Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Krimi mit bissigem Witz und Gesellschaftskritik. Grüne Almwiesen, grasende Kühe, Bergpanorama. Doch das Tannheimer Tal hat noch mehr zu bieten: Vier Leichen mitten in der friedlichen Tiroler Idylle rufen den Wiener Oberst Richard Hayek auf den Plan. Er muss sich durch ein undurchdringliches Dickicht von Gerede im Bergdorf, alten Verbindungen und Scheinheiligkeit kämpfen – bis er auf die einzige Person stößt, die das Motiv des Täters kennt. Doch ausgerechnet sie verschwindet …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 346
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Geboren 1989 in Füssen, aufgewachsen im Tiroler Außerfern, studierte Anna Tröber Rechtswissenschaften in Wien und Oslo mit Schwerpunkt Strafrecht. Sie war in einer renommierten Wiener Rechtsanwaltskanzlei und am Straflandesgericht Innsbruck tätig. Anna Tröber lebt abwechselnd in Wien und der Steiermark.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Daniel Pahmeier
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-987-7
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Für PM.Weil ich es mit zehn Jahren versprochen habe.
Zum ersten Mal seit Tagen konnte sich die goldene Morgensonne wieder in vollem Glanz herzeigen. Bei ihrem Anblick wurde man beinahe schmerzlich daran erinnert, wie lange sie hinter den tief hängenden Nebelschwaden und den dicken Wolkenbänken gefangen gewesen war. Nun tasteten sich ihre Strahlen zaghaft den Weg zurück in die Freiheit. Der moosig kühle Geruch des aufatmenden Bodens erfüllte die Luft. Rundherum fingen die karstigen Felswände das warme Licht auf wie Leinwände die Farbe. Jungvieh graste gemächlich, begleitet von dem verhaltenen Bimmeln ihrer Schellen, an den dampfenden Hängen. Mit ihren Schweifen peitschten sie die früh erwachten Fliegen von ihren grauen Körpern und blinzelten in ergebener Zufriedenheit den beiden Wanderern zu, die den Anstieg auf die Almweide gewagt hatten.
Energisch steckte der Wanderer die Gehstöcke in den weichen Untergrund und kramte den Fotoapparat aus dem übervollen Rucksack. Aus einiger Entfernung vernahm er das Stöhnen der Gattin, die offensichtlich ihre Schwierigkeiten beim Erklimmen der Holzstufen hatte. Der Wanderer fotografierte munter drauflos: die Kühe, die Felswand und die sich mühende Ehefrau.
»Schatz, jetzt lächle doch mal!«, rief er seiner Frau zu.
Vollidiot, dachte sie sich, schnaubte und versuchte, den Klettermaxen einzuholen. Sie hatte Steine in den Schuhen und überhaupt keine Lust auf diese Bergtour, die sich für sie immer mehr als Tortur herausstellte. Das Ziel ihres Gatten war weder ein Gipfel noch Hüttengaudi, sondern der Gewinn von Gesprächsstoff für die nächste Vorstandssitzung. Der Herr Vorsitzende lockerte Besprechungen, bei denen gegen den Weiterbestand von Hunderten Arbeitsplätzen entschieden wurde, gerne mit Erzählungen aus seinen Bergurlauben auf. Nicht selten präsentierte er auch seine atemberaubenden Bilder. Die Gattin hatte es sich eigentlich im hoteleigenen Wellnessbereich gemütlich machen wollen. Eine Schlammpackung, Massagen und natürlich ein entspannendes Dampfbad wären ihr lieber gewesen. Aber sie hatte sich wieder schönreden lassen, welch traumhaftes Erlebnis so eine Morgenwanderung doch war. Sie verfluchte sich leise und stapfte Schritt für Schritt an zerfledderten Kuhfladen vorbei, weiter den Weg entlang auf ihren Mann zu. Dieser knipste noch immer Bilder und schwärmte von der Schönheit des Lichts zu diesen frühen Morgenstunden. Besonders gefiel ihm die alte Kuhtränke in der Mitte des Hanges, wo zwei Jungtiere gelangweilt das grüne Wasser schlürften. Mittlerweile war sie nun auch bei ihm angekommen und seufzte erschöpft, als sie nach der Wasserflasche in der Außenhalterung an ihrem Rucksack langte.
»Müssen wir jetzt an denen vorbei?«, stieß sie angewidert hervor und deutete auf die Kühe. »Ich habe gehört, dass die auch Menschen angreifen.«
Der Mann reagierte nicht. Beim Betrachten der digitalen Bilder fiel ihm ein komischer dunkler Fleck beim Brunnen auf. Er zoomte ganz nah heran, doch es war zu verschwommen, um mehr zu erkennen. Verärgert darüber, dass er seine Lesebrille im Hotelzimmer liegen gelassen hatte, schweifte sein Blick abwechselnd von der Stelle am Brunnen zurück auf das Display der Kamera. Aber sosehr er seine Augen auch zusammenkniff, er erkannte aus der Entfernung einfach nicht mehr.
»Schatz, siehst du das? Das versaut mir das ganze schöne Bild!«, jammerte er. Der verschwommene schwarze Fleck inmitten von blühenden Alpenblumen machte ihm schwer zu schaffen. Wenn dieses Bild in A4 an der Wand in seinem Büro hängen sollte, dann würde ihn dieser Fleck das ganze Jahr über nerven, oder, schlimmer noch, die Kollegen könnten glauben, er beherrsche seine sündhaft teure Kamera nicht.
Was war das nur? Mit den Blüten und dem alten Holz des Brunnens würde es ein wunderbares Farbenspiel abgeben, doch sah es im Moment so aus, als läge dort ein großer schwarzer Müllsack. Das passte natürlich überhaupt nicht. Weder zu seinem Naturbedürfnis noch in sein Bild.
»Ich werde das in Ordnung bringen!«, kündigte er an.
»Aber bitte pass auf, dass diese Tiere dir nichts tun. Sei vorsichtig!«, mahnte sie.
Der Mann stapfte mit der Kamera in den Händen Richtung Brunnen. Sich langsam annähernd, versuchte er fieberhaft herauszufinden, was seine Fotografie verschandelte. Er schüttelte den Kopf. Tatsächlich hatte wohl jemand die Unverfrorenheit besessen, einen vollen Müllsack einfach abzuladen. Er, der ja gute Freunde bei der Bergwacht hatte, würde das natürlich sofort melden. Aber vorher wollte er dieses Bild machen. Er hängte sich die Kamera um den Hals und griff mit beiden Händen nach dem Ende des Sackes. Recht viel Müll, dachte er sich. Die Kamera streifte den Müllsack, wie sie ihm am Gurt um den Hals baumelte. Aber wohin jetzt damit? Er hatte vor, ihn vorerst einfach in den Latschen zu verstecken, damit sein Bild die gewünschte Ursprünglichkeit ausdrücken konnte. Dazu hob er ihn kurz an und schwang ihn eineinhalb Meter über die ätherisch duftenden Äste, dabei merkte er, kurz bevor er den Sack losgelassen hatte, wie das Plastik unter seinem Gewicht nachgegeben hatte und aufgerissen war. Egal. Hauptsache, der störende Müll war ein für alle Mal aus seinem Objektivbereich entfernt und das Licht noch jungfräulich morgendlich. Zufrieden marschierte er zurück an seine Ausgangsposition. Die Kühe beachteten ihn nicht weiter und rupften friedlich die Almkräuter aus dem Boden.
Seine Frau hatte sich für das Geschehen nicht sonderlich interessiert. Sie war damit beschäftigt, sich die Lippen wieder und wieder mit einem Lippenstift mit UV-Filter einzuschmieren.
Ihr Mann versuchte, seine Wanderstöcke als Stativ zu verwenden, und stellte erneut den Weißabgleich ein. Doch als er durch die Linse schaute, entdeckte er zu seinem Entsetzen eine braun-rötliche Färbung. Er drehte die Kamera um und polierte mit einem winzigen Tuch aus seiner Kameratasche die Schlieren gewissenhaft weg. Dabei fiel ihm auf, dass auch an seinen Händen dieser braun-rötliche Dreck haftete. Angeekelt rieb er ihn in seine Hose. Damit fertig, setzte er endlich an, sein Foto zu schießen. Er achtete darauf, den Horizont perfekt waagrecht zu halten, und justierte noch den genauen Bildausschnitt.
Der Frau, die die Landschaft nicht durch ein Display betrachtete, fiel zuerst auf, dass dort, wo ihr Gatte den Müllbeutel hingeworfen hatte, etwas aus den Latschen herausrollte. Er dürfte wohl einen Stein von der Größe eines Fußballes gelockert haben. Dieser ordentliche Brocken rollte nun langsam auf sie zu.
Noch mal schnell etwas an der Blendenverschlusszeit geändert, und perfekt war das Bild der Almweide mit Kühen, Felswänden, schneebedeckten Gipfeln und einem herabrollenden menschlichen Kopf.
Es waren ruhige Tage für den Polizeiposten der Sechshundert-Einwohner-Gemeinde, wenn die vielen Urlauber in die Gegend kamen. Die Einheimischen hatten genug damit zu tun, den Touristen ihren Aufenthalt so schön wie möglich zu gestalten, und da die letzten Tage hindurch das Wetter nicht besonders gut gewesen war, umso mehr. In letzter Zeit hatte es nicht mal Gelegenheit gegeben, den einen oder anderen Schein zu zupfen. Ja, die Gastwirte brauchten das Haus nicht zu verlassen. Die Strecke in den Keller zum Selbstgebrannten schaffte man ja noch zu Fuß.
Polizeiinspektor Rainhardt, genannt Hartl, war gerade dabei, für sich und den Kollegen Kaffee einzugießen, als ihn ein Telefonanruf unterbrach. Er hob den Hörer ab. »Ja, Rainhardt.«
Sein Kollege spielte mit Büroklammern zwischen seinen Fingern. So ein kleiner Sandkasten mit einem Miniaturrechen wäre eine Sache, dachte er sich. Dafür brauchte man aber einen größeren Schreibtisch. Vielleicht hätte er doch Buchhalter werden sollen. Ein Gedanke, den er täglich mehrmals hatte. Er bekam nicht viel mit von dem, was Hartl sprach.
Er redete nie viel am Telefon. »Hmh«, »jaja«, »na ja«, »okay« war so ziemlich alles, was er das ganze Telefonat hindurch sagte. Es war kein erfreulicher Anruf. Als er aufgelegt hatte, seufzte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Sein Kollege Inspektor Felix Garer rückte sich die Brille zurecht und musterte Hartl.
»Ah, Scheiße, Garer, des war’s mit meim Urlaub am Gardasee.«
Zur selben Zeit störte das Klingeln des Telefons auch die Ruhe der urlaubsbedingt stark dezimierten Ermittlungsgruppe von Oberst Richard Hayek in der rund hundert Kilometer entfernten Landeshauptstadt. Nur mit höchstem Unwillen vernahm der Oberst die Meldung eines möglichen Mordes. Höher als die Abneigung, über den Fernpass in das entlegene Tannheimer Tal zu fahren, das man eigentlich nur aus dem Verkehrsfunk und dem Wetterbericht kannte, blieb lediglich die Verwunderung darüber, dass man auf einer Alm nun abgeschlagene menschliche Schädel fand.
An der Talstation der Gondelbahn brach die Hölle los. Von der nächstgelegenen Schirmbar aus beobachteten neugierige Touristen, aber auch einheimische Schaulustige den Vorgang. Zig verschiedene Einsatzfahrzeuge der Polizei, der Feuerwehr und Rettung standen dort bereit. Beamte in weißen Plastikkitteln tummelten sich geschäftig herum, trugen Koffer in die Gondeln und telefonierten wild gestikulierend. Hartl und Garer versuchten, die Durchfahrt für die Einsatzfahrzeuge zu regeln. Nicht nur einen Urlauber hatten sie mit den Worten wegschicken müssen, dass dies ein Polizeigroßeinsatz sei und die Gondelbahn heute nur den Einsatzkräften zur Verfügung stehe. Die Vans mit den Stickern am Heck, die auf die Vornamen der minderjährigen Mitfahrer hinwiesen, zogen wieder ab. Für Kevin-Marcel und Leonie-Chantal dürfte das nicht die erste und letzte Enttäuschung in ihrem Leben gewesen sein. Dessen war sich Garer sicher.
»Sag amol, Garer, hosch du die Hund angruafen?«, lautete Hartls nächste Frage, der dienstbeflissen wie eh und je den Autos den Weg von der Talstation wegwies.
»Na, hon i it, i hon mir denkt, die werden die schon mitbringen.«
Hartl fuhr herum und fuchtelte aufgeregt mit der Kelle vor Garers Gesicht herum:
»Geh, du Trottel, jetzt telefonier denen nach. Des kann’s ja wohl it sei, dass mir kuane Hund da hend, wenn jetzt glei der Ermittlungsleiter kommt. Herrgottzack!«, wies er ihn wutentbrannt zurecht. Hartl wollte sich nicht vor den Kollegen vom LKA blamiert wissen.
Garer tippte lustlos Zahlen in sein Telefon, als auch schon ein schwarzer Wagen vorfuhr.
Hartl schien es, als ob sich gerade in dieser Sekunde das Wetter verschlechtert hätte. Das Auto trug ein Wiener Kennzeichen und parkte nonchalant ein Rettungsfahrzeug zu. Auf so einen hatte Hartl den ganzen Tag gewartet. Er klopfte energisch gegen die Scheibe an der Fahrerseite. Anstelle des Fensters ging gleich die Tür auf.
»Sie da! Sie parken das Einsatzfahrzeug zu, fahren S’ des sofort weg!«, intervenierte Hartl.
Ein Mann stieg aus, streckte sich und langte nach seinem Sakko zurück in den Wagen, das er sich leger anlegte und in dessen Brusttasche er seine Sonnenbrille steckte.
Hartl versuchte, mit verstärkter Gestik und lauterem Tonfall mehr Eindruck zu machen. »Sind Sie terrisch? Wegfahren sollen Sie!«, schrie er ihn an.
Der Mann aber grinste nur wenig beeindruckt und griff in seine Sakkotasche. Er wies sich als Oberst Hayek, stellvertretender Leiter des Ermittlungsdienstes, aus und war unüberhörbar Wiener: »Wann ma nur an Kopf findet, dann kennen S’ ana sicher sein, dass S’ des Krankenwagerl ned brauchen wearn.«
Der Beifahrer, ein junger Mann, ebenfalls in Zivil mit Sportjackett, kam hinzu. Noch nie hatte er den Oberst so einen übertriebenen Dialekt sprechen hören. Er gähnte in seinen Handrücken und schaute skeptisch in den Himmel. Er stellte sich bei Hartl und Garer wesentlich höflicher als sein Chef als Benedikt Vogelspiel vor. Vogelspiel war daran gewöhnt, hinter Hayek herzuräumen.
»Sagn S’, Herr Inspektor, san die Hund schon oben? Es scheint ein Wetter aufzuziehen«, fragte er, ohne ihm ins Gesicht zu sehen, und bildete mit seiner Hand Windschutz für die Zigarette, die er sich anzurauchen gedachte.
Das Türklingeln schreckte Veva Wolf aus dem Schlaf. Zum Kuckuck, dachte sie. Sie rekelte sich kurz, schwang die Beine aus dem Bett und bemitleidete sich selbst ganz fürchterlich. Der Abend in der Cocktailbar des Seehotels hatte lange gedauert. Eigentlich hatte sie nur die Arbeitswoche bei einem Gläschen ausklingen lassen wollen, aber der attraktive Belgier, der wegen eines Canyoningtrips im Ort war, hatte sie ihre Meinung ändern lassen. Es war nicht bei einem Gläschen geblieben, und ihr Bett war nicht das erste, aus dem sie sich heute schon bemüht hatte.
Auf dem Weg aus dem Zimmer griff sie nach ihrem violetten Bademantel und legte ihn sich um die Schultern. Sie verzichtete darauf, sich über die Gegensprechanlage danach zu erkundigen, wer vor ihrer Tür stand, und betätigte gleich den Summer. Unbemerkt war ihr der graue Schäfer-Husky-Mischling gefolgt. Er streckte sich elegant und gab ein zufrieden glucksendes Geräusch von sich. Der Schwanz wedelte vorfreudig auf den Besuch. Sie vergewisserte sich, dass der Hund nicht durch die Tür schlüpfte, und machte nur einen Spaltbreit auf. Außerdem genierte sie sich für den alten Bademantel. Vor der Tür stand der Polizeibeamte Felix Garer. Sie entspannte sich. Garer war ein alter Schulfreund. Sie wusste noch, dass er eigentlich immer hatte Buchhalter werden wollen. Er hatte in der Volksschule immer Zahlscheine verteilt, die er seiner Mutter aus der Post gestohlen hatte.
»Griaß di, Felix, jetzt bin i aber gespannt. Was isch denn passiert?« Sie machte die Tür weiter auf.
»Ja, servus. Der Besuch isch ganz dienstlich. Oben am Skilift findet a Großeinsatz statt«, sagte er ohne Pause zwischen dem Grußwort und der Botschaft. »Die Suchhundestaffel steckt im Stau wegen der Blockabfertigung am Tunnel. Die werden nicht rechtzeitig da sein, und a Wetter zieht auf. Wir brauchen dringend an Hund. Es isch zwar kua Lawinenkegel, aber kann er auch so a Fährte aufnehmen?«
Wolf zog die Brauen hoch und ließ den Hund den Beamten begrüßen. Hechelnd und beinahe winselnd vor Freude schlang sich der Hund um die Beine von Garer und biederte sich für Streicheleinheiten an.
»Ja, klar können wir das versuchen. Fährtenarbeit steht eh am Trainingsplan«, hörte sie sich entgegen ihrem vorherrschenden Bedürfnis nach mehr Schlaf und kohlensäurehaltigen Getränken sagen.
»Kannsch du glei mitkommen?«
Sie fühlte sich überfahren. Körperlich wie mental. Der leichte Schlaf, bedingt durch das Übermaß an Alkohol, war nun in einen konstanten Schwindel und eine zermürbende Unlust übergegangen.
»I mach mi nur schnell fertig.«
Sie verschwand in den hinteren Bereich der Wohnung und erschien wenige Minuten später in wetterfester Kleidung. Die Falten in der schwarzen Hose ließen darauf schließen, dass sie länger ungebraucht im Kasten gelegen hatte. Mit dem charakteristischen »Zipp« machte sie die rote Jacke zu. Sie verließ das Haus mit offenen Schuhbändern und verfrachtete den aufgeregten Hund auf die Rückbank des Streifenwagens.
Der Hund hechelte aufgeregt und verschmierte mit seiner Schnauze sorglos die angehauchten Seitenscheiben. Wolf schnürte sich letztlich die Bergschuhe, während Garer losfuhr und erklärte, dass dies kein gewöhnlicher Einsatz werden würde. Er sprach vorsichtig, fast so als wollte er sie nicht verschrecken. Wolf freute sich nicht, zu hören, dass auch der Jäger mit seinen Hunden verständigt worden war. Ihre beiden Tiere waren schon einmal aneinandergeraten. Es war nicht unblutig ausgegangen. Seitdem verstanden sich die beiden nicht mehr. Es brachte schon eigenartige Wirkungen zwischen zwei Menschen mit sich, wenn ihre Hunde offen aufeinander losgingen. Selbst wenn man die Tierarztrechnungen korrekt abgewickelt hatte und von überschwänglichen Schuldzuweisungen absah, mochte zwischen den Hunden alles geklärt sein, aber unter ihren Besitzern machte sich ein hartnäckiges Misstrauen breit. Es war letztlich Wolfs Haftpflichtversicherung gewesen, die für das zerfetzte Ohr der Bracke hatte aufkommen müssen.
Sie klappte die Blende herunter, um endlich einen Blick in den Spiegel zu erhaschen. Die Flasche Wein des Vorabends hatte sich in ihrem Gesicht nicht allzu sehr abgezeichnet. Ihre Augenlider waren nicht übermäßig aufgequollen, und das restliche Make-up sah fast wie dezent geschminkt aus. Was für eine Erleichterung. Sie lehnte sich zurück in den Sitz.
»Nun, jetz sag amol, wen suchen wir eigentlich?« Sie war bislang einfach noch nicht wach genug gewesen, um sich auf die ihr bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Da fiel ihr Blick auf die vielen Einsatzwägen und das aufgescheuchte Sonderaufgebot, das mehr Tumult zu veranstalten vermochte als eine Liftkassaöffnung in der Skihauptsaison.
Garer hatte die ganze Zeit über mit näheren Details gegeizt, aber nicht übertrieben, als er von einem nicht gewöhnlichen Sucheinsatz sprach.
»Einen Toten suchen wir«, gab er nach längerem Zögern schließlich zur Antwort und legte seinen Arm um die Nackenstütze des Beifahrersitzes, um sich zum Rückwärtseinparken möglichst weit nach hinten drehen zu können.
»Woher wissen wir, dass er tot isch?«, fragte sie erstaunt. Sucheinsätze nach Vermissten in den Bergen waren keine Seltenheit. Dabei vermied man es aber stets, davon auszugehen, dass der Gesuchte nicht mehr am Leben sein könnte. Sie konnte die Augen von dem Polizeifahrzeug nicht abwenden, von dem sie wusste, dass damit Personen in grauen Särgen abtransportiert wurden.
Es grollte bereits, als Wolf und der Hund in die Gondel stiegen. Garer war im Tal geblieben. Hartl hatte ihn gebraucht. Sie saß allein in der Kabine und war gespannt darauf, was sie erwarten würde. Es roch nach verschmortem Plastik. Jemand hatte erst kürzlich darin geraucht, obwohl überall Verbotszeichen angebracht waren.
Garer hatte ihr immerhin sagen müssen, dass ein Tourist einen menschlichen Kopf in einem schwarzen Müllsack gefunden hatte. Es war ihm nur schwer über die Lippen gekommen, als ob er befürchtete, das Geschehene mit jeder Einzelheit noch realer werden zu lassen. Felix Garer war nicht für solche Einsätze geschaffen. Er war überhaupt nicht für den Polizeidienst geschaffen. Veva Wolf war das klar, und sie übte daher Nachsicht. Sie hatte selbst ein seltsames Gefühl im Magen. Ekel war es eher weniger. Sie hatte zwar noch nie einen abgetrennten menschlichen Kopf gesehen, aber mit Leichen konnte sie irgendwie. Das vermochte sie unverblümt von sich zu behaupten. Während sich die anderen Studenten in der Gerichtsmedizin bei Fachveranstaltungen für Juristen abgestoßen hatten abwenden müssen, war sie es gewesen, die die Spurensicherung am Körper der Leiche immer genauestens mitverfolgt hatte. Wenn sie einen Toten sah, dann spürte sie sich ganz dieser Kraft der einzigen Endgültigkeit ergeben. Es gab nichts, wovon es sich abzuwenden galt. Es war, wie es war. Der Tod war so sicher und unausweichlich. Viel mehr schüchterte sie das Leben ein. Leben schien viel schwieriger als sterben.
Den ersten toten Menschen hatte sie bereits im Alter von neun Jahren gesehen, als sie die Leiche eines Mannes nach dessen Selbstmord entdeckt hatte. Der Körper hatte damals eigentlich keine richtige Form mehr gehabt. Nicht einmal mehr Schuhe waren an den Füßen gewesen. Sie erinnerte sich an die Stofffetzen, die einst bekleidete Stellen angedeutet hatten, und diese himmelschreiende Surrealität, die in der starren Leblosigkeit lag, die der Tod über menschliche Körper brachte. Vom Kopf hatte sie damals nur den Kiefer mit seinen Zahnreihen erkennen können. Alles andere war zur Unkenntlichkeit zerschmettert gewesen. Füße dort, wo Ohren hingehörten. Ein Arm wie ein Gürtel um den Bauch. Lange hatte sie den Toten damals betrachtet. Sie hatte sogar überlegt, ob sie ihn anfassen sollte, aber das wäre ihr damals schon respektlos erschienen. Seither war sie nie wieder an diesen Ort gegangen.
In ihrem Magen rumorte es. Der Hund blickte sie fragend an. Eine Welle des Schauderns durchfuhr sie. Ich hasse Wein. Ich hasse Wein. Ich hasse Wein. Das verinnerlichte sie sich wie ein Mantra, damit sie sich beim Aussteigen aus der Gondel nicht vor den herumstehenden Menschen übergeben musste. Garer hatte ihr gesagt, man werde sie oben abpassen. Doch es schien sie niemand zu erwarten. Der Hund wäre am liebsten losgestürmt und hätte sich im noch taufrischen Gras gewälzt.
Es begann langsam zu tröpfeln. Sie hatte es zwar unter ihrer witterungsbeständigen Kleidung nicht gespürt, doch die kleinen Wasserpfützen zogen schon radarartige Kreise. Um sie herum war dennoch einiges los. Menschen in weißen Kitteln eilten von A nach B. Sie machten sich wohl Sorgen um ihr Equipment. Einer davon ging nahe an ihr vorbei. Sie sprach ihn an.
»Entschuldigen Sie, ich suche Oberst Hayek.«
Keine Antwort, nur ein hastiges Nicken in Richtung Hang hinunter, während er kleine Plastiktüten in größere packte und beklebte.
Etwa hundert Meter unter der Bergstation befand sich eine Kuhtränke. Die Tiere waren zusammengetrieben und mit dünnen Elektrobändern in Schach gehalten. Das gefiel ihnen ganz und gar nicht. Sie muhten unaufhörlich. Neben den eingezäunten Tieren machte sie eine Person aus, die nun wirklich nicht in die Landschaft passte. Ein großer Mann in schwarzem Anzug stand und unterhielt sich angeregt mit einem der weißkitteligen Männer. Er trug längere Haare und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Die strenge Haltung und zurückhaltende Gestik wiesen darauf hin, dass man es mit einem leitenden Beamten zu tun hatte. Wolf steuerte auf ihn zu. Sie war verwundert darüber, sich weitestgehend ungehindert über einen möglichen Tatort bewegen zu dürfen, und wartete darauf, von irgendeiner Seite weggewiesen zu werden. Womöglich hatte man ihre Anwesenheit geradezu erwartet. Es war wohl auch das drohende Unwetter, das die Aufmerksamkeit von ihr ablenkte.
Der Hund ging brav bei Fuß. Er kannte hier jeden Grashalm. Jeden Lawinenhang und jedes Murmeltierloch. So wie sie. Ein weiteres Grollen von Westen her hielt sie zur Eile an. Sie war schnell unten bei dem Mann, von dem sie sich erwartete, ein Oberst des Landeskriminalamtes zu sein. Noch ehe sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, wurde sie durch das Keifen eines Rudels Hunde dazu veranlasst, ihren Kopf zu wenden. Sie verdrehte die Augen. Der junge Jagdpächter war mit dem gesamten Zwinger ausgerückt und machte sich ebenfalls an den Abstieg. Seine Hunde zerrten an den Leinen, steckten ihre Köpfe abwechselnd in irgendwelche Löcher. Sie schnupperten in alle Richtungen und waren in ihrer Triebhaftigkeit kaum zu bändigen. Wolfs Hund bemerkte ihr Schnauben. Die anderen Hunde ignorierte er.
»Herr Oberst?«, sprach sie den Mann im Anzug noch aus einigen Metern Entfernung an.
Er drehte den Kopf in ihre Richtung, ohne auch nur eine Regung auf seinem Gesicht erkennen zu lassen.
»Herr Inspektor Garer hat mich hergebracht, ich soll …« Sie sprach mit ihm in dialektfreien Sätzen.
Wieder eine ruppige Reaktion des Vorgesetzten befürchtend, schaltete sich Vogelspiel dazwischen. Er hatte bereits über Funk von ihrem Eintreffen gehört und begann, sie dem Oberst vorzustellen. »Das ist Frau Wolf. Sie oder, besser gesagt, der Hund ist Mitglied der hiesigen Lawinenhundesuchstaffel. Einer der vielversprechendsten Ersatzkandidaten unserer eigenen Hunde. Man ging im Tal davon aus, dass sie hilfreich sein könnte.«
Mit Zusammenpressen der Lippen konnte sich der Oberst zurückhalten, seinen Unmut darüber kundzutun, dass es an Stümperei kaum zu übertreffen war, dass die Polizeihunde nicht rechtzeitig angefordert worden seien und man sich jetzt mit großen grauen Kuscheltieren von irgendeinem Dorfverein abgeben müsse. Auf diese Weise scheine ihm die Spurensuche mitnichten vielversprechend. Er musterte Hund und Hundeführerin, ohne sie lange anzusehen. Neben dem mächtigen Hund wirkte die Person klein. Die rote Jacke mit dem weiß aufgeprägten Hund fand er wichtigtuerisch. Darüber hinaus hatte die Frau ein unschuldig anmutendes Gesicht, das sie unscheinbar und wenig kompetent wirken ließ. Der schulterlange glatte Pferdeschwanz tat sein Übriges dazu, um ihr eher kindliches Auftreten zu unterstreichen.
»Ja, ja, ja, glauben Sie also, Ihr Hund kann einer Spur nachgehen, und das ohne langes Erklären?«, fragte er hastig.
Das ausgedrückte Misstrauen galt eindeutig ihr und nicht dem Hund. Das hörten Vogelspiel wie auch Wolf eindeutig heraus. Unwillkürlich änderte sich Wolfs Haltung. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und suchte nach einer Antwort, die ihrer verkaterten, eher gereizten Verfassung gerecht werden sollte.
Wieder war es Vogelspiel, der vermittelnd eingriff. »Wir möchten natürlich wissen, aus welcher Richtung der Schädel hergebracht wurde und ob nicht sogar der Rest des Körpers hier irgendwo liegt. Das dürfte ja wohl ein anderes Vorgehen sein, als Menschen unter Schneedecken zu finden. Oder nicht?«
Wolf schätzte Vogelspiel sofort. Er verstand sich voll und ganz auf Loyalität gegenüber Hayek. Weder korrigierte er diesen in irgendeiner Form, noch zeigte er sich unterwürfig. Trotzdem wusste er die Situation zu retten, ehe die Peinlichkeit überhandnahm. Er schien etwa in ihrem Alter zu sein, vielleicht etwas jünger, und markierte mit Haltung und Gehabe die Bedeutung des Wortes »Adjutant«. Sie hatte etwas Mitgefühl für ihn übrig, da er mit seinem Chef offenbar nicht das große Los gezogen hatte.
Daher wandte sie sich nunmehr an ihn. »Wenn es eine Spur gibt, dann findet er sie«, versicherte Wolf, und ihre Stimme war an diesem Tag noch nicht so fest gewesen.
»Dabei sieht der Hund genauso aus wie dieser riesige Stoffhase, den Kollege Stinner letztens auf der Betreuungsfahrt gewonnen hat, finden Sie nicht, Vogelspiel?«, fragte er seinen Kollegen, die Untergriffigkeit war kaum zu überhören. Vogelspiel stimmte ihm zu. Die braungraue Färbung und das üppige Fell hielten einem Vergleich wirklich stand.
Mittlerweile war auch der Jäger mit seinen Kötern bei Hayek angekommen. Sie bellten immer wieder den Mischling an und zerrten unruhig an ihren Leinen. Der junge Jäger grüßte Wolf, Wolf grüßte verhalten zurück. Es ärgerte sie, dass der Oberst sich dem Jäger gegenüber höflicher zeigte. Er bedankte sich sogar bei ihm für sein Erscheinen.
»Was für eine Hundestaffel!«, stellte der Oberst fest, und sein Ton ließ nicht vermuten, dass er dies positiv meinte.
Dann wurden sie schnell eingewiesen. Geruchsproben wurden ausgehändigt und die Richtungen auf die Hundeführer aufgeteilt. Man verabsäumte nicht, ausgiebig darauf hinzuweisen, dass alles ein Hinweis sein könne und daher so wenig eigene Spuren wie möglich produziert werden sollten. Jeder Fußabdruck zu viel müsse vermieden werden, um keine Anhaltspunkte zu zerstören, geschweige denn welche zu schaffen, die keine seien. Zu allem Überfluss gebe es auch noch einigen Grund zur Eile. Wenn es erst mal zu schütten beginne, sei es für einen Hund kaum mehr möglich, einer Spur nachzugehen.
Die Beamten hatten bislang nur feststellen können, dass ein abgetrennter menschlicher Kopf neben der Kuhtränke in einem schwarzen Müllsack abgeladen worden war. Nach der ersten Sichtung und genauen Dokumentation mit Kärtchen rund um die Tränke war der Schädel an eine wettergeschützte Stelle in der Bergstation gebracht worden. Die Klärung der Identität des Toten stand noch aus. Vorrang hatte jedenfalls die Sicherung allfälliger Spuren vor dem Unwetter. Es gab noch keinerlei Anhaltspunkte, auf welchem Weg der Schädel zur Tränke gelangt war und wo der eigentliche Tatort lag. Eine entsprechend große Blutspur, die auf eine Stelle hindeutete, an der der Schädel abgetrennt worden wäre, war vergeblich gesucht worden.
Wolf hatte die Aufgabe bekommen, den Talkessel nach Nordwesten hin abzusuchen. Lediglich Hayek begleitete Wolf. Ein zu großes Gefolge hätte den Hund irritiert. Wolf hatte darauf bestanden, dass er zur Suche alle Ruhe brauchte. Damit hatte sie in erster Linie eigentlich Hayek loswerden wollen. Nach seinem offen zutage gelegten Misstrauen in ihre Fähigkeiten war sie durchaus verwundert darüber, dass er sich dennoch ihr und nicht dem Jäger angeschlossen hatte. Dieser Angeber hatte schließlich nur einen Hund auf eine Spur angesetzt. Die anderen drei hatte er der Obhut eines Beamten überlassen, wo sie im Platz verharrten und leidend ihrem Herrchen und dem Leithund nachblickten.
Der Mischling verstand schnell. Bereits nach den ersten Metern in die abgesuchte Richtung hatte Wolf sich einen Vorsprung vor Hayek herausgeholt, der unbestreitbar von ihrem wesentlich besseren Schuhwerk herrührte. Vor allem abwärts hatte sie guten Halt, wohingegen ihr Begleiter immer wieder ausrutschte. Ohne sich umzudrehen, konnte sie ihn stets einige Meter hinter sich am Dauerrauschen und -krachen seines Funkgerätes ausmachen, welches nur vom unablässig näher rückenden Donner übertönt wurde. Wolf kannte das Wetter. Sie spürte die untrügerische kalte Böe, mit deren Abklingen sich die Himmelsschleusen öffnen würden.
Der Hund hatte definitiv eine Spur. Sie führte längs über den Hang, allerdings auf keinem Weg. Zwischendurch scherte die Hundenase nach links oder rechts aus, wurde hektisch, kam jedoch immer wieder auf diese Linie zurück. Sie mussten sich also auf dem schmalen Steig, den die schweren Hufe der Rinder über Jahrzehnte in die Vegetation getreten hatten, durch ein Labyrinth aus Latschen kämpfen. Das Stechen und Kratzen der Nadeln machte Wolf nichts aus. Sie setzte ihre Tritte mit Bedacht und lauschte dem Geräusch der an ihren Schienbeinen abgleitenden und zurückpeitschenden Äste. Der Boden war mit großen Steinen gespickt, und oberirdische Wurzeln erforderten alle Konzentration, um in der Eile nicht ins Stolpern zu geraten. Der eifrige Hund kannte keine Geduld. Hayek hatte hinter ihr allerhand Probleme, Schritt zu halten. Seine genagelten Schuhe mit dem kaum vorhandenen Profil trugen ihr Übriges dazu bei. Trotzdem machte er keine Anstalten, aufzugeben oder das Tempo zu verlangsamen. Dann wurde es ruhig um Wolfs Ohren. Der Wind war abgeflaut, und bevor der nächste Stoß sie erwischte, begannen sich die Wolken mit einem Schlag zu entleeren. Für Flüche nahmen sie sich nicht die Zeit und blieben konzentriert. Wolf gönnte dem überheblichen Beamten die kalte Dusche. Sie selbst war besser für die Witterung gekleidet, und das Wasser perlte an der beschichteten Funktionsjacke ab. Hayeks Anzug hingegen sog das Wasser auf wie ein Schwamm.
Der Regen prasselte schwer auf den weichen Moosboden. Kleine Löcher füllten sich sofort mit Wasser. Aus trockener Erde wurde in wenigen Sekunden zäher Schlamm. Der Regen verunsicherte den Hund, doch er behielt die Nase am Boden, wich aber von der zuvor verfolgten Linie scharf Richtung Norden ab. Wolf zögerte und zweifelte daran, dass ihr Hund noch auf der Fährte war. Der eingeschlagene Weg führte weder ins Tal noch zur Bergstation. Nach einigen Metern ging es wieder etwas bergauf. Der Mischling wurde hektisch. Er tat sich sichtlich schwer, scherte öfter nach beiden Seiten aus, warf immer wieder die Nase in die regendurchlöcherte Luft. Er blieb aber auf seiner Linie nordwärts. Wolf wusste, dass es in dieser Richtung über ein kleines Kar in eine Talsenke ging. Diese Senke war nach Westen durch steile Felswände begrenzt und mündete im Osten in sanft bewaldetes Gelände. An dieser Stelle befand sich ein unscheinbares Sumpfgebiet mit einem kleinen braunen See, welcher durch das abfließende Schmelzwasser der umliegenden Hänge gespeist wurde. Die Hirten waren stets darauf bedacht, den Zaun am Kar immer in Schuss zu halten. Das Vieh durfte dem Schlammloch nicht zu nahe kommen. Es barg große Gefahr für sie.
Der Hund hatte nun allerdings die Spur verloren. Er lief in kleinen Kreisen ohne Orientierung, schnupperte nach links, kam zurück auf die Linie, um dann wieder nach links oder nach rechts neuerlich nach Geruchsfetzen anzusetzen. Vergebens. Die Spur war weg. Wolf rief nach ihm, lobte ihn. Das Fell des Hundes war regennass, er schüttelte sich unter ihren Streicheleinheiten. Sie war ohnehin nun auch bis auf die Haut durchnässt. Keine noch so funktionale Kleidung hätte dies bei diesem Wolkenbruch verhindern können.
Hayek war etwas zurückgefallen, holte aber langsam keuchend auf. Das weiße Hemd fast durchsichtig, das Sakko schwer und formlos und die Schuhe und Hosenbeine voller Matsch. Einzelne lange Haarsträhnen klebten in seinem Gesicht.
»War es das hier nun?«, warf er ihr mehr vor, als dass er fragte. »Weiter geht es nicht?«
»Schmeißen wir mal nicht so schnell das Handtuch. Es gibt nur einen bestimmten Ort, wohin die Richtung führen kann«, entgegnete sie ihm und setzte ihren Marsch unvermittelt fort.
Der Mischling streifte neben ihr her. Hayek seufzte. Er sah nur verschwommen, weil ihm riesige Regentropfen in die Augen fielen. Er folgte ihr weiter den Hang hinauf, bis sie und der Hund über der Kuppe und aus seinem ohnehin eingeschränkten Gesichtsfeld verschwunden waren.
Er stapfte durch den saugenden Matsch. Das Unterfangen wurde durch den starken Regen um einiges beschwerlicher. Es kam, wie es kommen musste, Hayek stolperte über eine Wurzel und landete bäuchlings auf einem kantigen Stein, der sich schmerzhaft in seinen Brustkorb bohrte. Er stützte sich mit den Händen ab, schnappte nach Luft. Eine Weile konnte er sich nur auf das braune Regenwasser, das ihm von Nase und Haaren tropfte, konzentrieren, um nicht von dem Stechen in seinen Lungen übermannt zu werden. Als dieses nachgelassen hatte, bestätigte ihm ein mehr oder weniger schmerzfreies Husten, dass nichts gebrochen war, und er rappelte sich auf. Er holte Wolf langsam ein, die an einem Zaun stehen geblieben war.
»Haben Sie sich auch nichts getan?«, erkundigte sie sich mit Genugtuung in ihrer Stimme.
Er sah selbst an sich herunter und bemerkte beschämt, dass er von oben bis unten voller Schlamm war.
»Vorsicht, das ist Stacheldraht!«, warnte sie und stieg auf den unteren Draht, während sie den oberen so weit wie möglich anhob. Sie bedeutete dem Hund, dort durchzugehen, was dieser auch tat.
Hayek gab sich prahlerisch, zog sein Sakko aus und warf es über den Draht, sodass er gefahrlos, ohne hängen zu bleiben, drübersteigen sollte. Er bedeutete Wolf, dies ebenso zu machen. Um das Sakko war es nun also ein für alle Mal geschehen. Als Hayek nur in seinem ehemals weißen Hemd vor ihr stand, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dennoch behielt er Haltung und schien jedenfalls nicht zu frieren. Mit solchen Unwettern ging es meist einher, dass die Temperaturen hier auf knapp zweitausend Höhenmetern drastisch absanken. Es war wohl auch ihre Aufregung, die sie nicht merken ließ, dass sie selbst bereits ziemlich fror.
Vor ihnen lag jetzt das Schlammloch, umrundet von kniehohem Matsch. Wolf schilderte Hayek in wenigen Worten, warum dieses unscheinbar anmutende landschaftliche Idyll eine gefährliche Falle für das Jungvieh darstellte. Beim Versuch, an das Wasser zu gelangen, sanken die Tiere hier immer wieder tief im Schlamm ein. In Panik ausbrechend, trieben sie dann ihre klobigen Beine nur immer tiefer in den weichen Boden und gingen bei den hoffnungslosen Versuchen, sich zu befreien, letztlich vor Erschöpfung zugrunde. Hayek schien verstanden zu haben, jedoch ohne dass es ihn zu interessieren schien. Sie nannte ihm den Namen der Gegend. Hayek versuchte, seine Position am Funk durchzugeben. »S-e-b-e-n-s-e-e«, musste er buchstabieren. Sie suchte währenddessen mit den Augen die Wasseroberfläche und den umliegenden Schlamm ab. Der Mischling hatte sich derweil unter eine Latsche gelegt, um Augen und Ohren aus dem Regen zu bekommen. Aus der Ferne war der Rest des Suchtrupps zu hören. Am lautesten waren dessen Flüche über das Wetter, das Landleben und die Bezahlung für diesen Job. Wolf konnte nur für ihn hoffen, dass er heute nicht auch noch über den Fernpass zurück in die Landeshauptstadt fahren musste.
Die ankommenden Beamten erheiterten sich an Hayeks Aussehen. Ein weißer Kittel wurde ihm gereicht. Er fragte sich zwar, was ihm dieser noch helfen sollte, schlüpfte aber dennoch hinein.
»Frau Wolf, haben Sie vielen Dank, aber wir haben aktuell keinen Bedarf mehr an Ihren Diensten. Ich darf Sie nunmehr darauf hinweisen, dass dies eine polizeiliche Ermittlung ist, und bitte Sie, wieder ins Tal zu fahren«, sagte er kurz und wandte sich von ihr ab.
Wolf war etwas enttäuscht. Ihre Mimik vermochte dies gut zu verbergen, da alle Muskeln in ihrem Gesicht darauf angesetzt waren, die Sturzbäche von den Augen abzulenken. Eigentlich wäre sie gerne noch geblieben und hätte sich das Treiben weiter mitangesehen, nicht zuletzt, da unter den gegebenen Umständen auch noch Taucher angefordert werden würden.
Mit einem Pfiff war der Hund an ihrer Seite. Hayek stand mittlerweile unter einem Regenschirm und besprach sich mit den anderen. Sie nickte ihm zum Abschied zu, er bemerkte es jedoch nicht. Der Regen knisterte auf dem Plastiküberwurf. Dann wurde sie von einem älteren Beamten zurück zur Bahn begleitet. Sie gingen schweigend.
Bei der Bergbahn wollte sie sich von ihrem Begleiter verabschieden, doch dieser machte Anstalten, ebenfalls ins Tal zu fahren. Sie stiegen in die Gondel ein. Der Hund wirkte dabei äußerst ungelenk. Aufgrund der Länge seines Körpers hatte er Mühe damit, die Vorderbeine in die fahrende Gondel zu setzen und die Hinterläufe vom festen Boden hinterherzubekommen. Diese Strapaze war er allerdings gewohnt. Sie sah sich nach dem Jäger um. Das Gebell seiner Hunde hatte sie schon länger nicht mehr vernommen. Sie fragte sich, ob er etwas Hilfreiches gefunden hatte. Nachdem aber gleich die ganze Tatortgruppe zum Sebensee angerückt war, dürfte wohl eher sie die entscheidende Fährte gefunden haben. Als sie sich zufrieden gegen die zerkratzte Scheibe der Gondel lehnte, fiel ihr wieder auf, wie übel ihr eigentlich war. Der Belgier hatte seinen Canyoningtrip wohl ausfallen lassen müssen.
Der Polizist saß ihr gegenüber. Er rieb seine Handflächen aneinander und pustete sich auf die kalten, starren Finger. Dabei seufzte er und meinte etwas in die Richtung, dass es nicht sein könne, dass er in seinem Alter kurz vor der Pensionierung noch derartige Einsätze zu verrichten habe. Wolf nickte verständnisvoll. Sie hatte nicht das Bedürfnis, sich mit ihm zu unterhalten, empfand sich aufgrund der Umstände aber dazu verpflichtet. Schweigen erschien ihr auf dem beengten Raum als unangenehm intim. Small Talk war nie ihre Stärke gewesen, also sprach sie das Offensichtliche an.
»Was, glaubsch, isch da passiert?«, fragte sie und gab sich ängstlich.
Er sah sie beinahe mitleidig an und machte den Eindruck, tröstlich reagieren zu wollen, schien aber auch nicht zu wissen, wie er dies anstellen sollte. Es war einfach zu absurd, um dafür Worte zu finden.
»I wünscht, i könnt dir da mehr sagen. I will’s ja selber it glauben«, antwortete er ebenfalls mit dem im Dialekt vorherrschenden Du. »Die Welt isch ein schlechter Ort gworden.«
Und nachdem sie jahrelang geglaubt hatte, dass Phrasen wie diese leer und nichtssagend waren, meinte sie zum ersten Mal, voll zustimmen zu müssen. Was musste die Welt für ein schlechter Ort geworden sein, dass etwas hier in ihrer Heimat geschehen konnte. So was passierte hier nicht. Auf der Alm, da gibt’s ka Sünd. Und schon gar keine abgehackten menschlichen Köpfe.
»An dieser Stelle möchte i nur noch mal dran erinnern, dass es wichtig sein kann, unten im Tal nicht viel darüber zu reden. Des macht die Leit nur deppert«, meinte er.
Sie verstand gut, was er damit sagen wollte. Ihre eigenen Gedanken rasten ja bereits wie wild.
»Niemand möchte, dass sich Panik ausbreitet. Am beschten gar it das Wort ›Mord‹ in den Mund nehmen«, riet er ihr ernstlich.
Mord. Daran hatte sie bis jetzt nicht einmal wirklich gedacht. Nur, dass jemand tot war. Geköpft. Aber nicht, dass es jemand getan hatte. Ihr Schaudern begann innerlich und drang durch ein Zittern ihres nass frierenden Körpers nach außen. Sie war schon einige Mal auf Menschen getroffen, die schreckliche Dinge getan hatten. Aber eben immer nur dann, wenn diese bereits überführt waren oder kurz davorstanden. In diesen Begegnungen beruhte das Entsetzen weniger auf der Abscheulichkeit ihrer Verbrechen, sondern vielmehr darauf, wie normal diese Personen schienen. Und manchmal, und das erschütterte sie am meisten, vermochten sie sogar Verständnis zu erzeugen. Es gestaltete sich aber eindeutig anders, wenn sich diese Menschen auf freiem Fuß befanden. Sie waren da draußen eine Gefahr, die selbst ihr Angst einflößte. Und der Ort war so klein. Hielt sich der Täter hier auf, dann wäre er die ganze Zeit in ihrer Nähe.
Unten an der Bergstation verabschiedete sie sich von dem Beamten, dessen Namen sie nicht unter dem Plastiküberwurf hatte lesen können und der sich auch nicht vorgestellt hatte. Während sie den Busfahrplan von der Talstation ins Tal kontrollierte, fiel ihr ein, dass die Busse sicher umgeleitet würden. Garer war nicht zu sehen. Sie musste wohl laufen. Durchnässt, wie sie war, stellte es nur einen geringen Trost dar, dass der Regen aufgehört hatte. Als sie also die Serpentinen ins Dorf mit langen, steifen Schritten hinunterging, kamen ihr zwei Einsatzbusse entgegen. In dem einen konnte sie Hunde hinter vergitterten offenen Fenstern ausmachen, deren Gebell im Vorbeifahren dem Huskymischling galt. Ansonsten waren nicht viele Leute auf der Straße. Die wenigen, die ihr begegneten – manche waren ihr bekannt, andere Urlauber –, sahen nicht aus wie Mörder, sondern eben ganz normal. Das beruhigte sie.
Als das Unwetter nachgelassen hatte, wurde mit dem Hubschrauber und einer Wärmebildkamera der Grund des Sebensees abgesucht. Man fand in der Tat neben den skelettierten Überresten einiger Kälber die Leiche eines enthaupteten Menschen. Die meisten Beamten aus der Region, die in ihrer Dienstzeit höchstens einmal einen verschobenen Nasenbeinbruch gesehen hatten, waren nun mit dem Fund überfordert. Die von außen hinzugezogenen Polizisten schienen besser damit umgehen zu können. Sie versuchten, ihren Ekel zumindest hinter morbidem Humor zu verstecken. Der Tote war wohl nicht mit dem Kopf bei der Sache gewesen. Aber das sei kein Grund, den Kopf zu verlieren.
Die Bergung der Leiche hatte sich als nicht einfach herausgestellt. Den Polizeitauchern war es fast unmöglich gewesen, mit ihrem Equipment durch den Matsch und den Gestank des kippenden Wassers zur Leiche vorzudringen. Wind und die Nähe zur Felswand hatten eine Hubschrauberbergung mittels Seilwinde unmöglich gemacht. Mit brachialer Gewalt musste, was die Taucher mit Gurten und Seilen befestigt hatten, ans Ufer gezerrt werden. Auf einer Plastikplane wurde der Fund ausgebreitet. Ein braunes unförmiges Etwas, das nur anhand der Extremitäten noch an einen Menschen erinnerte. Das menschliche Gehirn vermochte Worte zu lesen, die nur aus ihren Konsonanten bestanden, indem es sich die Vokale hinzudachte. Vergleichbare Arbeit musste das menschliche Gehirn auch zur Erkennbarkeit des enthaupteten Körpers leisten, indem es sich den Kopf dazudachte.
Hayek machte sich Notizen zu seinem ersten Eindruck: Männlich. Neunzig Kilogramm. Bekleidet. Trekkingschuhe. Mehr konnte er nicht erkennen. Obwohl nicht einmal Blut zu sehen war, würgte Vogelspiel unaufhörlich. Ihm war nicht klar, ob die Leiche den Gestank verursachte oder das faulige Wasser und der allgegenwärtig säuerlich süße Kuhmist. Hayek gab ihm mit Blicken mehrfach zu verstehen, sich zusammenzureißen. Er hatte nichts übrig für schwache Mägen oder Unkonzentriertheit.
Der Leiter des gerichtsmedizinischen Institutes, Universitätsprofessor Dr. Beck, hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich am Sebensee zu erscheinen. Er war besser mit Hayek bekannt, als diesem lieb war. Im Gegensatz zu Hayek hatte Beck sich aber durch einige Voreinsätze einen Namen gemacht. Die grausigsten Kapitalverbrechen der letzten Jahre waren von Beck begutachtet worden. Die Gerichtsberichterstatter feierten ihn in ihren Artikeln. Aus diesem Grund hatte Hayek die Tageszeitung abbestellt. Seitdem las er nur mehr die Push-up-Nachrichten der Wiener U-Bahn-Zeitung. Er konnte Beck seine Expertise nicht absprechen, aber er hielt ihn überwiegend für einen eitlen Hund.
Als Beck nunmehr nach einer Erstbegutachtung des Schädels beim Sebensee eintraf, war es daher wenig verwunderlich, dass Hayek ihn nur beiläufig grüßte. Hayek gab Vogelspiel Anweisung, Becks ersten Eindruck zu protokollieren und ihm später zu berichten, und verschwand in seinem weißen Kittel in Richtung Bergstation.
Vogelspiel neidete ihm seinen Abgang. Er fror, und neben dieser entstellten Leiche machte sich in ihm ein unsägliches Unwohlsein breit.