Alain
Boulanger und das Pariser Phantom: Frankreich Krimi
von Henry Rohmer
Leo Renard ist unauffälliger Mitarbeiter einer literarischen
Agentur, bis er eines Tages verschwindet, nachdem er von zwei
Unbekannten bedroht wurde. Einer der beiden Angreifer ist wenig
später tot. Der Privatdetektiv Alain Boulanger soll Renard suchen.
Schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass an diesem Mann
nichts stimmt. Plötzlich gerät der Privatdetektiv in das Visier von
Toni Cassalle, einer rachsüchtigen Unterweltgröße, mit der Leo
Renard eine offene Rechnung zu haben scheint.
Copyright
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Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
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Alles rund um Belletristik!
Alain Boulanger und das Pariser Phantom
von Henry Rohmer
1
Paris im Jahr 1991 …
Alain Boulanger gönnte sich an diesem Morgen den Luxus eines
Frühstücks in einem Bistro an den Boulevards. Ein Luxus war das
deswegen, weil er eigentlich ein vielbeschäftigter Mann war.
Privatdetetektiv mit Büro und Wohnung in der Rue Saint-Dominique in
der Nähe der Champs de Mars, einem ausgedehnten Park.
Aber die Boulevards, das war etwas ganz Spezielles.
Das war Paris.
So, wie man es sich vorstellte. So, wie man vielleicht davon
träumte. Paris, die Stadt der Liebe und der Philosophen und des
Savoir Vivre.
Alain Boulanger saß vor seinem Milchkaffee und genoss das
Croissant dazu. Oder besser gesagt: Die zwei Croissant, die er sich
dazu gönnte.
Zwei Croissant einfach so, mit nichts dazu.
Das war die Reduktion auf das Wesentliche.
Ein Frühstück für Existentialisten, wenn man es philosophisch
verstehen wollte.
Und Alain Boulanger war jemand, der dazu neigte, es so zu
verstehen.
Er beobachtete die Leute.
Das war interessanter als jeder Film im Kino. Eine menschliche
Komödie eben, wie der große Honoré de Balzac es ausgedrückt
hätte.
Alain Boulanger hätte stundenlang einfach nur so dasitzen
können, um diese Eindrücke in sich aufzunehmen. Aber dazu hatte er
natürlich nicht die nötige Zeit.
Auch wenn seine Geschäfte als Privatdetektiv gut gingen, so
hatte er doch keineswegs ausgesorgt. Millionen lagen nicht auf
seinem Konto. Arbeiten musste er schon noch.
Und das würde auch auf absehbare Zeit so bleiben.
Allerdings…
Wer konnte schon wissen, was die Zukunft brachte?
Eine junge Frau mit ernstem Gesicht und einer Knotenfrisur
fiel ihm auf. Die Frisur löste sich etwas auf. Einige Strähnen
hatten sich hervorgetan und der leichte Wind, der durch die
Boulevards strich, spielte mit den Strähnen. Sie wirkte sehr
konzentriert und schrieb etwas in eine Kladde.
“Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche, Mademoiselle -
aber was machen Sie da?”, fragte Alain Boulanger.
Sie sah auf.
Dann setzte sie die Brille auf, die neben ihrem Milchkaffee
auf dem Tisch lag und unterzog Alain Boulanger zunächst einmal
einer eingehenden Musterung.
“Ich schreibe, Monsieur”, sagte sie.
“Sie schreiben?”
“Ja, ich schreibe. Sieht man das nicht?”
“Nun…”
“Ich schreibe einen literarischen Text über meine Eindrücke
dieses Augenblicks.”
“Oh, das erklärt einiges.”
“So, was denn?”
“Den konzentrierten Gesichtsausdruck, die absolute
Fokussierung…” Alain Boulanger lächelte kurz. “Ich meine, wenn es
eine Einkaufsliste gewesen wäre…”
“...dann hätte es keinen Grund gegeben, nicht mit derselben
Konzentration an die Sache heranzugehen, wie an einen literarischen
Text. Finden Sie nicht?”
Alain Boulanger zuckte mit den Schultern.
“Das kann ich ehrlich gesagt nicht beurteilen.”
“Können Sie nicht?”
"Einkaufslisten lasse ich von meiner Assistentin schreiben und
Literarisches würde meine Möglichkeiten und Talente bei weitem
übersteigen, Mademoiselle.”
“Sagen Sie das nicht!”
“So?”
“In jedem von uns steckt ein Autor. Jemand, der etwas zu sagen
hat. Nur trauen sich die meisten Menschen nicht, das, was sie
bewegt, auch herauszulassen.”
“Die Frage ist, ob alles raus muss, was in einem drin
ist.”
Jetzt lächelte sie auch. Zum ersten Mal. Alain Boulanger
registrierte das sehr wohl. Sie nahm nun die Brille wieder ab. Ohne
die Brille wirkte ihr Blick ein wenig verschwommen.
Orientierungslos.
Dann wurden ihre Augen schmal und ihr Blick verriet so etwas
wie Entschlossenheit.
“Ich bin Schriftstellerin”, sagte sie. “Und für mich ist das
keine Frage.”
“So…”
“Sie scheinen mir noch ziemlich jung zu sein…”
“Für eine Schriftstellerin?”
“Ich dachte immer, dass man dazu etwas Lebenserfahrung
braucht”, sagte Alain Boulanger.
“Und die kann man nicht in jungen Jahren haben?”
Alain Boulanger zuckte mit den Schultern.
“Vielleicht wenn man Norman Mailer ist und den Krieg im
Pazifik erlebt hat, dann kann man mit 25 so etwas wie >Die
Nackten und die Toten< schreiben.”
“Und eine junge Frau, die bislang nur in den Cafés von Paris
herumgesessen und wahrscheinlich sogar ihre Uni-Vorlesungen
versäumt hat, kann das nicht, würden Sie sagen?”
“Keine Ahnung. Sie verstehen sicher mehr von diesen Dingen als
ich.”
“Sollte das jetzt Ironie sein?”
“Wer weiß?”
“Ich glaube, das jede Empfindung politisch ist und wenn sie
aufgeschrieben wird, wird daraus Literatur.”
“Haben Sie schon etwas veröffentlicht?”
“Ich will mich nicht den Mechanismen eines kommerziellen
Marktes unterwerfen - und das müsste ich, wenn ich mich an einen
Verlag wenden würde.”
“Ich verstehe. Dann schreiben Sie nur für sich selbst?”
“Hin und wieder erscheint etwas von mir in einer kleinen
Zeitschrift und ich veranstalte Lesungen.”
“Vielleicht brauchen Sie einen Agenten. Wie ich gehört habe,
haben viele Autoren inzwischen Agenten, die sich um die profaneren
Aspekte des Literaturbetriebs für ihre Autoren kümmern.”
“Wollen Sie sich bei mir etwa als ein solcher Agent andienen,
Monsieur?”
Alain Boulanger schüttelte den Kopf. “Nein, ganz bestimmt
nicht. Das ist nicht mein Gebiet.”
“Was ist denn Ihr Gebiet?”
“Ich bin Privatdetektiv. Das ist mein Gebiet.”
“Oh”, sagte sie. “Aber jetzt sagen Sie bitte nicht, dass mein
Vater Sie engagiert hat, um zu überprüfen, ob ich immer noch
Medizin studiere, obwohl ich das schon seit anderthalb Jahren gar
nicht mehr mache.”
“Nein, keine Sorge”, sagte Alain Boulanger. “Ich bin rein
privat hier. Ich frühstücke hier nur.”
“Wo ist denn ihr Büro?”
“In der Rue Saint-Dominique.”
“Sie können sich ein Büro in der Rue Saint-Dominique leisten?
Dann muss Ihr Geschäft blendend laufen und Sie sind vermutlich
einer der arroganten Bonzen, von denen in Paris so viele gibt.”
“Sie können es sich doch auch leisten, in Paris zu
leben!”
“Studentenwohnheim.”
“Und Papa bezahlt.”
“Man muss die Möglichkeiten, die einem die bürgerliche
Gesellschaft bietet, ausnutzen, ohne dem Druck der
gesellschaftlichen Konformität zu erliegen.”
“Ja, das finde ich auch”, sagte Alain Boulanger.
Ein junger Mann kam jetzt zu ihr an den Tisch. Er trug eine
Che Guevara-Mütze und einen Parka mit einem aufgestickten roten
Stern.
“Salut”, sagte er.
“Salut”, sagte sie. Sie packte ihre Sachen zusammen, zahlte
und sagte dann an Alain gerichtet: “Grüßen Sie trotzdem meinen
Vater von mir, wenn Sie ihn sehen. Sagen Sie ihm, dass mich nichts
von meinen Entschlüsseln abbringen kann.”
Dann ging sie mit dem jungen Mann davon.
“Sag mal, was war das denn für ein Spießer?”, fragte er
sie.
Die Antwort darauf bekam Alain Boulanger nicht mehr mit.
*
„Er nennt sich Renard“, sagte der dunkelhaarige Mann im
braunen Kaschmir-Jackett, während sein Blick über die schlichte
Einrichtung des Hotelzimmers ging. „Leo Renard. Er arbeitet in
einer literarischen Agentur, lebt allein, hat kaum Kontakte.“
Der andere Mann im Raum beugte sich gerade über das
Waschbecken, schabte sich den letzten Rest Rasierschaum aus dem
kantigen Gesicht und griff zum Handtuch. Dann kämmte er sich noch
die schütteren hellblonden Haare nach hinten und wandte sich seinem
Partner zu.
„Sonst noch etwas?“
„Du könntest dir wenigstens mal die Bilder ansehen, die ich
gemacht habe.“
„Bitte!“
Der Blonde sah sich die Bilder nur sehr flüchtig an und nickte
dann.
„Das scheint er zu sein“, murmelte er.
„Ich bin dafür, die Sache bald durchzuziehen“, erwiderte der
Mann im braunen Jackett.
Davon schien der Blonde nicht sonderlich begeistert zu
sein.
„Die Sache darf auf keinen Fall schiefgehen“, meinte er. „Ich
bin dafür, Renard noch ein bisschen zu beobachten.“
„Es gibt nichts mehr über ihn herauszufinden“, erwiderte der
andere gelassen. „Wir kennen seinen täglichen Lebensrhythmus, wir
wissen, wann er aufsteht, wann er zur Arbeit geht, mit wem er in
den letzten zwei Wochen telefoniert hat, und in welchen Geschäften
er regelmäßig einkauft.“
Der Blonde verengte die Augen wenig, während er zu seinem
offenen Koffer ging und sich ein frisches Hemd herausnahm. Nachdem
er es angezogen und zugeknöpft hatte, holte er noch etwas anderes:
eine Pistole samt dazugehörigem Schulterholster. Als er sich die
Waffe umgeschnallt hatte, fragte er: „Hast du schon einen
Plan?“
Der andere nickte.
„Bis ins Detail“, behauptete er.
„Okay“, murmelte der Blonde. „Dann schieß mal los!“
Währenddessen nahm er die Waffe in die rechte Hand, griff mit
der anderen noch einmal kurz in den Koffer und schob dann ein
volles Magazin in den Pistolengriff.
2
Leo Renard war ein hochgewachsener, hagerer Mann, dessen Alter
schwer zu bestimmen war. Seine Haare waren noch so dicht, dass man
nicht die Kopfhaut hindurchschimmern sah, obwohl er sie ziemlich
kurz trug. Aber ein paar graue Strähnen waren nicht zu übersehen.
Renard stand am Fenster des Großraumbüros und blickte
nachdenklich hinab auf das Labyrinth der Straßenschluchten von
Paris. Es war ein klarer Tag mit hervorragender Fernsicht.
„Leo! Träumst du?“
Renard schien einen Moment lang wie weggetreten zu sein, dann
drehte er sich herum und blickte in Caroline Arlons‘ meergrüne
Augen.
„Ein bisschen“, erwiderte Renard mit einem matten
Lächeln.
Caroline war mindestens einen Kopf kleiner als Renard. Eine
gut aussehende Mittdreißigerin mit genügend Sexappeal, um den
kältesten Eisklotz zum Schmelzen zu bringen.
Bei Renard war sie allerdings bislang mehr oder weniger
erfolglos gewesen, obwohl sie nichts unversucht gelassen hatte.
Aber zu mehr als einer Verabredung zum Essen in der ohnehin viel zu
knappen Mittagspause sowie einem gemeinsamen Abend im
Piccolo-Theater war es nie gekommen.
Caroline legte die Stirn ein wenig in Falten. Etwas stimmte
heute mit Renard nicht, das war ihr sofort klar.
„Leo, welche Laus ist dir denn heute über die Leber
gelaufen?“
Renard grinste. Aber das wirkte seltsam maskenhaft.
„Mir geht es hervorragend, Caroline. Danke.“
Damit war für ihn das Gespräch zu Ende. Für Caroline jedoch
noch nicht.
„Du kannst es mir ruhig erzählen“, meinte sie.
Aber auf dem Ohr war Leo Renard so gut wie taub.
„Vielleicht werde ich ein paar Tage Urlaub machen“, murmelte
Renard dann abwesend.
„Wohin geht es? An die Küste vielleicht? Um diese Jahreszeit
vielleicht gar nicht schlecht! Aber der Chef wird nicht sehr
begeistert sein.“
„Der Chef ist nie begeistert, wenn man Urlaub haben möchte“,
erwiderte Renard.
„Ich soll dir übrigens sagen, dass du zu ihm kommen sollst,
Leo.“
Renard zuckte die Achseln. Jetzt schien er auf einmal wieder
ganz der Alte zu sein. Selbstsicher, überlegen und eine Spur zu
unterkühlt, wie Caroline fand.
Der Chef, das war ein etwas zum Übergewicht neigender Mann
namens Marc Franchon. Er war jemand, der sein Geschäft wie kein
Zweiter verstand und die Literarische Agentur Franchon die
Erfolgsleiter hinaufgeführt hatte.
Als Renard Franchons Büro betrat, aß dieser gerade ein
mitgebrachtes Sandwich. Solange Renard schon hier beschäftigt war,
konnte er sich nicht daran erinnern, gesehen zu haben, wie Franchon
eine Mittagspause machte. Der Chef arbeitete für gewöhnlich durch
und aß nebenbei etwas. Das war sicher nicht sein wahres
Erfolgsgeheimnis, aber es zeigte die Einstellung, mit der er sein
Geschäft betrieb.
„Was gibt es?“, fragte Renard, während er seine Rechte aus der
weiten Hosentasche herausnahm.
Franchon machte eine wichtige Miene.
„Da war ein Anruf für Sie“, berichtete er dann. „Vorhin, als
Sie zum Essen weg waren.“
Renard zog die Augenbrauen in die Höhe. Er konnte sich denken,
worum es ging.
„Die Japaner?“, fragte er.
„Ja“, nickte Franchon und beugte sich dabei etwas nach vorn.
„Caroline hat das Gespräch zu mir hereingelegt, aber wir
standen ziemlich auf dem Schlauch. Schließlich sind Sie der einzige
bei uns, der Japanisch spricht – und das Englisch von Monsieur
Nakamura ist nicht gerade einfach zu verstehen.“
Renard zuckte die Achseln. „Tut mir leid!“
„Sie können ja nichts dafür. Aber es wäre gut, wenn Sie
langsam die Verträge vorbereiten könnten.“
Renard legte jetzt die Mappe, die er unter dem Arm hielt,
Franchon auf den Tisch.
„Alles fertig“, sagte er dazu, und Franchon blickte erstaunt
auf.
„Alle Achtung! Wann haben Sie denn …?“
„Ich möchte ab morgen ein paar Tage Urlaub nehmen.“
„Nun, gerade jetzt, da wir mit Nakamura ins Geschäft kommen.
Japan hat 120 Millionen Einwohner. Das ist ein Buchmarkt, auf dem
sich ganz ansehnliche Auflagen erzielen lassen.“
Mit anderen Worten: ein Riesengeschäft. Und Leo Renard war
derjenige, der es ans Laufen gebracht hatte. Franchon war das sehr
wohl bewusst – und das war Renards Trumpf.
„Wie gesagt, es ist jetzt alles unter Dach und Fach“, meinte
Renard ziemlich gelassen.
„Nakamura deutete an, dass man sich in seinem Haus überlegt,
uns auch noch den Kim-Basinger-Band abzukaufen“, erwiderte
Franchon.
„Wie schön“, murmelte Renard. Aber er schien sich nicht
wirklich darüber zu freuen, obwohl das auch sein Erfolg war.
Franchon seufzte. Dann meinte er: „Na schön, Leo, Sie bekommen
Ihren Urlaub. Jetzt, wo Nakamura angebissen hat, wird es vielleicht
auch ohne Sie laufen.“
„Das denke ich auch.“
Franchon musterte seinen Angestellten stirnrunzelnd. Er
kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und beugte sich dann etwas
nach vorn.
„Was ist los, Leo?“, fragte er dann in vertraulichem
Tonfall.
„Ich brauche einfach ein paar Tage, das ist alles.“ Leo Renard
lächelte. „Ich fühle mich ein bisschen ausgebrannt, wenn Sie
wissen, was ich meine.“
Franchon nickte.
„An dem Punkt sind wir alle irgendwann einmal.“ Er lachte
heiser. „Meistens zu einem ungünstigen Zeitpunkt.“
3
Alain Boulanger hob die Augenbrauen.
„Oh, là, là! Jeanette! Was ist das denn?“
„Das ist Kaffee, Alain. Und zwar so stark, dass wenigstens
eine geringe Chance besteht, dass du nicht gleich wieder
einschläfst, wenn du deinem Klienten gegenübersitzt!“
Alain Boulanger, der bekannte Pariser Privatdetektiv, verzog
den Mund, nachdem er den ersten Schluck genommen hatte. Der Kaffee
schmeckte bitter, aber im Moment bedeutete er wohl die einzige
Chance, auf die Schnelle ein paar Lebensgeister zurückzurufen. In
den letzten Nächten hatte der Privatdetektiv so gut wie überhaupt
keinen Schlaf bekommen. Alain war im Auftrag eines Spediteurs
Autobahnpiraten auf die Spur gekommen, die ganze Containerladungen
verschwinden ließen. Nächtelanges Observieren hatte ihn schließlich
zum Erfolg geführt, und in der letzten Nacht war die Bande dann in
flagranti erwischt und verhaftet worden.
Kein angenehmer Job, aber ein sehr einträglicher.
„Ich hoffe nur, dass dieser Klient einen Auftrag hat, der sich
tagsüber erledigen lässt“, murmelte Alain an seine hübsche
Assistentin Jeanette gewandt, während er sich mit der flachen Hand
über das Gesicht fuhr.
Jeanette Levoiseur strich sich das eng anliegende, dunkelblaue
Kleid glatt, das ihre wohlproportionierten Formen ziemlich exakt
nachzeichnete.
„Wer weiß“, erwiderte sie und warf dabei ihre blonde Mähne in
den Nacken. „Vielleicht bekommst du den Auftrag gar nicht, wenn der
Mann drüben im Büro etwas von deiner Verfassung mitkriegt. Der
macht mir nämlich einen sehr dynamischen und energiegeladenen
Eindruck.“
„Wer ist es denn?“
„Er heißt Marc Franchon und leitet eine literarische Agentur,
die sich auf das Vermitteln von Lizenzen sogenannter Bücher zum
Film spezialisiert hat. Mehr konnte ich ihm nicht aus der Nase
ziehen. Er will mit dir persönlich reden.“
Boulanger zuckte die Achseln, trank den Rest des Kaffees und
betrat dann sein Büro. Er versuchte dabei einen halbwegs frischen
Eindruck zu machen.
Marc Franchon unterzog Alain einer eingehenden Musterung. Der
Privatdetektiv spürte deutlich, dass er in diesen drei Sekunden
gewogen und eingeschätzt wurde. Alain reichte ihm die Hand und
stellte sich vor.
„Sie sollen sehr gut in Ihrem Geschäft sein, Monsieur
Boulanger“, begann Franchon. Er hob mit einer hilflosen Geste beide
Hände und setzte dann hinzu: „Um die Wahrheit zu sagen: Es ist das
erste Mal, dass ich jemanden wie Sie aufsuche. Man hat Sie mir
empfohlen.“
„Wo brennt‘s denn?“, fragte Alain Boulanger, während er sich
hinter seinen Schreibtisch setzte.
„Es geht um einen meiner Mitarbeiter. Leo Renard. Er ist
verschwunden.“
Alain runzelte die Stirn und lehnte sich etwas zurück.
„Erzählen Sie!“, murmelte er, während er sich eine Zigarette
zwischen die Lippen steckte.
Franchon hob die Schultern.
„Letzten Mittwoch bat Leo mich um ein paar Tage Urlaub.
Gestern war Montag, da hätte er eigentlich wieder in der Agentur
auftauchen müssen. Aber er ist nicht gekommen.“
„Ist er während seines Urlaubs weggefahren?“
„Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt. Aber selbst wenn
ihm etwas dazwischengekommen wäre, so dass er am Montag nicht ins
Büro hätte kommen können, dann hätte Leo kurz durchgerufen und mir
Bescheid gesagt. Da bin ich mir absolut sicher. Leo ist ein
hundertprozentig korrekter Mitarbeiter …“, der Agent seufzte, „…
und dazu noch ein sehr wichtiger!“
Boulanger rieb sich die Schläfen und versuchte krampfhaft, ein
Gähnen zu unterdrücken, was ihm schließlich gelang.
„Was macht Renard bei Ihnen?“
„Er ist sehr sprachgewandt“, erklärte Franchon. „Englisch,
Deutsch, Spanisch – und sogar Japanisch. Für das Auslandsgeschäft
ist das ein unschätzbarer Vorteil. Und unser Geschäft ist längst
international. Wenn ein Film ein wenigstens mittelmäßiger Erfolg
wird, dann besteht die Chance, dort als auch hier die
entsprechenden Buchprodukte zu vermarkten: Den Roman zum Film, ein
Buch mit Fotos zum Film, ein Buch über den Star des Films, in dem
einen oder anderen Fall sogar eine Comic-Adaption oder ein
Fotoroman.“ Man konnte Marc Franchon den Verdruss deutlich ansehen,
den er empfand. „Wie gesagt, die Auslandsgeschäfte lagen zum großen
Teil in Leos Händen und nun stehen wir ziemlich dumm da, wie Sie
sich denken können.“
Alain nickte. Er konnte sich denken, worauf das Ganze
hinauslief. Aber er war nicht sonderlich begeistert davon.
„Ich soll diesen Renard für Sie auftreiben, stimmt‘s?“
„So ist es.“
„Er ist erst seit gestern überfällig. Das ist eigentlich noch
kein Grund, einen Privatdetektiv zu beauftragen.“
„Unter normalen Umständen hätten Sie vielleicht recht. Aber es
kommen noch ein paar Dinge hinzu, die das Ganze in einem
merkwürdigen Licht erscheinen lassen.“
„Und was wäre das?“
„Ich gehe immer als Letzter aus dem Büro. So auch am Mittwoch.
Unten im Parkdeck beobachtete ich dann, wie Renard sich mit zwei
Kerlen herumstritt. Ich konnte leider nicht verstehen, was gesagt
wurde, weil ein Wagen vorbeifuhr. Aber eine freundliche
Unterhaltung war das nicht. Einer der beiden Kerle hatte eine
Pistole. Es sah aus wie ein Straßenraub oder so etwas. In diesen
finsteren Parkdecks kann man sich seines Lebens heute ja nicht mehr
sicher sein.“
Alain horchte auf.
„Was geschah dann?“, fragte er.
„Leo hat sie fertiggemacht, auch den mit der Waffe. Ein paar
geübte Schläge und die Kerle lagen im Dreck. Ich hatte bis dahin
keine Ahnung, dass er so etwas drauf hat. Leo ist dann ins Auto
gestiegen und davongebraust.“
„Und die Kerle?“
„Keine Ahnung. Ich habe zugesehen, dass ich ebenfalls in
meinen Wagen kam. Wie gesagt, ich hielt die beiden für
Straßenräuber und ich hatte keine Lust, ihr nächstes Opfer zu
werden.“
„Ich verstehe“, nickte Alain.
Franchon grinste.
„Ich bin nämlich nicht gerade sportlich, wenn Sie verstehen,
was ich meine.“
„Haben Sie die Gesichter gesehen?“
„Nur von einem. Der zweite Mann stand im Schatten.“
„Beschreiben Sie ihn!“
„Er hatte vielleicht Ihre Größe, Monsieur Boulanger. Ein paar
Zentimeter weniger, aber nicht viel. Blondes Haar, hoher
Stirnansatz. Ich habe ihn aber auch nur ganz kurz von vorne
gesehen.“ Er machte eine kurze Pause, dann fiel ihm noch etwas ein.
„Ach ja, er trug eine Lederjacke mit der Aufschrift Aigle.“
„Und was vermuten Sie nun?“, fragte Alain. „Eine Entführung?
Vielleicht waren es wirklich Straßenräuber.“
Franchon zuckte die Achseln.
„Möglich. Aber ich bin gestern bei seiner Wohnung gewesen.
Seine Vermieterin behauptete, niemanden zu kennen, der Leo Renard
heißt.“
„Waren Sie in der Wohnung?“
„Nein. Aber es war ein Schild angebracht, dass sie zu
vermieten sei. Außerdem ist sein Wagen abgemeldet.“
Alains Augen wurden schmal.
„Woher wissen Sie das denn?“
„Ich habe einen Bekannten bei der Zulassungsstelle. Ich
dachte, dass die Adresse vielleicht nicht mehr aktuell ist, die in
Renards Papieren steht und hoffte, so vielleicht an ihn
heranzukommen. Seine Wagennummer kenne ich ja, schließlich hat er
einen reservierten Platz auf dem Parkdeck.“
Alain nickte nachdenklich. Wenn man das alles zusammennahm,
dann war schon einiges merkwürdig an der Sache.
„Was glauben Sie, was passiert ist?“, fragte Alain.
Franchon zuckte mit den Schultern.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Irgendwelche
Lösegeldforderungen hat es bis jetzt nicht gegeben, aber das kann
ja noch kommen. Ich weiß nur, dass Leo verschwunden ist.“
„Haben Sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben?“
„Ja, habe ich. Aber Sie wissen doch besser als ich, was bei so
etwas herauskommt, Monsieur Boulanger. Und im Augenblick
unternehmen die noch gar nichts. Ein Mann, der den zweiten Tag
nicht ins Büro kommt! Die haben mich überhaupt nicht richtig ernst
genommen.“
Das konnte Alain sich lebhaft vorstellen.
„Okay“, murmelte er. „Ich werde sehen, was sich machen
lässt.“
„Am Geld soll es nicht liegen“, meinte Franchon.
„Gleichgültig, wie unverschämt Ihre Tagessätze auch sein mögen –
ein Mitarbeiter wie Leo Renard ist das auf jeden Fall wert!“
„Erwarten Sie trotzdem keine Wunderdinge von mir, Monsieur
Franchon!“
„Ich bin Realist.“ Und im nächsten Augenblick legte Franchon
dann eine Mappe auf den Tisch. „Das ist Renards Personalakte. Ich
denke, die werden Sie brauchen.“
4
„Ein ziemlich glatter Lebenslauf“, stellte Jeanette fest, als
sie in Renards Akte herumblätterte.
Alain, der den Inhalt bereits überflogen hatte, stand am
Fenster und blickte hinaus auf den klaren Himmel über der
Stadt.
Renard war Mitte vierzig, geboren in Vert le Petit als Sohn
eines Lastwagenfahrers und einer Verkäuferin. Seine Abschlussnoten
in der Schule lagen alle etwas über dem Durchschnitt, aber nicht so
sehr, dass es besonders aufgefallen wäre. Dann ein paar Jahre bei
der Armee und ein Studium an der Universität Paris-Dauphine –
Betriebswirtschaft und Fremdsprachen. Ein paar Jobs bei
verschiedenen Firmen folgten, die er in Fernost und in Nordafrika
vertrat. Seit drei Jahren arbeitete er für die Literarische Agentur
Franchon.
Zu den Unterlagen hatte Franchon vernünftigerweise auch eine
Fotografie gelegt. Das Bild war offenbar auf einer Party oder einem
Betriebsfest entstanden. Franchon hatte Renards Kopf mit Filzstift
eingekreist und auf der Rückseite des Fotos eine entsprechende
Anmerkung gemacht.
„Hast du vielleicht schon eine Idee, wo man da ansetzen
kann?“, fragte Jeanette, die die Mappe zuklappte und zurück auf den
Schreibtisch legte.
Alain drehte sich herum und zuckte die Achseln.
„Kein Mensch verschwindet einfach, ohne eine Spur zu
hinterlassen“, meinte der Privatdetektiv zuversichtlich.
„Genau das scheint hier der Fall zu sein, Alain.“
„Ja, und wenn da nicht diese zwei Kerle wären, die diesem
Renard zugesetzt hätten, dann könnte man auf die Idee kommen, dass
er von sich aus untergetaucht ist.“
„Aber warum, Alain?“
„Keine Ahnung. Wenn wir das wüssten, hätten wir ihn wohl auch
schon halb gefunden, schätze ich.“
5
Alain Boulanger hätte sich am liebsten ein paar Stunden aufs
Ohr gelegt, aber in diesem Fall hielt er es für besser, die
Recherchen gleich zu beginnen. Es war schon genug Zeit vergangen,
seit Leo Renard verschwunden war. Und die Spuren wurden bei einer
solchen Personensuche schneller kalt, als einem lieb sein
konnte.
Renard hatte im dritten Stock eines Reihenhauses gewohnt.
Gepflegter Altbau, ruhige Lage. Die Besitzerin wohnte im
Erdgeschoss und hieß Marthe Foissy. Sie war eine energisch wirkende
Dame in den Sechzigern, die Alain ihre Tür nur einen Spalt weit
öffnete und nicht im Traum daran dachte, die Kette zu lösen. Alain
konnte sie im Grunde verstehen. Sie hatte Angst vor Fremden, die an
ihrer Tür klingelten.
„Wer sind Sie?“, fragte sie. „Ich kaufe nichts an der Tür, und
versichert bin ich schon.“
„Mein Name ist Alain Boulanger. Ich bin Privatdetektiv.“
Ihre Augen verengten sich ein wenig. Aber es war ihr nicht
anzusehen, ob sie Alain glaubte oder nicht.
„Was Sie nicht sagen …“, murmelte sie kaum hörbar.
Alain verzichtete darauf, ihr seine Lizenz unter die Nase zu
halten. Er hatte es im Gespür, dass die Dame auf der anderen Seite
der Tür ihm vermutlich nur eine einzige Chance geben würde, ihr
überhaupt etwas zu zeigen. Und so zeigte Alain ihr stattdessen das
Foto von Renard.
„Kennen Sie den Mann?“
„Was ist mit ihm?“, fragte sie. „Hat er ein Verbrechen
begangen?“
„Er ist einfach nur verschwunden“, erwiderte Alain. „Und es
gibt ein paar Leute, die sich Sorgen um ihn machen.“
Sie schaute noch einmal hin. Aber Alain konnte das Gefühl
nicht loswerden, dass sie das wie jemand tat, der eine unangenehme
Verpflichtung erfüllt.
„Der in dem Kreis?“
„Ja.“
„Tut mir leid!“ Sie reichte das Foto durch den Spalt, und eine
Sekunde später hatte sie Alain die Tür vor der Nase zugemacht. Der
Privatdetektiv hörte noch, wie sie den Schlüssel herumdrehte. Er
zuckte mit den Schultern. Es war ihm nicht anders ergangen als Marc
Franchon, der offenbar am Tag zuvor ein ähnliches Erlebnis gehabt
hatte. Immerhin hatte Leo Renard Telefon und stand auch mit dieser
Adresse im Telefonbuch. Selbst wenn er umgezogen war, ohne jemandem
in der Franchon-Agentur etwas davon zu sagen, so hatte er doch ganz
sicher einmal hier gewohnt.
Merkwürdig, dass seine Vermieterin sich nicht daran erinnern
konnte.
Als Alain in Richtung seines Wagens ging, sah er in letzter
Sekunde etwas auf sich zufliegen. Reaktionsschnell hob er die Hand.
Ein Ball tropfte ab und sprang auf dem Asphalt auf. In ein paar
Metern Entfernung standen ein paar Jungen. Der Jüngste war noch
nicht in der Schule, der Älteste vielleicht zehn oder zwölf Jahre
alt. Sie warteten einen Augenblick lang ab und wirkten ziemlich
scheu. Alain nahm den Ball auf und spielte ihn zurück. Einer der
Jungen fing ihn auf.
Sie wollten sich wieder ihrem Spiel zuwenden, aber Alains
Stimme hielt sie davon ab.
„Wartet mal!“, rief er und kam zu ihnen heran. Sie schauten
ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Interesse an. „Spielt ihr
hier öfter?“
Einige der Jungen nickten. „Ja.“
Alain hielt ihnen das Foto von Renard hin.
„Kennt ihr diesen Mann?“
Sie sahen sich das Foto interessiert an und ließen es einmal
rundgehen.
„Der wohnt in dem Haus da vorne!“, meinte schließlich einer
der Jungen und deutete dabei auf das Haus, das Marthe Foissy
gehörte. „Ich weiß aber nicht, wie er heißt.“
„Schon gut“, erwiderte Alain. „Das macht nichts.“
„Meine Mutter sagt immer, dass das ein ziemlich komischer Mann
ist“, meldete sich ein Kleiner mit rotblonden Haaren und einem
offenen Schnürsenkel zu Wort.
Alain hob die Augenbrauen.
„Warum meint deine Mutter das denn?“
„Weil er nie grüßt. Und wenn man ihn was fragt, sagt er
nichts.“
„Habt ihr gestern auch hier gespielt?“
„Ja“, bestätigte ein anderer Junge.
„Habt ihr ihn gestern gesehen?“
„Nein.“
„Und vorgestern?“
„Auch nicht.“
Jetzt meldete sich wieder der Kleine zu Wort: „Sind Sie ein
Polizist?“
Alain lächelte. „So etwas Ähnliches.“
„Wollen Sie ihn verhaften?“
„Nein, nur etwas fragen.“
„Er ist aber nicht zu Hause.“
„Woher weißt du das?“
„Weil sein Wagen hier nicht herumsteht. Er fährt einen tollen
Mercedes. So wie der da vorne!“ Er deutete auf Alains 500 SL. „So
einen möchte ich auch mal haben.“
„Wie lange ist das schon her, dass du seinen Wagen nicht mehr
gesehen hast?“
Der Junge zuckte die Achseln.
„Die ganzen letzten Tage schon. Ich weiß nicht mehr
genau.“
Alain nickte.
„Okay, Jungs. Ihr seid gute Beobachter.“
Wenig später saß er wieder hinter dem Steuer seines
champagnerfarbenen Mercedes 500 SL. Noch einmal zu Marthe Foissy zu
gehen, um sie zu fragen, warum sie behauptete, Renard nicht zu
kennen, hielt er für wenig erfolgversprechend. Gegen eine solche
Festung anzurennen konnte kaum etwas einbringen.
So führte ihn sein Weg zunächst zu seinem Freund Paul Dubois,
den recht korpulent geratenen Commissaire der Mordkommission
Paris-Mitte. Die beiden Männer kannten sich seit Jahren, und wenn
es irgendwie ging, half der eine dem anderen aus der Klemme, sofern
es in seiner Macht stand. Beide Seiten hatten ihren Vorteil von
dieser Zusammenarbeit. Boulanger hatte auf diese Weise Zugang zu
den Laboren und Archiven der Polizei, während Dubois umgekehrt auf
die Hilfe des Privatdetektivs zählen konnte, wenn es galt, auch
dort noch nach Informationen zu grasen, wo sich für die Polizei
fast wie automatisch die Türen schlossen.
Als Alain im Dienstgebäude ankam, bekam er von einem
Polizisten die Auskunft, dass Dubois nicht an seinem Schreibtisch,
sondern in einem Bistro in der Nähe sei.
„Soll ich den Commissaire vielleicht über seinen Pieper
rufen?“, grinste Commissaire Brionne. Er war ziemlich lang und
schlaksig und hatte auf dem Kopf ein Knäuel ungebändigter dunkler
Locken. Alain kannte auch ihn ganz gut.
„Bloß nicht!“, erwiderte Alain. „Ich will ihn ja nicht schon
verärgern, bevor ich ihn um einen Gefallen gebeten habe!“
Darüber konnte Brionne herzhaft lachen.
Wenig später traf Boulanger seinen Freund Dubois dann in einem
Bistro vor seinem zweiten Frühstück sitzen. Das meiste davon hatte
er allerdings bereits gegessen.
„Hallo, Paul.“
Dubois blickte auf.
„Sieht man dich auch mal wieder? Wenn du mich schon bis
hierher verfolgst, dann bist du sicher nicht nur wegen unserer
Freundschaft gekommen.“ Der Commissaire deutete auf einen freien
Stuhl, während er sich den letzten Bissen hineinschob und dann mit
der Serviette den Mund abwischte.
„Setz dich!“, knurrte er.
„Es geht um einen Mann, der verschwunden ist. Er heißt Leo
Renard. Ich habe auch ein Bild von ihm.“
Alain erläuterte Dubois den Fall, und dieser zuckte
schließlich mit seinen breiten Schultern. „Alain, ich bin
Commissaire des Morddezernats, nicht der
Vermisstenabteilung.“
„Ich weiß, Paul.“
„Hast du schon mal seine Angehörigen durchgecheckt?“
„Er scheint keine zu haben. Jedenfalls keine, die noch leben.
Seine Eltern sind tot, Geschwister hatte er nicht und verheiratet
war er auch nie.“
Paul hob die Augenbrauen. „Eine Entführung?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Vielleicht hatte er auch einfach die Nase voll von seinem
Job. Was glaubst du, wie vielen Menschen plötzlich einfällt, ihren
Urlaub eigenmächtig zu verlängern, oder die auf einmal ihre Sachen
packen und auf Nimmerwiedersehen in eine andere Stadt ziehen? Und
nach so kurzer Zeit würde ich mir an deiner Stelle ohnehin noch
keine großen Sorgen machen.“
„Mein Auftraggeber macht sich aber welche.“ Alain zuckte die
Achseln. „Kann ja auch sein, dass das Ganze am Ende doch in dein
Ressort fällt, Paul.“
„Mord?“
„Ich möchte, dass du dich ein bisschen umhörst, ob dieser
Renard vielleicht aus der Seine gefischt wurde oder in irgendeiner
Leichenhalle aufgebahrt liegt.“
Alain reichte Dubois ein Foto. Der Commissaire warf einen
kurzen Blick darauf und steckte es dann mit einem hörbaren Seufzen
ein.
„Okay“, meinte er. „Ich werde sehen, ob ich etwas tun
kann.“
„Und dann sind da noch diese Kerle, die Renard im Parkhaus
fertiggemacht hat.“ Alain reichte Dubois einen Zettel. „Ich habe
hier eine kurze Beschreibung von einem der beiden.“
„Und was ist mit dem anderen?“
„Den konnte mein Auftraggeber nicht genau erkennen. Wenn du
nichts dagegen hast, werde ich mit ihm in nächster Zeit mal bei dir
aufkreuzen, damit er sich die Fotosammlung in der Verbrecherkartei
ansehen kann. Wenn er aktenkundig ist, könnte das einen brauchbaren
Hinweis ergeben.“
„Meinetwegen, Alain.“
In dieser Sekunde meldete sich Dubois‘ Pieper. Der Commissaire
seufzte.
„Ich hoffe nicht, dass es Arbeit gibt“, meinte er. Aber
insgeheim wusste er natürlich, dass es genau das bedeutete.
Entweder gab es eine wichtige Spur in einem der ungelösten Fälle,
die sich als Akten auf seinem Schreibtisch stapelten – oder er
musste in Kürze eine neue Akte anlegen. Dubois hoffte auf
Ersteres.
6
Boulangers nächste Station war das Büro der Literarischen
Agentur Franchon. Er wollte sich bei den Mitarbeitern umhören und
geriet als Erstes an ein grazil gewachsenes Wesen mit Pagenkopf
namens Madame Seffre, das in dem lindgrünen, eng geschnittenen
Kleid sehr zerbrechlich wirkte.
„Sie sind sicher Boulanger, der Privatdetektiv, den der Chef
engagiert hat“, schloss Madame Seffre. Ihr Lächeln war
geschäftsmäßig.
„Richtig“, nickte Alain.
„Nun, um ehrlich zu sein, werde ich Ihnen kaum etwas über Leo
Renard erzählen können.“
„Aber Renard ist seit drei Jahren hier beschäftigt“, gab Alain
zu bedenken.
Madame Seffre nickte und blies sich dann eine Strähne aus den
Augen.
„Und ich seit vier Jahren“, säuselte sie. „Sein Schreibtisch
ist da drüben, und trotzdem weiß ich so gut wie nichts über ihn –
außer, dass er verschiedene Sprachen beherrscht. Deshalb war er
auch wohl immer besonders erfolgreich.“
Alain nickte.
„Es macht was aus, wenn man einen Kunden in seiner
Muttersprache anspricht – meinen Sie das?“
„Ja, genau.“
„Haben Sie mal gesehen, wo er wohnt?“
„Nein.“
„Haben Sie sich irgendwann einmal mit ihm über Persönliches
unterhalten? Was es auch immer es ist, es kann wichtig sein.“
Sie zuckte die Achseln und schüttelte dann auf eine Weise den
Kopf, der ihren Pagenkopf um eine halbe Sekunde zeitverzögert mit
herumschwenken ließ.
„Nein“, sagte sie. „Wissen Sie, er war ziemlich kontaktscheu.
Wenn man ihn etwas gefragt hat, was mit ihm selbst zu tun hatte,
wich er immer schnell auf allgemeines Terrain aus. Wenn er zu
irgendwelchen Partys eingeladen wurde, kam er meistens nicht. Seine
Begründungen waren immer ein bisschen an den Haaren herbeigezogen,
aber warum sollte ich mich darum kümmern? Schließlich kann ja jeder
leben, wie er will, oder finden Sie nicht?“
„Natürlich“, murmelte Boulanger.
Nur machte Leo Renards Lebensweise es nicht gerade einfach für
einen Privatdetektiv, seine Spur aufzunehmen oder sich überhaupt
nur ein Bild von ihm zu machen. Alles blieb seltsam blass. Da war
eine Fotografie auf einem Betriebsfest. Und das war‘s schon. Ein
Mann ohne Ecken und Kanten. Ohne Profil, ohne Unverwechselbares.
Das einzig Außergewöhnliche schienen seine Sprachkenntnisse zu
sein.
Madame Seffre atmete tief durch.
„Die einzige, die etwas mehr mit ihm zu tun hatte, war
Caroline Arlons“, hörte Alain ihre Stimme. „Sie sitzt da hinten am
Fenster und telefoniert gerade. Fragen Sie sie mal!“
„Danke.“
Als Alain an Carolines Schreibtisch trat, bot sie Alain mit
ihren gestikulierenden Armen einen Platz an, während sie
gleichzeitig den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte
und in einer Akte herumblätterte. Zwei Minuten später war sie damit
fertig und reichte Alain die Hand.
Alain stellte sich vor und kam gleich zur Sache: „Man hat mir
gesagt, Sie hätten am meisten mit Leo Renard zu tun gehabt.
Vielleicht wissen Sie ja etwas, das mir hilft, ihn zu
finden.“
Caroline Arlons musterte Alain einen Augenblick lang mit ihren
meergrünen Augen. Sie war eine hübsche Frau. Ein Typ, der Alain
gefallen konnte. Aber im Augenblick hatte er sich auf anderes zu
konzentrieren. Caroline beugte sich etwas vor und zuckte die
Achseln.
„Wir sind mal miteinander ausgegangen“, berichtete sie dann.
„Aber über sich selbst hat er nie viel geredet.“
„Ja, das sagte mir Ihre Kollegin Seffre schon. Gab es
vielleicht eine Frau in seinem Leben?“
Caroline zögerte eine Sekunde und schüttelte dann den Kopf.
„Nein.“
„Sie haben gezögert.“
„Ja. In der ersten Zeit, als er hier war, hatte ich die
Vermutung, dass er in festen Händen wäre. Aber mir scheint, das war
ein Irrtum.“
„Waren Sie mal in seiner Wohnung?“
„Ja, einmal. Und nur sehr kurz. Es war an dem Tag, als wir ins
Theater fuhren. Er hatte irgendetwas zu Hause vergessen, deshalb
sind wir bei ihm vorbeigefahren. Erst wollte er mich nicht mit
hinaufnehmen, aber ich habe ihn etwas gedrängt.“ Ein Lächeln ging
über ihre vollen Lippen. „Es interessierte mich einfach, wo Leo zu
Hause war.“
„Wann war das?“
„Schon ein paar Wochen her.“
„Aber es war dieselbe Adresse, die in seinen Unterlagen
steht?“
„Ja.“
„Haben Sie eine Ahnung, weshalb seine Vermieterin jetzt
behauptet, Renard nicht zu kennen?“
Auf Carolines Stirn bildeten sich ein paar Falten.
„Nein“, meinte sie, „ich habe keine Ahnung. Diese Frau machte
zwar einen etwas schrulligen Eindruck, aber …“
Alain hob die Augenbrauen.
„Sie haben die Dame mal getroffen?“
„Ja. Sie begegnete uns auf der Treppe.“ Caroline zuckte die
Achseln. „Ich glaube nicht, dass das Zufall war. Vermutlich sitzt
die Frau den ganzen Tag herum und hat nichts Besseres zu tun, als
andere Leute zu beobachten. Warum sie jetzt lügt, weiß ich
nicht.“
„Tun Sie mir einen Gefallen?“
„Welchen?“
„Kommen Sie mit mir und stellen Sie Madame Foissy einmal diese
Frage! Sie kann Ihnen gegenüber unmöglich Ihre Behauptung aufrecht
erhalten, Leo nicht zu kennen.“
Sie überlegte kurz. Dann nickte sie.
„Nach Büroschluss?“
„Okay. Ich hole Sie ab!“
7
Als Alain zurück in seinem Büro in seiner Residenz war, hatte
Jeanette eine interessante Neuigkeit für ihn auf Lager.
„Ich habe spaßeshalber mal ein bisschen in Renards Lebenslauf
herumgestöbert und mich bei seinem ehemaligen Gymnasium in Vert le
Petit erkundigt, ob man dort noch einen Leo Renard kennt.“
„Und?“
„Sie hatten dort einen Schüler mit diesem Namen. Auch in den
Jahrgängen, die Renard in seinem Lebenslauf angegeben hat, den er
bei seiner Bewerbung für die Franchon-Agentur abgab.“
Alain hob die Augenbrauen.
„Na und? Dann scheint doch alles in Ordnung!“
„Ich habe noch etwas herumtelefoniert und die Spur dieses Leo
Renard zu verfolgen versucht. Er verpflichtete sich bei der Armee
und starb mit zweiundzwanzig bei einem Verkehrsunfall.“
Alain pfiff durch die Zähne.
„Mit anderen Worten, an unserem Kandidaten ist etwas
faul.“
„Ja. Der Mann, den Monsieur Franchon in seiner Agentur
angestellt hat, ist nicht Leo Renard.“
„Hast du mal seine Studienjahre unter die Lupe
genommen?“
„Das mache ich noch.“
„Viel Glück dabei. Leute, die Japanisch belegt haben, dürften
ja nicht allzu häufig sein.“
Jeanette stand auf und ging zur Kaffeemaschine, um sich eine
frische Tasse einzuschenken.
„Du auch?“, fragte sie an Alain gerichtet.
„Nichts dagegen“, meinte er, obwohl er jetzt hellwach war. Die
Gefahr, plötzlich einzuschlafen, bestand nicht mehr. Diese Sache
begann immer mysteriöser zu werden, je weiter er und seine
Mitarbeiterin darin herum bohrten.
Leo Renard – oder wie immer sein wirklicher Name auch sein
mochte – hatte begonnen, Alain zu interessieren.
Jeanette reichte ihm eine Tasse.
„Eine falsche Identität“, murmelte Alain. „Wenn sich das
bestätigt, dann passt das zu einer anderen Vermutung.“
„Und welcher?“
„Dass dieser Renard offenbar nicht entführt wurde, sondern
untergetaucht ist.“
Jeanette zuckte die schmalen Schultern.
„Fragt sich nur, warum. Vielleicht war Renard ein Zeuge oder
so etwas, dem man später eine einigermaßen plausible Legende
verpasst.“
„Ja, wäre möglich.“
„Oder er war Geheimdienstler.“
„Dann fragt sich, für wen er gearbeitet hat.“
„Und warum er so Hals über Kopf verschwunden ist.“
Zehn Minuten später kam der Anruf von Paul Dubois …
8
Es war an einem der Kais, die in die Seine hineinragten. Schon
aus einiger Entfernung konnte man sehen, dass hier etwas passiert
war. Streifenwagen der Polizei und einige Zivilfahrzeuge standen
herum. Als Alain diesen Ort erreichte, kam gerade der Leichenwagen.
Ein paar Schaulustige standen auch herum. Alain stellte seinen
champagnerfarbenen Mercedes irgendwo an der Seite ab und hörte dann
einen Augenblick lang den Gesprächen der Leute zu. Ein Angler hatte
demnach einen nicht ganz alltäglichen Fang gemacht. Eine Leiche,
eingerollt in einen Perserteppich.
Alain ließ den Blick ein wenig schweifen und hatte wenig
später Commissaire Dubois entdeckt.
Einer der Uniformierten versuchte, Alain zurückzuhalten, aber
der Privatdetektiv zeigte seinen Ausweis.
„Der Commissaire erwartet mich“, erklärte er dazu.
Der Uniformierte nickte.
„Gehen Sie nur, Monsieur Boulanger! Tut mir leid, aber das
konnte ich Ihnen nicht ansehen.“
„Macht ja nichts.“
Und dann war Alain wenige Sekunden später am Kai. Les
Commissaires Dubois und Brionne standen rechts und links von der
Leiche. Der Arzt war gerade fertig und machte sich davon, während
sich nun einer von der Spurensicherung an dem Toten zu schaffen
machte.
„Hallo, Alain. Das ging ja schnell“, meinte Dubois. Er deutete
auf die Leiche. Es war ein Mann mit blonden Haaren und hohem
Stirnansatz. „Auf seinem Rücken steht Aigle!“, meinte der
Commissaire. „Ist das der Kerl, von dem du mir eine Beschreibung
mitgegeben hast?“
Alain nickte.
„Könnte sein. Ich habe Franchon Bescheid gesagt. Er müsste
gleich hier sein und kann es dann genauer sagen.“
Und Franchon kam tatsächlich. Einer der Uniformierten
begleitete ihn.
„Der Mann hier will unbedingt zu Ihnen, Monsieur
Dubois!“
„Schon gut!“, rief Dubois.
Marc Franchons Blick wandte sich zunächst an Alain. Erst dann
blickte er auf die Leiche. Er hatte so etwas offenbar noch nie
zuvor gesehen, deshalb schaute er nur ganz kurz hin und wandte
anschließend den Kopf zur Seite. Franchon schluckte.
Er war ein hartgesottener, mit allen Wasser gewaschener
Geschäftsmann, aber das ging offenbar doch ein bisschen über das
hinaus, was er vertragen konnte.
„Ist das der Mann, Monsieur Franchon?“, fragte Alain.
Franchon nickte. Er brauchte zwei Sekunden, ehe er ein mattes
„Ja“ nachschieben konnte.
„Sind Sie sicher?“
„Absolut.“ Er blickte Alain fragend an. „Was hat das zu
bedeuten, Monsieur Boulanger?“
„Ich habe bis jetzt keine Ahnung. Aber ich werde es
herausfinden.“
„Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie mir bitte Bescheid, Monsieur
Boulanger!“
„In Ordnung“, nickte Alain.
Franchon öffnete seinen Krawattenknoten und den ersten
Hemdknopf und schnappte nach Luft. „Sie entschuldigen mich jetzt
sicher.“ Und damit ging er davon.
„Eine Leiche, die eine Weile im Schmuddelwasser der Seine
gelegen hat, ist nichts für zarte Gemüter“, brummte Dubois.
Alain hob die Augenbrauen.
„Wie heißt der Mann?“
Dubois hob die Arme und nahm Alain ein bisschen zur Seite.
„Er hat nichts bei sich, was auf seine Identität hinweisen
könnte. Keinen Pass, nicht einmal Etiketten in den Kleidern.“
„Und wie ist er gestorben?“
„Genickbruch“, murmelte der Commissaire. „Wenn du mich fragst:
Da wusste jemand ziemlich gut, wie man tötet, ohne Geräusche zu
verursachen oder sich schmutzig zu machen.“
„Ein Profi?“
„Kann ich nicht ausschließen“, erwiderte der Commissaire und
zuckte dabei die Schultern.
„Jedenfalls wirst du jetzt nicht umhin kommen, dich ebenfalls
um Leo Renard zu kümmern, Paul“, gab Alain zurück.
„Ich fürchte, du könntest recht haben“, nickte Dubois.
Renard war möglicherweise ein wichtiger Zeuge in dieser Sache.
Oder sogar der Mörder.
9
„Wenn ich so darüber nachdenke, war Leo ein ziemlich komischer
Kauz“, meinte Caroline Arlons, später, als sie neben Alain auf dem
Beifahrersitz des 500 SL saß. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich
spreche schon in der Vergangenheit von ihm. Als ob er tot
wäre.“
„Vielleicht ist er das auch“, meinte Alain.
„Ist das Ihr Ernst?“
„Ich kann keine Möglichkeit ausschließen.“
Als Alain den Mercedes an einer Kreuzung kurz anhalten musste,
fingerte er ein Foto aus seiner Jackentasche, das von der
Seine-Leiche gemacht worden war. Caroline nahm das Foto und
betrachtete es stirnrunzelnd.
„Wer ist das?“
„Haben Sie ihn irgendwann schon einmal gesehen?“
„Hat er etwas mit Leo zu tun?“
„Möglich.“
„Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne.“
„Was heißt das: Ich glaube nicht?“
Sie sah noch einmal auf das Bild. Anstatt Boulanger zu
antworten, fragte sie: „Er ist tot, nicht wahr?“
„Ja.“
Sie gab Alain das Bild zurück.
„Und wie hängt das mit Leo zusammen?“, fragte sie.
Darauf konnte Alain ihr auch keine Antwort geben. Noch nicht.
Aber einen Zusammenhang zwischen den beiden musste es geben.
Wenig später parkte Alain den 500 SL vor Marthe Foissys Haus.
Sie stiegen aus, und Alain meinte an seine Begleiterin gewandt:
„Versuchen Sie mal Ihr Glück!“
Sie nickte.
Aber auch für sie öffnete sich die Haustür nur einen Spalt
weit.
„Erinnern Sie sich an mich?“, fragte Caroline. „Ich war mit
Monsieur Renard hier. Wir sind zusammen oben in seine Wohnung
gegangen.“
Marthe Foissys Blick ging von Caroline zu Alain, der zwei
Schritte hinter ihr stand.
„Sie schon wieder? Ich werde die Polizei rufen!“, zischte sie
dem Privatdetektiv zu.
Boulanger blieb gelassen.
„Die wird ohnehin vielleicht bald zu Ihnen kommen“, stellte er
fest. „Denn Monsieur Renard könnte in einer Mordsache ein wichtiger
Zeuge sein.“ Alain ließ das erst einmal ein paar Sekunden wirken.
Und tatsächlich tat sich in ihren Gesichtszügen etwas. Marthe
Foissy wirkte jetzt nachdenklich. „Was ist nun? Wollen Sie auch
dieser Frau gegenüber noch behaupten, hier hätte nie ein Mann
namens Leo Renard gewohnt? Madame Arlons kann das Gegenteil
bezeugen. Und die Polizei wird das sehr merkwürdig finden.“
Die Hausbesitzerin atmete tief durch. Es war ihr anzusehen,
dass sie sich in diesem Moment alles andere als wohl in ihrer Haut
fühlte. Schließlich öffnete sie die Tür ganz und meinte: „Kommen
Sie herein! Alle beide!“
Alain und Caroline folgten ihr. Dann blieb Marthe Foissy
plötzlich stehen und sagte: „Also gut, hier hat tatsächlich ein
Monsieur Renard gewohnt.“
„Bis wann?“, fragte Alain. „Wann haben Sie ihn das letzte Mal
gesehen?“
„Das war“, sie überlegte einen Moment lang, „… am
Mittwochmorgen! Letzten Mittwoch, bevor er zur Arbeit fuhr.
Gewöhnlich fuhr er jedenfalls um diese Zeit zur Arbeit, wohin er an
jenem Tag gefahren ist, weiß ich nicht.“
„Hat er irgendetwas gesagt?“
„Er hat gesagt, dass Leute nach ihm fragen würden und ich
sagen sollte, dass ich ihn nicht kennen würde. Aber ich konnte ja
nicht ahnen, dass er in eine Mordsache verwickelt ist.“
Alain nickte langsam. Vermutlich hatte Renard der Dame ein
paar Scheine für ihre Dienste angeboten.
„Okay“, murmelte er.
„Es war übrigens vor Ihnen schon einmal jemand da, der sich
nach Monsieur Renard erkundigt hat.“
Alain horchte auf.
„War das gestern?“ In dem Fall sprach sie von Marc
Franchon.
„Es waren zwei Männer. Einer war gestern hier, der andere kam
Donnerstag oder Freitag“, meinte sie und machte ein angestrengt
nachdenkliches Gesicht. „Ich weiß es nicht mehr genau.“
Alain zog indessen das Foto von der Seine-Leiche hervor.
„War dieser Mann vielleicht einer der beiden?“
Sie nahm das Foto und starrte angewidert darauf. Dann
schluckte sie und schüttelte energisch den Kopf, bevor sie das Bild
an Alain zurückreichte.
„Nein“, sagte sie. „Der war es bestimmt nicht. Er sah ganz
anders aus.“
„Beschreiben Sie ihn!“
„Welchen?“
„Den, der zuerst kam. Donnerstag oder Freitag.“
„Er trug ein braunes Jackett. Aber eins von der ganz edlen
Sorte, wie man ihn nur selten sieht.“
„Und sonst noch?“
„Dunkle Haare hatte er. Und am Handgelenk trug ein Kettchen,
mit dem er dauernd herumspielte. Er hat mich ganz nervös damit
gemacht.“
„Was haben Sie ihm gesagt?“
Sie zuckte die Achseln.
„Dasselbe wie Ihnen!“
„Und? Hat er es Ihnen geglaubt?“
„Jedenfalls ist er nicht wiedergekommen.“
Das war ein Argument.
„Können Sie uns Renards Wohnung zeigen?“, fragte Alain.
Marthe Foissy musterte den Privatdetektiv kurz, bevor sie
schließlich nickte. Begeistert war sie nicht. Aber sie stimmte
trotzdem zu.
„Kommen Sie!“, forderte sie und ging voran.
Viel gab es in Renards Wohnung nicht zu sehen. Sie wirkte wie
geleckt. Und nirgends gab es etwas, dass auf Leo Renard hinweisen
konnte. Alles war leergeräumt und sauber gewischt.
„Er war ein vorbildlicher Mieter“, kommentierte Marthe Foissy.
„Auch, als er ging. Er hat die Wohnung in hervorragendem Zustand
hinterlassen.“
„Waren das seine Möbel?“, fragte Alain.
„Die Wohnung war möbliert.“
„Verstehe. Wann hat Renard seine Sachen aus der Wohnung
genommen?“
„Keine Ahnung. Das ist mir auch ein Rätsel. An dem Morgen, als
ich ihn zum letzten Mal sah, hatte er nur sein Diplomatenköfferchen
bei sich.“
Der Zustand der Wohnung sah nicht danach aus, als wäre Renard
in großer Eile auf und davongegangen. Er konnte unmöglich eines
Morgens ins Auto steigen und dabei seinen gesamten Hausrat
mitnehmen, ohne dass das auffiel. Vielleicht hatte er die Sachen in
der Nacht zuvor verschwinden lassen.
Alain untersuchte den Boden. Überall in der Wohnung war
Teppichboden, außer in Bad und Küche.
„Wonach suchen Sie?“, fragte Caroline.
„Nach Spuren“, erwiderte Alain. „Spuren eines Teppichs. Wenn
ein Teppich länger auf derselben Stelle liegt, ist der Bodenbelag
darunter oft weniger verschossen.“
Aber Alain fand keine solche Stelle in Renards Wohnung. Der
Privatdetektiv wandte sich noch einmal an Caroline Arlons.
„Wissen Sie, ob Renard hier einen Perserteppich hatte?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Als ich hier war, lagen in der Wohnung keinerlei Teppiche“,
sagte Caroline. „Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich dachte nämlich
noch, dass so etwas hier gut hinpassen würde.“
„Erinnern Sie sich noch an irgendwelche persönlichen Dinge von
Renard?“
Sie schien nachzudenken und zuckte dann nach kurzer Pause die
Schultern.
„Nein“, meinte sie. „Eigentlich war da nichts Besonders. Alles
schien mir ziemlich unpersönlich zu sein.“ Sie machte eine Pause.
„Ein paar Zeitschriften lagen da herum.“
„Welche Zeitschriften?“
„Eine von denen mit Riesenbrüsten auf dem Cover. Playboy oder
Lui, glaube ich. Daneben eine Ausgabe der Militär & Geschichte.
Das hat mich etwas gewundert, denn er machte mir nie den Eindruck,
sich für derartiges zu interessieren.“
Als Alain und Caroline eine Viertelstunde später wieder
nebeneinander in dem champagnerfarbenen 500 SL saßen, wirkte sie
ziemlich schweigsam. Alain brachte sie in die Rue Domat, wo der
Büroturm stand, in dem auch Marc Franchon und seine Agentur ihre
Büros hatten. Caroline hatte ihren Wagen noch auf dem Parkdeck
stehen und deshalb sollte Alain sie hier absetzen. Bevor sie
ausstieg, fragte sie Alain noch einmal nach dem Foto von dem
Blonden, den Dubois‘ Leute aus der Seine geholt hatten. Alain gab
es ihr. Sie nahm es, warf noch einen Blick darauf und nickte dann.
„Ich kann mich täuschen, aber vielleicht habe ich diesen Mann doch
schon einmal gesehen.“
„Wo war das?“, hakte Alain nach.
„Auf dem Flur vor den Büros der Agentur Franchon, glaube ich.
Er fiel mir auf, weil er dort herumstand und in einer Zeitung
blätterte. Ich dachte gleich, dass der irgendwie nicht dorthin
passt.“
„Wissen Sie noch, wann das war?“
„Letzte Woche. Ein oder zwei Tage, bevor Leo in Urlaub
ging.“
„Ich danke Ihnen.“
Sie zuckte die Achseln. „Ich hoffe, Sie können damit etwas
anfangen.“
„Vorher weiß man das leider selten!“
Sie zögerte, bevor sie ausstieg. Irgendetwas lag ihr noch auf
der Seele. Sie wandte sich zu Alain herum und fragte schließlich:
„Was glauben Sie, ist mit Leo passiert?“
„Ich werde bezahlt, um das herauszufinden“, erwiderte
Alain.
„Wissen Sie, ich mag ihn. Leider hat er das nie erwidert.
Jedenfalls nicht so, wie ich es gerne gehabt hätte. Trotzdem, er
ist ein feiner Kerl – auch wenn ihn viele wegen seiner etwas
verschlossenen Art nicht verstanden haben.“
Alain hob die Augenbrauen.
„Haben Sie ihn denn verstanden?“, fragte er.
Caroline schüttelte den Kopf.
„Ich fürchte nein. Aber was rede ich hier eigentlich? Das
interessiert Sie bestimmt nicht.“
Alain lächelte verbindlich.
„Mich interessiert alles, was mit Leo Renard zu tun hat. Und
wenn es noch so beiläufig scheint. Ein Mann verschwindet nicht so
einfach und löst sich in Luft auf. Es muss etwas mit seinem Leben
zu tun haben.“ Oder mit seinem Doppelleben, setzte Alain in
Gedanken hinzu.
Sie zuckte nachdenklich die Schultern.
„Ist doch merkwürdig, nicht? In dem Moment, in dem jemand
verschwindet, stellt man fest, dass man so gut wie nichts über ihn
weiß. Nichts Wesentliches jedenfalls. Ich könnte Ihnen jetzt sagen,
dass er ein hervorragendes Gedächtnis hat und alle Telefonnummern
auswendig kennt, die für ihn wichtig sind.“
„Er ist wohl ziemlich korrekt.“
„Das ist er. Und sehr beherrscht. Das einzige Mal, dass ich
ihn unbeherrscht erlebt habe, das war, als uns auf der Autobahn so
ein Verrückter bei einem Überholmanöver fast in die Leitplanken
gedrängt hatte.“ Sie lächelte. „Aber er hatte sich immerhin noch so
gut in der Gewalt, dass er sich die Autonummer merken und den Kerl
nachher anzeigen konnte.“
„Sind Sie doch öfter mit ihm unterwegs gewesen?“
„Das war dienstlich, Monsieur Boulanger. Wir waren gemeinsam
bei einem Verlag, um über die Gestaltung eines Bildbandes zu
sprechen.“ Sie sah Alain auf einmal fragend ab. „Glauben Sie, dass
Leo noch lebt?“
10
„Wir haben unsere Karteien auf den Kopf gestellt und überall
angefragt, wo es nur halbwegs erfolgversprechend sein könnte“,
dröhnte Paul Dubois, irgendwann gegen Mittag des nächsten Tages,
als Alain Boulanger den Commissaire in seinem Büro aufgesucht
hatte. Boulanger hatte auf einem Stuhl Platz genommen, sich eine
Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und hörte gelassen zu.
Viel war es nicht, was Dubois vorzuweisen hatte. Das, was der
Commissaire seinem Freund präsentierte, konnte diesem nicht
gefallen.
„Mit anderen Worten“, schloss Alain schließlich zwischen zwei
Zigarettenzügen, „über den Blonden mit der Aigle-Jacke wissen wir
nichts.“
„So ist es“, nickte Dubois. „Und sein Mörder hat dafür
gesorgt, dass es uns so schwer wie möglich gemacht wird.“
„Was ist mit der Jacke?“, fragte Alain. „Auch wenn die
Etiketten herausgeschnitten sind, müsste man doch herausfinden
können, wo sie gekauft wurde.“
Dubois nickte.
„Du hast recht. Diese Jacke ist nicht gerade alltäglich – und
vor allem wohl auch ziemlich teuer gewesen. Aber im Augenblick
setzen wir unsere Hoffnungen auf die Zähne dieses Mannes. Er muss
in letzter Zeit beim Zahnarzt gewesen sein. Und zwar in der letzten
Woche, allenfalls in der vorletzten.“
„Woher willst du das so genau wissen?“
„Die Leiche hatte ein Zinkkäppchen im Mund. Das ist eine Art
provisorische Krone, die aufgesetzt wird, um abzuwarten, ob sich
der Nerv entzündet und gezogen werden muss. Stellt sich das nämlich
erst heraus, wenn das Gold bereits im Mund ist, wird es teuer.
Diese Käppchen halten im Höchstfall ein paar Monate und sind oft
schon nach kurzer Zeit ziemlich zerbissen. Aber dasjenige, das man
im Mund der Leiche gefunden hat, war noch in gutem Zustand.“
Immerhin, dachte Alain. Vielleicht führt das ja weiter.
Dubois beugte sich etwas über den Tisch.
„Da ist noch eine andere Sache“, murmelte Dubois. „Dieser
Renard.“
„Hatte ich dir das noch nicht gesagt? Leo Renard ist schon
seit Jahren nicht mehr am Leben. Der Mann auf dem Foto hat seine
Identität angenommen.“
Dubois blickte nachdenklich drein und nickte dann entschieden.
„Das ergibt ein Bild“, meinte er dann. „Ich habe das Foto
nämlich scannen und vervielfältigen lassen.“ Während er das sagte,
holte er es aus einer Schublade heraus und gab es Alain zurück.
„Eine Rundum-Abfrage sozusagen. Krankenhäuser, Leichenhalle, etc.
…“
„Und?“
„Irgendjemand behindert die Ermittlungen, Alain. Plötzlich
macht es Schwierigkeiten, an bestimmte Daten heranzukommen. Wir
bekommen keine vernünftigen Auskünfte über diesen Mann. Ich weiß
noch nicht, woher der Wind da weht.“
Alain lehnte sich zurück.
„Willst du damit sagen, dass jemand von der Sûreté nationale
die Hand über diesen Renard hält?“
Die nationale Sicherheitspolizei also.
Das ergab Sinn.
Dubois sagte: „Ja, so ist es.“
„Was wirst du unternehmen, Paul?“
Dubois zuckte die Achseln.
„Jedenfalls werde ich nicht versuchen, mir an einer Mauer den
Schädel einzurennen! Wenn sich mein Verdacht bestätigt, sind meine
Möglichkeiten am Ende.“
„Klingt nicht gut!“
„Was soll ich machen, Alain?“
11
„Ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten keine Wunderdinge
erwarten“, sagte Alain Boulanger an Marc Franchon gewandt. Der
Agent saß hinter seinem Schreibtisch und machte ein ziemlich
missmutiges Gesicht. Er hob beschwichtigend die Hände.
„So war das auch nicht gemeint, Monsieur Boulanger!“
„Ich wollte Ihnen einfach nur darstellen, was ich inzwischen
weiß. Und es liegt nun an Ihnen, ob ich weitermachen soll.“
„Sie meinen, Renard ist aus eigenem Antrieb
untergetaucht.“
„Ja. Keine Entführung oder so etwas. Da bin ich mir fast
sicher.“
„Und der falsche Lebenslauf?“
„Ich weiß es nicht. Zeugenschutzprogramm vielleicht oder etwas
anderes, was auch in die Richtung geht.“
„Und woran denken Sie da?“
„Er war darauf getrimmt, sich Telefon- und Autonummern zu
merken. Er könnte ein Polizist gewesen sein. Oder ein Mann vom
Geheimdienst.“
„Ganz egal, wer oder was Renard ist! Er scheint mir in
Schwierigkeiten zu sein, und ich möchte, dass Sie ihn
finden.“
Alain zuckte die Achseln. „Meinetwegen“, brummte er.
12
Theo Villette arbeitete bei der Sûreté nationale, der
nationalen Sicherheitspolizei und besaß ein hübsches Haus in
Paris-Montrouge, wo er mit seiner Frau lebte.
Alain stellte seinen Mercedes am Rand der breiten Allee ab. An
beiden Seiten waren schlanke, hochaufragende Bäume, durch deren
Kronen der Wind raschelte.
Eine schöne Gegend, dachte Alain. Villette war eben ein Mann
von Geschmack.
Alain ging zur Haustür und klingelte. Eine Frau öffnete, die
auf ihrem Arm ein Baby trug, das den Privatdetektiv mit großen
Augen ansah. Die Frau kannte Alain nur von einem Foto, das Theo
Villette immer bei sich trug. Und das Kind war noch nicht auf der
Welt gewesen, als Alain Villette zum letzten Mal begegnet
war.
„Guten Tag. Mein Name ist Boulanger. Sie werden mich nicht
kennen, aber ich muss dringend mit Ihrem Mann sprechen.“
Ihr Blick war misstrauisch.
„Warten Sie einen Moment!“, sagte sie dann und verschwand. Als
sie zurückkehrte, hatte sie das Kind nicht mehr auf dem Arm. Sie
bat Alain herein und führte ihn in ein Wohnzimmer mit klobigen
Polstermöbeln und einem niedrigen Tisch aus Glas. „Setzen Sie
sich!“, sagte sie. „Mein Mann steht gerade unter der Dusche. Er
kommt aber gleich. Wollen Sie etwas trinken?“
„Danke, nein“, erwiderte Alain.
Es dauerte nicht lange, bis Villette den Raum betrat. Und bis
dahin herrschte mit wenigen Unterbrechungen ein verlegenes
Schweigen.
Theo Villette blieb in der Tür stehen. Er trug Jeans und
T-Shirt. Sein Haar war noch nicht ganz trocken. Villettes
Gesichtsausdruck blieb unbewegt. Nur seine Augen verengten sich ein
wenig.
„Tag, Monsieur Boulanger! Lange her, dass wir uns zum letzten
Mal gesehen haben.“
Der Privatdetektiv nickte.
„Seit der Rinaldo-Geschichte nicht mehr.“
Villette verzog das Gesicht zu einem etwas gezwungen wirkenden
Lächeln, trat an Alain heran und gab ihm die Hand.
„Das müssen drei oder vier Jahre her sein.“
„Könnte stimmen.“
Die Blicke der beiden Männer trafen sich einen Augenblick
lang. Dann sagte Villette: „Wir hätten Frank Rinaldo damals ohne
Ihre Hilfe nicht bekommen, Boulanger.“ Er lächelte.
„Wer ist dieser Rinaldo?“, fragte Villettes Frau.
„Ein Profi-Killer“, erklärte ihr Mann. „Sechs Morde konnte man
ihm vor Gericht nachweisen, aber es waren vermutlich mindestens
doppelt so viele.“ Villette atmete tief durch. „Ein paar von
unseren Leuten waren auch unter den Opfern.“
„Oh …“, machte seine Frau, die von der Story offenbar zum
ersten Mal hörte. Jedenfalls machte sie ein recht überraschtes
Gesicht.
Villette wandte sich wieder an Alain.
„Ich bin jetzt nicht mehr im Außendienst“, sagte er. „Ich
hatte die Nase voll. Ziemlich bald nach der Sache damals habe ich
mich versetzen lassen.“
„Und was machen Sie jetzt?“
„Jetzt schiebe ich an meinem Schreibtisch eine verhältnismäßig
ruhige Kugel und komme auf der Karriereleiter ganz gut
vorwärts.“
Alain verstand. Villette hatte inzwischen eine Familie
gegründet, und da war es sicher das Beste für ihn, nicht mehr jeden
Tag Kopf und Kragen zu riskieren.
Villette beugte sich etwas vor.
„Ich nehme an, Sie sind nicht einfach nur zum Vergnügen hier,
Boulanger.“
Alain hob die Schultern ein wenig.
„Nein, leider nicht“, murmelte der Privatdetektiv, während
Villettes Augen ein wenig schmaler wurden.
„Was wollen Sie?“, fragte er.
„Ein Gespräch unter vier Augen.“
„Meinetwegen.“
Madame Villette verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl. Als
sie den Raum verlassen hatte, sagte Alain: „Es geht um einen Mann,
von dem ich vermute, dass er vielleicht mal bei der Sûreté war.
Sein Name ist Leo Renard, aber dieser Name ist falsch. Es scheint,
als hätte er die Identität eines Toten angenommen.“
Villette runzelte die Stirn.
„Was ist mit diesem Mann?“
„Er ist vermutlich in Gefahr. Vielleicht lebt er auch schon
nicht mehr. Jedenfalls ist er wie vom Erdboden verschwunden. Kurz
zuvor hatte er eine handgreifliche Begegnung mit zwei Männern, die
ihn vielleicht entführen oder umbringen wollten.“
Villette hob die Augenbrauen.
„Und was kann ich jetzt dabei für Sie tun?“
„Ich brauche einen Tipp, wer hinter Renard her sein
könnte.“
Villette nickte.
„Und wie kommen Sie darauf, dass Renard in unserem Laden
gearbeitet hat?“
„Erst dachte ich, dass er vielleicht mal in einer heiklen
Sache Zeuge gewesen ist.“
„Und das denken Sie jetzt nicht mehr.“
„Renard konnte sich hervorragend Nummern merken. Von Telefonen
und Autos. Das riecht für mich nach Polizei.“
„Ein ehemaliger Undercover-Agent, der eine neue Identität
bekommen hat?“
„Zum Beispiel.“
„Aber wir borgen uns unsere Legenden nicht von Toten, Monsieur
Boulanger. Das sollten Sie wissen. Das machen wir weder bei Zeugen,
noch bei unseren eigenen Leuten.“
„Ja“, murmelte Alain. „Das hat mich auch gewundert.“ Er legte
das Foto von Renard auf den Tisch.
„Ist er das?“, fragte Villette unnötigerweise.
„Ja. Auf der Rückseite habe ich alles Wichtige über ihn
notiert.“
„Ich kann Ihnen nichts versprechen, Boulanger. Obwohl ich
Ihnen noch einen Gefallen schulde.“
„Aber Sie können es versuchen.“
Er sah Alain einen Augenblick lang an und seufzte dann.
„Okay“, meinte er. „Aber bitten Sie mich nie wieder um so eine Art
von Gefallen!“
„Versprochen“, erwiderte Alain.
Villette machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
13
Alain hatte die Hälfte des Weges zurück nach Paris-Mitte
hinter sich, da meldete sich Jeanette über das Autotelefon.
„Paul hat bei mir in der Agentur angerufen“, sagte sie. „Seine
Leute haben den Zahnarzt ausfindig gemacht, bei dem der Blonde vor
seinem Tod noch gewesen ist.“
„Na, großartig!“
„Warte, ich gebe dir die Adresse durch. Liegt in
Grenelle.“
Boulanger hatte an den Armaturen des 500 SL einen kleinen
Block, auf dem er mit einer Hand mitschrieb. „Okay“, murmelte er
dann. „Ist Paul schon unterwegs?“
„Ja, aber du wirst ihn sicher noch antreffen, wenn du dich
etwas beeilst!“
„Was ist mit Renard? Hast du noch etwas über ihn herausfinden
können?“
„Im Augenblick versuche ich herauszufinden, ob es an der
Universität Studenten gab, die Renards nicht gerade alltägliche
Sprachenkombination belegt hatten. Vielleicht kommen wir ihm so auf
die Spur.“
„Vielleicht war er gar nicht in Paris-Dauphine.“
„In dem Fall sieht es finster aus. Aber einen Versuch ist es
wert!“
Alain trat das Gaspedal des 500 SL durch und hoffte, dass im
Moment keine Streifen auf den Straßen patrouillierten. Als er dann
die Adresse erreichte, die Jeanette ihm genannt hatte, war Dubois
schon da. Alain sah es an dem Dienstwagen des Commissaires, der vor
der Praxis geparkt worden war. Die Sprechstundenhilfe wollte Alain
erst gar nicht vorlassen.
„Ich gehöre zu Commissaire Dubois“, murmelte Alain in
gedämpften Tonfall, während die Patienten im Wartezimmer
interessiert die Ohren spitzten.
„Dann ist das etwa anderes“, meinte daraufhin die
Sprechstundenhilfe. „Kommen Sie mit!“
Sie führte Alain einen kurzen Flur entlang und fragte dabei,
ob er ein Commissaire sei.
„Ermittler“, gab Alain zur Antwort. Dass er kein Mitglied der
Polizei war, erwähnte er natürlich nicht.
Der Zahnarzt hieß Mauvoison, machte einen ziemlich
schmächtigen Eindruck und trug eine ziemlich dicke Brille.
„Hallo, Alain“, dröhnte Dubois. „Ich bin auch gerade erst
gekommen.“
Mauvoison musterte Alain eine Sekunde lang. Dann sagte er:
„Wie gesagt, der Mann nannte sich Garnier. Robert Garnier. So hat
er es jedenfalls angegeben.“
„Haben Sie sich seine Papiere zeigen lassen?“, fragte
Dubois.
Mauvoison hob die Schultern.
„Warum sollte ich?“, fragte er. „Der Mann hat bar gezahlt.
Sein Zinkkäppchen hatte sich gelöst. Es war auch schon ziemlich
zerbissen. Er brauchte unbedingt ein neues, weil sonst auch noch
die Unterfüllung nach und nach herausgebrochen wäre.“ Mauvoison
zuckte die Achseln. „Eine Sache von wenigen Minuten.“
„Ist Ihnen noch irgendetwas an ihm aufgefallen? Hat er
vielleicht was gesagt?“
Dubois‘ Stimme klang nicht so, als ob er noch viel Hoffnung
hätte, hier auf eine heiße Spur zu treffen.
„Er sprach etwas seltsam“, berichtete Mauvoison.
„Ein Akzent?“, mischte sich Alain ein.
„Ja.“
„Haben Sie eine Ahnung, was für einer das gewesen sein
könnte?“
Mauvoison überlegte einen Moment, nahm dann die Brille ab und
rieb sich kurz die Augen. Dann sagte er: „Spanisch oder
Italienisch, wenn ich mich nicht völlig irre. Auf jeden Fall
ausländisch.“
Dubois seufzte. „Ich danke Ihnen“, knurrte er und wandte sich
zum Gehen.
Alain folgte ihm.
„Willst du nicht noch die Sprechstundenhilfe befragen,
Paul?“
„Das habe ich schon.“
„Und?“
„Die erinnert sich kaum noch an den Mann. Mehr als Dr.
Mauvoison wusste sie auch nicht.“
Wenig später waren sie bei den Wagen. Dubois wurde von der
Dienststelle angerufen. Er sagte nicht viel. Nur zweimal „Okay!“,
aber die Art, wie er das sagte, verriet, dass überhaupt nichts okay
war.
Alain trat zu ihm.
„Neuigkeiten, Paul?“
„Abwarten. In meinem Büro sitzt jemand und wartet auf mich.
Jemand von der Sûreté national.“ Dubois zuckte die Achseln. „Kann
sein, dass der Fall jetzt für mich zu Ende ist.“
14