgesprungene Lippe. „Nichts“, knurrte er.
„Für wen haben Sie uns gehalten?“, beharrte ich.
Er schluckte.
„Für welche von denen.“
„Wer sind die?“
„Die zu dem Mann gehören, den ich gesehen habe. Ich hatte gedacht, Sie machen kurzen Prozess mit mir.“
9
Ich nahm Matisse die Handschellen ab. Sofern er nicht die umgebaute Automatic in den Fingern hatte, wirkte er auf mich wenig furchteinflößend.
Wir ließen uns von ihm in jenes Gebäude führen, von dessen Dach aus Antoine Macraux getötet worden war. Außer François und mir begleiteten uns auch die Kollegen Ndonga und Caron.
Wir betraten einen hässlichen Quader, schnell hochgezogen, um Büro und Lagerräume zu bieten. Jetzt eine Ruine. Es sah ebenso kahl und leer geplündert aus wie die anderen Gebäude auch. Nur hatte man hier noch keine Sprengungen und pyrotechnischen Tricks im Rahmen der Dreharbeiten eines Action-Reißers vorgenommen. Und so machte der Klotz einen verhältnismäßig wohnlichen Eindruck. Dazu kam, dass fast durchgängig die Fenster noch intakt waren.
Dafür hatte man von dieser Seite des Gebäudes aus noch nicht einmal freie Sicht auf die Hafenseite und die Silhouette von Marseille La Villette auf der anderen Seite.
Matisse zeigte uns sein Lager, das er in einem großflächigen Raum im dritten Stock aufgeschlagen hatte. Man hatte aus den Fenstern heraus eine hervorragende Sicht auf jene Stelle, an der Antoine Macraux ermordet worden war. Die weiße Markierung der Umrisse war von hier oben aus gut zu sehen.
In einer Ecke lagen Matisses Habseligkeiten: ein Schlafsack, ein Spirituskocher, ein paar Kartons.
„Ich war hier am Fenster“, sagte er. „Und ich habe nach draußen geblickt … Mein Gott, all die Explosionen und das Theater. Und dann merkte ich plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Macraux sank zu Boden, obwohl er doch eigentlich immer der Gewinner in den Streifen ist.“ Matisse grinste schief. Er kratzte sich am Hinterkopf und deutete dann in Richtung der offenen Tür, durch die man in den Flur sehen konnte.
„Was geschah dann?“, fragte ich.
„Ich hörte Schritte. Jemand rannte den Flur entlang. Ich war neugierig und schaute nach. Wenig später erreichte ich das Treppenhaus und sah hinab.“
„Und?“
„Da war er.“
„Er?“
„Ich habe ihn leider nur von hinten gesehen. Er rannte in Riesenschritten nach unten. So, als ob der Teufel hinter ihm her gewesen wäre.“
„Haben Sie ihn angesprochen?“
„Bin ich verrückt? Ich fand die Waffe. Er hatte sie einfach von sich geschleudert. Wahrscheinlich fürchtete der Kerl, dass die Sicherheitskräfte, die da unten tätig waren, ihn nicht vom Gelände lassen würden, ohne ihn gründlich zu durchsuchen. Aber die verloren schon in den ersten Momenten völlig die Kontrolle. Da lief nichts mehr geordnet zusammen, sag ich Ihnen. Ein einziges Chaos war das.“
„Wohin ist der Kerl verschwunden?“
„Ich habe ihn nicht mehr gesehen.“
Jetzt mischte sich François ein.
„Können Sie sich an irgendwelche Einzelheiten erinnern? Welche Haarfarbe hatte er zum Beispiel? Alter? Kleidung?“
Matisse sah ihn etwas überrascht an. Er zuckte die Schultern.
„Er war schwarzhaarig“, erklärte er. „Und ich glaube, er trug eine Lederjacke.“
„Welche Farbe?“
„Braun – glaube ich. Irgendwie dunkel jedenfalls. Meine Güte, das ging alles so schnell.“
„Und die Pistole haben Sie mitgenommen.“
„Ja, ich bin mit Sack und Pack eine Weile hier ausgezogen, als die Polizei hier alles durchsucht hat. Eigentlich dachte ich, dass das alles längst vorbei wäre – das ganze Theater. Deswegen war ich auch so misstrauisch Ihnen gegenüber.“ Er atmete tief durch. „Ich dachte wirklich, Sie wären gekommen, um mich über den Jordan zu schicken.“
François und ich wechselten einen Blick miteinander. Mein Partner zuckte die Achseln.
„Wir werden Sie mit ins Hauptquartier nehmen und dort ein ausführliches Protokoll von Ihrer Aussage machen“, erklärte ich dann.
Matisse nickte langsam. Er nahm das hin wie ein notwendiges Übel. Etwas, das man wie ein Gewitter über sich hinwegziehen lässt. Er beschwerte sich noch nicht einmal darüber.
Er verbirgt etwas, dachte ich. Ich konnte nicht sagen, was genau mich in diesem Augenblick zu dieser intuitiven Erkenntnis brachte. Vielleicht die Tatsache, dass Matisses Erinnerungsvermögen manchmal ganz exakt und manchmal seltsam ungenau zu funktionieren schien.
„Eine Frage noch“, sagte ich, als Boubou ihn schon abführen wollte.
Matisse drehte sich zu mir herum.
„Ja?“
Seine unruhigen Augen schienen nervös zu flackern.
„Was wollten Sie mit der Pistole?“
„Die Lebenserwartung von unsereins ist nicht besonders hoch, Monsieur Marquanteur. Einige sterben an der verdammten Kälte im Winter – andere werden einfach erschlagen. Ich dachte mir, mit so einem Ding kann man sich ein bisschen Respekt verschaffen. Vielleicht hätte ich sie auch verkauft.“
„Verstehe.“
„Ich glaube nicht, dass Sie das können. Ihresgleichen ist doch mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen.“
Er wollte jetzt ablenken, aber ich hatte keine Lust, das zuzulassen. Mochte das Schicksal diesen Mann auch hart geschlagen haben, er war Zeuge eines Mordes. Und dazu ein Zeuge, von dem ich das Gefühl hatte, dass er mich in ein paar bestimmten Punkten anlog.
„Monsieur Matisse …“
„Warum so feierlich, Monsieur Commissaire?“, grinste er mich schief an und kicherte.
„… wieso kommen Sie eigentlich auf die Idee, dass der Killer oder seine Leute es auf Sie abgesehen haben könnten?“
„Na ja, ich meine …“ Er wurde ganz bleich.
„Das ergäbe nur einen Sinn, wenn Sie und der Killer sich gesehen hätten.“ Ich trat nahe an ihn heran. Ich spürte seine Unsicherheit förmlich. „Hat er sich vielleicht doch umgedreht, im Treppenhaus? Wenn auch nur für einen kurzen Moment?“
„Ich weiß es nicht!“, fauchte er.
„Das wissen Sie sehr gut!“
„Was wollen Sie eigentlich? Dass ich mir irgendein Gesicht ausdenke oder was?“ Er war dunkelrot angelaufen.
François legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Lass es gut sein, Pierre!“, riet er mir.
Ich atmete einmal tief durch. François hatte recht. Mit dem Kopf durch die Wand ging es hier nicht weiter. Andererseits war es ein verflucht unangenehmes Gefühl, wenn man glaubte, ganz dicht an etwas sehr Entscheidendem dran zu sein und dann plötzlich vor einer Mauer zu stehen.
10
Don Giorgio Andreotti war ein gebeugter, grauhaariger Mann mit tiefliegenden dunklen Augen. Er wirkte beinahe unscheinbar in seiner blauen Strickjacke, die viel zu groß für diesen dürren alten Mann wirkte. Der dünne Oberlippenbart gab ihm etwas Aristokratisches. Zwischen den langen, dürren Fingern steckte der dicke Stummel einer Havanna.
Der Wind, der vom Meer her blies, hatte sie längst gelöscht.
Von der Veranda seines Hauses auf Korsika konnte Don Giorgio hinaus auf den Strand und das Meer sehen, das Mittelmeer, dessen Brandung ein unablässiges Rauschen verursachte.
Das beruhigte die Nerven, fand Don Giorgio. Er hatte auch ein Haus im Zentrum. Und dann war da auch noch eines in Palermo auf Sizilien. Aber dessen Besitz hatte rein sentimentale Gründe. Die alte Heimat, an die er sich noch vage erinnern konnte.
Don Giorgio war mit vier Jahren nach Marseille gekommen. Und er sprach noch nicht einmal richtig italienisch. Aber er hatte ein großes, weiches Herz, wenn es um diese Dinge ging. Diejenigen, die den Fehler gemacht hatten, sich mit ihm anzulegen, hatten ihn allerdings von einer ganz anderen Seite kennengelernt.
Don Giorgio trank seinen Espresso aus. Auf seinen Knien lag die neueste Ausgabe des Marseiller Abendblatts. Dann stand er auf. Die Zeitung klemmte er unter seinen Arm, während er den Blick über sein Anwesen schweifen ließ. Ein Swimmingpool leuchtete blau in der Sonne. Männer in dunklen Anzügen und schwarzen Brillen patrouillierten auf der Anlage herum. Walkie-Talkies beulten die Außentaschen ihrer Anzüge aus. Manchmal klappte der Wind eine Jacke zur Seite, so dass der Blick auf ein Gürtelholster inklusive Automatic-Pistole sichtbar wurde. Manche dieser Posten waren auch mit Maschinenpistolen oder Sturmgewehren ausgerüstet. Und die deutschen Schäferhunde, die sie an kurzen Leinen mit sich führten, sahen zwar im Moment ganz friedlich aus, konnten aber auf Zuruf zu reißenden Bestien werden.
Don Giorgio fühlte sich einigermaßen sicher. Aber er wusste, dass man in seiner Position nicht wachsam genug sein konnte. Schon so mancher, der sich zu sicher gefühlt hatte, war dann schneller unter die Erde gekommen, als er es in seinen schlimmsten Alpträumen für möglich gehalten hätte.
Wenn einer etwas davon wusste, dann war es Don Giorgio.
Er hatte so viele große Bosse kommen und gehen sehen. Kaum einer war geblieben und von diesen wiederum nur wenige für länger. Don Giorgio war eine Ausnahme. Er hatte überlebt, war von ganz unten sehr weit hinaufgekommen.
Er lächelte, als er die Sonne auf dem Meer glitzern sah.
Dann versuchte er, sich den Zigarrenstummel wieder anzuzünden. Er brachte es einfach nicht übers Herz ihn wegzuwerfen. Was solche Dinge betraf, war er ein unverbesserlicher Geizhals.
Hinter sich vernahm Don Giorgio Schritte. Der alte Mann drehte sich herum, innerlich noch halb in seinen Erinnerungen und Träumereien gefangen. Ein Lächeln umspielte kurz seine dünnen, aufgesprungenen Lippen.
„Giovanni“, stieß er hervor, als er den jungen, dunkelhaarigen Mann mit den kantigen Gesichtszügen auf sich zukommen sah.
Giovannis Züge waren voller Entschlossenheit. Er war groß und breitschultrig. Unterhalb seines rechten Auges zuckte unruhig ein Muskel.
„Onkel Giorgio, du wolltest mich sprechen.“
Don Giorgio nickte. Er hatte seine Frau und seine beiden Kinder bei einem Bombenattentat verloren. Und seitdem setzte er all seine Hoffnungen auf Giovanni, seinen Neffen. Er sollte die Familie irgendwann einmal führen. Wenn er das Zeug dazu hatte. Aber wann es soweit war, das wollte Don Giorgio selbst bestimmen.
Giorgio hob die Zeitung und deutete damit auf die zierliche Sitzecke.
„Setz dich!“, sagte er.
„Danke, aber …“
„Carlo wird dir einen Espresso bringen.“
Giovanni zuckte die Achseln und setzte sich. Der alte Mann trat auf ihn zu und warf die Zeitung vor seinen Neffen auf den Tisch.
Das grimmige Gesicht von Antoine Macraux blickte einen von einem Foto aus an. In der Rechten hielt er seinen Flammenwerfer. Zwei Munitionsgürtel kreuzten sich über seiner gewaltigen Bodybuilderbrust. Er war der Bestienkiller.
„Es ist zu schade, dass dieser begabte Mensch so früh aus dem Leben gerissen wurde“, sagte Don Giorgio im Tonfall echten Bedauerns. „Er war talentiert. Ich wusste es von Anfang an.“
Giovanni grinste.
„Du hast seiner Karriere ja auch ziemlich auf die Sprünge geholfen.“
Don Giorgio sah seinen Neffen mit einem undefinierbaren Blick an.
„Dir nicht auch, Giovanni?“, erwiderte er dann auf eine Art und Weise, die dem Jüngeren nicht gefiel.
Giovanni lockerte seine Krawatte. Don Giorgios letzte Bemerkung hatte einen Unterton, der Giovanni nicht gefiel.
„Giovanni, du warst in den letzten Jahren wie ein Sohn für mich“, sagte er dann mit leiser, verhaltener Stimme. Und sein Blick wurde sehr ernst dabei.
„Und ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast, Onkel Giorgio.“
„Das Gedächtnis ist eine flüchtige Angelegenheit, Giovanni. Glaub mir! Ich bin älter als du … Jeder hat seinen Preis, für den er selbst den Namen seiner Mutter vergessen würde.“
Don Giorgios Blick war jetzt eisig. Und obwohl er eigentlich ein kleiner, unscheinbarer Mann mit krummem Rücken war, wirkte er jetzt beinahe furchteinflößend. Ein Feuer brannte in seinen Augen. Das Feuer jenes unbändigen Willens, der ihn ganz nach oben getrieben hatte. Immer weiter und höher. Bis an einen Punkt, an dem es nur noch den Blick zurückzugeben schien. Und die Sorge darum, dass nicht alles, was er errichtet hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, sobald er selbst mal nicht mehr existierte.
„Weißt du, nach dem Tod meiner Frau und meiner Kinder hatte ich schon gedacht, dass meine Kraft mich verlassen hätte“, sinnierte er. „Wofür das alles? Wofür die Toten und das Blut, auf dem das alles errichtet wurde, wenn es niemanden gibt, der es weiterführt.“ Don Giorgios Zeigefinger schnellte vor wie die Klinge eines Klappmessers. Sein Blick war hellwach. „Das hat sich durch dich geändert, Giovanni. Und es täte mir sehr weh, wenn du mich hintergehen würdest.“
„Das würde ich nie tun, Onkel Giorgio.“
„Hör zu, ich will dir deine Sünden nicht einzeln unter die Nase reiben. Du bist jung und hast deshalb ein Recht darauf, Fehler zu machen. Also Schwamm über die Vergangenheit. Ich weiß, dass du hinter meinem Rücken einiges getan hat, was mir nicht gefällt.“
„Hör zu, ich kann …“
Don Giorgio hob die Hand. Es war eine energische Geste, die keinen Widerspruch zuließ.
„Ich will keine Erklärungen, Giovanni.“
„Ich habe nur das Interesse der Familie im Sinn!“
„Ja, ich weiß. Das verbindet uns. Und wenn es anders wäre, hätte ich dich nie in die Position gebracht, in der du heute bist.“
Giovanni Andreotti lehnte sich etwas zurück. Seine Augen wurden schmal. Er atmete tief durch und biss sich auf die Lippe. Er verkniff sich eine Bemerkung.
„Ich will keine Alleingänge mehr, Giovanni. Damit das ein für alle Mal klar ist!“
„Aber …“
„Es ist genug Blut geflossen, Giovanni! Ich will nicht, dass alles in Gefahr gerät, was ich aus kleinsten Anfängen heraus aufgebaut habe.“
„Vor zehn Jahren hättest du nicht so geredet“, erwiderte Giovanni zwischen den Zähnen hindurch. Sein Blick war finster. Und er wunderte sich selbst über die Entschlossenheit, die aus seinen Worten herausklang.
Don Giorgio sah seine Neffen nachdenklich an.
Ich muss auf ihn aufpassen, ging es ihm durch den Kopf. Giovanni hat eine Menge Temperament. So wie ich früher … Aber er darf nicht übermütig werden!
„Ich werde versuchen, ein Treffen mit den anderen Familien anzusetzen“, erklärte Don Giorgio dann. „Und ich möchte, dass du dabei bist.“
„Sitzen die Tarrasotas auch am Tisch?“
„Natürlich!“
„Onkel, die haben systematisch versucht, deine Leute umzudrehen, einzuschüchtern und für sich zu gewinnen. Die haben jemanden bei den Behörden, der dafür gesorgt hat, dass unsere Nachtclubs dauernd im Hinblick auf ihre hygienischen Verhältnisse überprüft werden. Und der Brandanschlag auf die Exquisit Bar? Hast du das schon vergessen?“
„Dafür haben sie bezahlt!“
„Dafür habe ich gesorgt!“
„Ja, und damit beinahe einen Krieg vom Zaun gebrochen. Solche Dinge regelt man anders, mein Junge!“
„So? Das glaube ich nicht. Onkel, die müssen den Respekt vor dem Namen Andreotti behalten, sonst bricht alles nach und nach in sich zusammen. Alles, was du mit so viel Mühe aufgebaut hast!“ Giovanni war aufgesprungen. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl. Voller Leidenschaft ballte er die Fäuste. „Ich habe nur getan, was du hättest tun müssen. Aber du hattest nicht die Kraft dazu.“
„Das ist nicht wahr!“, rief Don Giorgio. Seine Stimme überschlug sich. Auf einmal hatte er ein beengendes Gefühl in der Halsgegend. Wie eine Schlinge, die sich langsam zuzog.
Mein Gott, er hat recht!, ging es ihm durch den Kopf. Aber das wollte er nicht wahrhaben. Alles in dem alten Mann sträubte sich dagegen. Wo ist dein alter Elan geblieben?
Wütend funkelte er seinen Neffen an.
„Hör zu, Giovanni, wir brauchen die Tarrasotas und die anderen Familien, wenn wir gegen die Russen und die Puertoricaner bestehen wollen!“
Giovanni lachte höhnisch.
„Ein fauler Frieden ist das!“
„Mag sein. Aber im Moment haben wir keine andere Wahl, und ich hoffe, dass der Schaden, den die von dir eingeleiteten Aktionen angerichtet haben, sich wieder beheben lässt.“
Giovanni schüttelte den Kopf.
„Du solltest die Tarrasotas zertreten, Onkel. Jetzt! Bevor sie dasselbe mit dir tun! Noch wären wir groß genug, um sie mit einem Schlag zu vernichten.“
„Ich habe deine Meinung zur Kenntnis genommen, Giovanni“, sagte Don Giorgio dann in einem Tonfall, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Seine Stimme war kaum mehr als ein zerbrechliches Wispern, und doch klang darin eine furchtbare Entschlossenheit mit. „Ich entscheide hier immer noch. Und du solltest dir genau überlegen, ob du das akzeptieren kannst oder nicht!“
Giovanni atmete tief durch. Der Ärger war ihm anzusehen. Sein Kopf war dunkelrot angelaufen. Am liebsten hätte er seine Wut herausplatzen lassen. Aber Giovanni war bei allem Temperament klug genug zu wissen, wann er nachgeben musste. Und jetzt war so ein Zeitpunkt.
„Ich habe deine Autorität nie angezweifelt, Onkel“, sagte er kleinlaut.
Don Giorgio nickte leicht.
Giovanni wusste, dass der große Giorgio Andreotti im Ernstfall nicht einmal davor zurückschreckte, Mitglieder der eigenen Familie umzubringen, wenn es sein musste.
Die beiden Männer sahen sich an.
Ein stummes Duell. Ein gegenseitiges Abschätzen.
Im Moment ging es noch eindeutig zu Gunsten des alten, grau gewordenen Leitwolfs aus.
Noch!
11
Louis Matisse wurde im Präsidium verhört. Unsere Vernehmungsspezialisten Davide Cherdan und Derek Bajere nahmen ihn sich vor und gingen die ganze Story mit ihm noch ein paar Dutzend Mal durch. Zeitweilig war ich dabei, aber ich konnte mir das irgendwann nicht mehr anhören. Über einen bestimmten Punkt wollte Matisse einfach nicht hinaus.
„Ich habe das Gesicht des Kerls nicht gesehen!“, rief er einmal aufgebracht. „Punkt, basta! Soll ich mir vielleicht was ausdenken, nur damit ihr Bullen zufrieden seid? Wie Sie wissen, habe ich das Recht zu schweigen – also seien Sie froh, dass ich keinen Gebrauch davon mache, sondern Ihnen sage, was ich weiß. Auch, wenn das vielleicht nicht viel ist.“
Später versuchte Monsieur Perouche, unser Zeichner, die Beschreibungen Matisses in Bilder umzusetzen. Aber das Bild eines dunkelhaarigen Mannes von hinten war nicht gerade das, was wir uns für die Fahndung wünschten.
„Wir werden vermutlich das ganze Film-Team noch mal zusammentrommeln müssen, um nach dem Kerl zu fragen“, meinte François später, als wir in unserem Dienstzimmer saßen und die Aussagen, die gegenüber der Polizei gemacht worden waren, nach Hinweisen zu durchforsten. Aber von den Kollegen hatte natürlich keiner gezielte Fragen gestellt, die einen Unbekannten in Lederjacke im Visier hatten – den Killer – wer immer ihn auch geschickt haben mochte.
„Vermutlich wird es nicht einmal etwas bringen“, erklärte ich. „Ein Teil der Leute ist vermutlich schon abgereist.“
Sie noch einmal zusammenzutrommeln, würde Unmengen von Steuergeldern verschlingen. Und wenn wir am Ende ohne Erfolg dastanden, würde man uns dafür einen Strick knüpfen. Gespart werden musste überall. Und jeder Pfennig wurde dreimal umgedreht, bevor er ausgegeben werden durfte.
Immerhin hatte wir noch ein paar andere Eisen im Feuer. Da war die Waffe, die Matisse bei sich gehabt hatte, außerdem die Geschosse, die er am Drehort des letzten, unvollendeten Bestienkiller-Streifens verballert hatte.
Unsere Erkennungsdienstler hatten sie fein säuberlich aus dem Putz oder dem Beton oder wo sie sonst auch immer gelandet waren, herausgekratzt. Daran, dass es sich um die Mordwaffe handelte, konnte für mich kaum ein Zweifel bestehen. Alles sprach dafür. Aber vielleicht würden sich noch weitere Hinweise ergeben.
Die Seriennummer der Waffe war abgefeilt worden. Aber zweifellos war der Umbau das Werk eines Spezialisten. Eine genau justierte Zielanlage, die durchaus Seltenheitswert hatte, und ein Laserpointer. Unsere Spezialisten kümmerten sich darum. Vielleicht ließ sich die Herkunft der Waffe oder eines ihrer Zusatzteile näher bestimmen. Möglicherweise fanden wir sogar jemanden, der sich darauf spezialisiert hatte, solche Umbauten für Spezialbedürfnisse durchzuführen. David Hollande von unserem ballistischen Labor war da ganz optimistisch.
Am späteren Nachmittag machten François und ich uns auf nach Marseille Les Blanc. Meinen Sportwagen, der wie ein Dienstwagen ausgestattet war, und in den ich einen Großteil meines Gehalts investierte, parkte ich in der Seitenstraße.
Man musste sich schon verdammt gut in Marseille auskennen, um um diese Zeit zu einem Parkplatz zu kommen.
Wir suchten Carla Macraux auf, die Witwe des Bestienkillers. Sie residierte in Macrauxs Marseiller Wohnung – und die befand sich einer ganz exquisiten Lage in einer Traumetage, von der aus man einen weiten Blick über den Parc de la Ville hatte.
Ich wechselte einen vielsagenden Blick mit François, als uns der Leibwächter hereinließ. Es handelte sich um einen kahlköpfigen Schwarzen, dessen Schultern so breit waren, dass man sich unwillkürlich fragte, ob er ohne Probleme durch eine normale Tür passte. Er war einen Kopf größer als ich. Als er den Mund verzog, sah ich, dass ihm die obere Schneidezahnreihe komplett fehlte. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Antoine Macraux sich von einem Mann hatte beschützen lassen, dessen Aussehen einem Bösewicht in den Bestienkiller-Filmen alle Ehre gemacht hätte.
Die Wohnung war sehr groß für Marseiller Verhältnisse. Dreihundert Quadratmeter, so schätzte ich, nachdem wir dem kahlköpfigen Riesen durch einen Empfangsraum in ein weitläufiges Wohnzimmer gefolgt waren.
Sie musste ein Vermögen gekostet haben, das weit außerhalb dessen lag, was sich ein armer Commissaire vorstellen konnte.
„Madame Macraux – die beiden Männer von der FoPoCri“, stellte uns der Leibwächter vor.
An der Fensterfront stand eine dunkelhaarige Frau mit langen, bis über die Schulter fallenden Haaren. Ihre Figur war eine einzige, schwindelerregende Kurve. Das enge rote Kleid, das sie trug, schien nicht einen einzigen Millimeter zwischen ihrer bräunlich schimmernden Haut und dem anschmiegsamen Stoff freizulassen. Soweit ich mich informiert hatte, war sie ein ehemaliges Starlett, das sich in der Filmbranche erfolgreich nach oben geschlafen hatte. Jetzt war sie Erbin eines Millionenvermögens.
Mit provozierender Langsamkeit drehte sich die Schöne um und warf dann den Kopf zurück, so dass das lange Haar nach hinten fiel. Der Ausschnitt ihres Kleides war ziemlich tief und gewährte interessante Einblicke. Den linken Arm hatte sie in die geschwungene Hüfte gestemmt.
Wir hielten ihr unsere Ausweise hin.
„Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire. Und dies ist mein Kollege François Leroc. Wir hätten Ihnen gerne ein paar Fragen zum Tod Ihres Mannes gestellt.“
Sie zuckte die Achseln und atmete tief durch. Ihre runden, festen Brüste hoben und senkten sich dabei auf eine Art und Weise, die sie genau zu kalkulieren schien.
„Setzen Sie sich! Wollen Sie etwas zu trinken?“
„Wir sind im Dienst“, sagte François.
Sie hob die Augenbrauen.
„Das ist Ihr Pech!“
„Ja, vielleicht.“
Wir ließen uns in einer modern wirkenden Sitzecke nieder. Alles Designer-Möbel. Der letzte Schrei und sündhaft teuer.
Carla Macraux klimperte mit dem Armreif, der ihr am Handgelenk hing, und beugte sich etwas vor.
„Ich werde Ihnen nicht viel sagen können“, meinte sie dann.
„Warum nicht?“
„Ich war nicht am Drehort, als es geschah … Mein Gott, es war so schrecklich, als ich es erfuhr. Und dann musste ich mir immer wieder die Bilder in den Nachrichten ansehen.“
„Die Bilder, die den Mord zeigten?“
„Ja. Ich weiß nicht, ob der Kameramann dringend Geld brauchte, oder wie sonst eine Kopie an die Medien gelangen konnte. Jetzt ist es zu spät, um es noch zu verhindern. Es war respektlos gegenüber einem Toten.“
Es war eine Spielfilmszene, dachte ich. Eine, bei der der Tod Regie geführt hatte und die Leiche nicht nach Beendigung des Drehs wieder aufstand, wie es sonst der Fall war.
Meine Gedanken behielt ich für mich.
„Gibt es irgendjemanden, dem Sie den Mord zutrauen würden?“, fragte ich.
Sie zuckte die Achseln.
„Antoine hatte ein Talent dazu, sich Ärger einzuhandeln.“
„Reden Sie weiter!“
„Was glauben Sie, wie lang die Liste der Kameraleute, Co-Produzenten und so weiter ist, mit denen er sich überworfen hat? Alles musste genau so sein, wie er es wollte. Jedes Detail. Antoine war besessen, was Details anging.“
„Er war jemandem bekannt, der Giorgio Andreotti heißt“, stellte ich fest.