4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Ein lastendes Geheimnis. Eine perfide Verschwörung. Eine Figur im Dunkeln, die auf Rache sinnt Lisa ist eine überfürsorgliche Mutter, ihre Tochter Ava muss sie allein erziehen. Vor einer neuen Liebe hat sie aber panische Angst. Und dann sind da die Erinnerungen, über die sie mit niemandem spricht, die Bilder von einem toten Kind. Auch Ava hat ein Geheimnis: keiner darf von ihrem neuen Freund wissen. Aber jemand scheint die beiden ganz genau im Blick zu haben. Ein Hausschlüssel verschwindet, Dinge gehen kaputt, im Radio läuft ein Lied, das Lisa aus der Fassung bringt. Denn es war ihr gemeinsames Lied - aus der Zeit, als Lisa jemand ganz anderes war. Sarah Pinborough schreibt perfekte Thrillerspannung für weibliche Leser Platz 1 in Großbritannien
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 521
Sarah Pinborough
Ein lastendes Geheimnis. Eine perfide Verschwörung. Eine Figur im Dunkeln, die auf Rache sinnt
Lisa ist eine überfürsorgliche Mutter, ihre Tochter Ava muss sie allein erziehen. Vor einer neuen Liebe hat sie aber panische Angst. Und dann sind da die Erinnerungen, über die sie mit niemandem spricht, die Bilder von einem toten Kind. Auch Ava hat ein Geheimnis: keiner darf von ihrem neuen Freund wissen. Aber jemand scheint die beiden ganz genau im Blick zu haben. Ein Hausschlüssel verschwindet, Dinge gehen kaputt, im Radio läuft ein Lied, das Lisa aus der Fassung bringt. Denn es war ihr gemeinsames Lied - aus der Zeit, als Lisa jemand ganz anderes war.
Sarah Pinborough schreibt perfekte Thrillerspannung für weibliche Leser
Platz 1 in Großbritannien
Sarah Pinborough, geboren 1972 in Buckinghamshire, hat sich in ihrer Heimat schon als Autorin von preisgekrönten Jugendromanen und von phantastischer Literatur einen Namen gemacht. «Sie weiß von dir», ihr erster Thriller, wurde sofort in fast zwanzig Länder verkauft und war ein internationaler Bestseller.
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Cross Her Heart» bei HarperCollins Publishers, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg // «Cross Her Heart» Copyright © 2018 by Sarah Pinborough
Redaktion Werner Irro
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg,
nach der Originalausgabe: Claire Ward © HarperCollinsPublishers Ltd 2018<br/>
Coverabbildung Umschlagabbildung: Peter Hatter/Trevillion Images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40584-4
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für Irvine, danke für dein Vertrauen!
Danach
Er
Miststück.
Er hält das Blatt so krampfhaft fest, dass sich die säuberlichen Zeilen auf dem Papier zu einem unregelmäßigen Zickzack verzerren. Manche Sätze werden dadurch verstümmelt, andere springen deutlich hervor, wie um ihn zu verspotten.
Ich kann nicht mehr.
Du bist zu jähzornig.
Du machst mir Angst, wenn du mir weh tust.
Ich liebe dich nicht mehr.
Die Welt gerät ins Wanken, er atmet schwer, während er den Text bis zum Ende überfliegt.
Komm nicht, um mich zu holen. Versuche nicht, mich zu finden. Versuche nicht, uns zu finden.
Er muss den Brief dreimal lesen, ehe er den Inhalt voll erfasst hat. Sie ist fort. Sie sind fort. Er weiß, dass es stimmt – er kann die frische Leere im Haus spüren –, hastet aber noch einmal durch die Zimmer, reißt leer geräumte Schränke und Schubladen auf. Da ist keine Spur mehr von ihr; kein Pass, kein Führerschein, keines jener wichtigen Dokumente, die den Rahmen ihres Lebens bilden.
Versuche nicht, uns zu finden.
Er kehrt zum Küchentisch zurück und zerknüllt den Brief, erstickt ihre Worte in seiner geballten Faust. Sie hat recht. Er ist jähzornig. Auch jetzt ist er außer sich vor Wut. Einer weiß glühenden, heiß lodernden Wut. Er starrt aus dem Fenster, mit dem zusammengeknüllten Brief in der schwitzigen Hand. Wodka. Er braucht Wodka.
Während er trinkt, keimt in ihm der Ansatz eines Plans auf und nimmt nach und nach Gestalt an.
Sie hat kein Recht, ihm das anzutun. Nicht nach allem, was sie zusammen durchgemacht haben.
Er wird sie dafür vernichten.
Jetzt
Lisa
«Alles Gute zum Geburtstag, Schatz», sage ich von der Tür aus. Es ist erst halb sieben, und ich bin noch ein wenig verschlafen, aber die Küche summt vor Teenagerleben. Es ist wie eine Welle, die mir entgegenbrandet. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so voller Energie gewesen zu sein. Es ist ein gutes Gefühl. Voller Hoffnung und Zuversicht.
«Du hättest nicht aufstehen müssen, Mum. Wir sind doch schon auf dem Sprung.» Sie kommt lächelnd auf mich zu und gibt mir einen Kuss auf die Wange, in eine Wolke von Apfelshampoo und rosa Deo gehüllt, doch sie wirkt müde. Vielleicht mutet sie sich zu viel zu. Ihre Abschlussprüfungen in Klasse zehn stehen bevor, und bei ihren Aktivitäten – mehrmals die Woche Schwimmtraining, morgens und abends, die ganze Zeit, die sie mit diesen Mädchen verbringt, die Schule natürlich – bekomme ich sie kaum noch zu Gesicht. Was auch völlig normal ist, wie ich mir immer wieder vor Augen halte. Sie wird eben erwachsen. Entwächst mir. Ich muss lernen, loszulassen. Aber es ist nicht leicht. So lange hieß es, wir zwei gegen den Rest der Welt. Jetzt ist es beinahe so weit, dass sie sich die Welt auf eigene Faust erschließt.
«Mein kleines Mädchen wird aber nicht alle Tage sechzehn.» Ich fülle den Wasserkessel und zwinkere ihr zu. Sie sieht Angela und Lizzie an und verdreht die Augen, aber ich weiß, dass es sie freut, dass ich noch immer morgens aufstehe, um sie zur Schule zu verabschieden. Sie ist groß geworden und trotzdem noch mein Baby. «Und außerdem», füge ich hinzu, «habe ich heute meine große Präsentation und muss früh los.»
Ein Handy summt. Die drei Köpfe senken sich über Displays, und ich wende mich wieder dem Kessel zu. Ich weiß, dass es einen Jungen namens Courtney in Avas Leben gibt. Erzählt hat sie mir noch nicht von ihm, aber ich habe eine SMS von ihm gesehen, letzte Woche, als sie ihr Handy auf dem Küchentisch hatte liegenlassen, was so gut wie nie vorkommt. Früher habe ich hin und wieder ihr Handy überprüft, aber inzwischen benutzt sie ein Passwort, und sosehr es mich auch schmerzt, muss ich zugeben, dass sie ein Recht auf Privatsphäre hat. Ich muss lernen, meiner aufgeweckten Tochter zu vertrauen. Darauf, dass sie so vernünftig ist, auf sich aufzupassen.
«Möchtest du deine Geschenke jetzt haben oder heute Abend im Pizza Express?», frage ich.
Ava drückt kleine Geschenktüten an sich, aus denen bunter Zellstoff ragt, aber sie verrät mir nicht, was ihre Freundinnen ihr besorgt haben. Vielleicht holt sie das später nach. Vor ein paar Jahren noch hätte sie es kaum erwarten können, mir ihre Geschenke zu zeigen. Jetzt nicht mehr. Die Zeit rast. Irgendwie bin ich beinahe vierzig, und Ava ist sechzehn. Bald wird sie flügge sein und das Nest verlassen.
«Jodie steht draußen», sagt Angela und hebt den Blick von ihrem iPhone. «Wir sollten los.»
«Heute Abend geht klar», sagt Ava. «Jetzt habe ich keine Zeit.» Sie lächelt mich an, und ich glaube zu sehen, dass sie eines Tages sehr schön sein wird. Einen Augenblick lang spüre ich einen Verlustschmerz in der Brust, also rühre ich konzentriert in meinem Tee und vergewissere mich, dass die Ausdrucke für die Präsentation noch auf dem Tisch bereitliegen, während die Mädchen ihre Mäntel, Schwimmbeutel und Schultaschen einsammeln.
«Bis heute Abend, Mum», ruft Ava über die Schulter. Sie verschwinden in den Flur, und ich spüre einen Schwall feuchtkühler Luft, als sie das Haus verlassen. Einer Eingebung folgend, schnappe ich mir meine Tasche, nehme zwanzig Pfund heraus und eile ihnen hinterher. Die Haustür lehne ich an.
«Ava, warte!» Ich trage nur meinen dünnen Bademantel, während ich ihr auf dem Weg durch den Vorgarten folge, den Geldschein in der Hand schwenkend. «Für dich und die Mädels. Gönnt euch vor der Schule ein kleines Frühstück.»
«Danke!» Auch die beiden anderen bedanken sich, und dann steigen sie zu Jodie ins Auto ein, die winzig und blond am Steuer sitzt, und ich bleibe an unserem offenen Tor zurück. Kaum dass alle eingestiegen sind, fährt Jodie los, und ich zucke leicht zusammen, während ich ihnen nachwinke. Sie fährt ziemlich schnell, und es macht nicht den Eindruck, als hätte sie vor dem Losfahren in die Rückspiegel geschaut. Hat Ava sich angeschnallt? Besorgnis, Besorgnis. So bin ich nun einmal. Ihnen ist gar nicht klar, wie kostbar das Leben ist. Wie kostbar sie sind. Wie auch? So jung und mit einem unbeschwerten Leben.
Es ist fast Sommer, aber der Himmel ist grau bewölkt und verheißt weiteren Regen, und die Luft ist empfindlich kühl. Ich sehe ihnen nach, bis Jodie um die Ecke gebogen ist, und will eben wieder ins warme Haus zurück, als mir ein Auto ins Auge fällt, das in unserer stillen Straße geparkt ist. Ein Prickeln überläuft mich. Es ist ein fremdes Auto. Dunkelblau. Keines, das ich schon mal gesehen hätte. Ich kenne alle Autos in unserer Straße. Ich habe es mir angewöhnt, solche Dinge zu registrieren. Dieses Auto ist neu.
Das Herz pocht mir in der Brust, ein Vogel, der hinter einer Scheibe gefangen ist. Ich wage nicht, mich zu rühren; das ist nicht Kampf oder Flucht, sondern eine kalte Furcht. Der Motor ist abgestellt, es sitzt jemand am Steuer. Korpulent. Zu weit weg, um sein Gesicht zu erkennen. Sieht er zu mir herüber? In meinem Kopf ist ein Geräusch wie das Summen von Fliegen, ich bemühe mich, ruhig zu atmen. Als mich meine Panik schon zu überwältigen droht, sehe ich einen Mann aus seinem Haus kommen; er eilt durch den Vorgarten und winkt dem Fahrer zu, während er sich zugleich ein Anzugsakko überstreift. Der Motor wird angelassen, und der Wagen setzt sich in Bewegung. Erst da sehe ich den Schriftzug an der Seite: EezyCabs. Ein Taxi.
Vor Erleichterung muss ich beinahe lachen. Beinahe.
Du bist in Sicherheit, sage ich mir, als das Taxi vorbeifährt, ohne dass einer der Insassen zu mir hersieht. Du bist in Sicherheit, und Ava ist in Sicherheit. Du musst dich entspannen.
Was natürlich leichter gesagt als getan ist. Das habe ich im Lauf der Jahre gelernt. Die Angst verlässt mich nie wirklich. Es gibt immer wieder Phasen, in denen ich mich fast von der Vergangenheit lösen kann, aber dann versetzt mich ein beliebiger Moment wie dieser in Panik, und mir wird bewusst, dass sie immer da sein wird, wie heißer Teer, der an meiner Magenschleimhaut klebt. Und in letzter Zeit habe ich dieses Gefühl, eine Art Unruhe, als wäre etwas nicht ganz in Ordnung, etwas, das ich wahrnehmen müsste, aber nicht wahrnehme. Vielleicht liegt es an mir. An meinem Alter. An den Hormonen. Daran, dass Ava langsam erwachsen wird. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten. Aber trotzdem …
«Ich würde ja gerne wissen, was Sie gerade denken?»
Ich zucke zusammen und lache dann, wie man eben so reagiert, wenn man sich erschrickt, obwohl dieser Schreck nichts Komisches hat. Die Hand auf die Brust gelegt, drehe ich mich um und erblicke Mrs. Goldman, die an ihrer Haustür steht.
«Alles in Ordnung?», fragt sie. «Ich wollte Sie nicht erschrecken.»
«Ja, Entschuldigung», sage ich. «War schon ganz woanders, bei der Arbeit. Sie wissen ja, wie das ist.» Ich kehre zu meiner Haustür zurück. Bin mir nicht sicher, ob Mrs. Goldman wirklich weiß, wie es ist. Sie bückt sich vorsichtig nach der Milchflasche, die auf der Haustürstufe steht, und ich sehe, wie sie dabei das Gesicht verzieht. Was steht bei ihr heute so an? Fernsehen? Spieleshows, Quizsendungen? Ihre Söhne haben sich auch schon länger nicht blickenlassen.
«Ich glaube, es gibt später noch Gewitter. Soll ich Ihnen irgendwas aus dem Supermarkt mitbringen? Ich muss sowieso Brot und noch dies und das besorgen. Wobei ich erst ziemlich spät wieder zurück sein werde, weil ich mit Ava nach der Arbeit Pizza essen gehe. Sie hat heute Geburtstag.» Tatsächlich brauche ich gar kein Brot, aber mir behagt die Vorstellung nicht, dass Mrs. Goldman bei Regen vor die Tür muss. Ihre Hüften machen ihr zu schaffen, und auf den Straßen kann es glatt werden.
«Ach, wenn es keine Umstände macht.» Ich kann ihr die Erleichterung anhören. «Sie sind zu liebenswürdig.»
«Kein Problem.» Ich lächle und verspüre einen jähen Schmerz, den ich nicht ganz verstehe. Eine Art Mitgefühl für jemandes Gebrechlichkeit. Für alles, was Menschen für sich behalten. So etwas in der Art jedenfalls. Ich höre zu, während sie mir die wenigen Dinge aufzählt, die sie benötigt. Alles gerade genug für eine Person. Ich werde noch einen Dominokuchen hinzufügen. Als kleines Geschenk. Ich sollte wohl auch versuchen, am Wochenende mal auf eine Tasse Tee bei ihr vorbeizuschauen. Ihre Tage müssen sehr lang sein, und man übersieht so leicht all die einsamen Menschen in der Welt. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war auch lange Zeit einsam. In gewisser Weise bin ich es immer noch. Heute bemühe ich mich, zu einsamen Menschen freundlich zu sein. Ich habe gelernt, wie wichtig Freundlichkeit ist. Worauf sonst kommt es an, im Grunde?
Seit PKR eine zweite Niederlassung eröffnet hat, sind wir in ein kleineres, aber eleganteres Büro umgezogen. Obwohl es noch etwas dauert, bis Simon Manning eintreffen wird, ist mir vor Nervosität leicht übel, als ich um acht an meinen Arbeitsplatz komme. Meine Hände sind ganz zittrig. Das ist bloß der Präsentation wegen, rede ich mir ein. Unsinn. Es liegt auch an Simon Manning. Simon ist in eine seltsame Grauzone gerückt, er ist ein potenzieller Neukunde, aber auch etwas anderes. Ein Flirt. Eine Anziehung. Die Art, wie er mich ansieht, hat sich verändert. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Es ist wie ein leises elektrisches Summen in meinem Kopf.
«Hier, für dich.»
Ich blicke von meinen Unterlagen auf, die ich gerade noch einmal durchgehe, und sehe Marilyn vor mir stehen. Sie hält eine Dreierpackung Ferrero Rocher hoch. «Soll dir Glück bringen. Und das hier» – mit der anderen Hand bringt sie einen Piccolo zum Vorschein, den sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte – «ist für später, wenn du ihn überzeugt hast.»
Ich lächle sie an, während mir ganz warm ums Herz wird. Dem Himmel sei Dank für Marilyn. «Falls mir das gelingt. Ich weiß, dass er noch mit anderen Personalagenturen im Gespräch steht.»
«Oh, keine Sorge. Falls du es versemmelst – ich hab auch noch Wodka in der Schublade.»
«Du denkst auch an alles.»
«Wofür sonst hat man eine beste Freundin?»
Das Tolle an diesem neuen Großraumbüro ist, dass unsere Schreibtische sich gegenüberstehen, meiner und der von Marilyn, eine kleine Insel für zwei. Marilyn hat die Raumaufteilung geplant, und sie funktioniert gut. Sie hat ein Auge für Räumlichkeiten. Vielleicht, weil sie schon so lange mit einem Bauunternehmer verheiratet ist.
«Sieh dir Toby an.» Sie deutet mit dem Kopf durch den Raum. «Diese neuen Mädels sind für ihn wie ein gefundenes Fressen.»
Sie hat recht. Wir lehnen uns an ihren Schreibtisch und beobachten, wie er sich eitel in Pose wirft. Die neuen Kolleginnen scheinen alle noch unter fünfundzwanzig zu sein, und mit seinen dreißig Jahren kommt Toby ihnen vermutlich wie ein erfahrener älterer Mann vor. Jedenfalls spielt er diese Rolle voll aus. Nervöses Gekicher dringt herüber, als er eine offenbar ungeheuer witzige Bemerkung macht, während er ihnen den Kopierer erklärt.
«Die kommen auch noch dahinter», sage ich. Auf alle Fälle werden wir eine Zeitlang beste Unterhaltung haben. Es ist gut, bei der Arbeit zu sein, unter den hellen Lichtleisten, mit den einheitlichen Schreibtischen und roten Bürostühlen und mit der gepflegten Kleidung. Meine kurze Unruhe vom Morgen wird hier im Nu zerstreut, wie die letzten Überreste eines schlimmen Traums.
Um neun Uhr ruft Penny uns alle zusammen, unsere glorreiche Chefin, die für das PK in PK Recruitment steht. Wir scharen uns in einem Halbkreis um ihre Bürotür, wobei Marilyn und ich uns etwas im Hintergrund halten, wie Schafhirten vielleicht, oder Kindermädchen. Ich mag Penny. Sie ist forsch und effizient und verspürt kein Bedürfnis nach allzu großer Vertraulichkeit mit ihrer Belegschaft. Ich arbeite seit über zehn Jahren hier, und ich glaube nicht, dass wir je ein persönliches Gespräch geführt haben, nur wir zwei. Marilyn findet das merkwürdig, ich nicht. Penny mag ungefähr in meinem Alter sein, ist und bleibt aber meine Vorgesetzte. Ich möchte gar nicht, dass sie versucht, meine Freundin zu sein. Dabei wäre mir eher unwohl zumute.
«Es ist eine große Freude, endlich unsere neuen Teamangehörigen willkommen heißen zu können», fängt sie an. «Dass Emily, Julia und Stacey uns nun verstärken, ist wunderbar, und ich hoffe, dass Sie sehr gern hier arbeiten werden.»
Die drei jungen Dinger, gebräunt und aufwendig geschminkt, lächeln sie strahlend an und wechseln dann freudig-aufgeregte Seitenblicke miteinander. Ich wünsche ihnen, dass sie auch künftig so freundlich miteinander umgehen wie heute. Ich habe Marilyn an meinem ersten Tag hier kennengelernt, und ich kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Kollegin und beste Freundin, beides in einem. Sie lindert meine Einsamkeit.
«Daneben bin ich Toby, Marilyn und Lisa zu großem Dank verpflichtet, dass sie in dieser Übergangsphase so hervorragend die Stellung gehalten haben. Marilyn und Lisa sind hier leitende Angestellte. Falls es Probleme gibt, fragen Sie sie jederzeit um Rat – sie kennen sich mit dem täglichen Betrieb hier in der Agentur vermutlich besser aus als ich.»
Marilyn lächelt, als sich uns neugierige Blicke zuwenden, während ich verlegen zu Boden sehe und mir wünsche, dass die Begutachtung ein Ende hat. Wäre ich doch bloß so souverän und selbstbewusst wie Marilyn. Sie kann nichts so schnell erschüttern.
«Wie dem auch sei, es gibt später Kuchen in der Küche, und nach der Arbeit noch einen Umtrunk im Green Man an der Ecke, für alle, die Lust haben – wobei ich hoffe, dass das für Sie alle gilt.»
Sie verschwindet wieder in ihr Büro, und unsere kleine Versammlung löst sich auf. Ich blicke auf die Wanduhr. Es dauert noch eine Weile bis zu meinem Termin mit Simon, und angesichts der Tatsache, wie wichtig dieses Treffen ist, verflüchtigen sich lachhafte Gedanken an irgendeine Anziehung im Nu. Mein Magen rumort, und ich atme einige Male tief durch. Das schaffe ich schon, beruhige ich mich, ohne selbst ganz daran zu glauben. Ich muss es schaffen. Der Auftrag ist die Aufregung wert, und ein höherer Jahresbonus würde für mich im Erfolgsfall wohl auch herausspringen. Womöglich sogar eine Gehaltserhöhung. Ich muss Geld sparen, für den Fall, dass Ava studieren möchte. Sie soll nicht mit einem Schuldenberg in ihr Erwachsenenleben starten, ich bin entschlossen, ihr zu helfen. Ich werde sie vor der Welt beschützen, wo ich nur kann.
Ich sehe es als meine Pflicht an. Ich weiß, wie schrecklich es da draußen sein kann.
Ava
In der Cafeteria ist es wie in der Umkleide im Schwimmbad, warm und feucht. Die Fenster sind beschlagen, während draußen der Sommerregen gegen die Scheiben prasselt. Mir macht der Regen nichts aus. Ange schon, weil ihr sorgfältig mit dem Brenneisen geglättetes Haar sich zu ringeln beginnt, sobald der erste Tropfen fällt. Aber wenn die Sonne nicht gerade richtig vom Himmel knallt, verbringe ich die Mittagspause lieber drinnen. Das war schon früher so, als ich noch mit Caz und Melanie abhing, was mir jetzt vorkommt, als wäre es eine halbe Ewigkeit her. Es ist das Einzige, was mir fehlt, wenn ich an die beiden denke. Angela ist lieber an der frischen Luft, deshalb essen wir normalerweise draußen auf den Bänken. Nicht bei diesem Wolkenbruch allerdings. Heute sitzen wir sicher und geborgen in der Cafeteria, mit allen anderen.
«Also, was meinst du?», sagt sie. «Wegen Samstag? Bei Jodie übernachten? Wir könnten erst in den Pub und uns danach noch eine Bowle machen oder so. Sehen, ob sonst noch wer da ist?» Eine dichte schwarze Augenbraue, dick mit Schminkstift angemalt, windet sich wie eine Nacktschnecke auf ihrem olivfarbenen Gesicht, als sie versucht, sie zweideutig in die Höhe zu ziehen. Wenn ich meine Brauen so schminken wollte, würde ich mir am Ende lauter Braun übers Gesicht schmieren. Ange hat für Make-up und Klamotten ein viel besseres Händchen als ich. Wenn sie richtig zurechtgemacht ist, könnte sie für zwanzig durchgehen. Ich sehe eher nach hundertzwanzig Kilo aus. Ich bin das hässliche Entlein unserer Gruppe, das ist mir klar. Lieber Gott, bitte mach, dass aus mir eines Tages ein schöner Schwan wird.
«Ja, klingt gut», sage ich. «Wenn die anderen auch können.»
Angelas Finger fliegen über die Tastatur ihres Handys, und ich weiß, dass meines gleich lossummen wird, sobald sie die Nachricht an unsere WhatsApp-Gruppe MyBitches verschickt hat. Den Namen hat Lizzie sich einfallen lassen. Schließlich sind wir ja Bitches und gehören einander, hatte sie gesagt, und wir lachten alle. Sie hatte recht. Kaum zu fassen, dass ich erst seit einem Jahr bei den Larkrise Swimmers bin, dem hiesigen Schwimmverein. Ich kenne diese Mädels erst seit etwa zehn Monaten. Es fühlt sich an, als wären wir schon ewig befreundet. Na ja, Angela kannte ich in gewisser Weise schon, weil wir auf dieselbe Schule gehen, aber wir haben immer verschiedenen Cliquen angehört, sodass sie für mich nur ein Gesicht in der Menge war, so wie umgekehrt auch. Heute sind wir unzertrennlich. MyBitches. Ich muss immer noch darüber lächeln. Wobei mir, glaube ich, Die Fabelhaften Vier, wie unser Trainer uns nennt, besser gefällt. Wir sind seine Siegerinnen. Spornen uns immer gegenseitig zu Bestleistungen an, auch wenn wir gegeneinander antreten. Bei uns hat es sofort klick gemacht, vom ersten Morgentraining an, wie bei Puzzleteilen, die sich bruchlos ineinanderfügen und gemeinsam ein prächtiges Bild ergeben. Dank uns räumt Larkrise nun auch bei Wettkämpfen ab.
Dass wir unterschiedlich alt sind, macht nichts, im Gegenteil. So haben wir mehr zu reden. Ich und Ange sind die Einzigen von der King Edward’s Grammar School, Lizzie ist Oberstufenschülerin an der Harris Academy, auch bekannt als Arse Academy, die Drecksloch-Schule in der Innenstadt, und Jodie studiert im ersten Jahr an der Allerton Uni. Sie ist fast zweiundzwanzig und tritt bei Wettkämpfen in der Erwachsenenklasse an, aber sie ist trotzdem eine von uns. Es scheint ihr nichts auszumachen, dass wir jünger sind als sie. Sie trainiert mit uns, weil ihre Vorlesungen sich mit dem Erwachsenentraining überschneiden, und sie trainiert ohnehin lieber morgens, sagt sie. Sie wohnt nicht im Studentenwohnheim, sondern zu Hause bei ihrer Mutter, hier in Elleston, deshalb spielt sich ihr Leben nicht so viel an der Uni ab wie bei anderen Studenten. Sie hilft uns bei der Technik und ist ziemlich cool. Sie gibt mir nie das Gefühl, dass ich viel jünger bin als sie. Nicht, dass fünf Jahre einen so himmelweiten Unterschied machen, aber die Oberstufler an der KEGS behandeln uns immer derart von oben herab, als wären sie schon dreißig oder so.
«Lizzie ist drin», murmelt Ange, den Blick auf ihr Handy geheftet, als ob ich meine aufplingenden Nachrichten nicht selbst lesen könnte. «Jodie sagt, dass ihre Mum auch dieses Wochenende nicht zu Hause ist. Sie will noch mal nachfragen, aber sie ist sich ziemlich sicher.»
Ein weiterer Vorteil einer Freundin, die schon studiert – viel weniger strenge Erziehung. Jodies Mutter verdient ihr Geld als Innenarchitektin oder so was für reiche Leute, und sie hat einen Freund in Paris, bei dem sie zurzeit lebt, während sie an irgendeinem Projekt arbeitet. Es klingt alles sehr glamourös, aber was noch viel wichtiger ist: Sie ist kaum je zu Hause. Ich bin ihr noch nie persönlich begegnet, Jodie hat das Haus mehr oder weniger für sich.
«Cool», sage ich. Ich würde gern mein Facebook checken, habe mir aber vorgenommen, damit bis nach dem Essen zu warten. Stattdessen stochere ich an den Resten meiner inzwischen kalten Ofenkartoffel herum. Meine Schultern schmerzen von dem Delfin heute Morgen – nicht meine beste Lage – und von den Übungen im Kraftraum gestern Abend. Wir trainieren hart, aber in letzter Zeit habe ich etwas nachgelassen, und das spüre ich jetzt. Ich muss mich wirklich am Riemen reißen, sonst merken die anderen noch, dass ich nachgelassen habe, oder schlimmer noch, ich fange an, den Verein hängenzulassen. Ich musste immer schon mehr tun als die anderen, um fit zu bleiben. Lizzie hat von Natur aus eine straffe Figur und läuft wie eine Gazelle. Jodie ist gerade mal eins sechzig groß, besteht aber nur aus Muskeln, sie sieht schlank, wütend und jungenhaft aus in ihrem Badeanzug, und Ange hat die Rundungen. Ihre eigenen persönlichen Schwimmkörper, wie Lizzie es wohl ausdrücken würde. Nicht, dass ihr Busen sie daran hindern würde, schnell durchs Wasser zu zischen. All ihre Weiblichkeit fällt von ihr ab, sobald sie unter die Oberfläche taucht. Wie ich in das Quartett passe, weiß ich nicht recht. Mehr Hintern als Titten, habe ich letztes Schuljahr Jack Marshall mal über mich sagen hören, diesen Arsch – eine Aussage, die immer noch schmerzt –, doch ganz unrecht hatte er damit vermutlich nicht. Ich habe die Birnenform meiner Mutter geerbt. Wenn ich zunehme, schlägt sich das sofort auf meine Oberschenkel nieder, und die sind so schon dick genug, auch wenn ich kaum was esse.
Vielleicht erzähle ich Mum, dass Jodies Mutter dieses Wochenende wieder da ist, damit sie sich keine Sorgen macht. Kurz bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Von unseren Eltern hat meine Mum den stärksten Beschützerinstinkt. Das ist mir bisher nie so aufgefallen. Wir beide sind immer schon allein auf uns gestellt – und da ist noch Tante Marilyn –, und ich weiß, dass sie mich von Herzen liebhat, und ich habe sie natürlich auch lieb, aber ich bin jetzt sechzehn und muss meinen Freiraum haben, so wie meine Freundinnen. Schick mir eine SMS, wenn du ankommst. Schick mir eine SMS, wenn du aufbrichst. Ich komme vorbei und hol dich ab, nein, wirklich, kein Problem. Sie meint es nur gut, klar, aber so benimmt sich keine andere Mutter, und es ist mir peinlich. Weil ich mir dabei vorkomme wie ein kleines Kind, und das bin ich nicht mehr. Ich bin jetzt eine Frau, mehr oder weniger. Ich habe meine eigenen Geheimnisse.
Unsere Handys summen erneut, und wir lachen beide über die Nachricht, die Lizzie uns geschickt hat. Ein .gif mit einem eklig abspritzenden Schwanz.
«Also, machst du’s?»
Ange verfällt immer in diesen seltsamen halb amerikanischen Akzent, wenn es um Sex geht. Sie bricht ein Stückchen von ihrem Donut ab, schiebt es sich in den Mund, ihre braunen Augen aber lassen mich nicht aus dem Blick, während sie kaut.
Ich zucke lässig mit den Schultern, obwohl ich heftiges Herzklopfen habe. Mache ich es? Ich habe gesagt, dass ich mit sechzehn dazu bereit wäre, und ein Teil von mir wünscht es sich auch – oder hat es sich zumindest gewünscht –, aber ich sehe nicht ein, warum es so dringend ist, dass ich es sofort mache. Aber Courtney ist heiß, und er ist total anders und vor allem cool, das mehr als alles andere. Coole Jungs haben sich bisher nie für mich interessiert, und ich habe so ein bisschen das Gefühl, dass ich es ihm schuldig bin. Er ist es wahrscheinlich nicht gewohnt, warten zu müssen, obwohl wir erst seit ein paar Monaten zusammen sind, mehr oder weniger.
«Wahrscheinlich», sage ich. Ange reißt aufgeregt die Augen auf und grinst.
«Cool, ich wette, er ist total erfahren. Viel besser für dein erstes Mal.»
«Bisher ist er ziemlich gut gewesen.» Ich strecke ihr die Zunge entgegen, bewege sie anzüglich hin und her und zwinkere ihr zu.
Diesmal kreischt sie so laut auf, dass sich einige Mädchen an anderen Tischen neugierig nach uns umdrehen.
Das Herumalbern macht Spaß, und ich weiß, dass ich es dieses Wochenende mit Courtney wahrscheinlich machen werde, und sei es nur, um es hinter mich zu bringen. Es ist nicht so, als hätten wir, davon abgesehen, die meisten Sachen nicht sowieso schon gemacht, aber ich empfinde für ihn nicht mehr dasselbe wie früher. Bin von ihm nicht mehr so hin und weg wie zu Anfang. Nicht mehr, seit … na ja … seit es mit den Nachrichten losgegangen ist. Jetzt gibt es ein neues Geheimnis. Eins, das ich nicht mal den Mädels anvertraut habe. Ausgeschlossen. Es ist etwas, das allein mir gehört, und es lässt Courtney und seine Coolness zu bloßem Teeniebübchen-Quatsch verblassen.
Mein neuer Facebook-Freund. Jemand, mit dem ich wirklich reden kann.
Über uns schrillt die Glocke, die Mittagspause ist vorbei, und ich bekomme umgehend Herzrasen. Ich habe die Stunde durchgehalten, ohne einen Blick auf Messenger zu werfen. Das tue ich ungern, wenn Ange oder die anderen dabei sind, daher habe ich meine Benachrichtigungen deaktiviert. Wir haben nicht nur kräftige Muskeln, sondern auch Augen, denen nichts entgeht. Wir wollen alles voneinander wissen. Wenn mein Handy piepste, müsste ich sofort Rede und Antwort stehen. Wir sind eins.
Während Ange sich auf den Weg zu ihrer Erdkundestunde macht, räume ich noch unsere Tabletts weg. Erst dann klicke ich, voller Vorfreude, den Facebook-Messenger an. Aber dann: Keine neuen Nachrichten. Ich bin maßlos enttäuscht. Es ist mein sechzehnter Geburtstag. Ein wichtiges Datum. Ich dachte, ich bedeute ihm etwas.
Später vielleicht, sage ich mir, als ich das Handy einstecke, wild entschlossen, es nicht zu tragisch zu nehmen. Ihm zu vertrauen, ganz so, wie er es von mir erbeten hat. Später wird schon eine Nachricht da sein.
Lisa
Es läuft viel besser, als ich erwartet hatte, und zwei Stunden nach Beginn unserer Unterredung ist die Sache unter Dach und Fach. Ich zittere noch immer, aber dieses Mal vor Stolz und Freude, und vor Erleichterung, die Sache nicht vermasselt zu haben. Alle drehen sich zu uns um, sogar Marilyn, als ich Simon hoch erhobenen Hauptes zu Peggys Büro geleite. Nicht nur, weil ich offensichtlich den Vertrag mit Erfolg ausgehandelt und damit einen dicken Fisch an Land gezogen habe, sondern auch weil Simon Manning ein Mann ist, der die Blicke auf sich zieht. Er ist kein Schönling wie Toby, Typ aalglatter Immobilienmakler, mit Gel im Haar und nach Herrenparfüm duftend, doch er wirkt trotzdem attraktiv. Schön ist überhaupt das falsche Wort; seine Nase ist etwas ramponiert, als wäre sie mehr als einmal gebrochen worden, seine Statur breit und kräftig, Typ ehemaliger Rugbyspieler. Nicht mehr ganz so muskulös zwar, aber noch immer fit. Er hat graue Schläfen und strahlt Selbstbewusstsein aus, wirkt dabei jedoch nicht arrogant, sondern freundlich und zugänglich. Er hat auch allen Grund, selbstbewusst zu sein, denke ich, als ich mich von ihm verabschiede, um ihn Penny zu überlassen, und einen ausgesprochen angenehmen, festen Händedruck mit ihm wechsle. Er ist im Begriff, sein fünftes Hotel mit integriertem Wellnessclub zu eröffnen. Dürfte kaum älter als vierzig sein und ist auf dem besten Wege, ein Geschäftsimperium aufzubauen.
Ich schließe die Bürotür hinter ihm, damit er und Penny ungestört sind. Vermutlich habe ich glühende Wangen, ich kann die Hitze auf meiner Haut spüren. Ich kann noch immer nicht ganz fassen, wie gut es gelaufen ist. Er hat Bedarf an Reinigungskräften, Küchen- und Hotelpersonal, und er ist bereit, das alles von PKR – von mir – regeln zu lassen. Wenn ich nach meinem ersten Kontakt geahnt hätte, um was für ein Personalvolumen es geht, hätte ich wahrscheinlich umgehend Penny eingeschaltet, um sich darum zu kümmern. Sie ist die Inhaberin, und es handelt sich um einen Großauftrag, einen der größten Aufträge womöglich, den die Firma je erhalten hat. Eigentlich ist es ganz gut, dass ich nichts wusste. Ich war auch so schon aufgeregt bei dem Gedanken, dass er vielleicht dreißig Arbeitskräfte benötigt; hätte ich die wahren Zahlen gekannt, hätte ich vermutlich einen Nervenzusammenbruch bekommen. Aber ich habe uns den Auftrag gesichert. Und zwar problemlos. Ich kann mein Lächeln nicht unterdrücken, als ich in den Bürobereich zurückkehre, wo gerade lebhaft geplaudert wird.
«Oh, ich versuche immer, zu Fuß zur Arbeit und wieder zurück zu laufen, egal, wo ich bin», sagt Julia gerade, die Neue mit der dunkelbrünetten Bobfrisur. «Hält mich fit.»
«Na, alles gut gegangen?» Toby sieht zu mir auf; das Gerede der Mädchen interessiert ihn offenbar nicht länger. Aus seinen Augen spricht ein Anflug von Neid. Er ist extrem ehrgeizig und erfolgsfixiert. Ihm sind solvente Kunden aus der IT-Branche am liebsten, solche, die Graphikdesigner oder Web-Entwickler für befristete Einjahresverträge zu fünfzig- oder sechzigtausend Pfund suchen, und ja, wenn er jemanden vermittelt, springen dabei vermutlich höhere Provisionen für ihn heraus, aber solche Jobs gibt es nicht jeden Monat. Mir ist immer schon die andere Seite des Marktes lieber. Leuten zu helfen, die wirklich Arbeit suchen, egal, was für eine. Leute, die sich nach einem geregelten Einkommen sehnen und nach dem Selbstwertgefühl, das einem dadurch vermittelt wird. Ich kann mich mühelos in sie einfühlen. Ich war selbst schon in dieser Lage.
«Besser als gut sogar. Es wird wohl ein richtiger Großauftrag, wie sich herausgestellt hat. Mindestens hundertfünfzig Leute.» Es klingt wie Prahlerei, aber ich kann nicht anders. Diese kleine Genugtuung muss ich mir einfach gönnen, obwohl ich spontan an den Hochmut denken muss, der vor dem Fall kommt.
«Wow, gut gemacht!» Es ist eins der neuen Mädchen, Stacey. Lange blonde Haare, künstliche Fingernägel. Ihre Worte könnten gönnerhaft klingen, aber das tun sie nicht. Unter der Fassade aus Make-up und künstlicher Bräune erahne ich ihre Nervosität. Sie sehnt sich danach, gemocht zu werden, dazuzugehören und ihre Arbeit gut zu machen.
«Danke.»
«Da müssen wir heute Abend auf jeden Fall auf Sie anstoßen», sagt Julia.
«Ich werde leider nicht mitkommen. Ich trinke kaum Alkohol, und meine Tochter hat heute Geburtstag, sie wird sechzehn. Ich gehe mit ihr essen.»
«Das ist nett», sagt sie. «Mit sechzehn wollen sie ja normalerweise nur mit ihren Freundinnen zusammen sein, nicht wahr? Bei mir jedenfalls war das so.»
Sie hat einen leicht schnippischen Unterton, und das behagt mir nicht. Dafür, dass heute ihr erster Arbeitstag ist, trumpft sie ganz schön auf.
Ich mustere sie etwas genauer. Sie ist nicht so jung, wie ich zunächst dachte, sosehr sie auch diesen Eindruck zu vermitteln versucht. Sie ist definitiv schon über dreißig. Botox vermutlich.
«Wir haben ein sehr enges Verhältnis.»
Sie lächelt, zuckersüß, aber mit einer Spur Zyanid, und entblößt dabei makellos weiße Zähne, die an einen Hai erinnern. Sie bringt mich aus dem Tritt, und das ärgert mich.
«Ich will keine Kinder», verkündet sie. «Dazu ist mir meine Karriere zu wichtig. Würde ich auch nie hinbekommen, so als alleinerziehende Mutter. Hut ab.»
Es ist eine als Kompliment verpackte Beleidigung. Stacey reißt die Augen auf, anscheinend schockiert über Julias Unverfrorenheit, und Toby – der ja offensichtlich über mich geplaudert hat – ist so klug, auf seinen Bildschirm zu starren, als würde er eine überaus wichtige Mail lesen.
«Zum Glück ist Lisa eine Superfrau, die alles in den Griff bekommt und noch mehr. Von ihr können wir uns alle eine Scheibe abschneiden, so tüchtig, wie sie ist.» Marilyn ist neben mir aufgetaucht. Haifischlächeln trifft auf Haifischlächeln, und diesmal ist es Julia, die leicht auf ihrem Stuhl zurückweicht. «Gehen wir essen?» Marilyns letzte Worte sind an mich gerichtet, als wären die anderen gar nicht da; lästige Fliegen, die sie bereits verscheucht hat.
«Eine ist immer dabei», murmelt sie, als wir unsere Taschen und Jacken holen gehen, «vor der man sich in Acht nehmen muss. In jeder Gruppe von Frauen. Zumindest wissen wir jetzt, welche von den dreien es ist.» Sie wirft Julia einen finsteren Blick zu. Warum muss es immer so eine geben?, frage ich mich. Warum kann nicht einfach alles nett sein?
«Er sieht auch blendend aus.» Marilyn trägt unsere Getränke, zwei Gläser Prosecco, und ich habe unser Besteck in der Hand, als wir uns an einem Ecktisch niederlassen. «Auf eine etwas raue Art. Und es ist so offensichtlich, dass er dich mag. Diese unnötigen Meetings. Wie er dich die ganze Zeit angestarrt hat, als er dir durchs Büro gefolgt ist.»
«Ach, sei still», sage ich.
«Ich verstehe nicht, warum du da nicht zuschlägst.»
«Kannst du dir Pennys Reaktion vorstellen, wenn ich derart die Arbeit mit dem Vergnügen vermischen würde? Und überhaupt – nein.»
Sie blickt mich versonnen an. Dass mir ein Mann fehlt, kommt mindestens einmal im Jahr ernsthaft zur Sprache, und die restlichen Monate über spielt sie fortwährend darauf an. Ich frage mich, ob sich mich wieder mal ins Gebet nehmen will. Aber darauf verzichtet sie gottlob. Stattdessen hebt sie ihr Glas in die Höhe. «Prost, und meinen Glückwunsch!»
Wir stoßen an und nippen an unserem Schaumwein. Ich mag es, wie er mir im Mund prickelt. Wenn ich trinke, dann am liebsten mittags, weil es dann bei einem Glas bleibt.
«Ach, ehe ich’s vergesse», sie wendet sich zur Seite und kramt in ihrer großen Umhängetasche, «ich habe etwas für Ava.» Sie bringt ein kleines Geschenkpäckchen zum Vorschein. «Von mir und Richard. Mein Gott, nicht zu fassen, dass sie schon sechzehn wird. Wo sind bitte schön die Jahre geblieben? Wenn sie sechzehn ist, wie alt sind wir dann?»
«Alt», sage ich, aber mit einem Lächeln, ehe ich einen weiteren Schluck trinke.
Ich nehme das Päckchen entgegen und stecke es in meine Tasche. Nicht nur ich kann von Glück sagen, dass ich Marilyn habe. Für Ava gilt das ebenso.
Ich habe das Frühstück ausgelassen, weil ich so nervös war, und obwohl ich kaum ein halbes Glas getrunken habe, steigt mir der Prosecco bereits zu Kopf. Die Anspannung in meinen Schultern lässt langsam nach. Dann sehe ich Marilyns Gesichtsausdruck und weiß, was bevorsteht – wieder mal ein Verhör. Ich habe mich vorschnell in Sicherheit gewiegt.
«Nichts von Avas Vater gehört?»
«Nein.» Ich reagiere gereizt, obwohl sie ganz behutsam fragt. Sie kennt das Spiel zur Genüge. Ein Gespräch, das sie für meinen Geschmack zu oft anfängt. «Und ich rechne auch gar nicht damit.» Ich muss dringend das Thema wechseln. «Wie dem auch sei. Wie geht’s dir? Du kamst mir gestern ein bisschen still vor. Ein bisschen verstimmt. Alles in Ordnung bei dir?»
«Ich hatte Kopfschmerzen. Weiter nichts. Du weißt doch, dass ich hin und wieder dieses Kopfweh habe.» Sie blickt zu der Kellnerin, die nun mit unserem Essen durchs Lokal kommt. Will sie meinem Blick ausweichen? Es ist nicht das erste Mal, dass sie über Kopfschmerzen klagt; seit Monaten hat sie schon damit zu tun.
«Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen.»
«Und vielleicht solltest du dich mal auf ein Date mit Mr. Manning verabreden.»
Ich werfe ihr einen bösen Blick zu.
«Schon gut, schon gut. Entschuldige. Aber Ava ist nun fast erwachsen. Du solltest dich wirklich wieder umtun da draußen in der Welt.»
«Können wir das nicht mal vergessen und uns stattdessen darauf konzentrieren, wie großartig ich bin?» Ich versuche die Stimmung aufzuhellen und bin froh, als die Kellnerin mit unseren Sandwiches und Pommes frites an den Tisch kommt und uns mit Essen ablenkt. Wie könnte ich mich Marilyn je ganz offenbaren? Sie weiß zwar, dass es kein One-Night-Stand war – diese Lüge habe ich Ava erzählt –, aber die Wahrheit kennt sie nicht. Die volle Wahrheit. Sie hätte kein Verständnis dafür. Marilyn mit ihrem wundersam geborgenen Leben, mit dem tollen Ehemann, dem schönen Haus, dem guten Job – die glückliche, zauberhafte Marilyn. Wenn ich ihr alles erzählte, würde sie mich mit völlig anderen Augen sehen. Bitte nicht missverstehen: Ich wünschte, ich könnte ihr alles erzählen. Ich habe sogar schon oft davon geträumt. Manchmal ist mir, als lägen mir die Worte bereits auf der Zunge, als wollten sie jetzt gleich aus mir heraussprudeln, aber ich muss sie herunterschlucken wie bittere Galle. Es geht nicht. Ich kann nicht darüber sprechen.
Ich weiß, wie Worte sich verbreiten. Sie fangen Feuer und wandern von einer Person zur nächsten und zur nächsten.
Ich kann nicht riskieren, gefunden zu werden.
Ava
Der Regen hat fast aufgehört, als wir nach Hause kommen, aber mein Mantel ist feucht. Als ich zum Auto gerannt bin, ging gerade ein Wolkenbruch nieder, und jetzt trete ich auf dem Bürgersteig leise von einem Fuß auf den anderen, als ob mir kalt wäre, um meine Ungeduld zu kaschieren.
«Wir können einen Film schauen, wenn du magst», sagt Mum, als sie endlich aussteigt. «Es ist ja noch früh.»
«Ich muss lernen.» Es ist gerade mal sieben, und ich habe nicht vor, vor Mitternacht schlafen zu gehen, aber ich möchte in mein Zimmer und allein sein. Sie ist enttäuscht, aber schließlich reitet sie ja ständig auf meinen Abschlussprüfungen herum. Trotzdem meldet sich mein schlechtes Gewissen. Früher haben wir immer Filmabende auf dem Sofa verbracht, gemütlich mit Decke und Popcorn aus der Mikrowelle. Das fand ich jedes Mal toll und finde es immer noch toll. Aber das Leben ist jetzt eben komplizierter. Er wartet. Ich muss mit ihm reden. Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste sterben, wenn ich es nicht tue.
«Oh, verflixt», sagt Mum unvermittelt und stöhnt. «Jetzt hab ich vergessen, für Mrs. Goldman einzukaufen. Ich werde noch mal zu dem kleinen Sainsbury’s müssen. Kommst du allein zurecht? Ich bin in zehn Minuten wieder da. Oder du kommst mit.»
Ärger steigt in mir auf, was mir lieber ist als das traurige Schuldgefühl, immer mehr Risse in unsere Beziehung zu bringen. Das fragt sie mich jedes Mal, wenn sie außer Haus geht und mich allein lässt. Jedes Mal. Was denkt sie denn, was passieren wird? Dass ich den Finger in eine Steckdose stecke, weil sie nicht zu Hause ist? «Ich bin sechzehn», blaffe ich. «Du solltest mal aufhören, mich zu behandeln, als wäre ich noch ein Kleinkind.»
«Entschuldige, entschuldige.» Sie ist zu sehr in Eile, um es mir krummzunehmen, und das ist mir sehr recht. Weil ich sie eigentlich nicht verärgern will. Ich lege es gar nicht darauf an, sie zu verärgern, aber sie wird nun langsam so bedürftig, jetzt, wo sie nicht mehr alles kontrollieren kann, was ich mache, wie früher, als ich noch klein war. Unsere Pizza war gar nicht so übel, und ich weiß, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hat, damit wir eine gute Zeit hatten, aber alle ihre Fragen sind so süßlich und anhänglich und aufdringlich. Sie will immer alles über mich wissen, und irgendwie kann ich ihr jetzt nichts mehr erzählen. Ich will ihr nichts mehr erzählen. Jedes Mal, wenn es mich überkommt, mit ihr über irgendwas zu reden – über Courtney und die Sache mit dem Sex etwa –, bleiben mir die Worte im Hals stecken und ich bekomme schlechte Laune. Alles verändert sich. Ich brauche meinen Freiraum. Jetzt mehr denn je.
Aber davon abgesehen, sie hat mir tolle Sachen zum Geburtstag geschenkt. Einen iPad und einen wasserdichten MP3-Player, viel teurer als der, den ich mir gewünscht hatte. Ich liebe auch die Halskette, die Marilyn mir geschenkt hat – dick und schwer, aus gewundenem Silber, mit einem Anhänger aus dunkelviolettem Glas. Sie ist klobig und cool und genau richtig für mich. Manchmal wollte ich, Mum wäre ein bisschen mehr wie Marilyn. Sie ist locker und immer gut drauf. Wenn Mum etwas lässiger wäre, würde ich ihr vielleicht mehr von mir erzählen. Nicht alles, denke ich, während ich in betont normalem Tempo auf die Haustür zugehe. Aber das eine oder andere schon. Über das könnte ich nicht mit ihr reden. Sie würde ausflippen.
«Lust auf einen Chat heute Abend, Geburtstagsmädchen? Ich habe ungefähr eine Stunde Zeit, wenn du nicht gerade unterwegs bist und feierst!» Die Facebook-Nachricht war eingetroffen, als ich mein Handy auf dem Klo gecheckt habe, vor dem Dessert. Ich würde zusehen, dass ich so schnell wie möglich nach Hause komme, habe ich geantwortet, er solle bitte warten. Wie bedürftig ich mich anhörte, war mir gar nicht bewusst, als ich die Antwort abschickte, aber etwas lahm und verzweifelt klingt es schon. Verwandle ich mich in meine Mum? Aber, zum Teufel, wieso können die Leute nicht einfach Messenger auf ihre Handys installieren? Als wären die Daten von allen nicht sowieso schon da draußen, so oder so? Alle unter fünfundzwanzig haben sich längst damit abgefunden. Es sind nur die Erwachsenen, die glauben, es würde irgendwen interessieren. Wo ist der Sinn, einen Nachrichtendienst zu haben, den man nur von seinem Computer aus nutzt?
Eine andere Art von Privatheit.
Der Gedanke schleicht sich mir in den Kopf. Vielleicht ist es die Sorte Privatheit, die man braucht, um Geheimnisse vor jenen zu verbergen, die einem am nächsten stehen. Vor einer Ehefrau möglicherweise? Was auch immer seine Gründe sein mögen, diese Art von Privatheit hat mich dazu veranlasst, meine Benachrichtigungen zu deaktivieren.
Geheimnisse haben wir alle.
So langsam komme ich dahinter, dass Geheimnisse vielleicht sogar etwas Tolles sind.
Ich gebe mir Mühe, nicht enttäuscht zu sein, als ich zwanzig Minuten später nach unten gehe, um etwas zu trinken. Unser Chat war nur kurz, und er hat immer nur ganz einsilbig geantwortet. Abgelenkt und ohne auf meine Fragen wirklich einzugehen. Ich will mich nicht ärgern – immerhin hatten wir etwas Zeit zusammen –, aber ich bin doch frustriert. Courtney spammt mich gerade bei WhatsApp voll. Ich weiß, was er will. Lustig, wie er mich damit inzwischen fast nervt. Vor ein paar Wochen wäre ich noch superglücklich darüber gewesen, dass er so hinter mir her ist und mir das Gefühl gibt, hübsch und sexy zu sein. Jetzt geht er mir einfach nur auf den Wecker, wie so vieles andere.
In meinen Socken mache ich auf der Treppe kein Geräusch, und als ich um die Ecke biege, um in die Küche zu gehen, halte ich inne. Mum ist dort. Sie steht am Küchentisch und starrt vor sich hin, reglos, ganz seltsam stocksteif, es wirkt vollkommen verkehrt. Ein total merkwürdiger Anblick, und ich weiß nicht warum, aber ich bekomme Herzrasen, und mein Magen krampft sich zusammen. Einen Augenblick später greift sie in ihre Tasche und nimmt die Piccoloflasche Prosecco heraus, die Marilyn ihr geschenkt hat, schraubt sie auf und trinkt, direkt aus der Flasche.
Ich rühre mich nicht vom Fleck, verwirrt und beunruhigt. Bin ich schuld? Weil ich mich so mies benommen habe? Ich stehe weiter im Flur, weiß nicht recht, was ich tun soll. Soll ich sie fragen, was los ist? Ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind. Ich will einen Schritt vorwärts machen, zögere aber doch. Etwas an der Art, wie sie dasteht – die Reglosigkeit –, vermittelt mir den Eindruck, als sei ich Zeuge von etwas Privatem. Etwas, bei dem ich nichts verloren habe. Gehen die Risse in unserer Beziehung auch von ihrer Seite aus? Hat auch sie Geheimnisse? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Sie ist wie ein offenes Buch, meine Mum.
Doch es ist beunruhigend. Der Inhalt dieser kleinen Flaschen entspricht nur einem Glas oder so, aber wer schenkt sich denn den Sekt nicht ein, ehe er ihn trinkt? Was könnte einen dazu veranlassen, ihn praktisch auf ex runterzukippen? Letzten Endes schleiche ich wieder leise nach oben, mit ungut rumorendem Magen. Ich kann auch ohne Tasse Tee leben.
Lisa
Draußen ist es stockfinster, vom erlösend diffusen Grau der Morgendämmerung noch keine Spur. Ich sitze hellwach da, mit hochgezogenen Knien, und starre hinaus in die trostlose Nacht. Mein Magen macht mir fürchterlich zu schaffen. Es war nicht Peter Rabbit. Das weiß ich. Peter Rabbit ist längst fort. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, dass es Peter Rabbit war, der Peter Rabbit, aber ich würde trotzdem am liebsten zum Wertstoffcontainer am Ende der Straße laufen und ihn noch einmal herausangeln, nur um ganz sicher zu sein. Ich atme tief durch. Es ist nicht Peter Rabbit. Es ist bloß ein Zufall.
Als ich das Stofftier da draußen im Regen gesehen habe, traurig zusammengesunken an Mrs. Goldmans Gartentor gelehnt, wäre mir fast das Herz stehengeblieben. Es war schmuddelig und durchnässt, lag vielleicht schon seit Stunden dort, aber die Hose hob sich leuchtend blau von dem angegrauten weißen Pelz ab. Es war nicht derselbe Hase, so viel war klar, als ich ihn mit zitternden Händen und einem erstickten Schrei auflas, aber er ähnelte ihm. Ähnelte ihm so sehr. Ich wollte ihn an mich drücken und laut aufheulen, aber da öffnete sich die Haustür und Mrs. Goldman erschien, deshalb riss ich mich zusammen und fragte beiläufig, ob sie vielleicht wisse, wem dieses Stofftier gehöre. Natürlich wusste sie es nicht. Woher auch? Sie hört sehr schlecht, und sie verbringt ihre Tage vor dem Fernseher und achtet nicht darauf, was vor ihrem Haus vor sich geht.
Ich händigte ihr die Tüte mit den Einkäufen aus und versuchte, lächelnd ein paar Worte mit ihr zu wechseln, aber der Stoffhase hing nass und schwer an meiner Hand, und das Fell fühlte sich kalt an. Mein einziger Gedanke war, dass die blaue Latzhose genau dieselbe Farbe und Form hatte wie jene Latzhose, und dass jene Latzhose von Hand genäht worden war, und mir wurde ganz schwindlig, und Übelkeit stieg in mir auf. Als Mrs. Goldman endlich wieder in ihr Haus gegangen war, entfernte ich mich durch ihren Vorgarten und zwang mich, dabei halbwegs die Fassung zu wahren. Erst ein Stück weiter weg, außer Sichtweite sowohl von ihrem als auch meinem Haus, drückte ich den Stoffhasen endlich an mich, als wäre er ein totes Tier, das ich mit meiner Körperwärme irgendwie wieder zum Leben erwecken könnte.
Ich atmete einige Male tief durch, eine Technik, die mir in jahrelanger Therapie eingebläut worden war, als könnte beständige Sauerstoffzufuhr irgendwie helfen, obwohl ich die meiste Zeit über den Wunsch verspüre, überhaupt nicht mehr atmen zu müssen, ehe ich entschlossen ans Ende der Straße marschierte und den Stoffhasen in einen der großen Wertstoffcontainer dort entsorgte. Den geisterhaften Abdruck von nassem Fell aber konnte ich noch immer an meinen Fingerspitzen spüren, und ich war mir nicht sicher, ob ich es heil nach Hause zurück schaffen würde, ohne zusammenzuklappen.
In der Küche – von Ava fehlte jede Spur, und ich war ausnahmsweise froh, dass sie sich endlich zu der Sorte launischem Teenie entwickelt, der sich in seinem Zimmer verkriecht – nahm ich den Piccolo aus der Tasche, den Marilyn mir geschenkt hatte, schraubte das Fläschchen auf und leerte es in zwei Zügen. Die säuerlichen Bläschen bescherten mir ein Brennen in der Brust, und meine Augen tränten, aber das störte mich nicht. Alles war besser als der entsetzliche Schmerz und die Angst in meinem Inneren, meinem Wesenskern, der jetzt, wie ich mir mühsam einzureden versuche, bestenfalls leer ist. Bis etwas wie das hier passiert, der Grind abgerissen wird und der fürchterliche, fürchterliche Schmerz wieder zum Vorschein kommt, der dort hineingezwängt ist, und ich mich am liebsten ganz klein zusammenrollen und sterben würde.
Beim letzten Rest Schaumwein verschluckte ich mich und musste mich hustend und keuchend an den Frühstückstresen lehnen. Das kleine Malheur war eine willkommene Ablenkung, um meine Gedanken zu beruhigen. Das Summen in meinen Ohren ließ allmählich nach. Es war ein Zufall, was sonst. Viele Kinder haben Plüschhasen. Irgendwo weinte jetzt vermutlich ein armes Kind nach dem Hasen, den ich so skrupellos im Container versenkt hatte. Er trug eine blaue Latzhose, na und? Stofftiere in Latzhosen gab es vermutlich wie Sand am Meer. Es war nicht Peter Rabbit.
Diesen Satz wiederholte ich im Geist immer wieder, wie ein Mantra, froh darüber, dass ich den Hasen nicht in einer unserer Mülltonnen draußen im Vorgarten entsorgt hatte, sondern in dem städtischen Container, zu weit weg, um ständig hinzurennen und ihn mir anzusehen, ohne dass es auffällig würde. Es war nicht Peter Rabbit. Das Stofftier hatte mich aus der Fassung gebracht, ja, aber es war nicht vorsätzlich dort hingelegt worden. Mich mit dem zweiten Satz zu versöhnen fiel mir nicht ganz so leicht. Es handelt sich weniger um eine Tatsachenfeststellung als um eine Vermutung. Dass jemand ihn dort absichtlich abgelegt hat, ist äußerst unwahrscheinlich, aber das vermag ich nicht mit derselben Gewissheit zu sagen, mit der ich vernunftmäßig weiß, dass das gefundene Stofftier nicht Peter Rabbit war.
Es ist diese Unruhe, die ich in letzter Zeit verspüre. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung ist. Was, wenn sich mehr dahinter verbirgt als meine übliche Paranoia? Was, wenn es ein Fehler wäre, dieses Gefühl zu verdrängen? Ich stehe auf und gehe leise durch den Flur zu Avas Zimmer. Im Haus ist es dunkel und still, und ich drehe den Türknauf, ganz langsam und vorsichtig, um keinen Lärm zu machen.
Ich betrachte sie von der Tür aus, mein perfektes Mädchen. Sie liegt auf der Seite da, mit dem Rücken zu mir, klein zusammengerollt, ganz so, wie sie schon als Kleinkind immer geschlafen hat. Sie ist so kostbar. So unvergleichlich, und ihr Anblick beruhigt mich und erinnert mich daran, dass ich am Leben bleiben muss, weiteratmen muss. Für sie. Sie hat mir zu neuem Lebenswillen verholfen, und ich werde sie immer beschützen. Sie wird nie erfahren, was ich in meinem Inneren verberge. Nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann. Ich möchte, dass sie glücklich und frei ist. Es muss wunderbar sein, glücklich und frei zu sein.
Ich verweile noch einige Minuten, weil Avas Anblick für mich ungleich beruhigender ist als noch so ausgiebiges, tiefes Yoga-Atmen, ehe ich mich widerstrebend entferne, um sie ungestört schlafen zu lassen. Es ist fast drei Uhr früh. Jetzt Schlaftabletten zu nehmen ist keine gute Idee, aber ebenso graut mir davor, mich dem Tag nach einer schlaflosen Nacht zu stellen. Ich wähle eine Kompromisslösung und schlucke nur eine statt der üblichen zwei, die ich sonst brauche, wenn mich diese beklommenen, traurigen Stimmungen im Würgegriff halten. Den Vormittag über wird es mir zwar dreckig gehen, aber zwei, drei Stunden seligen Vergessens sind jetzt alles, wonach ich mich sehne. Um aus diesem Teufelskreis von Angst und Kummer auszubrechen. Sonst drehe ich bis Morgengrauen durch, so viel steht fest. Das schlechte Gefühl hat nichts zu bedeuten, ich bin bloß überängstlich. Der Stoffhase war nicht Peter Rabbit. Die Worte hämmern mir durch den Schädel, wie um mich zur Vernunft zu bringen, als ich unter die Decke krieche.
Ich wünsche mir völliges Vergessen, stattdessen träume ich. Es ist der Traum, in herrlichstem, strahlendem Technicolor, und er ist wundervoll, während ich mich dort aufhalte.
In dem Traum halte ich Daniels Hand. Sie ist weich und klein und warm, und seine Fingerchen halten sich kräftig an meinen Fingern fest, wie man es von Kleinkindern kennt, während er zu mir hochschaut und lächelt. Mir geht vor Freude das Herz auf, und ich bücke mich, um ihn zu küssen. Die glatte, weiche Haut an seinen Pausbäckchen ist ganz rosig von der Luft hier im Freien, und er kichert vor Überraschung, als ich ihm einen Schmatzer auf die Wange drücke, seine Augen aber leuchten vor Liebe. Er hat die gleichen Augen wie ich, blau, mit grauen und grünen Sprenkeln, und ihr Blick verrät mir, dass ich sein Ein und Alles bin.
In der anderen Hand hält er Peter Rabbit, und er hält ihn vielleicht noch inniger umklammert als meine Finger. Für ihn ist es unvorstellbar, dass ich nicht da bin, Peter Rabbit aber hat er schon einige Male um ein Haar verloren. Einmal blieb er in einem Bus liegen, konnte aber im letzten Moment noch geborgen werden. Ein andermal vergaß er ihn auf einem Tresen im Kiosk an der Ecke. Daniel quält die Angst, dass Peter Rabbit eines Tages nicht mehr da sein könnte; schon bei dem Gedanken bricht er in Tränen aus. Er ist zweieinhalb Jahre alt, und Peter Rabbit ist sein bester Freund.
Ich fühle, wie etwas an mein Unterbewusstsein pocht, eine düstere Wahrheit, die sich nicht ausblenden lässt, nicht einmal im Traum – Es ist nicht Peter Rabbit, der eines Tages nicht mehr da sein wird. Diese kleine Hand in der meinen wird kalt und reglos sein und nie mehr nach mir greifen –, aber ich schiebe sie beiseite und gehe mit Daniel in den kleinen Park mit den schäbigen Schaukeln und Klettergerüsten, deren Lack so abgeblättert ist, dass das rostige Metall darunter an regnerischen Tagen Flecken auf der Kleidung hinterlässt, aber er quietscht vor Freude, als er diesen heruntergekommenen Spielplatz sieht. Er ist zweieinhalb, Rost und Verfall und Lieblosigkeit nimmt er überhaupt nicht wahr. Er sieht nur das Gute auf der Welt. Er ist das Gute auf der Welt.
Seine Hand lässt mich los und rennt mit Peter Rabbit zu den Schaukeln. Ich laufe ihm nach, mit etwas Abstand, weil ich so gern beobachte, wie sich Daniels kleiner Körper bewegt, so niedlich und unbeholfen, eingepackt in seinen kleinen Mantel. Er sieht sich über die Schulter nach mir um, und ich möchte mir dieses herzige Bild am liebsten für alle Zeit einprägen, um mich daran zu erinnern, wenn er zu einem Jungen und dann zu einem Mann herangewachsen sein wird und dieses Ein und Alles, das ich bin, nicht mehr existiert.
Es ist der vollkommene Traum. Ein Nachmittag im Park. Die Liebe ist überwältigend. Sie ist rein. Sie ist so stark, dass sie mich fast erdrückt, so überschäumend, dass sie mir förmlich aus den Poren quillt. Sie ist uneingeschränkt. Ohne irgendwelche Barrieren. In dem Moment gibt es keine Schlechtigkeit in der Welt, und mir kommt der Gedanke, wenn ich mich ganz von der Liebe erfassen lasse, werde ich mich in einen reinen Lichtstrahl verwandeln, der auf Daniel leuchtet.
Ich wache auf, schmerzhaft in mein Kissen japsend und nach Bruchstücken langsam verblassender Bilder haschend, in der vergeblichen Hoffnung, eines zu fassen zu bekommen und ihm folgen und seine kleine Hand für immer festhalten zu können. Es ist immer so nach dem Traum, immer. Es tut so weh, dass ich am liebsten sterben würde, dieses schmerzliche Verlangen, zurückzukehren und ihn zu retten. Ich versuche an Ava zu denken, mein perfektes Mädchen, das Kind, das danach kam, unwissend, frei und wundervoll und von der Welt unbefleckt. Sie ist hier und sie lebt, und ich liebe sie von ganzem Herzen oder was noch davon übrig ist.
Meine Liebe zu Ava macht alles vielleicht noch schlimmer, wenn das überhaupt möglich ist. Ich denke an den Plüschhasen in dem Müllcontainer. Er ist nicht Peter Rabbit. Das weiß ich. Ich weiß, wo Peter Rabbit ist.
Er wurde mit Daniel zusammen beerdigt.
Ava
Ich weiß nicht ganz, was in der Bowle alles drin ist, aber es ist eine verdammt wilde Mischung. Fruchtsaft, Limonade, der Wodka, den Ange mitgebracht hat, und eine Flasche Bacardi aus dem Spirituosenschrank von Jodies Mutter. Die werde das Fehlen der Flasche gar nicht bemerken, behauptet Jodie, aber so ganz bin ich nicht davon überzeugt. Bei dem trotzigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie den Bacardi in die Schüssel kippte, hat sich mir eher der Gedanke aufgedrängt, dass ihre Mum es auf jeden Fall bemerken wird, wenn sie aus Frankreich zurückkommt. Als würde Jodie es bewusst darauf anlegen, sich Ärger einzuhandeln. Schon komisch, wie gegensätzlich unsere Mütter sind. Jodies Mum ist nie da, und meine wird mir langsam echt zu anhänglich. Club der komischen Mütter, so nennen wir es. Den anderen haben wir aber nichts davon erzählt. Die würden das nicht kapieren.
Mir schwirrt der Kopf. Vorhin im Pub haben wir Cider getrunken, und das hier ist mein zweites Glas Bowle. Ich bin dabei, mir richtig einen anzutrinken, was vermutlich die beste Voraussetzung ist, um es zu machen. Um so richtig aus sich herauszugehen.
Ich lehne mich, halb liegend, auf dem Bett zurück, mit dem Kopf an der Wand. Meine Mutter würde ausrasten, wenn sie mich jetzt sehen könnte, auf dem Bett meiner Freundin, zusammen mit meinem Freund, mehr oder weniger. Sie hat bereits eine SMS geschickt, um sicherzugehen, dass wir alle bei Jodie sind. Ich hab mein Handy stummgeschaltet. Man stelle sich vor, sie würde eine SMS schicken, wenn wir gerade mitten dabei sind? Wenigstens ist sie heute Abend mal ausgegangen. Sie geht nicht oft aus, weshalb ich ein noch schlechteres Gewissen habe, weil ich mir mein eigenes Leben wünsche. Ich ziehe die Nabelschnur jetzt seit etwas mehr als einem Jahr beharrlich in die Länge und möchte, dass sie endlich zerreißt, obwohl ich spüren kann, wie sie mich ständig zurückzuziehen versucht.
Ich bin noch immer ein bisschen erschrocken wegen neulich Abend. Dieses eigenartige Trinken in der Küche war schon schlimm genug, aber dann ist sie noch mitten in der Nacht in mein Zimmer gekommen und hat mich angeschaut, während ich mich schlafend stellte. Warum hat sie das getan, wie kommt sie auf so was? Es hat mich beunruhigt, als wäre die Welt auf einmal aus den Fugen.
Ich trinke einen großen Schluck Bowle und höre, wie hinten im Flur die Klospülung betätigt wird. Ich bekomme ein bisschen Herzklopfen. Scheiße. Ich werde tatsächlich gleich vögeln. Kurz beschleicht mich eine total irrationale Sehnsucht nach meiner Mum. Worauf ich mir noch einen Schluck genehmige. Sie ist die Letzte, die ich jetzt brauche. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin eine Frau. Sagt er jedenfalls immer.
«Alles klar?», fragt Courtney, als er ins Zimmer zurückkommt, ein Gästezimmer hier bei Jodie, und anfängt, auf seinem Handy rumzutippen, um ein paar Songs aufzurufen. Ich nicke ihm lächelnd zu und trinke noch mehr Bowle. Sie ist viel zu süß, aber das macht nichts. Ich will mir richtig einen antrinken, und das klappt ganz gut, weil ich nichts im Magen habe. Ob er wohl nervös ist? Wahrscheinlich nicht. Wenn an den Geschichten was dran ist, hat Courtney es schon zigmal getrieben.