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Jean Paul

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Beschreibung

Jean Paul nannte den Titan seinen "Kardinal- und Kapitalroman". Der Roman umfasst circa 900 Seiten und erzählt die Bildungsgeschichte des Helden Albano de Cesara vom leidenschaftlichen Jüngling zum gereiften Mann. In Sprache und Stil weicht der Roman auffällig von anderen Texten Jean Pauls ab. Die Erzählung ist straffer organisiert und enthält weniger Abschweifungen und Randnotizen. Die Forschung sah darin häufig eine (stilistische) Annäherung an den Klassizismus Weimars, mit dem sich Jean Paul in dieser Zeit intensiv und kritisch auseinandersetzte. Die bilderreiche und (im damaligen Sinne) "witzige" Sprache Jean Pauls bleibt jedoch auch im Titan erhalten; der Roman ist also trotzdem eine herausfordernde Lektüre für heutige Leser.

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Seitenzahl: 1369

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Der Titan

Jean Paul

Inhalt:

Jean Paul – Biografie und Bibliografie

Der Titan

Erster Band

Der Traum der Wahrheit

Erste Jobelperiode

Zweite Jobelperiode

Dritte Jobelperiode

Vierte Jobelperiode

Fünften Jobelperiode?

Sechste Jobelperiode

Siebente Jobelperiode

Achte Jobelperiode

Neunte Jobelperiode

Zweiter Band

Zehnte Jobelperiode

Elfte Jobelperiode

Zwölfte Jobelperiode

Dreizehnte Jobelperiode

Vierzehnte Jobelperiode

Dritter Band

Funfzehnte Jobelperiode

Sechzehnte Jobelperiode

Siebzehnte Jobelperiode

Achtzehnte Jobelperiode

Neunzehnte Jobelperiode

Zwanzigste Jobelperiode

Einundzwanzigste Jobelperiode

Zweiundzwanzigste Jobelperiode

Dreiundzwanzigste Jobelperiode

Vierundzwanzigste Jobelperiode

Fünfundzwanzigste Jobelperiode

Vierter Band

Sechsundzwanzigste Jobelperiode

Siebenundzwanzigste Jobelperiode

Achtundzwanzigste Jobelperiode

Neunundzwanzigste Jobelperiode

Dreißigste Jobelperiode

Einunddreißigste Jobelperiode

Zweiunddreißigste Jobelperiode

Dreiunddreißigste Jobelperiode

Vierunddreißigste Jobelperiode

Fünfunddreißigste Jobelperiode

Der Titan, Jean Paul

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849633141

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Jean Paul – Biografie und Bibliografie

EigentlichJean Paul Friedrich Richter, unter dem Namen Jean Paul berühmt gewordener Schriftsteller, geb. 21. März 1763 in Wunsiedel als Sohn eines Rektors und Organisten, gest. 14. Nov. 1825 in Bayreuth, verbrachte seine Kindheitsjahre, seit 1765, in dem Dorfe Joditz bei Hof, besuchte erst seit 1776 in dem nahen Schwarzenbach, wohin sein Vater versetzt worden war, regelmäßig die Schule, gewann aber die wesentlichsten Anregungen aus einer von früh an lebhaft, freilich auch wahllos betriebenen Lektüre, über die er in dicken Folianten ausführliche Auszüge eintrug. Um Ostern 1779 bezog er das Gymnasium in Hof. Durch den bald darauf erfolgten Tod des Vaters und der Großeltern geriet er mehr und mehr in materielle Bedrängnis, die ihn aber nicht hinderte, Ostern 1781 die Universität Leipzig zu besuchen, um Theologie zu studieren. Doch nahm er es mit den Studien (nur der Philosoph Platner fesselte ihn eine Weile) nicht sehr ernst und wandte sich bald ausschließlich der literarischen Tätigkeit zu, durch die er sich auch leichter über die äußere Not hinweghelfen zu können hoffte. Von bekannten Schriftstellern wirkten jetzt außer Hippel, der schon auf der Schule sein Lieblingsautor gewesen war, Rousseau und die englischen Humoristen und Satiriker stark auf ihn ein. Für sein erstes Buch, das nach des Erasmus' »Encomium moriae« verfaßte »Lob der Dummheit«, in dem er die Dummheit redend einführt, fand er keinen Verleger (es wurde erst lange nach Jean Pauls Tode bekannt). Besser ging es den des Dichters Eigenart schon deutlich verratenden »Grönländischen Prozessen«, die wenigstens einen Verleger fanden (Berl. 1783), wenn sie auch von dem Publikum und der Kritik sehr kühl aufgenommen wurden. Um den drängenden Gläubigern zu entrinnen, begab sich R. Ende 1784 heimlich von Leipzig hinweg und traf vom Frost erstarrt in Hof bei der Mutter ein, von wo es ihm auch in den nächsten Jahren nicht gelingen wollte, literarische Beziehungen anzuknüpfen, die seiner Not hätten ein Ende machen können. Erst zu Anfang 1787 bot sich dem Dichter wenigstens ein Unterkommen als Hauslehrer dar, er übernahm den Unterricht eines jüngeren Bruders seines Freundes Örthel in Töpen. Seine dortige Stellung war jedoch unbehaglich, und schon im Sommer 1789 kehrte er nach Hof zurück. Inzwischen schrieb er neue Satiren u. d. T.: »Auswahl aus des Teufels Papieren« (Gera 1789), die ebenso wenig Aufsehen erregten wie Jean Pauls Erstlingswerk. Im März 1790 übernahm er aufs neue ein Lehramt. Einige Familien in Schwarzenbach beriefen ihn zum Unterricht ihrer Kinder, und jetzt betrieb der Dichter sein Amt in angenehmen persönlichen Verhältnissen mit wahrhaft begeisterter Freudigkeit. Die Sonntagsbesuche in Hof gewährten erquickliche Erholung, und in dem damals mit seinem dortigen Freund Otto immer inniger geschlossenen Herzensbund erwuchs ihm ein köstlicher Besitz für sein ganzes späteres Leben. Um jene Zeit entstanden einige kleinere Humoresken: »Die Reise des Rektors Fälbel und seiner Primaner«, »Des Amtsvogts Freudels Klaglibell über seinen verfluchten Dämon« und das »Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz in Auenthal«. Sogleich nach Vollendung des »Wuz« begann R. einen großen Roman, dessen Plan ihn schon länger beschäftigte. Während der Arbeit zwar verflüchtigte sich der ursprüngliche Plan, die »Unsichtbare Loge« (Berl. 1793, 2 Bde.) blieb unvollendet; »eine geborne Ruine« nannte der Dichter selbst sein Werk, in dem neben einzelnen unvergleichlich schönen Stellen bereits die ganze Unfähigkeit Jean Pauls zu plastischer Gestaltung, die maßlose Überwucherung der phantastischen Elemente und alles, was sonst den reinen Genuß an seinen Dichtungen stört, zutage trat. Gleichwohl bildet das Erscheinen des Buches in Jean Pauls Leben einen Wendepunkt günstigster Art. Im Herbst 1792 legte er seine Hand an ein neues Werk, den »Hesperus« (Berl. 1795), der sich gleich der »Unsichtbaren Loge« eines großen Erfolgs beim Publikum erfreute. Seit dem Frühling 1794 wieder in Hof bei der Mutter weilend, schrieb er in den nächstfolgenden Jahren: »Das Leben des Quintus Fixlein« (Bayr. 1796), ein humoristisches Idyll wie das »Leben Wuz'«, nur in breiterer Anlage; die »Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin« (Berl. 1796), ein Romantorso mit satirischem Anhang; die »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs« (das. 1796–97, 4 Bde.), in gewissem Sinne die beste Schöpfung des Dichters, der in den Persönlichkeiten des sentimentalen Siebenkäs und des satirischen Leibgeber die entsprechenden Elemente seiner eignen Natur zu verkörpern versuchte. Noch während der Arbeit an dem letztgenannten Roman empfing Jean Paul eine briefliche Einladung nach Weimar, von weiblicher Hand geschrieben. In der Ilmstadt, meldete die Briefstellerin, die sich Natalie nannte (welchen Namen der Dichter alsbald einer Gestalt im »Siebenkäs« anheftete), seien die besten Menschen von Jean Pauls Werken entzückt. Ohne Verzug folgte dieser dem Ruf. Seine Aufnahme übertraf alle seine Erwartungen; vor allen andern begegnete ihm Charlotte v. Kalb (die pseudonyme Briefschreiberin) mit glühender Verehrung. Jean Paul hat von ihr manche Züge für die Schilderung der hypergenialen Linda im »Titan« entlehnt. Zurückhaltender empfingen Goethe und Schiller den Hesperusverfasser, der sich in Weimar meist im Kreis des ihm wahlverwandten Herder bewegte. In jene Zeit fallen die Anfänge des »Titan«, die Abfassung des »Jubelsenior« (Leipz. 1797) und die Schrift »Das Kampanertal, oder: Die Unsterblichkeit der Seele« (Erfurt 1798). Im Sommer 1797 trat eine neue weibliche Gestalt auf die Lebensbühne des Dichters, Emilie v. Berlepsch, eine junge und schöne Witwe, mit der Jean Paul eine Reihe wunderlich exaltierter Szenen durchmachte. Fast hätte eine (vermutlich unglückliche) Heirat den dramatischen Abschluß gebildet. Im Oktober 1797 führte eine Reise nach Leipzig den nun berühmt Gewordenen auf den Schauplatz seiner einstigen Kümmernis, und jetzt drängten sich die Bewunderer um ihn. 1798 folgte auf Einladung der Herzogin Amalie ein abermaliger Besuch in Weimar. Nach einem kurzen Aufenthalt in Hildburghausen (Frühjahr 1799), wo er vom Herzog den Titel eines Legationsrats erhielt, ging Jean Paul nach Berlin, in der Absicht, sich dort dauernd niederzulassen. Im Mai 1801 verheiratete er sich daselbst mit der Tochter des Tribunalrats Meyer, aber eine vom König erbetene Versorgung blieb versagt. Von den damals entstandenen Werken sind hervorzuheben: »Palingenesien« (Gera 1798, 2 Bde.); »Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf« (das. 1799; unter den hier vereinigten kleinern Aufsätzen seien erwähnt: »Der doppelte Schwur der Besserung« und die »Neujahrsnacht eines Unglücklichen«) und die »Clavis Fichtiana« (Erfurt 1800), eine Satire auf den Fichteschen Idealismus; er widmete sie F. H. Jacobi, den er als den größten Philosophen der Zeit bewunderte. In Berlin behagte es dem Dichter nicht auf die Dauer; bald nach seiner Hochzeit nahm er seinen Wohnsitz in Meiningen, wo er zum Herzog Georg in vertraute Beziehungen trat und den »Titan« (Berl. 1800–03, 4 Bde.) vollendete. Doch schon im Mai 1803 verließ er Meiningen wieder und siedelte sich nach kurzem Aufenthalt zu Koburg in Bayreuth an, wo er bis zu seinem Tode wohnen blieb. Das nächste größere Werk des fortan in nur selten unterbrochener idyllischer Zurückgezogenheit lebenden Dichters war ein philosophisches, die »Vorschule der Ästhetik« (Hamb. 1805, 3 Bde.; Tübing. 1813), ein Buch voll geistreichster Einfälle, wertvoll in den über die Theorie des Komischen handelnden Abschnitten. Danach folgte die Abfassung der »Flegeljahre« (Tübing. 1804–05, 4 Bde.). Auch in diesem Roman, der zu den genialsten Schöpfungen Jean Pauls gehört und ihm selbst die liebste blieb, hat er die eigne Doppelnatur, die Gemütsinnigkeit und die humoristische Neigung seines Wesens, jene in dem weich gestimmten Walt, diese in dessen Zwillingsbruder Vult, zur Darstellung bringen wollen. In der »Levana, oder Erziehungslehre« (Braunschw. 1807, 3 Bde.; Stuttg. 1815, 4. Aufl. 1861; neue Ausg. von R. Lange, Langensalza 1893) sollten die in der »Unsichtbaren Loge«, im »Titan« und in den »Flegeljahren« in Romanform dargelegten Grundsätze theoretisch ausgeführt wiederkehren. Während der Zeit der französischen Fremdherrschaft schrieb Jean Paul zu eigner und seines Volkes Erheiterung die Humoresken: »Des Feldpredigers Schmälzle Reise nach Flätz« (Tübing. 1809) und »Doktor Katzenbergers Badereise« (Heidelb. 1809, Bresl. 1823), zwei Erzählungen von derbster Komik. Aber auch in ernsthafteren, wenngleich an satirischen Schlaglichtern reichen Schriften suchte er den gesunkenen Mut der Nation auszurichten, so in der »Friedenspredigt in Deutschland« (Heidelb. 1808) und den »Dämmerungen für Deutschland« (Tübing. 1809). Das letztere Buch, gedruckt in der Zeit, als Davout das Bayreuther Land besetzt hielt, legt auch deshalb ein schönes Zeugnis für Jean Pauls männlichen Mut und edlen Sinn ab, weil er es veröffentlichte, nachdem ihm soeben durch den ganz von dem französischen Imperator abhängigen Fürst-Primas v. Dalberg eine Jahrespension von 1000 Gulden ausgesetzt worden war. Nachdem diese Pension mit dem Großherzogtum Frankfurt 1813 zu Ende gegangen, bezog der Dichter seit 1815 einen gleichen Jahresgehalt von dem König von Bayern. Aus den spätern Lebensjahren Jean Pauls sind zu verzeichnen als bedeutendere Schriften: »Das Leben Fibels« (Nürnb. 1811), »Der Komet, oder Nikolaus Marggraf« (Berl. 1820–22, 3 Bde.), die beiden letzten größeren Arbeiten des Dichters in der komischen Gattung; ferner das Buch »Selina, oder: Über die Unsterblichkeit der Seele« (Stuttg. 1827, 2 Bde.) und endlich das Fragment einer Selbstbiographie, das unter dem im Gegensatz zu Goethe gewählten Titel: »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« (Bresl. 1826) erschien und die Jugenderinnerungen des Dichters enthält. Einen tiefen Schatten warf auf Jean Pauls Lebensabend der Tod seines einzigen Sohnes, der 1821 als Student in Heidelberg starb. Seitdem kränkelte er und war zuletzt über Jahresfrist des Augenlichts fast gänzlich beraubt. König Ludwig I. von Bayern ließ ihm 1841 in Bayreuth ein Erzstandbild (von Schwanthaler) errichten.

Jean Paul nimmt eine eigentümliche und schwer zu bezeichnende Stellung innerhalb unsrer klassischen Literaturperiode und zwischen den sich drängenden Richtungen seit dem Beginn des 19. Jahrh. ein. Unzweifelhaft vom besten Geiste des 18. Jahrh., von dem »Ideal der Humanität«, beseelt, schloss er sich doch in seiner Darstellungsweise weit mehr an die frühern Schriftsteller als an Lessing, Goethe oder Schiller an. Die Engländer, vor allen Swift und Sterne, die Franzosen Voltaire und Rousseau, die ostpreußische Schriftstellergruppe Hamann, Hippel und Herder beeinflussten die Entwickelung seines Talents und führten ihn im Verein mit seinem eignen Naturell und seinem persönlichen Schicksal auf wunderliche Abwege. Gemeinsam mit unsern großen Dichtern blieben R. die Überzeugung von der Entwickelungsfähigkeit des Menschengeschlechts und ein freiheitlicher Zug; aber er gelangte niemals zu einer Entwickelung im höheren Sinne des Wortes. Der Abstand zwischen seinen frühesten und spätesten Werken ist ziemlich unwesentlich; die Widersprüche des unendlichen Gefühls und des beschränkten realen Lebens bildeten den Ausgangspunkt aller seiner Romane; aus ihnen gingen die weichen, wehmut- und tränenvollen Stimmungen hervor, über die er sich dann durch seinen unter Tränen hell lachenden Humor erhob. In der empfindsamen Zeit, in der Jean Paul auftrat, musste er den größten Erfolg haben; die schreienden Mängel seiner Darstellung wurden geleugnet; ja, sie scheinen in den meisten Kreisen gar nicht empfunden worden zu sein. R. gelangte nur in dem Idyll und in den besten Episoden seiner größeren Romane zu wirklich künstlerischer Gestaltung; meist wurden bei ihm Handlung und Charakteristik unter einer wuchernden Fülle von Einfällen, reflektierenden Abschweifungen, Episoden und fragmentarischen Einschiebseln verdeckt und erstickt. Verhängnisvoller noch ward für ihn die oben schon erwähnte Vielleserei, in der er ein Gegengewicht gegen die Enge seiner Verhältnisse gesucht hatte, und in ihrer Folge die leidenschaftliche Bilderjagd und Zitatensucht. Alle diese Mängel vereint drückten seinem Stil mit endlosen Perioden und unzähligen Einschachtelungen den Charakter des Manierierten auf, den der Dichter nur da abstreift, wo er von seinem Gegenstand aufs tiefste ergriffen und in innerster Bewegung ist. Gegenüber dem Enthusiasmus, der R. eine Zeitlang zum gefeiertsten Schriftsteller der Nation erhob, heftete sich die spätere Kritik wesentlich an die bezeichneten Unvollkommenheiten seiner Erscheinung. Während in seinen ausgedehnteren Werken, der »Unsichtbaren Loge«, dem »Hesperus«, dem »Titan« und »Komet«, nur einzelne glänzende Beschreibungen, humoristische Episoden oder jene zahlreichen »schönen Stellen« noch zu fesseln vermögen, von denen mehrmals besondere Sammlungen veranstaltet wurden, gewähren alle in ihren Hauptteilen idyllischen oder entschieden humoristischen Dichtungen einen weit reinern Genuss und lassen das Talent und die tieferen Eigentümlichkeiten besser hervortreten. Immer steht die liebevolle, reine Teilnahme bei ihm an allen Mühseligen und Beladenen, an den Armen, Bedrückten und Bedrängten im Vordergrund. Sein Blick für das Köstliche im Unscheinbaren, das Große und Ewige im Beschränkten ist tief und beinahe untrüglich; auch seine Naturliebe verleiht allen seinen Werken Partien von bestrickendem Zauber. Seine scharfe Beobachtung des Komischen wirkt unwiderstehlich, und alle diese Vorzüge erwecken lebhaftes Bedauern, daß dem Dichter das Erreichen klassischer, künstlerisch vollendeter Form versagt blieb. Richters Werke erschienen gesammelt in erster, aber ungenügender Ausgabe in 60 Bänden (Berl. 1826–38), besser in 33 Bänden (das. 1840–42; 3. Ausg. 1860–62, 34 Bde.) sowie in Auswahl in 16 Bänden (2. Ausg., das. 1865); ferner in der Hempelschen Ausgabe, mit Biographie von Gottschall (das. 1879, 60 Tle.; Auswahl 31 Tle.) und eine Auswahl in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur« (hrsg. von Nerrlich, Stuttg. 1882 ff., 6 Bde.). Nach des Dichters Tod erschien noch »Der Papierdrache« (hrsg. von seinem Schwiegersohn Ernst Förster, Frankf. 1845, 2 Bde.). Von verkürzenden Bearbeitungen, die den Dichter der Gegenwart näher bringen wollen, sei erwähnt die des »Titan« von O. Sievers (Wolfenbüttel 1878). Von seinen Briefen sind zu nennen: »Jean Pauls Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi« (Berl. 1828); »Briefwechsel Jean Pauls mit seinem Freund Chr. Otto« (das. 1829–33, 4 Bde.); »Briefwechsel zwischen Heinrich Voß und Jean Paul« (hrsg. von Abr. Voß, Heidelb. 1833); »Briefe an eine Jugendfreundin« (hrsg. von Täglichsbeck, Brandenb. 1858). Die »Briefe von Charlotte v. Kalb an Jean Paul und dessen Gattin« (Berl. 1882) und »Jean Pauls Briefwechsel mit seiner Frau und Christian Otto« (das. 1902) gab Nerrlich heraus. Aus der zahlreichen Literatur über R. heben wir hervor: Spazier, Jean Paul Friedrich R., ein biographischer Kommentar zu dessen Werken (Leipz. 1833, 5 Bde.); die Fortsetzung von »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« von Otto und Förster (Bresl. 1826–33, 8 Hefte); E. Förster, Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul (Münch. 1863, 4 Bde.); Henneberger, Jean Pauls Aufenthalt in Meiningen (Meiningen 1863); Planck, Jean Pauls Dichtung im Licht unsrer nationalen Entwickelung (Berl. 1868); Vischer, Kritische Gänge, neue Folge, Bd. 6 (Stuttg. 1875); Nerrlich, Jean Paul und seine Zeitgenossen (Berl. 1876) und Jean Paul, sein Leben und seine Werke (das. 1889); Jos. Müller, Jean Paul und seine Bedeutung für die Gegenwart (Münch. 1894), Die Seelenlehre Jean Pauls (das. 1894) und Jean Paul-Studien (das. 1899); Hoppe, Das Verhältnis Jean Pauls zur Philosophie seiner Zeit (Leipz. 1901); Reuter, Die psychologische Grundlage von Jean Pauls Pädagogik (das. 1902): Allievo, Gian Paolo R. e la sua Levana (Tur. 1900); Czerny, Sterne, Hippel und Jean Paul (Berl. 1904); F. J. Schneider, Jean Pauls Altersdichtung Fibel und Komet (das. 1901) und Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der Literatur (das. 1905). Eine begeisterte, formvollendete »Denkrede auf Jean Paul« verfaßte Börne (1825).

Der Titan

Erster Band

»Aphrodite, Aglaja, Euphrosyne und Thalia sahen einst in das irdische Helldunkel hernieder und, müde des ewig heitern, aber kalten Olympos, sehnten sie sich herein unter die Wolken unserer Erde, wo die Seele mehr liebt, weil sie mehr leidet, und wo sie trüber, aber wärmer ist. Sie hörten die heiligen Töne heraufsteigen, mit welchen Polyhymnia unsichtbar die tiefe bange Erde durchwandelt, um uns zu erquicken und zu erheben; und sie trauerten, daß ihr Thron so weit abstehe von den Seufzern der Hülflosen.

Da beschlossen sie, den Erdenschleier zu nehmen und sich einzukleiden in unsere Gestalt. Sie gingen von dem Olympos herab; Amor und Amorinen und kleine Genien flogen ihnen spielend nach, und unsere Nachtigallen flatterten ihnen aus dem Mai entgegen.

– Aber als sie die ersten Blumen der Erde berührten und nur Strahlen und keine Schatten warfen: so hob die ernste Königin der Götter und Menschen, das Schicksal, den ewigen Zepter auf und sagte: der Unsterbliche wird sterblich auf der Erde, und jeder Geist wird ein Mensch ! –

Da wurden sie Menschen und Schwestern und nannten sich Luise, Charlotte, Therese, Friederike; die Genien und Amorinen verwandelten sich in ihre Kinder und flogen ihnen in die Mutterarme, und die mütterlichen und schwesterlichen Herzen schlugen voll neuer Liebe in einer großen Umarmung. Und als die weiße Fahne des blühenden Frühlings flatterte – und menschlichere Thronen vor ihnen standen – und als sie, von der Liebe, der Harmonika des Lebens, selig-erweicht, sich und die glücklichen Kinder anblickten und verstummten vor Lieb' und Seligkeit: so schwebte unsichtbar Polyhymnia vorüber und erkannte sie und gab ihnen Töne, womit das Herz Lieb' und Freude sagt und gibt....«

– Und der Traum war geendigt und erfüllt; er hatte, wie immer, nach der Wirklichkeit und dem Wachen sich gebildet. Darum sei er den vier schönen und edlen Schwestern geweiht, und alles, was ihm im Titan ähnlich ist, sei es auch!

Jean Paul Fr. Richter.

Erste Jobelperiode

Fahrt nach Isola bella – der erste Freudentag im Titan – der Pasquinos- Götzendiener – Lob der Reichsintegrität – das Moussieren der Jugend – süßes Blutvergießen – die Erkennung eines Vaters – groteskes Testament – deutsche Vorliebe für Gedichte und Künste – der Vater des Todes – Geister-Akt – der blutige Traum – die Schaukel der Phantasie

1. Zykel

An einem schönen Frühlingsabend kam der junge spanische Graf von Cäsara mit seinen Begleitern Schoppe und Dian nach Sesto, um den andern Morgen nach der borromäischen Insel Isola bella im Lago maggiore überzufahren. Der stolz-aufblühende Jüngling glühte von der Reise und von dem Gedanken an den künftigen Morgen, wo er die Insel, diesen geschmückten Thron des Frühlings, und auf ihr einen Menschen sehen sollte, der ihm zwanzig Jahre lang versprochen worden. Diese zweifache Glut hob den malerischen Heros zur Gestalt eines zürnenden Musengottes empor. In die welschen Augen zog seine Schönheit mit einem größern Triumphe ein als in die engen nördlichen, wovon er herkam; in Mailand hatten viele gewünscht, er wäre von Marmor und stände mit ältern versteinerten Göttern entweder im farnesischen Palast oder im klementinischen Museum oder in der Villa Albani; ja hatte nicht der Bischof von Novara mit seinem Degen an der Seite vor wenigen Stunden bei Schoppen, der zuletzt ritt, nachgefragt, wer es sei? Und hatte nicht dieser mit einer närrischen Quadratur seines Runzeln-Zirkels um die Lippen weitläufig versetzt (um dem geistlichen Herrn Licht zu geben): »Mein Telemach ists, und ich mache den Mentor dabei – ich bin die Rändelmaschine und der Prägstock, der ihn münzt – der Glättzahn und die Plattmühle, die ihn bohnt – der Mann, der ihn regelt«?

Die jugendlich warme Gestalt Cesaras wurde durch den Ernst eines nur in die Zukunft vertieften Auges und eines männlichfestgeschlossenen Mundes und durch die trotzige Entschlossenheit junger frischer Kräfte noch mehr veredelt; er schien noch ein Brennspiegel im Mondlicht, oder ein dunkler Edelstein von zu vieler Farbe zu sein, den die Welt, wie andere Juwelen, erst durch Hohlschleifen lichtet und bessert. –

In dieser Nähe zog ihn die Insel, wie eine Welt die andere, immer heftiger an. Seine innere Unruhe stieg durch die äußere Ruhe. Noch dazu stellte Dian, ein Grieche von Geburt und ein Künstler, welcher Isola bella und Isola madre öfters umschifft und nachgezeichnet hatte, ihm diese Prachtkegel der Natur in feurigen Gemälden näher vor die Seele; und Schoppe gedachte des wichtigen Menschen öfters, den der Jüngling morgen zum ersten Male sehen sollte. Als man unten auf der Gasse einen festschlafenden Greis vorübertrug, dem die untergehende Sonne Feuer und Leben in das markige starkgegliederte Angesicht warf und der eine nach italienischer Sitte aufgedeckt getragne – Leiche war: so fragt' er erschrocken und schnell die Freunde: »Sieht mein Vater so aus?«

Was ihn nämlich mit so heftigen Bewegungen der Insel zutreibt, ist folgendes: Auf Isola bella hatt' er die drei ersten irdischen Jahre mit seiner Schwester, die nach Spanien, und neben seiner Mutter, die unter die Erde ging, mitten in den hohen Blumen der Natur liegend süß vertändelt und verträumt – die Insel war für den Morgenschlummer des Lebens, für seine Kindheit, Raffaels übermaltes Schlafgemach gewesen. Aber er hatte nichts davon im Kopfe und Herzen behalten als in diesem ein schmerzlich süßes tiefes Aufwallen bei dem Namen, und in jenem das Einhorn, das als Familienwappen der Borromäer auf der obersten Terrasse der Insel steht.

Nach dem Tode der Mutter versetzte ihn sein Vater aus der welschen Blumenerde – einige blieb an den Pfahlwurzeln hängen – in den deutschen Reichsforst, nämlich nach Blumenbühl – im Fürstentum Hohenfließ, das den Deutschen so gut wie unbekannt ist –; hier ließ er ihn im Hause eines biedern Edelmannes so lange erziehen, oder deutlicher und allegorischer, er ließ hier die pädagogischen Kunstgärtner so lange mit Gießkannen, Inokuliermessern und Gartenscheren um ihn laufen, bis sie an den hohen schlanken Palmbaum voll Sagomark und Schirmstacheln mit ihren Kannen und Scheren nicht mehr langen konnten.

Jetzt soll er nach der Rückreise von der Insel aus dem Feldbeete des Landes in den Loh- und Treibkübel der Stadt und auf das Gestelle des Hofgartens kommen, mit einem Worte nach Pestitz, der Universität und Residenzstadt von Hohenfließ, deren Anblick sogar bisher sein Vater ihm hart verboten hatte.

Und morgen sieht er diesen Vater zum – erstenmal! – Er mußte brennen vor Verlangen, da sein ganzes Leben eine Anstalt zu dieser gemeinschaftlichen Landung war, und seine Pflegeeltern und Lehrer eine chalkographische Gesellschaft waren, die den Autor seines Lebensbuches so herrlich vor das Titelblatt in Kupfer stach. Sein Vater, Gaspard de Cesara, Ritter des goldnen Vlieses (ob spanischer oder österreichischer, wünscht' ich selber genauer zu wissen), ein vom Schicksal dreischneidig und glänzend geschliffner Geist, hatte in der Jugend wilde Kräfte, zu deren Spiel nur ein Schlachtfeld oder Königreich geräumig gewesen wäre und die sich im vornehmen Leben so wenig bewegen konnten als ein Seekraken im Hafen – er stillte sie durch Gastrollen in allen Ständen und Lust- und Trauerspielen, durch das Treiben aller Wissenschaften und durch eine ewige Reise – er wurde mit großen und kleinen Menschen und Höfen vertraut und oft verflochten, zog aber immer als ein Strom mit eignen Wellen durchs Weltmeer. – Und jetzt, nachdem er die Land- und Seereise um das Leben, um dessen Freuden und Kräfte und Systeme gemacht, fährt er (besonders da ihm der Affe der Vergangenheit, die Gegenwart, immer nachläuft) in seinem Studieren und im geographischen Reisen fort, aber stets für wissenschaftliche Zwecke, wie er denn eben die europäischen Schlachtfelder bereiset. Übrigens ist er gar nicht betrübt, noch weniger froh, sondern gesetzt; auch hasset und liebt, oder tadelt und lobt er die Menschen so wenig wie sich, sondern schätzet jeden in seiner Art, die Taube in ihrer und den Tiger in seiner. Was oft Rache scheint, ist bloß das harte kriegerische Durchschreiten, womit ein Mann Lercheneier und Ähren ertritt, der nie fliehen und fürchten kann, sondern nur anrücken und stehen. – –

Ich denke, die Ecke ist breit genug, die ich hier aus der Whistonschen Kometenkarte von diesem Schwanzsterne für die Menschen abgeschnitten. Ausbedingen will ich, eh' ich weiterrede, mir dieses, daß ich Don Gaspard auch zuweilen den Ritter heißen dürfe, ohne das goldne Vlies anzuhängen; – und daß ich, zweitens, nicht von meiner Höflichkeit gegen die kurze Leser-Memorie genötigt werde, seinem Sohne Cesara (unter diesem Namen soll der Alte nie auftreten) den Taufnamen abzuzwicken, der doch Albano heißet. –

Da jetzt Don Gaspard aus Italien nach Spanien ging: so hatt' er durch Schoppe unsern Albano oder Cesara aus Blumenbühl hierher führen lassen; ohne daß man weiß, warum so spät. Wollt' er in den vollen Frühling der jungen Zweige schauen? – Wollt' er dem Jüngling einige Bauernregel im hundertjährigen Kalender des Hoflebens aufschlagen? – Wollt' ers den alten Galliern oder den jetzigen Kapbewohnern nachmachen, die ihre Söhne nur waffenfähig und erwachsen vor sich ließen? – Wollt' er nichts weniger als das? – Nur so viel begreif' ich, daß ich ein gut williger Narr wäre, wenn ich mir im Vorhofe des Werks die Last aufbürden ließe, von einem so sonderbaren Manne mit einer um so viele Grade deklinierenden Magnetnadel schon aus so wenigen Datis eine Wilkesche magnetische Neigungskarte zu zeichnen und zu stechen; – er, aber nicht ich bin ja der Vater seines Sohns, und er soll wissen, warum er ihn erst bärtig vorbeschieden.

Als es 23 Uhr (die Stunde vor Sonnenuntergang) schlug und Albano die langweiligen Schläge addieren wollte: war er so aufgeregt, daß er nicht imstande war, die lange Tonleiter zu ersteigen; er mußte hinaus ans Ufer des Lago, in welchem die aufgetürmten Inseln wie Meergötter aufstehen und herrschen. Hier stand der edle Jüngling, das beseelte Angesicht voll Abendrot, mit edeln Bewegungen des Herzens und seufzte nach dem verhüllten Vater, der ihm bisher mit Sonnenkraft, wie hinter einer Nebelbank, den Tag des Lebens warm und licht gemacht. Dieses Sehnen war nicht kindliche Liebe – diese gehörte seinen Pflegeeltern an, weil kindliche nur gegen ein Herz entsteht, woran wir lange lagen, und das uns gleichsam mit den ersten Herzblättern gegen kalte Nächte und heiße Tage beschirmte –; seine Liebe war höher oder seltener. Über seine Seele war der Riesenschatten des väterlichen Bildes geworfen, der durch Gaspards Kälte nichts verlor; Dian verglich sie mit der Ruhe auf dem erhabenen Angesichte der Juno Ludovici; und der warme Sohn verglich sie mit einer andern schnellen Kälte, die im Herzen oft neben zu großer fremder Wärme einfällt, wie Brennspiegel gerade in den heißern Tagen matter brennen. Ja er hoffte sogar, er vermöge vielleicht dieses so quälend ans Eisfeld des Lebens angefrorne Vaterherz durch seine Liebe abzulösen; der Jüngling begriff nicht, wie einem treuen warmen Herzen zu widerstehen sei, wenigstens seinem.

Dieser Heros, in der ländlichen Kartause und mehr unter der Vorwelt als Mitwelt aufgewachsen, legte an alles antediluvianische Riesenellen; die Unsichtbarkeit des Ritters machte einen Teil von dessen Größe aus, und die Mosisdecke verdoppelte den Glanz, indem sie ihn verhing. – Überhaupt zog unsern Jüngling ein sonderbarer Hang zu übermäßigen Menschen hin, wovor sich andere entsetzen. Er las die Lobreden auf jeden großen Menschen mit Wollust, als wären sie auf ihn; und wenn das Volk ungewöhnliche Geister eben darum für schlimme hält – wie es alle seltene Petrefakta für Teufelsglieder nimmt –, so wohnte umgekehrt in ihm immer neben der Bewunderung die Liebe an, und seine Brust wurde immer zugleich weit und warm. Freilich hält jeder Jüngling und jeder große Mensch, der einen andern für groß ansieht, ihn eben darum für zu groß. – Aber in jedem edeln so Herzen brennt ein ewiger Durst nach einem edlern, im schönen nach einem schönern; es will sein Ideal außer sich in körperlicher Gegenwart, mit verklärtem oder angenommenem Leibe erblicken, um es leichter zu erstreben, weil der hohe Mensch nur an einem hohen reift, wie man Diamanten nur an Diamanten glänzend macht. – Will hingegen ein Literator, ein Kleinstädter, ein Zeitungsträger oder Zeitungsschreiber einen großen Kopf zu Gesicht bekommen und ist er auf einen großen Kopf ebenso ersessen wie auf eine Mißgeburt mit drei Köpfen – oder auf einen Papst mit ebensoviel Mützen – oder auf einen ausgestopften Haifisch – oder auf eine Sprach- und Buttermaschine: so tut ers nicht, weil ein warmes, seinen innern Menschen beseelendes Ideal von einem großen Manne, Papste, Haifische, Dreikopfe und Buttermodelle ihn drängt und treibt, sondern weil er frühmorgens denkt: »Es soll mich doch wundern, wie der Kauz aussieht«, und weil ers abends bei einem Glase Bier berichten will. –

Albano blickte am Ufer mit steigender Unruhe über das glänzende Wasser nach dem heiligen Wohnplatze der vergangnen Kindheit, der vergangnen Mutter, der weggezognen Schwester hin – die Freudenlieder schwammen auf den fernen Barken her und berauschten ihn – jede laufende Welle, die schäumende Brandung trieb eine höhere in seinem Busen auf – die Riesenstatue des heiligen Borromäus1, die über die Städte wegsah, verkörperte den Erhabnen (seinen Vater), der sich in seinem Herzen aufrichtete, und die blühende Pyramide, die Insel, wurde der väterliche Thron – die funkelnde Berg- und Gletscherkette wand sich fest um seinen Geist und zog ihn empor zu hohen Wesen und hohen Gedanken. – –

Die erste Reise, zumal wenn die Natur nichts als weißen Glanz und Orangeblüten und Kastanienschatten auf die lange Straße wirft, beschert dem Jüngling das, was oft die letzte dem Mann entführt – ein träumendes Herz, Flügel über die Eisspalten des Lebens und weit offne Arme für jede Menschenbrust.

Er ging zurück und bat seine Freunde mit seinem siegenden Auge, noch diesen Abend abzuschiffen, wiewohl Don Gaspard erst morgen auf die Insel kam. Was er oft nach einer Woche tun wollte, nahm er sich auf den nächsten Tag vor, und endlich tat ers – sogleich. Dian klopfte dem eiligen Boreas voll Liebe auf den Kopf und sagte: »Ungeduldiges Wesen! Du hast hier die Flügel vom Götterboten, und da unten auch!« (auf die Füße zeigend) »Aber glühe dich nur ab! In der schönen Nachmitternacht steigen wir ein, und wenn die Morgenröte am Himmel leuchtet, landen wir an.« – Dian hatte nicht bloß eine artistische Aufmerksamkeit für den wohlgestalteten Liebling, sondern auch eine zärtliche, weil er in Blumenbühl, wo er als Landbaumeister zu tun hatte, oft sein bildender Kinder- und Jugendfreund gewesen war, und weil er jetzt auf der Insel für einige Zeit aus seinen Armen nach Rom entwich. Da der Landbaumeister dasselbe Überströmen im Jüngling für keines hielt, das er im Greise schalt, eine Überschwemmung für keine in Ägypten, obwohl für eine in Holland; und da er für jedes Individuum, Alter und Volk eine andere gleichschwebende Temperatur annahm und in der heiligen Menschennatur keine Saite zu zerschneiden, sondern nur zu stimmen fand: so mußte wohl Cesara am heitern duldenden Lehrer, auf dessen beiden Gesetztafeln nur stand: Freude und Maß!, recht innig hängen, noch inniger als an den – Tafeln selber.

Die Bilder der Gegenwart und der nahen Zukunft und des Vaters hatten die Brust des Grafen so sehr mit Größe und Unsterblichkeit gefüllt, daß er gar nicht begriff, wie jemand sich könne begraben lassen, ohne beide errungen zu haben, und daß er den Wirt, sooft er etwas brachte, – zumal da er immer sang und wie Neapolitaner und Russen in Molltönen – bedauerte, weil der Mann nie etwas wurde, geschweige unsterblich. Das letztere ist Irrtum; denn hier bekommt er seine Fortdauer, und ich nenne und belebe gern seinen Namen Pippo (der abbrevierte Filippo). Als sie endlich gingen und bezahlten, und Pippo einen Kremnitzer Dukaten küßte mit den Worten: »Gelobt sei die heilige Jungfrau mit dem Kinde auf dem rechten Arm«: so erfreuete sich Albano, daß der Vater dem frommen Töchterlein nachschlage, das den ganzen Abend ein Jesuskind wiegte und fütterte. Freilich merkte Schoppe an: auf dem linken Arme trage sie das Kindlein leichter2; aber der Irrtum des guten Jünglings ist ein Verdienst wie die Wahrheit.

Unter dem Glanze des Vollmondes bestiegen sie die Barke und glitten über die leuchtenden Wellen dahin. Schoppe schiffte einige Weine mit ein, »weniger«, sagt' er, »weil auf der Insel nichts zu haben sei, als weil er, wenn das Fahrzeug leck würde, dann nichts auszupumpen brauchte als die Flaschen3; dann höb' es sich wieder«.

Cesara sank schweigend immer tiefer in die dämmernden Schönheiten des Ufers und der Nacht. Die Nachtigallen schlugen begeistert auf dem Triumphtore des Frühlings. Sein Herz wuchs in der Brust wie eine Melone unter der Glocke, und er hob sie immer höher über der schwellenden Frucht. Auf einmal bedacht' er, daß er so den Tulpenbaum des prangenden Morgens und die Kränze der Insel nur wie eine italienische Seidenblume Staubfaden für Staubfaden, Blatt für Blatt zusammenlegen sehe; – da befiel ihn sein alter Durst nach einem einzigen erschütternden Guß aus dem Füllhorn der Natur; er verschloß die Augen, um sie nicht eher zu öffnen als oben auf der höchsten Terrasse der Insel vor der Morgensonne. Schoppe dachte, er schlafe; aber der Grieche erriet lächelnd die Schwelgerei dieser künstlichen Blindheit und band selber vor die großen unersättlichen Augen das breite schwarze Taftband, das als eine weibliche Binde und Spitzenmaske sonderbar und lieblich gegen das blühende, aber männliche Gesicht abstach.

Nun neckten ihn beide freundlich mit mündlichen Nachtstücken von den herrlichen Ufer-Ornamenten, zwischen denen sie zogen. »Wie stolz« (sagte Dian zu Schoppen) »richtet sich dort das Schloß Lizanza und sein Berg, gleich einem Herkules, mit zwölffachen Gürteln aus Weinlaub in die Höhe!« – »Den Grafen« (sagte Schoppe leiser zu Dian) »bringt der Augen-Schmachtriemen um viel. Seht Ihr nicht, Baumeister, poetisch zu reden, den Glimmer von Aronens Stadt? Wie schön legt sie Lunens blanc d'Espagne auf und scheint sich im umgeworfnen Pudermantel des Mondscheins für morgen aufzusetzen und zu putzen! – Doch ist das wenig, sieht man dort den heiligen Borromäus, der den Mond als eine frischgewaschene Nachtmütze aufhat, besser an: steht der Gigant nicht wie der Mikromegas des deutschen Staatskörpers dort, ebenso hoch, ebenso starr und so steif?« –

Der Glückliche schwieg und gab statt der Antwort einen Handdruck der Liebe – er träumte nur die Gegenwart und zeigte, er könne warten und entbehren. Wie ein Kinderherz, dem die Vorhänge und die Nachmitternacht das nahe Weihnachtsgeschenk verdecken, zog er auf dem Lustschiffe mit fester Binde dem nahen Himmelreiche entgegen. Dian trug, soweit es das Doppellicht des Mondscheins und der nachhelfenden Aurora zuließ, eine Zeichnung von dem verhüllten Träumer in sein Studienbuch. – – Ich wollt', ich hätte sie da und säh' es, wie mein Liebling mit dem unterbundenen Sehnerven auf ihr zugleich das gegen die innere Welt gerichtete Auge des Traumes und das gegen die äußere Welt gespitzte Ohr der Aufmerksamkeit anstrengt. Wie schön ist so etwas, gemalt – wieviel schöner, erlebt!

Der Mantel der Nacht wurde dünner und kühler – die Morgenluft wehte lebendig an die Brust – die Lerchen mengten sich unter die Nachtigallen und unter die singenden Ruderleute – und er hörte hinter seiner lichtern Binde die frühen Entdeckungen der Freunde, die in den offnen Städten der Ufer das Menschengewühl aufleben und an den Wasserfällen der Berge bald Himmelsrot, bald Nebel wechseln sahen. – Endlich hing die zerlegte Morgenröte als eine Fruchtschnur von Hesperidenäpfeln um die fernen Kastaniengipfel; und jetzt stiegen sie auf Isola bella aus.

Der verhangne Träumer hörte, als sie mit ihm die zehen Terrassen des Gartens hinaufgingen, neben sich den einatmenden Seufzer des Freudenschauders und alle schnelle Gebete des Staunens; aber er behielt standhaft die Binde und stieg blind von Terrasse zu Terrasse, von Orangendüften durchzogen, von höhern freiern Winden erfrischt, von Lorbeerzweigen umflattert – und als sie endlich die höchste Terrasse erstiegen hatten, unter der der See 60 Ellen tief seine grünen Wellen schlägt, so sagte Schoppe: »Jetzt! jetzt!« – Aber Cesara sagte: »Nein! Erst die Sonne!« Und der Morgenwind warf die Sonne leuchtend durchs dunkle Gezweig empor, und sie flammte frei auf den Gipfeln – und Dian zerriß kräftig die Binde und sagte: »Schau umher!« – »O Gott!« rief er selig erschrocken, als alle Türen des neuen Himmels aufsprangen und der Olymp der Natur mit seinen tausend ruhenden Göttern um ihn stand. Welch eine Welt! Die Alpen standen wie verbrüderte Riesen der Vorwelt fern in der Vergangenheit verbunden beisammen und hielten hoch der Sonne die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen – die Riesen trugen blaue Gürtel aus Wäldern – und zu ihren Füßen lagen Hügel und Weinberge – und zwischen den Gewölben aus Reben spielten die Morgenwinde mit Kaskaden wie mit wassertaftnen Bändern – und an den Bändern hing der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den Bergen nieder, und sie flatterten in den Spiegel, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein Albano drehte sich langsam im Kreise um und blickte in die Höhe, in die Tiefe, in die Sonne, in die Blüten; und auf allen Höhen brannten Lärmfeuer der gewaltigen Natur und in allen Tiefen ihr Widerschein – ein schöpferisches Erdbeben schlug wie ein Herz unter der Erde und trieb Gebirge und Meere hervor. – – O als er dann neben der unendlichen Mutter die kleinen wimmelnden Kinder sah, die unter der Welle und unter der Wolke flogen – und als der Morgenwind ferne Schiffe zwischen die Alpen hineinjagte – und als Isola madre gegenüber sieben Gärten auftürmte und ihn von seinem Gipfel zu ihrem im waagrechten wiegenden Fluge hinüberlockte – und als sich Fasanen von der Madre-Insel in die Wellen warfen: so stand er wie ein Sturmvogel mit aufgeblättertem Gefieder auf dem blühenden Horst, seine Arme hob der Morgenwind wie Flügel auf, und er sehnte sich, über die Terrasse sich den Fasanen nachzustürzen und im Strome der Natur das Herz zu kühlen.

Er nahm, ohne sich umzusehen, verschämt die Hände der Freunde und drückte sie ihnen, damit er nicht sprechen müsse. Das stolze Weltall hatte seine große Brust schmerzlich ausgedehnt und dann selig überfüllt; und da er jetzt die Augen wie ein Adler weit und fest in die Sonne öffnete; und da die Erblindung und der Glanz die Erde verdeckte und er einsam wurde; und die Erde zum Rauch und die Sonne zu einer weißen sanften Welt, die nur am Rande blitzte: so tat sich sein ganzer voller Geist wie eine Gewitterwolke auseinander und brannte und weinte, und aus der reinen blassen Sonne sah ihn seine Mutter an, und im Feuer und Rauch der Erde stand sein Vater und sein Leben eingehüllt.

Still ging er die Terrassen herunter und fuhr oft über die nassen Augen, um den feurigen Schatten wegzuwischen, der auf alle Gipfel und alle Stufen hüpfte. –

Hohe Natur! wenn wir dich sehen und lieben, so lieben wir unsere Menschen wärmer, und wenn wir sie betrauern oder vergessen müssen, so bleibst du bei uns und ruhest vor dem nassen Auge wie ein grünendes abendrotes Gebirge. Ach vor der Seele, vor welcher der Morgentau der Ideale sich zum grauen kalten Landregen entfärbet hat – und vor dem Herzen, dem auf den unterirdischen Gängen dieses Lebens die Menschen nur noch wie dürre gekrümmte Mumien auf Stäben in Katakomben begegnen – und vor dem Auge, das verarmt und verlassen ist und das kein Mensch mehr erfreuen will – und vor dem stolzen Göttersohne, den sein Unglaube und seine einsame, menschenleere Brust an einen ewigen unverrückten Schmerz anschmieden – – vor allen diesen bleibst du, erquickende Natur, mit deinen Blumen und Gebirgen und Katarakten treu und tröstend stehen, und der blutende Göttersohn wirft stumm und kalt den Tropfen der Pein aus den Augen, damit sie hell und weit auf deinen Vulkanen und auf deinen Frühlingen und auf deinen Sonnen liegen! – –

2. Zykel

Ich wüßte einem Menschen, den ich lieb habe, nichts Schöneres zu wünschen als eine Mutter – eine Schwester – drei Jahre Beisammenleben auf Isola bella – und dann im zwanzigsten eine Morgenstunde, wo er auf dem Eden-Eiland aussteigt und alles dieses mit dem Auge und der Erinnerung auf einmal genießend umfängt und in die offne Seele drückt – – O du allzuglücklicher Albano auf dem Rosenparterre der Kindheit – unter Italiens tiefblauem Himmel – in den schwelgerischen Zitronenlauben voll Blüten – auf dem Schoße der schönen Natur, die dich wie eine Mutter liebkoset und hält, und vor dem Angesichte der erhabnen, die wie ein Vater in der Ferne steht – und mit einem Herzen, das heute den seinigen erwartet! –

Die drei Menschen durchirrten jetzt langsam und wankend das schwimmende Paradies. Obgleich die beiden andern es öfters betreten hatten: so wurde doch aus ihrem silbernen Zeitalter durch die Sympathie mit Albanos Taumel wieder ein goldenes; der Anblick einer fremden Entzückung weckt den alten Eindruck der unsrigen auf Wie Leute, die an Brandungen und Wasserfällen wohnen, lauter sprechen: so gab das herrliche Brausen des aufgeregten Lebens-Meeres ihnen allen, sogar Schoppen, eine stärkere Sprache; nur konnte dieser nie so feierliche Worte, wenigstens Gebärden treffen wie ein anderer Mensch.

Schoppe, der dem guten Italien den Abschiedskuß zuwerfen mußte, wollte gern noch die letzten nur zerstreuet um den Freudenbecher hängenden Tropfen konservieren, die so süß wie italienische Weine waren, voll deutschem Feuerstoff ohne deutschen Sauerstoff. Unter Sauerstoff meint' er Abschiednehmen und Rührung: »Tut das Schicksal«, sagt' er, »irgendeinen Retraiteschuß, beim Himmel! so wend' ich gelassen den Gaul um und reite pfeifend zurück. Der Henker müßte darin (oder darauf) sitzen, wenn ein geschickter Bereiter nicht sein Trauerroß so zureiten wollte, daß es sich recht gut zu einem Handgaul des Freudenpferdes anstellte; ich schule sowohl mein Sonnenroß als mein Bagageroß viel anders.«

Vor allen Dingen nahmen sie jetzt die Otaheiti-Insel durch Märsche ein, und jede Provinz derselben mußte ihnen, wie eine persische dem Kaiser, ein anderes Vergnügen entrichten. – »Die untern Terrassen« (sagte Schoppe)»müssen uns Majoratsherren den Obst- und Sackzehent in Zitronen- und Orangendüften abliefern – die oberste trägt die Reichssteuer in Aussichten ab – die Grotte drunten zahlet, hoff' ich, Judenschutz in Wellen-Gemurmel und der Zypressenwald drüben seine Prinzessinsteuer in Kühle – die Schiffe werden ihren Rhein- und Neckarzoll nicht defraudieren, sondern ihn dadurch erlegen, daß sie sich von weitem zeigen.«- –

Es wird mir nicht schwer, zu merken, daß Schoppe durch diese scherzhaften Vexierzüge die heftigen Bewegungen in Cesarens Kopf und Herzen brechen wollte; denn noch immer ging der Glanz der Morgenentzückung, wiewohl der Jüngling über kleinere Dinge unbefangen sprach, nicht von dessen Gesicht. In ihm zitterte jede Erschütterung lange – und eine am Morgen den ganzen Tag – und zwar darum nach, weswegen eine Sturmglocke länger nachsummt als eine Schafglocke; gleichwohl konnte ein solcher Nachklang weder seine Aufmerksamkeit noch seine Werke und Gespräche stören.

Mittags wollte der Ritter kommen. Bis dahin schwärmten und sumseten sie stiller-genießend mit Bienenflügeln und Bienenrüsseln durch die honigreiche Flora der Insel; und sie hatten jene heitere Unbefangenheit der Kinder, der Künstler und der südlichen Völker, die nur den Honigbehälter der Minute ausnascht; und daher fanden sie an jeder anfallenden Welle, an jedem Zitronenspalier, an jeder Statue unter Blüten, an jedem rückenden Widerschein, an jedem fliehenden Schilfe mehr als eine Blume, die den gefüllten Kelch weiter unter dem warmen Himmel aufmachte, anstatt daß es uns unter unserm kalten wie den Bienen geht, vor denen Maifröste die Blumen verschließen. – O die Insulaner tun recht. Unser größter und längster Irrtum ist, daß wir das Leben, d.h. seinen Genuß, wie die Materialisten das Ich, in seiner Zusammensetzung suchen, als könnte das Ganze oder das Verhältnis der Bestandteile uns etwas geben, das nicht jeder einzelne Teil schon hätte. Besteht denn der Himmel  unsers Daseins, wie der blaue über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durchsichtiges Nichts ist und die erst in der Ferne und im Großen blauer Äther wird? Das Jahrhundert wirft den Blumensamen deiner Freude nur aus der porösen Säemaschine von Minuten; oder vielmehr an der seligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick. Das Leben besteht nicht aus 70 Jahren, sondern die 70 Jahre bestehen aus einem fortwehenden Leben, und man hat allemal gelebt und genug gelebt, man sterbe, wenn man will.

3. Zykel

Endlich als die drei Frohen sich in die Tafelstube eines Lorbeerwaldes vor ihre Speis- und Trankopfer, die Schoppe zu Sesto ins Proviantschiff eingepackt hatte, niedersetzen wollten: ging durch die Zweige ein feiner, elegant und einfärbig gekleideter Fremder mit langsamen festen Schritten auf die liegende Tischgesellschaft zu und wandte sich, ohne zu fragen, sofort an Cesara mit der deutschen, langsam, leise und bestimmt prononcierten Anrede: »Ich habe dem Herrn Grafen Cesara eine Entschuldigung zu bringen.« – »Von meinem Vater?« fragt' er schnell. – »Um Verzeihung, von meinem Prinzen;« (versetzte der Fremde) »er verhinderte Ihren Herrn Vater, der kränklich aufstand, in der Morgenkühle zu reisen, aber gegen Abend wird er eintreffen. – Indes bring' ich« (setzte er mit einem wohlwollenden Lächeln und mit einer leichten Verbeugung hinzu) »dem Herrn Ritter ein Opfer, daß ich den Anfang des Glücks, künftig länger bei Ihnen zu sein, Herr Graf, mit einer Nachricht Ihres Verlustes mache.« – – Schoppe, der fein erriet, ohne fein zu sprechen, fuhr sofort heraus – weil er sich von keinem Menschen imponieren ließ –: »Sonach sind wir pädagogische Maskopisten und Unioten. Willkommen, lieber Grau-Bündner!« – »Es freuet mich«, sagte kalt der Fremde, der grau angezogen war.

Aber erraten hatt' es Schoppe; der Fremde sollte künftig das Oberhofmeistertum bei Cesara bekleiden, und Schoppe war Kollaborator. Mir kommt es vernünftig vor; der elektrische funkelnde Schoppe konnte das Katzenfell, der Fuchsschwanz, die Glasscheibe sein, die unsern aus Leiter und Nichtleiter gebaueten Jüngling vollud, der Oberhofmeister konnte als Leiter der Funkenzieher sein, der ihn mit feinen Franklinschen Spitzen auslud.

Der Mann hieß von Augusti, war Lektor bei dem Prinzen und hatte viel in der großen Welt gelebt; er schien, wie dieser ganze Hof-Schlag, zehen Jahre älter zu sein, denn er war wirklich erst 37 Jahre.

Man hätt' es auszubaden unter dem umgekehrten Dintentopf rezensierender Xanthippen, wenn man die Rezensenten oder Xanthippen in der Unwissenheit ließe, wer der Prinz eigentlich war, dessen wir alle oben erwähnten. Es war der Erbprinz von Hohenfließ, in dessen Dorfe Blumenbühl der Graf erzogen war und in dessen Hauptstadt er nun ziehen sollte. Der hohenfließische Infant jagte aus Italien, worin er viele Notmünzen und Territorialmandate nachgelassen hatte, stäubend und keuchend nach Deutschland zurück, um da auf sich Huldigungsmünzen auszuprägen, weil sein regierender Vater die Treppe in das Erbbegräbnis hinabging und nur noch einige Stufen zum Sarge hatte.

Unter dem Essen sprach der Lektor Augusti mit wahrem Geschmack über die liebliche Gegend, aber mit wenig Sturm und Drang, und zog sie einigen Tempestas4 im borromäischen Palaste bei weitem vor. Dann ging er – um des Ritters öfter zu gedenken – zu den Personalien des Hofes über und gestand, daß der deutsche Herr, Mr. de Bouverot, in besonderer Gnade stehe – denn bei Hofleuten und Heiligen tut die Gnade alles – und daß der Prinz ungemein an Nerven leide u.s.w. Die Hofleute, die sonst ihr Ich nach dem fremden zuschneiden, fassen doch für einen, der nicht am Hofe lebt, ihre ministeriellen Blätter darüber so ausführlich und ernsthaft ab, daß ihr Zeitungsleser dabei entweder lacht oder einschläft; ein Hofmann und das Buch »des erreurs et de la verité« nennen den Jesuitergeneral Gott – die Jesuiten Menschen und die Nichtjesuiten Tiere. – Schoppe horchte mit einem fatalen Kräusel- und Schnörkelwerke auf dem Gesichte zu; er hassete Höfe bitter. Der Jüngling Albano dachte nicht viel besser; ja da er gern wagte, lieber mit dem Arm des innern Menschen als mit den Fingern desselben arbeitete und anpackte und vor den Schneepflug und die Egge- und Säemaschine des Lebens gern Streit- und Donnerrosse vorspannte, anstatt eines Zugs tüchtiger Filial- und Ackerpferde: so konnt' er Leute, die vorsichtig und bedächtig zu Werke gingen und die lieber lackierte Arbeit und leichte Frauenzimmerarbeit machten als Herkulesarbeiten, nicht sonderlich leiden. Gleichwohl mußt' er für die auf einer schönen Selbstständigkeit ruhende Bescheidenheit Augustis, der kein Wort von sich selber sprach, so wie für seine Reisekenntnisse, Achtung tragen.

Cesara – beiläufig, in diesem Zykel will ich ihn noch mit C, der spanischen Orthographie zu Gefallen, schreiben; aber vom vierten an wird er, weil ich in meiner keines gewohnt bin und mich im langen Buche nicht ewig verschreiben kann, mit einem Z geschrieben – Cesara konnte den Lektor nicht genug über seinen Vater abhören. Er erzählte ihm die letzte Handlung des Ritters in Rom, aber mit einer irreligiösen Kälte, die im Jüngling eine andere wurde. Don Gaspard wettete nämlich mit einem deutschen Nuntius Gemälde gegen Gemälde, daß er einen gewissen Deutschen (Augusti wollt' ihn nicht nennen), dessen Leben nur ein längerer moralischer Kotmonat in Epikurs Marstalle war, in zwei Tagen, ohne ihn zu sehen, auf so lange bekehren wollte, als der Nuntius verlangen würde. Dieser wettete, ließ aber den Deutschen heimlich umstellen. Nach zwei Tagen sperrte sich der Deutsche ein, wurde andächtig, bleich, still, bettlägerig und kam im Handeln einem wahren Christen nahe. Der Nuntius sah dem Übel eine Woche lang zu, dann verlangt' er schleunige Verwandlung oder den Circes-Stab, der die tierische Gestalt wieder herstellte. Der Ritter berührte den Deutschen mit dem Stabe, und das epikureische Schwein stand genesen da. Ich weiß nicht, was unerklärlicher ist, das Wunderwerk oder die Härte. Aber der Lektor konnte nicht sagen, mit welchen Menstruis Gaspard diese schnellen Auflösungen und Wolken und Präzipitationen erzwang. – –

Nun kam der Lektor, den schon lange die Vokation und das Kollaborat des sonderbaren Schoppe frappiert hatte, auf verbindlichen Umwegen endlich auf die Frage, wie ihn der Ritter kennen lernen. »Durch den Pasquino!« (versetzt' er) »Er trat eben um die Ecke des Palazzo degli Ursini, als er einige Römer und unsern Erbprinzen um einen Menschen stehen sah, der zu den Statuen des Pasquino und Marforio folgendes Gebet auf den Knien – es waren meine – tat: ›Lieber Kastor und Pollux, warum säkularisieret ihr euch nicht aus dem Kirchenstaat und bereiset mein Deutschland als Bischöfe in partibus infidelium, oder als zwei arbeitsame Vikarien? – Könntet ihr denn nicht als Gesandtschaftsprediger und Referendarien in den Reichsstädten herumgehen, oder euch als Chevaliers d'honneur und Wappenhalter auf beide Seiten eines Throns postieren? – Wollte Gott, man könnte wenigstens dich, Pasquino, als Oberhofprediger und Konduitenmeister in Hofkapellen vozieren oder doch darein als Taufengel zum Namengeben an einem Strick herunterlassen! Sprecht, könnt ihr Zwillinge denn nicht einmal als Landrequetenmeister in Landtagssälen auftreten und sprechen, oder als magistri sententiarum in Universitätsgebäuden einander unter dem Promovieren opponieren? – Pasquino, bist du durch keinen Della Porta5 nur so weit herzustellen, daß du bei Kongressen und Verträgen des diplomatischen corps wenigstens als Ofenaufsatz den Silhouetteur machen könntest, sondern taugt ihr höchstens nur in Universitätsbibliotheken zu Brustbildern kritischer Redakteurs? – – Ach, munteres Paar, möchte nur Chigi, der da neben mir steht, dich modellieren zu einer tragbaren Taschenausgabe für Damen: ich steckte dich bei und zöge dich erst in Deutschland aus der Tasche.‹ – – Ich kanns aber auch hier auf der Insel tun!« – Und hier bracht' er das spöttische Kunstwerk heraus; denn der berühmte Architekt und Modellierer Chigi, der ihm zuhörte, hatt' es wirklich nachgebacken.- Schoppe erzählte weiter, daß Don Gaspard alsdann ernsthaft an ihn trat und ihn spanisch fragte, wer er sei. »Ich bin«, versetzt' er, auch spanisch, »wirklicher Titularbibliothekar des Großmeisters zu Malta – und ein Abkömmling des sogenannten grammatikalischen Hundes, des gezähnten Humanisten Scioppius (deutsch Schoppe) – mein Taufname ist Pero, Piero, Piètro (Peter). Aber hier nennen mich viele aus Versehen Sciupio oder Sciopio (Vergeudung).«

Gaspard hatte ein parteiloses tiefreichendes Auge für jede, sogar die fremdeste Brust und suchte am wenigsten sein Ebenbild. Er zog daher den Bibliothekar in sein Haus. Da nun dieser nur vom Porträtmalen zu leben schien und jetzt ohnehin nach Deutschland zurückwollte: so trug er, hoffend, diesem reichen, vieläugigen, strengen Geiste Albanos Gesellschaft an, die bloß der gegenwärtige Mitarbeiter Augusti mit ihm teilen sollte. Aber der Bibliothekar verlangte vorher vier Dinge voraus, die Schilderung des Grafen, die Silhouette desselben und – als beides gegeben war – noch das dritte und vierte so: »Soll ich von den drei Ständen kalandert6 werden und mich glatt und poliert drücken lassen von Glanzpressen? – Ich will nicht; überallhin, in den Himmel und in die Hölle will ich Ihren Sohn begleiten, aber nicht in die Poch-, Wasch-, Röst-, Schmelz- und Treibwerke vornehmer Häuser.« Das wurd' am leichtesten zugestanden; dazu war ohnehin der zweite Reichsvikarius des väterlichen Oberhaupts, Augusti, bestimmt. Aber über den vierten Punkt zerfielen sie fast. Schoppe, der lieber vogelfrei als nicht-frei oder freigelassen sein wollte, und dessen ebenso reichsunmittelbarer als fruchtbarer Boden keine Zäune litt, konnte sich nur zu zufälligen unbestimmten Diensten bequemen und mußte das Fixum eines Lohns ablehnen: »Ich will ihm«, sagt' er, »Kasualpredigten halten, aber keine Wochenpredigten; ja es kann sein, daß ich oft ein halbes Jahr gar nicht auf die Kanzel steige.« Der Ritter fand es unter sich, Verbindlichkeiten schuldig zu sein, und zog zurück; bis Schoppe den Diagonalweg ausmittelte, er gebe seine Gesellschaft als don gratuit und erwarte daher, auch vom Ritter von Zeit zu Zeit ein don gratuit von Belang. Übrigens war dem Ritter jetzt Schoppe gerade so lieb wie der erste beste Hoftürke, der ihm auf den Wagenfußtritt geholfen; seine Prüfung eines Menschen war eine kalte Totenbeschau, und nach dem Prüfen liebt' er nicht stärker und haßt' er nicht stärker; für ihn waren im Spektakelstück des polternden Lebens der Regisseur und die ersten und zweiten Liebhaberinnen und die Lears und Iphigenien und Helden weder Freunde, noch die Kasperls und die Tyrannen und Figuranten Feinde, sondern es waren verschiedene Akteurs in verschiedenen Rollen. – – O Gaspard, stehest denn du in der Frontloge und nicht auch auf dem Theater? Und siehest du nicht, wie Hamlet, im großen Schauspiele einem kleinern zu? Ja setzet nicht jede Bühne am Ende ein doppeltes Leben voraus, ein kopierendes und ein kopiertes? –

Entweder die wenigen paar Gläser Wein oder auch sein verdrüßlicher Abstand vom zierlichen gehaltenen Lektor setzten Schoppes Fegemühle mit allen Rädern in Gang – so wenig dieser Humor auf der glänzenden Insel eine vorteilhafte Stelle fand –; und als Augusti wünschte, Schoppe möchte froher als andere Maler nach Deutschland gehen: so zog dieser ein Päckchen vergoldeter Heiligenbilder deutscher Schutzpatrone heraus und sagte Karten-mischend: »Mancher würde hier ein päpstliches Miserere aufs Pult legen und absingen, zumal wenn er mitten im Frühling das Winterquartier, die deutsche Eis- und Nebelbank, beziehen muß wie ich; – und ungern, das sag' ich frei, lass' ich den Arlechino und den Pulcinella und den Scapin und die ganze Comedia dell' Arte dahinten. – Aber die heiligen Herren, die ich hier tailliere, haben ihre Patronatsländer aufs Trockne gebracht; und man passiert sie gern. Baumeister, Ihr lacht, aber Ihr wisset im ganzen zu wenig von dem, was diese gemalten himmlischen Schirmvögte für deutsche Kreise stündlich unternehmen. Baumeister, sucht mir überhaupt ein Land, worin so viele Prügel, Programmen, Professoren, Allongeperücken, gelehrte Anzeigen, Reichsanzeigen, Klein- und Vorstädter, Zeremonien, Krönungen und Heidelberger Fässer, aber ohne innewohnende Diogenesse, aufzutreiben sind als im gedachten! Oder suchen Sie es, mein Herr v. Augusti! – Weiset mir doch nur überhaupt ein Territorium auf, dem ein ebenso langes Parlament, nämlich ein längster Reichstag bescheret ist, gleichsam eine außerordentlich heilsame pillula perpetua7, die der Patient unaufhörlich einnimmt und die ihn unaufhörlich ausreinigt; und wem fällt dabei nicht ebensogut wie mir die capitulatio perpetua und überhaupt das Reichs-corpus als perpetuum immobile aus Gründen ein?« – (Hier trank Schoppe.) »Dabei ist der Reichskörper wie das erste Prinzip der Moral oder wie Jungfernerde sehr unauflöslich; ja gesetzt, einer von uns nähme ein Kurschwert und schnitte ihn damit wie einen Ohrwurm entzwei, so würde sich die gezähnte Hälfte eben wie der gespaltene Ohrwurm umkehren und den Hinterrest rein aufspeisen – und dann wäre ja der gesamte verknüpfte Ohrwurm wieder da und satt dazu. Es ist keine schädliche Folge dieses festen Reichsnexus, daß das corpus seine eignen Glieder wie der Bachkrebs seinen Magen verzehren und verdauen ohne wahren Schaden, so daß einer das corpus wie einen homerischen Gott nur verwunden, aber nicht ertöten kann: reibe, sag' ich oft, diesen Federbuschpolypenstamm mit Rösel zu Brei – stülp ihn um wie einen Handschuh – schneide den Polypen wie Lichtenberg geschickt mit einem Haare entzwei – stecke wie Trembley mehrere abgeschnittene Glieder ineinander und verleibe, wie andere Naturforscher, Reichsstädte, Abteien, kleine Länder größern ein oder umgekehrt- – und schaue nach einigen Tagen darnach: wahrhaftig herrlich und ganz und genesen sitzt dein Polype wieder dort, oder ich will nicht Schoppe heißen.«

Der Graf hörte ihn schon länger und konnte also leichter und besser lächeln; der Lektor mußt' es erst lernen, da sogar der komische Akteur für seinen neuen Zuhörer noch keiner ist. Aber unter allen diesen Zerstreuungen dauerte in Albanos Seele ein verwirrter Tumult, gleichsam das Rauschen vom Wasserfalle der kommenden Zeiten fort. Er blickte sehnend durch die wankenden Fugen der Lorbeerzweige nach den glänzenden Hügeln draußen, da Dian in seiner Malersprache sagte: »Ist es nicht, als wenn alle Götter mit tausend Fruchthörnern auf den Bergen um den Lago maggiore ständen und Wein und Kaskaden niedergössen, damit nur der See wie ein Freudenpokal üppig überlaufe und herunterschäume?« – Schoppe versetzte: »Freuden von ausnehmendem Geschmack wie Ananas haben das Schlimme, daß sie wie Ananas das Zahnfleisch bluten machen.« – »Ich glaube,« sagte Augusti, »man muß über die Freuden des Lebens nicht viel reflektieren, so wie über die Schönheiten eines guten Gedichts, man genießet beide besser, ohne sie zu zählen oder zu zergliedern.« – »Und ich«, sagte Cesara, »würde zählen und zergliedern schon aus Stolz; was herauskäme, ertrüg' ich, und ich würde mich schämen, unglücklich zu sein. Ist das Leben wie eine Olive eine bittere Frucht, so greife nur beide scharf mit der Presse an, sie liefern das süßeste Öl.« – Hier stand er auf, um bis abends in der Insel allein zu bleiben; er bat um Nachsicht, machte aber keinen Vorwand. Seine hohe ehrgeizige Seele war unfähig, sich zur kleinsten Lüge niederzubücken; nicht einmal gegen – Vieh. Er lockte in Blumenbühl Flugtauben täglich durch Futter näher, und seine Pflegeschwester bat ihn oft, eine zu ergreifen; aber er sagte immer Nein, weil er sogar ein tierisches Vertrauen nicht belügen wollte.

Als sie ihm nachsahen, da er langsam mit nachspringenden Schatten und mit den an ihm herabschlüpfenden Sonnenblitzen durch die Lorbeerbäume ging und wie in einem Traume die Zweige mit vorausgehaltenen Händen sanft auseinanderbog: so brach Dian aus: »Welche Jupiters-Statue!« – »Und die Alten«, fiel Schoppe ein, »glaubten noch dazu, daß jeder Gott in seiner Statue hause.« – »Eine herrliche dreifache Breite der Stirn, der Nasenwurzel und der Brust!« (fuhr Dian fort) »Ein Herkules, der auf dem Olympus Ölbäume pflanzt!« – »Es frappierte mich sehr,« (sagte der Lektor) »daß ich durch langes Anschauen auf seinem Gesichte lesen konnte, was ich wollte und was sich widersprach, Kälte – Wärme – Unschuld und Sanftmut – am leichtesten Trotz und Kraft.« – Schoppe setzte dazu: »Ihm selber mag es noch schwerer werden, einen solchen Kongreß kriegführender Mächte in sich zu einem Friedenskongreß zusammenzuzwingen.« – »Wie schön« (sagte der menschlich-fühlende Dian) »muß einer so kräftigen Gestalt die Liebe anstehen und wie erhaben der Zorn!« – »Das sind zwei malerische Schönheiten,« (versetzte Schoppe) »woraus sich zwei Pädagogiarchen und Xenophone wie wir wenig bei ihrem Cyrus machen in ihrer Cyropädie.«

4. Zykel

Zesara hatte bloß drei Gläser Wein gekostet; aber der Most seines heißen dichten Blutes gor davon stärker. Der Tag erwuchs immer mehr zu einem daphnischen und delphischen Hain, in dessen flüsterndes und dampfendes Dickicht er sich tiefer verlor – die Sonne hing wie eine weiße blitzende Schneekugel im Blau – die Eisberge warfen ihren Silberblick in das Grün herein – aus fernen Wolken donnerte es zuweilen8, als rolle der Frühling in seinem Triumphwagen daher und weiter zu uns – die Lebenswärme des Klimas und der Tagszeit, das heilige Feuer zweier Entzückungen (der erinnerten und der gehofften) brüteten alle seine Kräfte an. Jetzt ergriff ihn jenes Fieber der jungen Gesundheit, worin ihm allemal war, als schlage in jedem Gliede ein besonderes Herz – die Lunge und das Herz von Blute schwer und voll – der Atem ist heiß wie ein Harmattanwind – und das Auge trübe in seiner eignen Lohe – und die Glieder sind müde vor Kraft. In dieser Überfüllung der elektrischen Wolke hatt' er einen besonderen Trieb nach Zertrümmern. Er half sich jünger oft, daß er Felsenstücke an den Gipfel wälzte und niederrollen ließ; oder daß er im Galopp so lange lief, bis der Atem – länger wurde, oder am gewissesten dadurch, daß er sich (wie er von Kardan gehört hatte) mit einem Federmesser Schmerzen und sogar kleine Verblutungen erregte. – Selten gewinnen gewöhnliche, und noch seltener ungewöhnliche Menschen die volle, mit allen Zweigen blühende Jugend des Leibes und Geistes; aber desto prangender trägt dann eine Wurzel einen ganzen Blumengarten. –

Mit diesen Wallungen stand Albano jetzt hinter dem Palast einsam gegen Süden, als ihm ein Spiel seiner Knabenjahre einfiel.

Er war nämlich oft im Mai auf einen säulendicken Apfelbaum, der ein ganzes hängendes grünes Kabinett erhob, bei heftigem Wind gestiegen und hatte sich in die Arme seines Gezweigs gelegt. Wenn ihn nun so die schwankende Lusthecke zwischen dem Gaukeln der Lilienschmetterlinge und dem Summen der Bienen und Mücken und dem Nebeln der Blüten schaukelte und wenn ihn der aufgeblähte Wipfel bald unter fettes Grün versenkte, bald vor tiefes Blau und bald vor Sonnenblitze drehte: dann zog seine Phantasie den Baum riesenhaft empor, er wuchs allein im Universum, gleichsam als sei er der Baum des unendlichen Lebens, seine Wurzeln stiegen in den Abgrund, die weißen und roten Wolken hingen als Blüten in ihm, der Mond als eine Frucht, die kleinen Sterne blitzten wie Tau, und Albano ruhte in seinem unendlichen Gipfel, und ein Sturm bog den Gipfel aus dem Tag in die Nacht, und aus der Nacht in den Tag. –