Commissaire Marquanteur
und der Pate aus Korsika: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Als in Marseille beim Dreh eines Actionfilms der Star eine
echte Kugel abbekommt, beginnen die Ermittlungen von Commissaire
Pierre Marquanteur und seinem Team – denn es handelt sich nicht um
einen Unfall, wie sich schnell herausstellt. Es scheint eine
Verbindung zu Don Giorgio Andreotti zu geben, einem kalabrischen
‘Ndrangheta-Paten, der auf Korsika residiert.
Ein Actionstar, der tief in die Machenschaften des
organisierten Verbrechens verstrickt ist, gegen die er in seinen
Filmen immer kämpfte, und ein Machtkampf innerhalb der Unterwelt –
damit hat es Marquanteur in diesem Fall zu tun.
Und schon bald steht Commissaire Pierre Marquanteur ebenfalls
auf der Abschussliste…
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Cassiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
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von
Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
1
Marseille 1997
Antoine Macraux stieß einen grimmigen Schrei zwischen den
makellos weißen Zähnen hervor. Sein Gesicht war eine verzerrte
Maske. Der unruhige Blick seiner dunklen Augen glitt über die
bröckelnden Fassaden der heruntergekommenen Häuser, die kaum mehr
als Ruinen waren.
Macraux packte den riesigen Flammenwerfer mit beiden Händen.
Das Gewicht dieser furchtbaren Waffe schien Macraux nicht das
Geringste auszumachen. Sein Hemd bestand nur noch aus Fetzen. Die
Ärmel waren herausgerissen, so dass Macrauxs gewaltige Muskeln
deutlich sichtbar wurden.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.
Braungelber Nebel kroch in dichten Schwaden über den
Asphalt.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Macraux plötzlich eine
Bewegung wahr. Er wirbelte herum. Ein schwarz gekleideter Angreifer
war aus einem der Hauseingänge herausgesprungen und riss seine
Maschinenpistole hoch. Der Lauf deutete auf Macraux.
Der Angreifer war maskiert. Er trug eine schwarze Sturmhaube,
die lediglich die Augen freiließ.
Macraux reagierte eiskalt.
Ein Muskel zuckte kurz unterhalb seines linken Auges. Genau in
dem Moment, in dem das Mündungsfeuer der Maschinenpistole wie die
hungrige Flammenzunge eines Drachen hervorschnellte, feuerte
Macraux.
Der Feuerstrahl des Flammenwerfers erfasste mit einem
zischenden Geräusch den Maskierten.
Macraux ließ sich seitwärts fallen, während einige Kugeln
dicht an ihm vorbeischossen. Sie ritzten ihre unverwechselbare
Signatur in die Fassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite
ein.
Der Maskierte schrie auf, als ihn das Feuer erfasste. Die
Wucht des Feuerstrahls riss ihn nach hinten und fegte ihn gegen die
Wand.
Macraux wirbelte derweil herum. Er griff zu dem Futteral, das
ihm seitlich am Gürtel hing.
Eine überdimensionale Spezialpistole mit ultralangem Lauf
steckte darin. Mit ihr konnte man besondere Explosivgeschosse auf
den Weg schicken. Macraux riss die Waffe heraus und feuerte ohne zu
zielen. Das Projektil schoss heraus und pfiff in eines der Fenster
hinein. Eine Sekunde später gab es einen ohrenbetäubenden Knall.
Eine gewaltige Explosion ließ den Asphaltboden erzittern. Die Wand
brach auf einer Länge von mehreren Metern auseinander, und ein
menschlicher Körper wurde aus dem Gebäude herausgeschleudert. Der
Todesschrei ging in dem Explosionsgeräusch unter. Schwer wie ein
nasser Sack schlug der Körper auf dem Asphalt auf, wo er in seltsam
verrenkter Stellung liegenblieb.
Steine flogen durch die Luft. Ganze Mauerteile brachen heraus
und rutschten in die Tiefe. Ein rotes Flammenmeer züngelte aus dem
Fenster heraus. Die Hitze war bis hinunter zu Macraux zu spüren.
Schweiß stand dem ungewöhnlich muskulösen Mann auf der Stirn. Das
dunkle Haar klebte ihm am Kopf. Er bleckte die Zähne wie ein
Raubtier und setzte dann zu einem Spurt auf die andere Straßenseite
an. Aus einer Fensteröffnung blitzte es dunkelrot heraus. Macraux
feuerte seine Pistole ab. Das Explosivgeschoss machte ganze Arbeit,
als es durch die Fensteröffnung flog und dort detonierte. Ein
Schrei mischte sich in das Explosionsgeräusch.
Die Schüsse verebbten. Ein Teil der Decke schien
herunterzukrachen. Beißender, schwarzer Qualm mischte sich mit
grauem Staub und quoll aus dem Gebäude heraus.
Macraux stand völlig erstarrt da.
Das Geräusch eines einzelnen Schusses war in dem Getöse
untergegangen.
Macraux wankte.
Sein Gesicht war so starr wie immer. Die Augen traten aus
ihren Höhlen hervor. Nicht mehr grimmige Entschlossenheit stand in
ihnen, sondern …
Der Tod!
Ein roter Punkt befand sich mitten auf der Stirn und wurde
rasch größer. Er wirkte fast wie ein drittes Auge, das rote Tränen
vergoss.
Macraux sackte in sich zusammen. Eine Sekunde später lag er
ausgestreckt auf dem Rücken.
Antoine Macraux, einem Millionenpublikum besser bekannt als
Der Bestienkiller war so mausetot, wie die Legion seiner zahllosen
Feinde, mit denen er kurzen Prozess gemacht hatte.
2
„Ich habe Ihnen diesen Ausschnitt aus dem bisher
fertiggestellten Filmmaterial des neuesten Antoine
Macraux-Streifens keinesfalls in der Absicht gezeigt, Ihnen ein
Beispiel für vorbildliche Verbrechensbekämpfung zu geben“, erklärte
Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police, der
Chef der Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri, in
Marseille.
Wir saßen in Monsieur Marteaus Dienstzimmer und genossen das
besondere Aroma des Kaffees, den seine Sekretärin Melanie gebraut
hatte. Ein Kaffee, der im gesamten Präsidium für seinen besonderen
Geschmack berühmt war. Eine Schande, dass wir ihn aus Pappbechern
trinken mussten.
Rechts von mir hatte mein Freund und Kollege François Leroc in
einem der schlichten Ledersessel Platz genommen, mit denen Monsieur
Marteaus Büro ausgestattet war. Außerdem waren noch die
Commissaires Boubou Ndonga und Stéphane Caron anwesend und
lauschten interessiert Monsieur Marteaus Ausführungen.
Monsieur Marteau machte ein ernstes Gesicht.
„Wie ich annehme, haben Sie alle in den letzten Tagen mal
Zeitung gelesen oder die Nachrichten gesehen. So wissen Sie, dass
der Schuss, den Antoine Macraux in die Stirn bekam, keineswegs eine
tricktechnische Meisterleistung war, sondern die Realität. Jemand
hat ihn bei den Dreharbeiten seines neuesten Streifens
umgebracht.“
„Ich habe davon gehört“, meldete sich Boubou zu Wort. Boubou
nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
Monsieur Marteau schaltete den Projektor aus. Er atmete tief
durch und vergrub eine Hand in der Hosentasche. „Wir haben den
ballistischen Bericht inzwischen vorliegen. Und der spricht eine
eindeutige Sprache. Macraux starb mit einer Waffe, die auch bei
zwei Morden aus dem Mafia-Milieu benutzt wurde. Die Details können
Sie sich in dem Bericht ansehen, den ich Ihnen zusammengestellt
habe.“
„Macraux wurden doch immer Kontakte zur Mafia nachgesagt“,
meinte Caron.
„Seine Mutter ist Italienerin“, warf Boubou ein. „Das macht
ihn in dieser Hinsicht natürlich sofort verdächtig.“
Caron runzelte etwas ärgerlich die Stirn. Die Ironie in der
Bemerkung seines Kollegen und Partners schien ihm völlig entgangen
zu sein. „Ach, ja?“
„Sollte ein Witz sein“, meinte Boubou etwas kleinlaut und
rückte sich die edle, mit 585er Gold beschichtete Krawattennadel in
die richtige Position. Bei ihm eine Geste der Verlegenheit.
François meinte: „Jedenfalls wäre Macraux nicht der erste, der
im Showgeschäft durch Verbindungen zur Ehrenwerten Gesellschaft
nach oben gekommen ist.“
Monsieur Marteau wandte sich herum und ging zu seinem
Schreibtisch. Er kehrte mit ein paar großformatigen
Schwarzweißfotos zurück, die er mit einer gekonnten Handbewegung
vor uns auf den Tisch ausbreitete.
„Diese Männer wurden mit derselben Waffe wie Macraux
umgebracht“, erläuterte Monsieur Marteau dazu. „Leute aus den
mittleren Etagen des organisierten Verbrechens. Geschäftsführer von
gut gehenden Nachtclubs, die als Geldwaschanlagen benutzt werden
oder maßgebliche Leute in Reedereien, die in den Drogenschmuggel
verwickelt sind.“
„Immer derselbe Killer?“, murmelte ich skeptisch.
„Ein Profi, so wie unsere bisherigen Erkenntnisse ergaben.
Vermutlich wurde ein Schalldämpfer benutzt. Der Killer spähte seine
Opfer vermutlich sehr sorgfältig aus, bevor er zuschlug. Er wusste
stets genau Bescheid. Die Anschläge waren bis ins Detail geplant.
So gut, dass er seine Opfer stets allein antraf. Es gibt keine
Beschreibungen des Täters, keine Zeugen, die irgendetwas an
brauchbaren Informationen hätten liefern können. Nur eine Kugel,
fast immer genau in die Stirn, etwas oberhalb der Augen … Was
allerdings das Attentat auf Macraux angeht, so scheint der Killer
für eine sorgfältige Vorbereitung keine Zeit gehabt zu haben. Am
Film-Set müssen etwa hundert Personen gewesen sein. Alles war durch
private Sicherheitskräfte abgeriegelt, um Fans daran zu hindern,
ihr Idol beim Dreh zu stören.“
„Der Täter ging ein ziemlich großes Risiko ein“, sagte mein
Kollege François Leroc.
Monsieur Marteau bestätigte das.
„Der Mord fand gewissermaßen vor Dutzenden von Zeugen statt.
Die Kollegen der Polizei haben von allen Aussagen aufgenommen, die
zum Tatzeitpunkt am Ort des Geschehens waren. Diese Aussagen stehen
Ihnen natürlich für Ihre Ermittlungen zur Verfügung. Leider scheint
kaum etwas dabei zu sein, was einen Anhaltspunkt liefern könnte.
Der Killer feuerte von einem Hausdach aus. Zuerst fiel den meisten
Anwesenden wohl gar nicht auf, dass es sich nicht um einen Trick
handelt. Sie haben die Explosionen auf dem Schirm gesehen. Bei dem
Getöse fällt ein einzelner Schuss nicht auf.“
„Den Killer hat niemand gesehen?“, fragte Boubou.
„Nein“, schüttelte Monsieur Marteau den Kopf. „Auch den
Sicherheitsleuten, die das ganze Gebiet absuchten, ist niemand
aufgefallen, der verdächtig wirkte. Offenbar hat der Killer das
Chaos geschickt genutzt, um zu verschwinden. Wie er sich überhaupt
auf das Gelände gestohlen hat, ist allen ein Rätsel. Vielleicht hat
er sich unter die Packer gemischt, die Requisiten am Drehort
ausgeladen haben. Jedenfalls hat er es geschafft.“
„Die Frage ist also, für wen dieser Killer arbeitet“, stellte
ich fest. „Denn es ist wohl nicht anzunehmen, dass er auf eigene
Rechnung unterwegs ist.“
„Sie sagen es, Pierre.“
„Also müssen wir nach weiteren Anhaltspunkten suchen“, stellte
François fest und machte dabei ein wenig optimistisches
Gesicht.
„Immerhin wissen wir, dass die Toten allesamt dem
Andreotti-Clan im Wege standen“, stellte Monsieur Marteau fest.
„Und dieser Clan gehört zur europaweit agierenden ‘Ndrangheta aus
Kalabrien.”
„Und wie passt Macraux dann in diese Reihe?“, fragte
ich.
„Überhaupt nicht“, erwiderte Monsieur Marteau. „Es gibt mehr
als nur Gerüchte darüber, dass Don Giorgio Andreotti Macrauxs
Filmkarriere überhaupt erst ermöglichte oder zumindest doch sehr
förderte.“
Ich sah Monsieur Marteau offen an.
„Sie hoffen, dass wir am Ende nicht nur den Lohnkiller
dingfest machen können, der Macraux auf dem Gewissen hat, sondern
auch den Andreotti-Clan lahmlegen“, stellte ich fest.
„Ganz genau, Pierre.“
„Sie sind ein Optimist“, stellte ich fest. „Bislang konnte man
den Andreottis nie etwas nachweisen. Jedenfalls nichts
Gerichtsverwertbares. Jeder weiß, dass sie ihre Finger im
Drogenhandel, im Glücksspiel und in einigen anderen illegalen und
daher sehr lukrativen Branchen haben, aber wenn jemand über die
Klinge springen musste, dann waren das immer nur die niederen
Chargen.“
„Und das ärgert mich seit Langem, Pierre!“ Monsieur Marteau
setzte sich nun ebenfalls in einen der dunklen Sessel. Er schlug
die Beine übereinander. Sein Gesicht strahlte Entschlossenheit aus.
Er deutete mit einer knappen Bewegung auf die Fotos auf dem
Tisch.
„Wenn ein Mafia-Pate die mittleren Chargen der Konkurrenz
umbringt, will er vielleicht sein Gebiet ausdehnen. Aber, wenn er
einen Mann wie Macraux umbringen lässt, dann muss es dafür entweder
einen verdammt guten Grund geben oder man muss an Don Giorgios
Intelligenz zweifeln.“
„Möglichkeit Nummer zwei ist wohl absurd“, stellte François
fest.
Monsieur Marteau nickte.
„Das sehe ich auch so. Schließlich kann man sich in einem Fall
wie dem von Antoine Macraux sicher sein, dass die Ermittlungen
peinlich genau von den Medien verfolgt werden. Das ist keine Sache,
die irgendwann zu den Akten gelegt werden kann. Die Polizei, die
FoPoCri, die Staatsanwaltschaft – keiner könnte sich das leisten,
ohne sich unangenehme Fragen gefallen lassen zu müssen. Also wird
es besonders hartnäckige Ermittlungen geben. Das liegt in der Natur
der Sache – und Don Giorgio kann sich das an zwei Fingern
ausrechnen. Er ist lange genug im Geschäft, um so etwas zu
wissen.“
„Don Giorgio muss ziemlich nervös sein“, nickte ich.
„Und vielleicht macht er dadurch Fehler“, ergänzte Monsieur
Marteau. Nach einer kurzen Pause fügte er düster hinzu:
„Irgendetwas geht da vor sich, von dem wir bislang noch keine
Ahnung haben.“
3
François und ich verbrachten einige Zeit in unserem
gemeinsamen Dienstzimmer, um uns einen Überblick über die Fakten zu
verschaffen. Unser wichtigstes Hilfsmittel war dabei der Computer.
Per Internet waren wir in Sekundenschnelle mit allen wichtigen
Archiven und Datenbanken verbunden, darunter dem Zentralarchiv des
FoPoCri in Paris.
Insbesondere interessierten uns natürlich alle verfügbaren
Informationen, die im Laufe der Jahre über die Andreotti-Familie
gesammelt worden war.
Don Giorgio hatte seine wilden Sturm- und Drangjahre
eigentlich längst hinter sich. So hatten wir jedenfalls geglaubt.
Es hatte schon Gerüchte geben, der große Boss wollte sich
vollständig aus dem illegalen Bereich zurückziehen und sein Geld
nur noch in saubere Geschäfte investieren.
Marseille war ein Dorf – und das Zentrum erst recht.
Jedenfalls, was die Verbreitungsgeschwindigkeit von Gerüchten und
Halbwahrheiten anging.
Was die Informationen über Antoine Macraux angingen, waren
unsere üblichen Informationsquellen dafür wohl eher ungeeignet. Er
war nie straffällig geworden, hatte seine Fingerabdrücke nie auf
einer Waffe hinterlassen, mit der jemand umgebracht worden war, und
war nur ein einziges Mal mit der Polizei in Berührung gekommen. Als
er nämlich seine erste Frau verprügelt hatte, und die Nachbarn die
Polizei gerufen hatten. Aber damals war Antoine Macraux noch kein
Star gewesen, sondern ein mehr oder minder erfolgloser
Schauspieler, der sich mit Auftritten in Werbespots über Wasser
hielt und die kleinen Summen, die er damit verdiente, in
Fitnessstudios trug.
Später war dann mal in einem Magazin zu lesen, dass der
Gebrauch von Anabolika zum Muskelaufbau seine Persönlichkeit
verändert und ihn aggressiv gemacht habe.
Seltsamerweise wurde diese Story, die erst als großer
Aufmacher angelaufen war, nicht weiter verfolgt. Der Verdacht lag
nahe, dass da vielleicht jemand die Hand im Spiel gehabt hatte.
Jemand, dessen Angebote man nicht ablehnen konnte.
François und ich durchstöberten alles, was an
Presseinformationen, Filmarchiven oder Internet-Seiten von Antoine
Macraux-Fanclubs online auf unseren Bildschirm zu holen war.
Macraux war zum Zeitpunkt seines Todes vielleicht noch nicht ganz
da angekommen, wo Schwarzenegger, Bruce Willis, Van Damme und Ralf
Möller heute schon waren, aber die Fachwelt traute ihm den Aufstieg
in die Superliga der Hau-Drauf-Helden durchaus zu.
Für den späteren Nachmittag hatten wir uns mit Jules Jabot,
dem Regisseur des letzten Macraux-Streifens am Tatort
verabredet.
Es handelte sich um eine Industriebrache in Marseille La
Villette, ganz in der Nähe der Süderelbe gelegen. Bei gutem Wetter
war im Hintergrund die typische Skyline von Marseille La Villette
zu sehen. Die Gebäude sahen aus wie eine Ansammlung von Ruinen.
Ehemalige Bürokomplexe gab es hier ebenso wie Lagerhäuser.
Eine Import/Export Firma hatte ihren Sitz gehabt, war ins
Trudeln gekommen und inzwischen Pleite. Einen Käufer für das
Gelände gab es bereits. Alles, was hier stand, würde abgerissen
werden. Eine ideale Voraussetzung, um hier vorher noch einen
Action-Film abzudrehen, in dessen Verlauf so einiges in die Luft
fliegen sollte. Das Aufräumen würde das Abrisskommando
übernehmen.
Als François und ich mit meinem Sportwagen auf dem Gelände
eintrafen, war Jules Jabot schon dort. Er trug eine Brille mit
Spiegelgläsern und ein grellbuntes Hemd mit Riesenkragen im
Siebziger-Jahre-Look. Ein hagerer Mann mit blassem Teint, dessen
nervöse Finger eine Zigarette zerdrückten, während er gegen den
Kotflügel seines gelben Porsche lehnte.
Im Wagen saß eine hinreißende Blondine mit tief
ausgeschnittenem Kleid und gelangweiltem Blick.
Wir stiegen aus.
Jabot begrüßte uns mit einem nachlässigen „Salut!“
Wir zeigten ihm erst mal unsere Ausweise, für die Jabot
allerdings kaum einen Blick übrig hatte. Er kaute auf irgendetwas
herum.
„Ich hoffe, Sie kriegen den Kerl, der Antoine auf dem Gewissen
hat“, meinte Jabot grimmig. „Wir stehen alle ziemlich auf dem
Schlauch. Das ganze Team.“
„Aus dem Film wird nichts“, stellte ich fest.
Jabot nickte.
„Ja, und an meiner Beteiligung am Einspielergebnis auch nicht.
Mein Gott.“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, so als
könnte er es immer noch nicht fassen, dass Macraux auf der anderen
Seite des Jordan war. Antoine Macraux, der Star, an dem das gesamte
Projekt gehangen hatte.
Ich ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Ich
versuchte, die Stelle zu finden, von wo aus der Killer auf Macraux
angelegt haben musste. Dem ballistischen Bericht nach musste sich
der Täter auf dem Dach eines Gebäudes befunden haben. Ich würde mir
die Stelle noch genauer ansehen, aber es sprach viel dafür, dass
der Mann, den wir suchten, ziemlich sportlich war.
Und schwindelfrei.
Es hat schon Fälle gegeben, in denen unsere Karten deutlich
besser waren, ging es mir bitter durch den Kopf. Die Kollegen von
der Spurensicherung des zentralen Erkennungsdienstes aller
Marseiller Polizeieinheiten hatten das gesamte Gelände
millimetergenau abgesucht. Nichts hatten sie gefunden, was auch nur
einen vagen Hinweis liefern konnte. Nicht einmal eine
Patronenhülse.
Da war nur die Kugel, die man aus dem Kopf des toten Antoine
Macraux herausgeholt hatte.
Nichts weiter.
Ich war überzeugt davon, dass unser Freund auch die am
liebsten wieder eingesammelt hätte, wäre er dazu in der Lage
gewesen.
„Haben Sie irgendeine Ahnung, weswegen jemand Macraux töten
wollte?“, fragte ich.
Jabot machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ein netter Kerl war er jedenfalls nicht“, meinte er. „Weder
in seinen Filmen noch im wahren Leben. Er war Der Bestienkiller,
manchmal aber auch die Bestie. Besonders, wenn am Set irgendetwas
nicht nach seiner Mütze lief. Mein Gott, er war ein Tyrann. Aber
was macht man nicht alles für einen Batzen Scheine? Man spielt
sogar unter einem Antoine Macraux den Regisseur.“
„Klingt sehr zynisch.“
„Ach, ja? Sagen Sie bloß, für Sie bricht eine Welt zusammen,
wenn ich am Image des toten Helden kratze?“
„Das wohl kaum.“
„Na, dann.“ Er atmete tief durch und verschränkte die Arme vor
der Brust. „Macraux war der absolute Boss. Vielleicht hätte er das
Zeug zu einem netten Menschen gehabt – wenn sein erster Film ein
Flop geworden wäre. Aber der Bestienkiller machte ihn berühmt und
steinreich. Und dann folgten die unsäglichen Fortsetzungen. Die
Rückkehr des Bestienkillers und Die Rache des Bestienkillers. Teil
vier sollte den Titel Der Zorn des Bestienkillers tragen. Aber
daraus wird nun wohl nichts mehr. Und wahrscheinlich gehen die
meisten aus dem Team mit einem finanziellen Minus aus der Sache
heraus.“
„Wieso das?“, fragte François.
Jabot sah ihn mit einem Blick an, in dem sich Überheblichkeit
widerspiegelte. Er nahm uns nicht so ganz für voll. Wir waren nicht
vom Fach, und das ließ er uns spüren.
„Die Millionen, die Macraux der Bestienkiller eingebracht hat,
investierte er in die Fortsetzungen. Macraux war der
Hauptproduzent. Tja, und wer bezahlt, bestimmt auch, welche Musik
gespielt wird, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Wir wussten es sehr gut. Die Tatsache, dass Macraux nicht nur
vor, sondern auch hinter der Leinwand eine beherrschende Figur
geworden war, war mir aus unseren bisherigen Ermittlungen bereits
bekannt.
„Erfolg hat Neider“, meinte Jabot. „Und ich wette, einer von
denen hat den starken Mann umgenietet.“
„Wir haben den Filmausschnitt gesehen.“
Jabot nickte.
„Eine Einstellung ohne Schnitt. Macraux brauchte so etwas
nicht. Er wollte so wenig Tricks wie möglich. Wahrscheinlich wollte
er einfach nur jedem am Set beweisen, dass seine aufgeblasenen
Muskeln nicht aus Pudding waren. Jedenfalls konnte er mit diesem
riesigen Flammenwerfer herumwedeln, als ob es sich um eine Attrappe
aus Pappmaché handelte.“
„Sie scheinen keine sehr hohe Meinung von dem zu haben, was
Sie da tun“, stellte ich fest.
Jabot zuckte die Achseln.
„Künstlerisch anspruchsvoll sind die Bestienkiller-Filme
jedenfalls nicht. Aber wenn man das Glück hat, bei einem dieser
Streifen Regie führen zu dürfen, ist das wie ein Gewinn in der
Lotterie. Diese Filme sind alle gleich. Antoine Macraux säubert als
der Bestienkiller ein zukünftiges Marseille von einer großen Anzahl
von Fieslingen, die keine hohe Lebenserwartung haben, sobald
Macraux mit seinem Flammenwerfer auftaucht.“
„Dauert es noch lange?“, meldete sich die Blondine etwas
maulend zu Wort. Sie hatte die Arme vor den Brüsten verschränkt und
zog einen Schmollmund.
„Das hängt nicht von mir ab“, knurrte Jabot. Sein Blick auf
die Uhr sprach Bände. Er wollte uns so schnell wie möglich wieder
loswerden.
Ich trat an den gelben Porsche heran, dessen Verdeck nach
hinten geklappt war. Ich stützte mich auf die Oberkante der Tür und
warf einen Blick auf die Blonde.
„Mein Name ist Marquanteur. Und wer sind Sie?“
Sie hob die Augenbrauen.
„Rita Larôche“, murmelte sie.
Erneut hob sie die Augenbrauen, die sich im Übrigen gerade
erst gesenkt hatten.
Ich fragte: „Waren Sie auch am Set, als der Mord geschah?“
„Ja. Aber alles, was es dazu zu sagen gibt, habe ich bereits
Ihren Kollegen von der Polizei zu Protokoll gegeben. Mein Gott, als
Macraux plötzlich zu Boden stürzte und wir alle nach und nach
begriffen, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, gab es fast so
etwas wie eine Panik. Die meisten haben erst einmal zugesehen, dass
sie in Sicherheit kamen. Wenn jemand einen Mann wie Antoine Macraux
in aller Öffentlichkeit erschießt, dann muss es sich um einen
Wahnsinnigen handeln. Irgendein Irrer, der auf diese Weise in die
Medien will.“ Rita atmete tief durch. Sie drückte die Faust
zwischen ihre sich deutlich durch den eng anliegenden Pullover
heraushebenden Brüste und schluckte.
„Wir dachten alle, dass der Irre noch mal schießt und ein
Massaker anrichtet“, ergänzte Jabot.
„Ich verstehe.“
„Ich hoffe nur, dass ich wenigstens bald das Geld für die
geleisteten Drehtage bekomme“, knurrte Jabot.
„Wieso haben Sie da Sorge?“, fragte François.
„Weil seine Witwe Haare auf den Zähnen hat. Sie ist Macrauxs
dritte Frau, und ich vermute, es wird ein Riesengerangel um das
Erbe geben. Schließlich gibt es auch Kinder aus den ersten beiden
Verbindungen.“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Aber das muss ja
nicht Ihre Sorge sein.“
„Kommen Sie“, sagte ich. „Zeigen Sie uns genau, wie es
passiert ist!“
4
Wir gingen zwischen den Gebäudezeilen entlang. In Wirklichkeit
sah die Szenerie in dem Filmausschnitt ganz anders aus. Der
Eindruck war durch die Auswahl des Bildausschnitts so manipuliert
worden, dass der Eindruck einer kilometerweiten Ruinenlandschaft
entstand.
Eine weiße Markierung zeigte an, wo Antoine Macraux gestorben
war.
„Ich stand dort drüben, neben dem Kameramann“, erklärte Jabot.
„Rita war auch in meiner Nähe. Sie hatte dafür zu sorgen, dass
Änderungen sofort ins Skript eingetragen wurden.“
Ich deutete auf das fünfstöckige Flachdach-Gebäude.
„Von dort oben wurde geschossen … Haben Sie dort nichts
bemerkt?“
„Der Schuss schien aus dem Nichts zu kommen. Wenn Sie sagen,
dass es von dort oben gekommen ist, muss ich Ihnen das glauben.
Gesehen habe ich dort nichts. Aber um ehrlich zu sein, habe ich
auch nicht darauf geachtet. Es war ein einziges Chaos. Die
Explosionen, der Nebel aus der Nebelmaschine, das zum Teil panisch
reagierende Team.“ Er sah mich an. Seine Augenbrauen bildeten eine
Schlangenlinie. „Sagen Sie, warum interessiert sich eigentlich die
FoPoCri für den Fall? So wie ich das sehe, handelt es sich um einen
ganz gewöhnlichen Mord.“
„Das wird sich noch herausstellen“, sagte ich.
„Das beantwortet nicht meine Frage. Trauen die hohen Tiere der
normalen Polizei nicht zu, die Sache aufzuklären?“
„Antoine Macraux war auch ein italienischer Staatsbürger“,
sagte ich ausweichend. „Und da er hier in Marseille ermordet wurde
…“
„Klingt für mich wie an den Haaren herbeigezogen“, sagte
Jabot.
Mir gefiel es nicht, wie er das Frage-und Antwortspiel einfach
umdrehte. Aber Jabot war es gewohnt, eine Hundert-Personen-Filmcrew
herumzukommandieren. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm ganz
gewiss nicht.
Ich lächelte dünn.
„Dann sagen Sie mir doch eine Version, die weniger an den
Haaren herbeigezogen klingt!“
Er kratzte sich am Kinn.
„Nun, es gab doch da immer ein paar unbestätigte Gerüchte über
Macraux.“
„Ach ja?“ Ich wollte ihn aus der Reserve locken.
„Er soll Verbindung zur Mafia gehabt haben. Ermitteln Sie
deshalb?“
„Wissen Sie etwas darüber?“
„Nur das, was man so hört. Aber um das beurteilen zu können,
kenne ich ihn nun wirklich nicht gut genug. Bislang hatte ich
ohnehin den Verdacht, dass es sich bei diesen Gerüchten um einen
PR-Gag seines Managers handelt, um Macraux noch ein bisschen
interessanter zu machen.“
Seitlich nahm ich eine Bewegung war. In einer der durch die
Detonation ausgebrannten und von einem Rand aus schwarzem Ruß
umgebenen Fensteröffnungen sah ich für den Bruchteil eines
Augenblicks eine Gestalt.
„Was ist los, Pierre?“, fragte François.
„Wir werden beobachtet.“
Mein Griff ging reflexartig zur Pistole vom Typ Sig Sauer P
226, die ich im Gürtelholster stecken hatte. Ich fasste die Waffe
mit beiden Händen.
„Bleiben Sie zurück!“, sagte ich an Jules Jabot und sein
Script-Girl gewandt.
Natürlich konnte es Zufall sein, dass sich jetzt dort jemand
herumtrieb. Und vielleicht war die Erklärung dafür auch ganz
harmlos. Aber irgendwie glaubte ich nicht so recht daran.
5
Als ich das Gebäude erreichte und den Blick schweifen ließ,
konnte ich nirgends etwas Verdächtiges sehen. Keine Bewegung, kein
Laut, nichts.
François hielt sich ein ganzes Stück hinter mir und sorgte für
meine Rückendeckung. Sicherheit ist das höchste Gebot in der
Polizeiarbeit.
„Hallo! Ist da wer?“, rief ich.
Meine Worte verhallten zwischen den ausgebrannten und durch
die Detonationen sichtlich mitgenommenen Ruinen. Ganze Mauerstücke
waren herausgebrochen und auf die Straße gesackt. „Hier spricht
Pierre Marquanteur von der FoPoCri! Kommen Sie heraus!“
Wieder keine Antwort.
Die Tür hatte jemand ausgehängt. Der Eingang war offen. Ich
tastete mich vorsichtig hinein. François folgte mir. Man konnte nur
raten, wofür dieses Gebäude mal benutzt worden war. Der Raum, der
sich vor meinen Augen erstreckte, war groß und kahl. Sicherlich
zweihundert Quadratmeter. Vielleicht ein Großraumbüro. Die Reste
von Teppichboden sprachen jedenfalls dafür, dass es sich nicht um
einen ehemaligen Lagerraum handelte.
Auf der linken Seite bewegte sich etwas Dunkles.
Ich wirbelte herum. Eine fette Ratte huschte über den Boden,
blieb einen Augenblick lang stehen, hob den Kopf und blickte in
unsere Richtung. Dann huschte sie davon.
Ich deutete zur Türöffnung, die aus diesem Raum herausführte.
Dahinter wurde eine Art Flur sichtbar.
Vorsichtig durchquerten wir den Raum und tasteten uns dann zum
Flur vor. Nirgends war etwas zu sehen oder zu hören. Und auch von
uns sagte keiner ein Wort.
Der Flur war lang und endete vor dem Aufzug, der aber mit
Sicherheit außer Betrieb war. Dahinter befand sich ein
Treppenaufgang.
Mit der Waffe im Anschlag schlichen wir weiter voran.
Eine Tür führte nach rechts. Sie war angelehnt. Mit einem
Tritt öffnete ich sie. Mit der P 226 im Anschlag stürmte ich
hinein. François kam hinterher und deckte mich. Der Raum war nicht
so groß wie jener, in dem wir uns zuerst befunden hatten. Man hatte
auch hier ein paar Möbel zurückgelassen. Preiswerte Regalwände aus
Spanplatten, die sich durch die Feuchtigkeit etwas verzogen hatten.
Zu gebrauchen waren sie kaum noch.
Das Fenster stand offen.
Eine dunkle Gestalt wirbelte herum. Ein Mann mit ungepflegtem,
struppigen Vollbart, Baseballmütze und einem zerschlissenen Parka,
der für die Jahreszeit viel zu warm war.
Der Mann duckte sich, riss etwas empor, das wie eine ziemlich
große Pistole wirkte und feuerte.
Es gab keinen Laut.
Ich sah das Aufblitzen des Mündungsfeuers und warf mich zur
Seite. François machte dasselbe. Die Kugel fuhr in die schmucklose
Raufasertapete hinter uns und splitterte ein Stück aus dem Putz
heraus. Ich rollte mich am Boden herum, während ich undeutlich ein
Geräusch wahrnahm, das wie ein kräftiges Niesen oder der Schlag mit
einer Zeitung klang. Der Schuss einer Waffe mit Schalldämpfer. Das
Projektil ritzte dicht neben mir den Boden. Ich hatte den Luftzug
spüren können, mit dem es an meiner Stirn vorbeigeschossen
war.
Ich riss die P 226 hoch und feuerte.
Nicht, um zu treffen, sondern um zu warnen.
Ich ballerte zweimal kurz hintereinander los und hielt dabei
etwas seitwärts. Die Scheibe des offen stehenden Fensters ging zu
Bruch. Der Knall hallte ein halbes Dutzendmal in den leeren Räumen
wider.
Der Kerl war weg.
Ich war innerhalb eines Sekundenbruchteils wieder auf den
Beinen. Schnell hatte ich die wenigen Meter bis zum Fenster hinter
mich gebracht und starrte hinaus. Die Pistole hielt ich mit beiden
Händen umfasst.
Der Kerl rannte davon, auf eine Dreiergruppe von Lagerhallen
zu. Dieses Gelände war ein einziges Labyrinth. Es war schwierig,
hier jemanden zu stellen, wenn man nicht gerade eine Hundertschaft
von entsprechend ausgebildeten Beamten zur Verfügung hatte. Das
hatte sich schon der Mörder von Antoine Macraux zunutze gemacht,
als er sein Attentat durchführte.
„Stehenbleiben! FoPoCri!“, rief ich dem Kerl hinterher.
Während seines Laufs drehte er sich kurz um und feuerte
nochmals in meine Richtung. Ein ziemlich ungezielter Schuss, der
irgendeines der noch vorhandenen Fenster zu Bruch gehen ließ. Ein
Regen aus messerscharfen Splittern ging hernieder. Sie glitzerten
in der Sonne wie Lametta.
Ich brannte dem Kerl einen Warnschuss neben die Hacken. Aber
das schien ihn nicht zu beeindrucken. Als ob der Leibhaftige
persönlich hinter ihm her gewesen wäre, beschleunigte er noch.
Seine Kondition schien dabei nicht die beste zu sein. Er fasste
sich in Höhe der Milz an die Seite.
Seitenstiche!
Vielleicht verbesserte das unsere Chance, ihn doch noch zu
kriegen.
„Der scheint mit uns nichts zu tun haben zu wollen“,
kommentierte François gallig.
„Los, schnappen wir ihn uns!“, rief ich, während ich mich mit
einem Satz über die Fensterbank schwang. Mit der Waffe in der Hand
setzte ich zu einem Spurt an. François folgte mir in einem Abstand
von wenigen Metern.
Was immer der Kerl hier gesucht hatte – es schien mir mehr als
ein Zufall zu sein, genau hier, zwei Tage nach Antoine Macrauxs
Tod, einen Mann anzutreffen, der mit einer Schalldämpferwaffe
bedenkenlos auf Polizisten feuerte.
Es gab mehrere Möglichkeiten, die denkbar waren.
Eine war, dass der Killer doch nicht so sorgfältig alle Spuren
verwischt hatte, wie es nach Angaben der Polizei und der
Spurensicherung zunächst den Anschein gehabt hatte. Möglicherweise
hatte der Täter etwas zurückgelassen, was bislang übersehen oder
falsch gedeutet worden war. Und jetzt war er hier, um jedes Risiko
auszuschalten.
Er keuchte.
Sein Lauf bekam etwas Taumelndes. Er feuerte erneut.
Nein, dachte ich. Ein so schlechter Schütze kann das Attentat
nicht begangen haben.
Ich duckte mich kurz.
„Geben Sie auf und bleiben Sie stehen! Dann passiert Ihnen
nichts!“, rief François.
Zwecklos!
Seine Augen traten aus den tiefliegenden Höhlen hervor.
Grenzenlose Panik sprach aus diesem Blick, und ich fragte
mich, was die wohl verursacht hatte.
Sein Gesicht war grimmig verzogen. Er hob die Waffe und
feuerte zweimal kurz hintereinander.
Wir feuerten zurück.
Der Flüchtende taumelte in das offene Tor der Lagerhalle
hinein und verschwand dort.
Im nächsten Moment gab es einen durchdringenden, metallischen
Laut. Ein Stöhnen und Quietschen betäubte die Ohren. Das Tor setzte
sich in Bewegung. Es senkte sich von oben herab. Offenbar war die
elektrische Anlage noch in Ordnung.
Der Spalt zwischen dem betonierten Erdboden und dem Metalltor
wurde immer schmaler.
Ich spurtete los. François war dicht hinter mir.
Sekunden nur vergingen, ehe ich das Tor erreichte. Ich warf
mich zu Boden und rollte mich unter dem sich unaufhaltsam
niedersenkenden Tor hindurch, ehe es mit einem donnernden Geräusch
auf dem Boden aufkam. Ich wirbelte herum, riss die Waffe empor und
blickte in den blanken Schalldämpfer, der auf die Waffe meines
Gegners aufgeschraubt war.
6
Der Mann keuchte. Er atmete unruhig und hielt sich mit einer
Hand noch immer die Seite, während die andere zitternd die Waffe
hielt. Es war eine Automatic – allerdings eine, an der verschiedene
Veränderungen vorgenommen waren. Der Lauf war länger als üblich,
der Schalldämpfer verlängerte ihn zusätzlich. Und dann war da das
große Zielfernrohr, das eigentlich zu einem Präzisionsgewehr
gehörte. Mir fiel ein rotes Leuchten von unglaublicher Intensität
auf – ein Laserpointer zur Zielerfassung.
Der Strahl traf in meiner Herzgegend auf den Stoff meiner
Jacke.
Meine Waffe deutete auf ihn, mit der seinen hatte er mich ins
Visier genommen.
Ein unangenehmes Patt.
Ich sah, wie sich der Druck seines Zeigefingers auf den Abzug
verstärkte. Die Knöchel seiner Hand wurde so weiß wie sein
Gesicht.
Einen Herzschlag lang hing alles in der Schwebe. Ich konnte
versuchen, mich zur Seite zu werfen und blitzschnell zu feuern, in
der Hoffnung, ihn mit dem ersten Schuss so zu erwischen, dass er
nicht mehr feuern konnte.
Er war kein guter Schütze, trotz Laserpointer. Ich hatte also
eine Chance.
Aber mein Instinkt warnte mich.
Außerdem wollte ich dem Kerl ein paar Fragen stellen, wozu er
mit einer Kugel im Kopf wohl kaum noch in der Lage sein
würde.
Ich hörte, wie François von draußen versuchte, das Metalltor
wieder zu öffnen. Natürlich vergeblich.
„Dein Freund kann dir jetzt nicht helfen“, lachte mein
Gegenüber.
„Nehmen Sie die Waffe runter!“
„Das könnte dir so passen!“
Mein Gegenüber grinste schief und entblößte zwei Reihen sehr
schlechter Zähne. Angefaulte Stümpfe, mehr schien in in seinem Mund
nicht mehr drin zu sein. Ich fragte mich unwillkürlich, wie alt er
wohl war. Zwischen dreißig und sechzig schien alles möglich zu
sein. Er wirkte ziemlich verkommen. Der Bart war völlig verfilzt,
desgleichen die Haare, die unter der schmuddeligen Baseball-Kappe
hervorragten. Auf seinem Handrücken zeigte sich ein rötlicher
Ausschlag. Und das Furunkel neben seiner knollenförmigen Nase sah
auch übel aus.
„Geben Sie auf!“, sagte ich. „Ich bin von der FoPoCri! Sie
sitzen hier in der Falle. Mein Freund da draußen wird Verstärkung
rufen, und dann umstellt ein Sondereinsatzkommando das ganze
Gebiet.“
„Ich glaube dir nicht“, zischte er. Seine Zunge kam beim
Sprechen ziemlich weit zwischen den Zähnen hindurch. Es war nicht
ganz einfach, ihn zu verstehen. „Du gehörst zu ihnen, ich weiß
es.“
„Von wem sprechen Sie?“, fragte ich.
„Sobald ich diese Waffe senke, wirst du mich über den Haufen
ballern wie einen räudigen Hund.“
„Nein, ich …“
„Keine Bewegung!“ Seine Stimme überschlug sich.
„Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen!“
„Das ist nur ein Trick.“
„Glauben Sie nicht, ich hätte Sie längst über den Haufen
schießen können, wenn ich das gewollt hätte?“ Es war bisschen
übertrieben, was ich ihm da entgegenschleuderte. Aber es
beeindruckte ihn. Ich konnte ihm die Verwirrung förmlich
ansehen.
Ein Profikiller ist das auf keinen Fall, ging es mir durch den
Kopf. Aber andererseits glaubte ich nicht daran, dass er sich
zufällig hier herumtrieb und mit einer Waffe hantierte, die die
Tatwaffe sein konnte. Sowohl vom Kaliber als auch von der
Zielgenauigkeit her.
Mit einer schnellen Bewegung zog ich den FoPoCri-Dienstausweis
aus der Jacke. Ich ließ ihn aus der Hand segeln, so dass er eine
Sekunde später auf den Boden klatschte. Das FoPoCri-Emblem war
deutlich zu sehen. Mein Foto auch, obwohl es vielleicht nicht mehr
das allerneueste war.
Der Kerl zuckte zusammen, und für den Bruchteil einer Sekunde
fürchtete ich schon, er würde schießen und mir keine andere Wahl
lassen, als ihn zu töten.
Aber er war vernünftig.
Ich sah den Zwiespalt in ihm. Den verstohlenen Blick zu dem
Ausweis am Boden.
Er flüsterte: „Mein Gott, ich dachte …“ Er sprach nicht
weiter.
„Was?“, fragte ich und machte einen Schritt nach vorn. Ich war
jetzt auf eine Distanz von zwei, drei Metern an ihn herangekommen.
Das machte ihn nervös.
„Bis jetzt ist nichts passiert“, sagte ich. „Sie haben mit der
Show, die Sie hier abgezogen haben, niemanden verletzt. Sie wissen,
dass auf Polizistenmord in Frankreich zwingend die lebenslängliche
Haftstrafe verhängt wird, oder?“
„Hör mal …“
„Über den Angriff auf einen Bundesbeamten kann man
gegebenenfalls hinwegsehen, wenn Sie jetzt hier aber noch für eine
Tragödie sorgen, ist Ihnen das sicher.“
Er atmete tief durch. Und dann ging eine ruckartige Bewegung
durch seinen ganzen Körper. Er warf die Waffe in seiner Hand von
sich wie ein glühend heißes Eisen. Und dann hob er die Hände. Alle
beide. Er zitterte.
„Alles in Ordnung, François!“, rief ich laut, so dass es in
der leeren Lagerhalle widerhallte.
Dann holte ich die Handschellen heraus.
„Sie haben das Recht, zu schweigen“, sagte ich und begann dann
die übliche Litanei herunterzubeten, mit der wir einen soeben
Verhafteten über seine Rechte aufklären mussten.
7
Mit großem Getöse öffnete sich das Tor der Lagerhalle wieder.
Metall schabte auf Metall. Ein durchdringender Laut, der etwas
Sägendes hatte. Ich hatte den Hebel schnell gefunden, mit dem die
Anlage in Gang zu setzen war.
François stand mit dem Handy in der Hand da und klappte das
Gerät gerade zusammen.
„Alles in bester Ordnung“, sagte ich, während ich den Mann aus
der Halle führte.
François nickte.
„Es wird gleich Verstärkung anrücken.“
„Gut, dann brauchen wir diesen Herrn nicht selbst ins
Hauptquartier bringen.“
Ich hatte die P 226 wieder ins Gürtelhalfter gesteckt. In der
Linken hielt ich mit einem Taschentuch die Waffe des
Bärtigen.
„Was hältst du davon?“, fragte ich François.
„Sieht aus, als wäre jemandem die Standardversion dieser Waffe
nicht gut genug gewesen.“
„So sehe ich das auch. Laserzielerfassung, ein hochpräzises
Fernrohr und der verlängerte Lauf … Eine Waffe, die auch über weite
Distanzen eine Zielgenauigkeit haben dürfte, wie sie sonst nur ein
Gewehr bietet.“
„Ja, aber das Ding ist nicht so groß und sperrig.“ François
nickte und fügte dann hinzu: „Die Waffe eines Attentäters.“
„Ich habe damit nichts zu tun!“, rief indessen der
Festgenommene.
„Ach, nein?“, fragte ich. „Wovon sprechen wir denn?“
Irgendwie schien er zu merken, dass er sich verplappert hatte
oder zumindest auf bestem Wege dahin war. Er schluckte, sah mich
nachdenklich an und versuchte abzuschätzen, wie er sich jetzt am
besten zu verhalten hatte.
„Na, von diesem Schauspieler. Oder?“, meinte er.
„Wie kommen Sie darauf?“, hakte ich nach.
„Steht doch in jeder Zeitung, was mit Antoine Macraux, dem
Bestienkiller passiert ist … Bumm und aus!“
Ich bedachte ihn mit einem kühlen, durchdringenden
Blick.
„Wer sind Sie?“, fragte ich.
„Ich habe das Recht, die Aussage zu verweigern“, sagte
er.
„Sicher haben Sie das, aber es ist die Frage, ob es schlau
ist, von diesem Recht ausgerechnet jetzt Gebrauch zu machen.“
„Warum sollte das unklug sein?“
Ich trat nahe an ihn heran und hielt ihm die Waffe unter die
Nase, mit der er vor wenigen Augenblicken noch auf mich geschossen
hatte.
„Wir werden dieses Ding von unseren Spezialisten genauestens
auseinandernehmen und untersuchen lassen. Jede Schraube und jeden
Bolzen einzeln. Und am Ende werden wir wissen, ob mit dieser Waffe
vielleicht einige Morde begangen wurden. Und was glauben Sie wohl,
auf welchen Gedanken wir und die Staatsanwälte kommen, wenn wir
berücksichtigen, dass diese Waffe bei Ihnen gefunden wurde?“
Der Mann schluckte.
„Ich habe niemanden umgebracht!“
„Das mag sein. Aber wenn Sie uns jetzt erzählen, wie Sie an
das Ding herangekommen sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das
auf uns überzeugend wirkt, noch beträchtlich größer, als wenn Sie
damit erst so lange warten, bis alle Beweise vor Ihnen auf dem
Tisch liegen und Ihnen ein Richter dann die Rechnung präsentiert.
Und was Ihren Namen und Ihre Personalien angeht, die bekommen wir
auch ohne Ihre Hilfe heraus. Dauert nur ein bisschen länger. Aber
das bedeutet nur, dass wir Sie länger festhalten müssen.“
Und François ergänzte: „Sie sollten nicht mit uns pokern.
Nicht bei dem miesen Blatt, das Sie haben.“
Der Mann sah erst mich, dann François einen Augenblick lang
nachdenklich an. Er schluckte. Sein Gesicht wirkte finster. Dann
brummte er: „Louis Matisse.“
„Was?“, fragte ich.
„Mein Name. Ich heiße Louis Matisse.“
„Haben Sie Papiere?“
„Nein.“
„Und was machen Sie hier?“
„Ich wohne hier“, sagte er. „Na ja, wenn das der richtige
Ausdruck ist. Ich bin obdachlos.“
„Und woher haben Sie die Waffe?“
„Ich habe sie …“, er zögerte, „… gefunden.“
8
Wenig später war die Verstärkung, die François herbeigerufen
hatte, am Ort des Geschehens eingetroffen. Uniformierte Beamte der
Polizei und außerdem eine Handvoll von unseren Leuten. Boubou und
Stéphane Caron waren auch darunter.
Jules Jabot, der Regisseur des letzten und nicht mehr
vollendeten Bestienkiller-Movies hatte zusammen mit seinem
Script-Girl Rita beobachtet, was sich um die Lagerhalle herum
abgespielt hatte.
„Ich erkenne den Mann wieder“, sagte Jabot.
„Sind Sie sich sicher?“, hakte ich nach.
„Absolut. Ich bin ihm das erste Mal begegnet, als ich mit
Heiko Karland, dem Executive Producer über das Gelände ging, um es
dahingehend zu prüfen, ob es als Schauplatz für den Bestienkiller
infrage kommt. Antoine Macraux war auch dabei. Das hat er sich nie
nehmen lassen. Er wollte immer alle Fäden in der Hand
halten.“
„Erzählen Sie mir mehr darüber, wie Sie Monsieur Matisse
begegnet sind“, forderte ich.
„Richtig. Matisse war sein Name. Ich konnte ihn mir nicht
merken.“ Jabot zuckte die Achseln. „Kann auch nicht jeder so einen
Allerweltsnamen wie ich haben.“ Er fand das lustig. Aber die
einzige, die darüber etwas giggeln konnte, war Rita. Jabot sah mich
an. „Er tauchte plötzlich aus einem der Häuser auf, in dem er wohl
sein Lager aufgeschlagen hatte. Ich wollte ihn erst vom Gelände
schmeißen, aber das wollte Macraux nicht. Antoine hatte immer ein
sentimentales Herz für Underdogs.“ Jabot wandte den Blick in
Matisses Richtung und sagte: „Sorry!“
„Schon gut“, erwiderte der Bärtige. „Es ist ja schließlich
wahr. Ein Glückskind bin ich nicht gerade.“
Jabot wandte sich wieder mir zu. Er strich sich das Haar nach
hinten, und ich hatte den Eindruck, dass das bei ihm eine Geste der
Verlegenheit war. Schließlich fuhr er fort: „Antoine erlaubte
Monsieur Matisse, auch während des Drehs hier auf dem Gelände zu
bleiben. Nur nicht gerade da, wo wir etwas in die Luft sprengen
wollten.“
Ich wandte mich an Matisse.
„Sie haben bei den Arbeiten zum neuen Bestienkiller-Film
zugesehen?“
„Ja. Hin und wieder.“
„Haben Sie gesehen, wie auf Macraux geschossen wurde?“
Matisse schluckte. Er druckste etwas herum, und ich fragte
mich, warum eigentlich. Er hatte doch nichts zu verlieren. Keiner
glaubte, dass er der Killer war. Er hatte kein Motiv und auch nicht
die nötigen Schießfertigkeiten. Im Moment gaben wir ihm eine
Vorlage nach der anderen zu seiner Entlastung. Eigentlich hätte es
aus Louis Matisse heraussprudeln müssen wie bei einem Wasserfall.
Aber er blieb noch immer sehr zurückhaltend. Mein Instinkt sagte
mir, dass es dafür einen Grund geben musste.
„Ich zeige es Ihnen“, sagte er dann.
„Okay“, nickte ich.
Er hob die mit Handschellen zusammengeketteten Hände.
„Glauben Sie, das die wirklich nötig sind?“
„Sie haben gerade noch auf uns geschossen“, stellte François
fest. „Ist noch gar nicht so lange her.“
„Das war doch nur, weil …“
„Warum?“, hakte ich sofort nach.
Unsere Blicke begegneten sich. Er taxierte mich und biss sich
auf die aufgesprungene Lippe. „Nichts“, knurrte er.
„Für wen haben Sie uns gehalten?“, beharrte ich.
Er schluckte.
„Für welche von denen.“
„Wer sind die?“
„Die zu dem Mann gehören, den ich gesehen habe. Ich hatte
gedacht, Sie machen kurzen Prozess mit mir.“
9
Ich nahm Matisse die Handschellen ab. Sofern er nicht die
umgebaute Automatic in den Fingern hatte, wirkte er auf mich wenig
furchteinflößend.
Wir ließen uns von ihm in jenes Gebäude führen, von dessen
Dach aus Antoine Macraux getötet worden war. Außer François und mir
begleiteten uns auch die Kollegen Ndonga und Caron.
Wir betraten einen hässlichen Quader, schnell hochgezogen, um
Büro und Lagerräume zu bieten. Jetzt eine Ruine. Es sah ebenso kahl
und leer geplündert aus wie die anderen Gebäude auch. Nur hatte man
hier noch keine Sprengungen und pyrotechnischen Tricks im Rahmen
der Dreharbeiten eines Action-Reißers vorgenommen. Und so machte
der Klotz einen verhältnismäßig wohnlichen Eindruck. Dazu kam, dass
fast durchgängig die Fenster noch intakt waren.
Dafür hatte man von dieser Seite des Gebäudes aus noch nicht
einmal freie Sicht auf die Hafenseite und die Silhouette von
Marseille La Villette auf der anderen Seite.
Matisse zeigte uns sein Lager, das er in einem großflächigen
Raum im dritten Stock aufgeschlagen hatte. Man hatte aus den
Fenstern heraus eine hervorragende Sicht auf jene Stelle, an der
Antoine Macraux ermordet worden war. Die weiße Markierung der
Umrisse war von hier oben aus gut zu sehen.
In einer Ecke lagen Matisses Habseligkeiten: ein Schlafsack,
ein Spirituskocher, ein paar Kartons.
„Ich war hier am Fenster“, sagte er. „Und ich habe nach
draußen geblickt … Mein Gott, all die Explosionen und das Theater.
Und dann merkte ich plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Macraux
sank zu Boden, obwohl er doch eigentlich immer der Gewinner in den
Streifen ist.“ Matisse grinste schief. Er kratzte sich am
Hinterkopf und deutete dann in Richtung der offenen Tür, durch die
man in den Flur sehen konnte.
„Was geschah dann?“, fragte ich.
„Ich hörte Schritte. Jemand rannte den Flur entlang. Ich war
neugierig und schaute nach. Wenig später erreichte ich das
Treppenhaus und sah hinab.“
„Und?“
„Da war er.“
„Er?“
„Ich habe ihn leider nur von hinten gesehen. Er rannte in
Riesenschritten nach unten. So, als ob der Teufel hinter ihm her
gewesen wäre.“
„Haben Sie ihn angesprochen?“
„Bin ich verrückt? Ich fand die Waffe. Er hatte sie einfach
von sich geschleudert. Wahrscheinlich fürchtete der Kerl, dass die
Sicherheitskräfte, die da unten tätig waren, ihn nicht vom Gelände
lassen würden, ohne ihn gründlich zu durchsuchen. Aber die verloren
schon in den ersten Momenten völlig die Kontrolle. Da lief nichts
mehr geordnet zusammen, sag ich Ihnen. Ein einziges Chaos war
das.“
„Wohin ist der Kerl verschwunden?“
„Ich habe ihn nicht mehr gesehen.“
Jetzt mischte sich François ein.
„Können Sie sich an irgendwelche Einzelheiten erinnern? Welche
Haarfarbe hatte er zum Beispiel? Alter? Kleidung?“
Matisse sah ihn etwas überrascht an. Er zuckte die Schultern.
„Er war schwarzhaarig“, erklärte er. „Und ich glaube, er trug
eine Lederjacke.“
„Welche Farbe?“
„Braun – glaube ich. Irgendwie dunkel jedenfalls. Meine Güte,
das ging alles so schnell.“
„Und die Pistole haben Sie mitgenommen.“
„Ja, ich bin mit Sack und Pack eine Weile hier ausgezogen, als
die Polizei hier alles durchsucht hat. Eigentlich dachte ich, dass
das alles längst vorbei wäre – das ganze Theater. Deswegen war ich
auch so misstrauisch Ihnen gegenüber.“ Er atmete tief durch. „Ich
dachte wirklich, Sie wären gekommen, um mich über den Jordan zu
schicken.“
François und ich wechselten einen Blick miteinander. Mein
Partner zuckte die Achseln.
„Wir werden Sie mit ins Hauptquartier nehmen und dort ein
ausführliches Protokoll von Ihrer Aussage machen“, erklärte ich
dann.
Matisse nickte langsam. Er nahm das hin wie ein notwendiges
Übel. Etwas, das man wie ein Gewitter über sich hinwegziehen lässt.
Er beschwerte sich noch nicht einmal darüber.
Er verbirgt etwas, dachte ich. Ich konnte nicht sagen, was
genau mich in diesem Augenblick zu dieser intuitiven Erkenntnis
brachte. Vielleicht die Tatsache, dass Matisses Erinnerungsvermögen
manchmal ganz exakt und manchmal seltsam ungenau zu funktionieren
schien.
„Eine Frage noch“, sagte ich, als Boubou ihn schon abführen
wollte.
Matisse drehte sich zu mir herum.
„Ja?“
Seine unruhigen Augen schienen nervös zu flackern.
„Was wollten Sie mit der Pistole?“
„Die Lebenserwartung von unsereins ist nicht besonders hoch,
Monsieur Marquanteur. Einige sterben an der verdammten Kälte im
Winter – andere werden einfach erschlagen. Ich dachte mir, mit so
einem Ding kann man sich ein bisschen Respekt verschaffen.
Vielleicht hätte ich sie auch verkauft.“
„Verstehe.“
„Ich glaube nicht, dass Sie das können. Ihresgleichen ist doch
mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen.“
Er wollte jetzt ablenken, aber ich hatte keine Lust, das
zuzulassen. Mochte das Schicksal diesen Mann auch hart geschlagen
haben, er war Zeuge eines Mordes. Und dazu ein Zeuge, von dem ich
das Gefühl hatte, dass er mich in ein paar bestimmten Punkten
anlog.
„Monsieur Matisse …“
„Warum so feierlich, Monsieur Commissaire?“, grinste er mich
schief an und kicherte.
„… wieso kommen Sie eigentlich auf die Idee, dass der Killer
oder seine Leute es auf Sie abgesehen haben könnten?“
„Na ja, ich meine …“ Er wurde ganz bleich.
„Das ergäbe nur einen Sinn, wenn Sie und der Killer sich
gesehen hätten.“ Ich trat nahe an ihn heran. Ich spürte seine
Unsicherheit förmlich. „Hat er sich vielleicht doch umgedreht, im
Treppenhaus? Wenn auch nur für einen kurzen Moment?“
„Ich weiß es nicht!“, fauchte er.
„Das wissen Sie sehr gut!“
„Was wollen Sie eigentlich? Dass ich mir irgendein Gesicht
ausdenke oder was?“ Er war dunkelrot angelaufen.
François legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Lass es gut sein, Pierre!“, riet er mir.
Ich atmete einmal tief durch. François hatte recht. Mit dem
Kopf durch die Wand ging es hier nicht weiter. Andererseits war es
ein verflucht unangenehmes Gefühl, wenn man glaubte, ganz dicht an
etwas sehr Entscheidendem dran zu sein und dann plötzlich vor einer
Mauer zu stehen.
10
Don Giorgio Andreotti war ein gebeugter, grauhaariger Mann mit
tiefliegenden dunklen Augen. Er wirkte beinahe unscheinbar in
seiner blauen Strickjacke, die viel zu groß für diesen dürren alten
Mann wirkte. Der dünne Oberlippenbart gab ihm etwas
Aristokratisches. Zwischen den langen, dürren Fingern steckte der
dicke Stummel einer Havanna.
Der Wind, der vom Meer her blies, hatte sie längst
gelöscht.
Von der Veranda seines Hauses auf Korsika konnte Don Giorgio
hinaus auf den Strand und das Meer sehen, das Mittelmeer, dessen
Brandung ein unablässiges Rauschen verursachte.
Das beruhigte die Nerven, fand Don Giorgio. Er hatte auch ein
Haus im Zentrum. Und dann war da auch noch eines in Palermo auf
Sizilien. Aber dessen Besitz hatte rein sentimentale Gründe. Die
alte Heimat, an die er sich noch vage erinnern konnte.
Don Giorgio war mit vier Jahren nach Marseille gekommen. Und
er sprach noch nicht einmal richtig italienisch. Aber er hatte ein
großes, weiches Herz, wenn es um diese Dinge ging. Diejenigen, die
den Fehler gemacht hatten, sich mit ihm anzulegen, hatten ihn
allerdings von einer ganz anderen Seite kennengelernt.
Don Giorgio trank seinen Espresso aus. Auf seinen Knien lag
die neueste Ausgabe des Marseiller Abendblatts. Dann stand er auf.
Die Zeitung klemmte er unter seinen Arm, während er den Blick über
sein Anwesen schweifen ließ. Ein Swimmingpool leuchtete blau in der
Sonne. Männer in dunklen Anzügen und schwarzen Brillen
patrouillierten auf der Anlage herum. Walkie-Talkies beulten die
Außentaschen ihrer Anzüge aus. Manchmal klappte der Wind eine Jacke
zur Seite, so dass der Blick auf ein Gürtelholster inklusive
Automatic-Pistole sichtbar wurde. Manche dieser Posten waren auch
mit Maschinenpistolen oder Sturmgewehren ausgerüstet. Und die
deutschen Schäferhunde, die sie an kurzen Leinen mit sich führten,
sahen zwar im Moment ganz friedlich aus, konnten aber auf Zuruf zu
reißenden Bestien werden.
Don Giorgio fühlte sich einigermaßen sicher. Aber er wusste,
dass man in seiner Position nicht wachsam genug sein konnte. Schon
so mancher, der sich zu sicher gefühlt hatte, war dann schneller
unter die Erde gekommen, als er es in seinen schlimmsten Alpträumen
für möglich gehalten hätte.
Wenn einer etwas davon wusste, dann war es Don Giorgio.
Er hatte so viele große Bosse kommen und gehen sehen. Kaum
einer war geblieben und von diesen wiederum nur wenige für länger.
Don Giorgio war eine Ausnahme. Er hatte überlebt, war von ganz
unten sehr weit hinaufgekommen.
Er lächelte, als er die Sonne auf dem Meer glitzern sah.
Dann versuchte er, sich den Zigarrenstummel wieder anzuzünden.
Er brachte es einfach nicht übers Herz ihn wegzuwerfen. Was solche
Dinge betraf, war er ein unverbesserlicher Geizhals.
Hinter sich vernahm Don Giorgio Schritte. Der alte Mann drehte
sich herum, innerlich noch halb in seinen Erinnerungen und
Träumereien gefangen. Ein Lächeln umspielte kurz seine dünnen,
aufgesprungenen Lippen.
„Giovanni“, stieß er hervor, als er den jungen, dunkelhaarigen
Mann mit den kantigen Gesichtszügen auf sich zukommen sah.
Giovannis Züge waren voller Entschlossenheit. Er war groß und
breitschultrig. Unterhalb seines rechten Auges zuckte unruhig ein
Muskel.
„Onkel Giorgio, du wolltest mich sprechen.“
Don Giorgio nickte. Er hatte seine Frau und seine beiden
Kinder bei einem Bombenattentat verloren. Und seitdem setzte er all
seine Hoffnungen auf Giovanni, seinen Neffen. Er sollte die Familie
irgendwann einmal führen. Wenn er das Zeug dazu hatte. Aber wann es
soweit war, das wollte Don Giorgio selbst bestimmen.
Giorgio hob die Zeitung und deutete damit auf die zierliche
Sitzecke.
„Setz dich!“, sagte er.
„Danke, aber …“
„Carlo wird dir einen Espresso bringen.“
Giovanni zuckte die Achseln und setzte sich. Der alte Mann
trat auf ihn zu und warf die Zeitung vor seinen Neffen auf den
Tisch.
Das grimmige Gesicht von Antoine Macraux blickte einen von
einem Foto aus an. In der Rechten hielt er seinen Flammenwerfer.
Zwei Munitionsgürtel kreuzten sich über seiner gewaltigen
Bodybuilderbrust. Er war der Bestienkiller.
„Es ist zu schade, dass dieser begabte Mensch so früh aus dem
Leben gerissen wurde“, sagte Don Giorgio im Tonfall echten
Bedauerns. „Er war talentiert. Ich wusste es von Anfang an.“
Giovanni grinste.
„Du hast seiner Karriere ja auch ziemlich auf die Sprünge
geholfen.“
Don Giorgio sah seinen Neffen mit einem undefinierbaren Blick
an.
„Dir nicht auch, Giovanni?“, erwiderte er dann auf eine Art
und Weise, die dem Jüngeren nicht gefiel.
Giovanni lockerte seine Krawatte. Don Giorgios letzte
Bemerkung hatte einen Unterton, der Giovanni nicht gefiel.
„Giovanni, du warst in den letzten Jahren wie ein Sohn für
mich“, sagte er dann mit leiser, verhaltener Stimme. Und sein Blick
wurde sehr ernst dabei.
„Und ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast,
Onkel Giorgio.“
„Das Gedächtnis ist eine flüchtige Angelegenheit, Giovanni.
Glaub mir! Ich bin älter als du … Jeder hat seinen Preis, für den
er selbst den Namen seiner Mutter vergessen würde.“
Don Giorgios Blick war jetzt eisig. Und obwohl er eigentlich
ein kleiner, unscheinbarer Mann mit krummem Rücken war, wirkte er
jetzt beinahe furchteinflößend. Ein Feuer brannte in seinen Augen.
Das Feuer jenes unbändigen Willens, der ihn ganz nach oben
getrieben hatte. Immer weiter und höher. Bis an einen Punkt, an dem
es nur noch den Blick zurückzugeben schien. Und die Sorge darum,
dass nicht alles, was er errichtet hatte, wie ein Kartenhaus in
sich zusammenbrach, sobald er selbst mal nicht mehr
existierte.
„Weißt du, nach dem Tod meiner Frau und meiner Kinder hatte
ich schon gedacht, dass meine Kraft mich verlassen hätte“,
sinnierte er. „Wofür das alles? Wofür die Toten und das Blut, auf
dem das alles errichtet wurde, wenn es niemanden gibt, der es
weiterführt.“ Don Giorgios Zeigefinger schnellte vor wie die Klinge
eines Klappmessers. Sein Blick war hellwach. „Das hat sich durch
dich geändert, Giovanni. Und es täte mir sehr weh, wenn du mich
hintergehen würdest.“
„Das würde ich nie tun, Onkel Giorgio.“
„Hör zu, ich will dir deine Sünden nicht einzeln unter die
Nase reiben. Du bist jung und hast deshalb ein Recht darauf, Fehler
zu machen. Also Schwamm über die Vergangenheit. Ich weiß, dass du
hinter meinem Rücken einiges getan hat, was mir nicht
gefällt.“
„Hör zu, ich kann …“
Don Giorgio hob die Hand. Es war eine energische Geste, die
keinen Widerspruch zuließ.
„Ich will keine Erklärungen, Giovanni.“
„Ich habe nur das Interesse der Familie im Sinn!“
„Ja, ich weiß. Das verbindet uns. Und wenn es anders wäre,
hätte ich dich nie in die Position gebracht, in der du heute
bist.“
Giovanni Andreotti lehnte sich etwas zurück. Seine Augen
wurden schmal. Er atmete tief durch und biss sich auf die Lippe. Er
verkniff sich eine Bemerkung.
„Ich will keine Alleingänge mehr, Giovanni. Damit das ein für
alle Mal klar ist!“
„Aber …“
„Es ist genug Blut geflossen, Giovanni! Ich will nicht, dass
alles in Gefahr gerät, was ich aus kleinsten Anfängen heraus
aufgebaut habe.“
„Vor zehn Jahren hättest du nicht so geredet“, erwiderte
Giovanni zwischen den Zähnen hindurch. Sein Blick war finster. Und
er wunderte sich selbst über die Entschlossenheit, die aus seinen
Worten herausklang.
Don Giorgio sah seine Neffen nachdenklich an.
Ich muss auf ihn aufpassen, ging es ihm durch den Kopf.
Giovanni hat eine Menge Temperament. So wie ich früher … Aber er
darf nicht übermütig werden!
„Ich werde versuchen, ein Treffen mit den anderen Familien
anzusetzen“, erklärte Don Giorgio dann. „Und ich möchte, dass du
dabei bist.“
„Sitzen die Tarrasotas auch am Tisch?“
„Natürlich!“
„Onkel, die haben systematisch versucht, deine Leute
umzudrehen, einzuschüchtern und für sich zu gewinnen. Die haben
jemanden bei den Behörden, der dafür gesorgt hat, dass unsere
Nachtclubs dauernd im Hinblick auf ihre hygienischen Verhältnisse
überprüft werden. Und der Brandanschlag auf die Exquisit Bar? Hast
du das schon vergessen?“
„Dafür haben sie bezahlt!“
„Dafür habe ich gesorgt!“
„Ja, und damit beinahe einen Krieg vom Zaun gebrochen. Solche
Dinge regelt man anders, mein Junge!“
„So? Das glaube ich nicht. Onkel, die müssen den Respekt vor
dem Namen Andreotti behalten, sonst bricht alles nach und nach in
sich zusammen. Alles, was du mit so viel Mühe aufgebaut hast!“
Giovanni war aufgesprungen. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl.
Voller Leidenschaft ballte er die Fäuste. „Ich habe nur getan, was
du hättest tun müssen. Aber du hattest nicht die Kraft dazu.“
„Das ist nicht wahr!“, rief Don Giorgio. Seine Stimme
überschlug sich. Auf einmal hatte er ein beengendes Gefühl in der
Halsgegend. Wie eine Schlinge, die sich langsam zuzog.
Mein Gott, er hat recht!, ging es ihm durch den Kopf. Aber das
wollte er nicht wahrhaben. Alles in dem alten Mann sträubte sich
dagegen. Wo ist dein alter Elan geblieben?
Wütend funkelte er seinen Neffen an.
„Hör zu, Giovanni, wir brauchen die Tarrasotas und die anderen
Familien, wenn wir gegen die Russen und die Puertoricaner bestehen
wollen!“
Giovanni lachte höhnisch.
„Ein fauler Frieden ist das!“
„Mag sein. Aber im Moment haben wir keine andere Wahl, und ich
hoffe, dass der Schaden, den die von dir eingeleiteten Aktionen
angerichtet haben, sich wieder beheben lässt.“
Giovanni schüttelte den Kopf.
„Du solltest die Tarrasotas zertreten, Onkel. Jetzt! Bevor sie
dasselbe mit dir tun! Noch wären wir groß genug, um sie mit einem
Schlag zu vernichten.“
„Ich habe deine Meinung zur Kenntnis genommen, Giovanni“,
sagte Don Giorgio dann in einem Tonfall, der einem das Blut in den
Adern gefrieren lassen konnte. Seine Stimme war kaum mehr als ein
zerbrechliches Wispern, und doch klang darin eine furchtbare
Entschlossenheit mit. „Ich entscheide hier immer noch. Und du
solltest dir genau überlegen, ob du das akzeptieren kannst oder
nicht!“
Giovanni atmete tief durch. Der Ärger war ihm anzusehen. Sein
Kopf war dunkelrot angelaufen. Am liebsten hätte er seine Wut
herausplatzen lassen. Aber Giovanni war bei allem Temperament klug
genug zu wissen, wann er nachgeben musste. Und jetzt war so ein
Zeitpunkt.
„Ich habe deine Autorität nie angezweifelt, Onkel“, sagte er
kleinlaut.
Don Giorgio nickte leicht.
Giovanni wusste, dass der große Giorgio Andreotti im Ernstfall
nicht einmal davor zurückschreckte, Mitglieder der eigenen Familie
umzubringen, wenn es sein musste.
Die beiden Männer sahen sich an.
Ein stummes Duell. Ein gegenseitiges Abschätzen.
Im Moment ging es noch eindeutig zu Gunsten des alten, grau
gewordenen Leitwolfs aus.
Noch!
11
Louis Matisse wurde im Präsidium verhört. Unsere
Vernehmungsspezialisten Davide Cherdan und Derek Bajere nahmen ihn
sich vor und gingen die ganze Story mit ihm noch ein paar Dutzend
Mal durch. Zeitweilig war ich dabei, aber ich konnte mir das
irgendwann nicht mehr anhören. Über einen bestimmten Punkt wollte
Matisse einfach nicht hinaus.
„Ich habe das Gesicht des Kerls nicht gesehen!“, rief er
einmal aufgebracht. „Punkt, basta! Soll ich mir vielleicht was
ausdenken, nur damit ihr Bullen zufrieden seid? Wie Sie wissen,
habe ich das Recht zu schweigen – also seien Sie froh, dass ich
keinen Gebrauch davon mache, sondern Ihnen sage, was ich weiß.
Auch, wenn das vielleicht nicht viel ist.“
Später versuchte Monsieur Perouche, unser Zeichner, die
Beschreibungen Matisses in Bilder umzusetzen. Aber das Bild eines
dunkelhaarigen Mannes von hinten war nicht gerade das, was wir uns
für die Fahndung wünschten.
„Wir werden vermutlich das ganze Film-Team noch mal
zusammentrommeln müssen, um nach dem Kerl zu fragen“, meinte
François später, als wir in unserem Dienstzimmer saßen und die
Aussagen, die gegenüber der Polizei gemacht worden waren, nach
Hinweisen zu durchforsten. Aber von den Kollegen hatte natürlich
keiner gezielte Fragen gestellt, die einen Unbekannten in
Lederjacke im Visier hatten – den Killer – wer immer ihn auch
geschickt haben mochte.
„Vermutlich wird es nicht einmal etwas bringen“, erklärte ich.
„Ein Teil der Leute ist vermutlich schon abgereist.“
Sie noch einmal zusammenzutrommeln, würde Unmengen von
Steuergeldern verschlingen. Und wenn wir am Ende ohne Erfolg
dastanden, würde man uns dafür einen Strick knüpfen. Gespart werden
musste überall. Und jeder Pfennig wurde dreimal umgedreht, bevor er
ausgegeben werden durfte.
Immerhin hatte wir noch ein paar andere Eisen im Feuer. Da war
die Waffe, die Matisse bei sich gehabt hatte, außerdem die
Geschosse, die er am Drehort des letzten, unvollendeten
Bestienkiller-Streifens verballert hatte.
Unsere Erkennungsdienstler hatten sie fein säuberlich aus dem
Putz oder dem Beton oder wo sie sonst auch immer gelandet waren,
herausgekratzt. Daran, dass es sich um die Mordwaffe handelte,
konnte für mich kaum ein Zweifel bestehen. Alles sprach dafür. Aber
vielleicht würden sich noch weitere Hinweise ergeben.
Die Seriennummer der Waffe war abgefeilt worden. Aber
zweifellos war der Umbau das Werk eines Spezialisten. Eine genau
justierte Zielanlage, die durchaus Seltenheitswert hatte, und ein
Laserpointer. Unsere Spezialisten kümmerten sich darum. Vielleicht
ließ sich die Herkunft der Waffe oder eines ihrer Zusatzteile näher
bestimmen. Möglicherweise fanden wir sogar jemanden, der sich
darauf spezialisiert hatte, solche Umbauten für Spezialbedürfnisse
durchzuführen. David Hollande von unserem ballistischen Labor war
da ganz optimistisch.
Am späteren Nachmittag machten François und ich uns auf nach
Marseille Les Blanc. Meinen Sportwagen, der wie ein Dienstwagen
ausgestattet war, und in den ich einen Großteil meines Gehalts
investierte, parkte ich in der Seitenstraße.
Man musste sich schon verdammt gut in Marseille auskennen, um
um diese Zeit zu einem Parkplatz zu kommen.
Wir suchten Carla Macraux auf, die Witwe des Bestienkillers.
Sie residierte in Macrauxs Marseiller Wohnung – und die befand sich
einer ganz exquisiten Lage in einer Traumetage, von der aus man
einen weiten Blick über den Parc de la Ville hatte.
Ich wechselte einen vielsagenden Blick mit François, als uns
der Leibwächter hereinließ. Es handelte sich um einen kahlköpfigen
Schwarzen, dessen Schultern so breit waren, dass man sich
unwillkürlich fragte, ob er ohne Probleme durch eine normale Tür
passte. Er war einen Kopf größer als ich. Als er den Mund verzog,
sah ich, dass ihm die obere Schneidezahnreihe komplett fehlte. Es
entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Antoine
Macraux sich von einem Mann hatte beschützen lassen, dessen
Aussehen einem Bösewicht in den Bestienkiller-Filmen alle Ehre
gemacht hätte.
Die Wohnung war sehr groß für Marseiller Verhältnisse.
Dreihundert Quadratmeter, so schätzte ich, nachdem wir dem
kahlköpfigen Riesen durch einen Empfangsraum in ein weitläufiges
Wohnzimmer gefolgt waren.
Sie musste ein Vermögen gekostet haben, das weit außerhalb
dessen lag, was sich ein armer Commissaire vorstellen konnte.
„Madame Macraux – die beiden Männer von der FoPoCri“, stellte
uns der Leibwächter vor.
An der Fensterfront stand eine dunkelhaarige Frau mit langen,
bis über die Schulter fallenden Haaren. Ihre Figur war eine
einzige, schwindelerregende Kurve. Das enge rote Kleid, das sie
trug, schien nicht einen einzigen Millimeter zwischen ihrer
bräunlich schimmernden Haut und dem anschmiegsamen Stoff
freizulassen. Soweit ich mich informiert hatte, war sie ein
ehemaliges Starlett, das sich in der Filmbranche erfolgreich nach
oben geschlafen hatte. Jetzt war sie Erbin eines
Millionenvermögens.
Mit provozierender Langsamkeit drehte sich die Schöne um und
warf dann den Kopf zurück, so dass das lange Haar nach hinten fiel.
Der Ausschnitt ihres Kleides war ziemlich tief und gewährte
interessante Einblicke. Den linken Arm hatte sie in die
geschwungene Hüfte gestemmt.
Wir hielten ihr unsere Ausweise hin.
„Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire. Und
dies ist mein Kollege François Leroc. Wir hätten Ihnen gerne ein
paar Fragen zum Tod Ihres Mannes gestellt.“
Sie zuckte die Achseln und atmete tief durch. Ihre runden,
festen Brüste hoben und senkten sich dabei auf eine Art und Weise,
die sie genau zu kalkulieren schien.
„Setzen Sie sich! Wollen Sie etwas zu trinken?“
„Wir sind im Dienst“, sagte François.
Sie hob die Augenbrauen.
„Das ist Ihr Pech!“
„Ja, vielleicht.“
Wir ließen uns in einer modern wirkenden Sitzecke nieder.
Alles Designer-Möbel. Der letzte Schrei und sündhaft teuer.
Carla Macraux klimperte mit dem Armreif, der ihr am Handgelenk
hing, und beugte sich etwas vor.
„Ich werde Ihnen nicht viel sagen können“, meinte sie
dann.
„Warum nicht?“
„Ich war nicht am Drehort, als es geschah … Mein Gott, es war
so schrecklich, als ich es erfuhr. Und dann musste ich mir immer
wieder die Bilder in den Nachrichten ansehen.“
„Die Bilder, die den Mord zeigten?“
„Ja. Ich weiß nicht, ob der Kameramann dringend Geld brauchte,
oder wie sonst eine Kopie an die Medien gelangen konnte. Jetzt ist
es zu spät, um es noch zu verhindern. Es war respektlos gegenüber
einem Toten.“
Es war eine Spielfilmszene, dachte ich. Eine, bei der der Tod
Regie geführt hatte und die Leiche nicht nach Beendigung des Drehs
wieder aufstand, wie es sonst der Fall war.
Meine Gedanken behielt ich für mich.
„Gibt es irgendjemanden, dem Sie den Mord zutrauen würden?“,
fragte ich.
Sie zuckte die Achseln.
„Antoine hatte ein Talent dazu, sich Ärger
einzuhandeln.“
„Reden Sie weiter!“
„Was glauben Sie, wie lang die Liste der Kameraleute,
Co-Produzenten und so weiter ist, mit denen er sich überworfen hat?
Alles musste genau so sein, wie er es wollte. Jedes Detail. Antoine
war besessen, was Details anging.“
„Er war jemandem bekannt, der Giorgio Andreotti heißt“,
stellte ich fest.