Titus und Timotheus und der Esel Bileam - Paul Keller - E-Book

Titus und Timotheus und der Esel Bileam E-Book

Paul Keller

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Beschreibung

Manchmal erinnert sich Titus an seine Kindheit, als er noch ganz profan Phillip hieß und mit seinem sanftmütigen Vater über die Dörfer fuhr, um die Kranken zu besuchen. Der Tod des Vaters und die stille Frömmigkeit der Mutter bewegen ihn, ein Theologiestudium aufzunehmen. Doch der Weg zum wahren Glauben ist mit Hindernissen gepflastert. Überhaupt scheint er für den Beruf des Geistlichen nicht geeignet. Noch während der rastlose Möchtegernapostel sich nach beruflichen Alternativen umsieht, begegnet ihm in seinem sehr viel älteren Vetter Timotheus ein Bruder im Geiste. Der ehrbare Goldschmied gibt Werkstatt und Laden auf und gemeinsam geht es auf Pilgerreise, die zunächst im dem beschaulichen Städtchen Altenroda endet. Die Bewohner von Altenroda staunen nicht schlecht über das komische "Brüderpaar" in seiner selbst komponierten Pilgerkleidung. Dabei sind die Altenroder selber schräge Vögel. Drei Litfaßsäulen errichtet der Stadtverordnete Hiller, wegen seiner tausend Anträge "Die Antragsspritze" genannt, und lässt "die verheerende Wirkung schlechten Tabaks auf die Volksgesundheit" plakatieren – ein Angriff auf seinen Konkurrenten, den Zigarrenmacher Jeschke. Während sie sich gegenseitig verklagen, gratulieren sich die beiden Rechtsanwälte in der Wirtschaft zu ihren Konkurrenten. Der Bürgermeister trägt mit Stolz den "Schönheitsorden 4. Klasse" und der Student Brüning überlebt auf wundersame Weise ein Duell mit Herzdurchschuss. Eines Tages stürzt die weltliche Liebe zu Helga Hiller die sesshaft gewordenen Pilger in eine tiefe Krise ...Glaube, Liebe und lauter Urverrücktheiten – ein humorvoller Roman über die Unzulänglichkeit des Menschen.-

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Paul Keller

Titus und Timotheus und der Esel Bileam

Roman

Saga

Titus und Timotheus und der Esel Bileam

© 1927 Paul Keller

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517475

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Ein Pastorale

Wer nie verstand das Treiben der Narren,

Der hat wohl selber den grössten Sparren;

Was auch über Narrtum zu sagen sei,

Das Blödeste bleibt die Philisterei.

Einzug.

„Nun sind wir nahe am Ziele,“ sagte der Paulusjünger Timotheus zu seinem Bruder Titus, „diese Stadt ist Altenroda.“

Zu ihren Füssen lag eine deutsche Gebirgsstadt, umrahmt von stattlichen Bergen, umgürtet von Wiesen und Wäldern. „Eine schöne Stadt!“ rief Titus.

„Gottes Welt ist überall schön,“ sagte der andere, „am schönsten ist sie in der Steppe. Dort, wo Abraham König über Hunderte von Hirten und Herden war, wo David seine Harfe schlug, wo Tobias unter seinem Feigenbaume wohnte, dort war die Welt schön. Hier aber? Siehst du den Fabrikschlot? Hörst du die Eisenbahn bimmeln? Tutet nicht hinter uns ein Auto? Ach, warum sind wir nicht nach dem Morgenlande gezogen!“

Titus sagte: „Schön ist’s für mich nur in Deutschland, in der Heimat!“

Der andere erwiderte in einem seltsamen Gemisch von Nüchternheit, Schwärmerei und Verdrossenheit:

„Was ist Heimat? Nennst du das Heimat, wo du ein Weilchen wohnst unter viel Ärger und Qual und dann fortziehen musst für immer? Unsere Heimat ist jenseits unserer Augen.“

„Das ist richtig, aber du hast selbst gesagt, Gottes Erde sei schön. Wenn der Mensch gesund ist und Frieden im Herzen hat, und wenn er zu Hause ist, kann er schon auf Erden im Vorgarten des Paradieses sein.“

So sprachen zwei Wanderer auf einer deutschen Bergstrasse. Sie stiegen den Bergweg hinab, der vom Eulenwalde nach der Stadt Altenroda führt. Es waren seltsame Gestalten. Der eine, der Titus genannt wurde, war jung und schlank und von jener durchgeistigten Schönheit, wie man sie manchmal bei jungen Mönchen findet, es war etwas Johanneshaftes an ihm, oder er hätte auch ein Gralsritter sein können, wenn er nicht in konfuser Gewandung gesteckt hätte; der zweite der Wanderer, Timotheus genannt, war klein und wohl weit über die vierzig Jahre alt. Über der Wölbung seines Bauches leuchtete ein freundliches Vollmondgesicht.

Die beiden waren seltsam gekleidet. Sie trugen lange mantel- oder talarartige Gewänder, die bis über die Knie reichten, gehalten durch einen strickartigen Gurt. Diese Röcke waren Russenkitteln ähnlich, hatten im Zuschnitt aber auch etwas von der Tracht orientalischer Mönche. Sie gehörten wohl keiner besonderen Kleiderordnung an, waren sichtlich „selbst komponiert“. Auf dem Rücken hing jedem eine Kapuze. Unter den Knien waren grobwollene lange Strümpfe sichtbar, die nach unten in feste Bergschuhe mündeten. Die beiden Männer waren barhäuptig. Der Jüngere hatte eine blonde Lohengrinmähne, der Ältere die Glatze eines Falstaff. Im Äusseren waren sie ein ganz ungleiches Paar. In den Händen trugen sie lange, weisse Pilgerstöcke.

Am Wegrande stand ein freundliches Landhaus, abgeschlossen durch einen niederen, grünen Zaun. Dem Hause gegenüber war eine Eiche voll Pracht und Majestät; unter der Eiche sah man eine Steinbank, darüber war ein Steinschild, an der Eiche befestigt, mit der Inschrift:

„Auf diese Bank von Stein sollst du dich setzen, dem müden Wanderer zur Ruh bereitet.“

Die beiden Pilgrime blieben stehen und lasen die Inschrift.

„Das ist von Schiller, aus dem ‚Tell‘,“ sagte der kleine Dicke.

„Richtig!“ lobte der andere, „deinen Schiller kennst du!“

„Es war der erhabenste profane Geist. Wie alt, meinst du, mag dieser herrliche Baum sein?“

„Fünfhundert Jahre!“

„Ja, so meine ich auch. Und die Bank ist fast ebenso alt. Sieh, ihre mittelalterliche Form und ihre starke Verwitterung. Die Tafel ist natürlich jüngeren Datums.“

„Ja, sonst würden wahrscheinlich Schillers Jamben nicht darauf stehen.“

„Ich bin zwar nicht sehr müde; aber einer Einladung, die von Schiller kommt, soll man folgen.“

Der Dicke setzte sich, und sein schlanker Gefährte nahm neben ihm Platz. Sie sassen kaum, da öffnete sich die Tür des Landhauses, ein junges Mädchen in weissem Kleide kam heraus, lehnte sich an den Zaun und betrachtete die beiden mit unverhohlener, ja dreister Neugierde.

Und es entspann sich sofort am Gartenzaune eine Unterhaltung, wie sie immer flink zur Stelle ist, wenn sich zwei neugierige Menschen begegnen. Das Mädchen, das am Zaun lehnte, war neugierig, und der Dicke von den zwei Pilgrimen war auch neugierig, und beiden sass die Zunge locker. So schwadronierten sie alsbald darauf los.

Der dicke Timotheus sagte:

„Jungfrau, wir haben uns ein wenig auf diese Bank gesetzt. Verzeihe uns, wenn wir es etwa nicht hätten tun sollen. Gehört dieser schöne Baum und diese uralte Bank deinen Eltern?“

Das Mädchen kicherte in sich hinein.

„Er duzt mich.“ Laut sagte sie:

„Nein, Baum und Bank gehören der Stadt. Jeder kann sich darauf setzen, dem es Spass macht. Sie sind wohl Mönche?“

Der Schlanke schüttelte den Kopf; der Dicke schnob durch die Nase:

„Nein, wir sind keine Mönche; wir sind auch selbstverständlich nicht katholisch. Oder sehen wir etwa so aus? Wie? — Wir sind gute Christen!“

„Ja, meint Ihr denn, dass Mönche und Katholiken keine guten Christen sind?“

„Das meinen wir gewisslich!“

„Nun, da seid Ihr gewisslich auf dem Holzwege.“

„Du bist wohl selber katholisch?“

„Nein, von Hause aus bin ich evangelisch, seit zwei Jahren bin ich freireligiös.“

Der Dicke schlug mit sichtbarem Schreck die fleischigen Hände zusammen.

„Freireligiös? Also unreligiös, heidnisch? Jungfrau, wie kommst du dazu in deinen jungen Jahren?“

Das Mädel zuckte die Achseln.

„Vernunftgründe! — Lektüre! — Aufklärung! — Übrigens, wie kommen Sie dazu, fremder Herr, mich zu duzen? Halten Sie mich noch für ein Schulmädel? Ich werde in einem halben Jahre einundzwanzig, bin dann grossjährig.“ „Wir duzen alle Leute,“ sagte nun der Schlanke. „Eine andere Anrede als ‚du‘ ist unsinnig.“ Der Dicke setzte hinzu: „Was meinst du, Jungfrau, wie das geklungen hätte, wenn der Apostelfürst Paulus zu den Leuten ‚Sie‘ gesagt hätte? Etwa: ‚Gehen Sie hin und sündigen Sie nicht mehr!‘ Fehlt nicht dem ‚Sie‘ jede Weihe und Würde und jede Vernunft?“

Das Mädel war verdutzt und musterte die Seltsamen noch neugieriger.

„Ja, was hat denn das hier an unserem Zaun mit Religion und Bibel zu tun?“

Der Dicke antwortete: „Wir haben uns dem Dienste Sankt Pauli geweiht. Wir verlassen die Welt, weil sie gottlos ist und gefährlich für die, die den Weg zum Heile suchen.“

„So sind Sie ja doch Mönche!“

„Wir sind es nicht! Wir verlassen die Welt ganz freiwillig.“

„Das tun die Mönche auch!“

„Nein, die werden in ihre Klöster hineingezwungen und eingesperrt!“

Das Mädel lachte ihn aus.

„Sie sind ein komischer Heiliger! Wenn es nun schon durchaus über Religion gehen muss, was sind Sie denn?“ „Wir sind gute Christen, wenn auch mein Bruder Titus leider der Irrlehre des Luthertums anhängt.“

Das Mädel lachte wieder.

„Nanu, katholisch lassen Sie nicht gelten, freireligiös auch nicht und jetzt auch nicht lutherisch? Ja, was sind denn dann Sie? Sind Sie Jude?“

Timotheus erhob sich erbost.

„Jude? Ich? Seh’ ich so aus? Wie?“

„Nein,“ lachte das Mädel, „die Juden sehen im allgemeinen — wie soll ich sagen — zivilisierter aus. Ich möchte gern wissen, was Sie sind.“

„Calvinianer bin ich!“ sagte der Dicke stolz. „Mein Bruder Titus ist leider Lutheraner.“

„Aber,“ staunte das Mädchen, „ich denke, das ist ganz dasselbe; ich denke, Luther und Calvin sind überhaupt ein und dieselbe Person und Fassung!“

Timotheus seufzte abgrundtief.

„Daher hat es der böse Feind so leicht! Er fischt in den trüben Gewässern der grenzenlosen Unwissenheit der Menschen.“

„Ach,“ lachte das schöne Mädchen, „ich bin gar kein so trübes Gewässer. Sagen Sie mir lieber, wie Sie heissen, wenn es nicht unbescheiden ist, so zu fragen. Ich heisse Helga Hiller.“

„Helga ist kein christlicher Name.“

„Das weiss ich nicht; jedenfalls ist es ein hübscher Name. Und wie heissen Sie?“

„Mein Bruder heisst Titus; ich heisse Timotheus.“

Dem Mädel gab es einen sicht- und hörbaren Ruck in die Kehle.

„Tit — und Timot —“

Sie musste erst etwas verschnaufen, ehe sie sagen konnte:

„Ist denn das möglich? Titus und Timotheus? Ja, erlaubt denn so was die Polizei?“

„Warum soll sie es nicht erlauben? Wir wollen die Welt verlassen, und so haben wir die bürgerlichen Namen die wir bisher trugen, abgelegt und nennen uns nach den beiden Lieblingsjüngern unseres grossen Meisters Paulus — Titus und Timotheus. Wir sind uns unserer Unwürdigkeit, diese ehrwürdigen Namen zu tragen, wohl bewusst, aber wir müssen erhabene Vorbilder haben, wenn wir auf dem schweren Wege, den wir uns erwählt haben, nicht erliegen wollen. So heissen wir Titus und Timotheus!“

Helga klatschte vergnügt in die Hände:

„Das ist glänzend, das ist famos! Titus und Timotheus! Ich habe so etwas Urverrücktes rasend gern.“

„Es ist nicht verrückt,“ sagte der Dicke sanft, ohne jedes Anzeichen, beleidigt zu sein. „Die Ungläubigen haben die echten Christen allezeit für Toren und Narren gehalten. Wie aber steht in der Schrift vom Jüngsten Gericht? ‚Wie stöhnen die, die sich auf der Welt für Weise hielten und nun auf der Seite der Verdammten stehen, wie stöhnen sie, indem sie sehnsüchtig hinüber zur Rechten sehen? Seht diese! Wir hielten sie für Toren und ihr Leben für Unsinn. Seht, wie sie zu den Auserwählten gezählt werden!‘“

„Möchten wir nicht weitergehen?“ fragte der andere der Pilger, der Titus genannt worden war, verdrossen.

„Ja, wir wollen gehen. Zuvor aber möchte ich die Jungfer noch fragen, ob sie wohl weiss, wie alt dieser stattliche Baum ist.“

„Siebenhundert Jahre, sagen die Gelehrten. Wird woh aber etwas weniger sein. Inwendig ist der Baum ganz hohl. Als ich noch jung und übermütig war, habe ich einmal ein Meerschweinchen in den Baum gesperrt. Das hat rumort und abscheulich und ängstlich gequiekt. Zwei alte Weiber, die vom Holzsammeln kamen, haben die Krämpfe gekriegt, als sie das Rumoren und Quieken hörten und nicht wussten, woher es kam. Sie warfen ihre Holzhucken weg und rannten schreiend nach der Stadt, wo sie erzählten, was sie erlebt hätten. Da gingen noch andere neugierige Leute hin, hörten auch den Spuk, der sich Abend für Abend erneuerte. Denn am Tage nahm ich das arme Tierchen heraus aus dem Baume. Schliesslich galt der Baum als verhext; es hiess, eine arme Seele quieke darin. Das war mein schönster Spass!“

„Der Spass war sehr hässlich!“ verwies Timotheus. Dann sah er an der Eiche empor. „Siebenhundert Jahre, fürwahr ein ehrenvolles Alter! Calvin war noch nicht geboren, als der Baum schon gross und stattlich war. Siebenhundert Jahre! Die Bank muss auch uralt sein.“

„Gar so uralt nicht, sie ist zwei Jahre alt.“

„Verspottest du mich, Jungfer?“

„Nein! Wir haben hier einen Künstler, der macht Bänke, Vasen, Urnen, Waffen, Sarkophage, Torsos, alten Schmuck in allen Dessins, aus allen Zeiträumen, in allen Stilarten und in jeder Preislage. Alles hervorragend echt. Spezialist ist er in etruskischen und keltischen Ausgrabungen. Auch die Inkaskultur liegt ihm. Er beliefert fast alle Altertumshandlungen des Kontinents und hauptsächlich des Orients. Selbst in Altertumsmuseen ist mancherlei von ihm; darauf ist er mit Recht stolz. Ich habe ihm einen uralten Ägypter abgekauft (7000 Jahre vor Christus). Es sind die Uranfänge ägyptischer Kunst, da die primitiven Menschen noch nichts konnten, als plump und ungeschickt drei Tiere in Stein zu ritzen, den Elefanten, die Schlange und den Dackelhund. Mein Vater hat mir unter Grimm und Schimpfen eine solche prähistorische Reliquie aus der Werkstatt des Meisters kaufen und sie über meinem Bette einmauern lassen müssen. Wenn es nur irgend Ihre Zeit erlaubt, sollten Sie sich die Werkstatt des Meisters mal anschauen: Kringelgasse 9. Meister Leonhard ist sehr leutselig!“

„Wir werden die Werkstatt eines solchen historischen Fälschers nie betreten,“ sagte Timotheus voller Entrüstung. „Hätte ich gewusst, dass diese mittelalterlich anmutende, verwitterte Bank eine Fälschung ist, hätte ich mich nie darauf gesetzt. Ich mag mit Fälschungen in gar keiner Weise in Berührung kommen. Wir werden diesen Betrüger nicht aufsuchen, obwohl wir Zeit genug dazu hätten.“

„Ihr wollt wohl morgen noch in unserer schönen Stadt bleiben?“

„Morgen und übermorgen und so viel hundert oder tausend Tage, wie uns der Herr noch zumisst.“

„Ihr wollt doch nicht etwa in Altenroda wohnen?“

„Ja, wir haben das Besitztum gekauft, das früher dem Gärtner Zeidler gehörte. Dort werden wir wohnen.“

Helga schlug in erstauntem Entzücken die Hände zusammen.

„Ist das möglich? Ist etwas so Herrliches zu glauben? O, wenn es wahr ist, dann begrüsse ich Euch stürmisch. Bisher waren in dieser biederen Stadt nur zwei spleenige Personen: der Student Brünning und ich. Jetzt sind wir vier! Das ist herrlich!“

„Wir wollen endlich gehen!“ sagte Titus und stand entschlossen auf.

„Behüt’ dich Gott, Jungfrau, hüte deine Zunge und bessere dein Leben!“ sagte Timotheus.

„Ich danke — gleichfalls,“ lachte Helga. „Zeidlers Besitztum ist zehn Minuten denselben Weg hinab, das kleine weisse Haus rechts am Wege. Auf dem Dache ist ein Storchnest. Sie können nicht fehlgehen.“

Die Paulusjünger wanderten den Berg hinab. Titus war niedergeschlagen.

„Warum haben wir uns verweilt?“ fragte er. „Um festzustellen, dass dort oben ein leichtfertiges Mädchen neben einer hohlen Eiche und einer gefälschten Altertumsbank wohnt?“ Timotheus antwortete: „Das Mädchen mag vielleicht noch nicht hoffnungslos verloren sein, aber leichtfertig ist sie und sehr geschwätzig.“

„Du warst auch geschwätzig, lieber Bruder!“

Timotheus sah erschrocken auf. Es war Gesetz zwischen den Paulusbrüdern, dass einer den anderen auf seine Fehler rückhaltlos aufmerksam machte. Timotheus sagte leise: „Du hast recht; ich war auch geschwätzig! Verzeihe mir!“

Nun sahen sie das Haus, das sie durch einen Agenten, ohne es vorher geprüft zu haben, gekauft hatten. Übermässig betrogen waren sie nicht, und da sie die Übervorteilung, die natürlich vorhanden war, nicht merkten, waren sie überhaupt nicht betrogen. Wer einen Betrug nicht merkt, ist nicht betrogen; daher haben alle Dummköpfe der Welt so stillvergnügte Gesichter.

Das Haus war ein viereckiger Kasten mit spitzem Strohdach; die Fenster waren eigentlich keine Fenster, es waren nur Ausluge. Die Käufer hatten Strohdach und kleine Fenster dem Agenten zur Bedingung gemacht und einen grossen, für Anbau geeigneten Garten; auch sollte das Haus in der Nähe einer kleinen Gebirgsstadt liegen, wo man das für das Leben Notdürftigste, auch im Bedarfsfalle einen Arzt, haben könne, ja nicht aber in der Stadt selbst, sondern abseits müsse es liegen, da man vom Lärm der Welt nicht berührt zu sein wünsche. Der Agent hatte einige Zeit suchen müssen, ehe er ein geeignetes Kaufobjekt fand, und sich für diese Bemühung durchaus schadlos gehalten ... Die Paulusjünger blieben stehen und betrachteten ihr neues Besitztum.

„Es ist alles, wie wir es gewünscht haben,“ sagte Timotheus, „Der Agent war eine treue Seele. Sieh das entzückende Strohdach, die kleinen Fenster. Das Storchennest, von dem jenes schwatzhafte Mädchen sprach, ist wirklich da! Kein Zweifel, wir sind am Ziel!“

„Der Garten ist gross, und es stehen schöne Obstbäume darin,“ lobte Titus.

„Ja,“ sagte Timotheus, „und was die Hauptsache ist, um den Garten ist ein so hoher Zaun, wie man ihn selten findet. Darüber springt kein Unbefugter. Lass uns eintreten!“

Am Gartentore, das offen stand, sprachen sie gemeinsam: „Der Herr segne unseren Eingang und unseren Ausgang!“ Dann reichten sie sich die Hände, und Timotheus sagte mit feuchten Augen: „Vereint bis zum Tode, damit wir auch drüben in der Ewigkeit wieder vereint werden, in der wahren Heimat!“

„Ja!“ sagte Titus schlicht und fest.

„Und es wird uns nichts trennen, nicht Hang nach Ruhm oder Geld oder sonst etwas, das die Welt hoch wertet, vor allen Dingen kein Weib!“

„Nichts wird uns trennen!“ sagte Titus.

„Amen!“ sagte Timotheus, und es war wie ein Schwur.

Im Garten trat ihnen eine alte Frau entgegen.

„Was wünschen Sie?“

„Wir sind die neuen Besitzer dieses Anwesens.“

„Sie?“

Der Alten verschlug es die Sprache; sie hätte die beiden viel eher für ausländische Stromer gehalten als für Hauskäufer. Sie fürchtete sich vor den zweien.

„Haben Sie denn etwas Schriftliches?“ fragte sie.

„Jawohl, Grossmutter!“ sagte Timotheus gemütlich. Er ahnte, was in der Greisin vorging, kramte in seiner gewaltigen Handtasche, brachte einen Kaufkontrakt heraus und wies ihn der Alten vor. Diese rückte die Stahlbrille zurecht, las und sagte: „Jawohl, es stimmt! Es stimmt, Herr Weihrauch; es ist schon eine Postkarte für Herrn Weihrauch da, ein Avis vom Güterbahnhof.“

„Unsere Möbel!“ murmelte Titus.

Timotheus aber kriegte Magengrimmen, als er in der neuen Heimat wieder mit seinem bürgerlichen Namen genannt wurde. Furchtbar, dass er ausgerechnet „Weihrauch“ heissen musste; das ist für einen strammen Calvinisten so schrecklich, wie wenn ein strebsamer Bankier von seinen Ahnen den Namen „Schufterle“ ererbt hat, oder wenn ein Arzt „Totengräber“ heisst oder ein Völkischer „Bebel“ oder ein Hotelwirt „Wanzmann“. Solche Namen beissen und brennen. Was Timotheus auch getan hatte, eine Namensänderung zu erzielen, er war abgewiesen worden von den deutschen Behörden, die in konfessionellen Fragen zart und neutral bis zur höchsten Peinlichkeit sind. Timotheus fühlte sich so wohl und geborgen unter seinem schönen Paulinischen Namen und — nun wieder „Herr Weihrauch!“ Wenn Timotheus daran dachte, dass dieser penetrant riechende Name nun seine Familie schon seit vierhundert Jahren belästigte, wenn er gar daran dachte, dass seine Ahnen in vorkalvinischer Zeit vielleicht katholische Messdiener gewesen sein könnten, wurde ihm allemal schlecht. Fehlte bloss noch, dass sein Genosse Titus bürgerlich „Weihwasser“ hiesse, dann wäre der Pechkessel voll. Titus aber hatte einen anständigen Namen; er hiess Philipp Deutschmann.

„Also, Herr Weihrauch, das Avis ist da,“ sagte die beruhigte Alte.

„Lassen Sie das,“ grollte Timotheus, „zeigen Sie uns das Haus! Es ist hoffentlich leer.“

„Nein,“ sagte die Alte, „da ich doch mit dem Agenten ausgemacht hatte, das Haus zu hüten, bis Sie kämen, habe ich ja zwar das meiste schon zu meiner Tochter nach der Stadt schaffen lassen; aber mein Bett musste ich mir doch hier behalten, einen Tisch und einen Stuhl und ein bisschen Kochzeug. Das brauche ich doch!“

„Das alles muss fort,“ rief Timotheus, „noch heute fort — zum mindesten das Bett; denn wir nächtigen nicht mit einer Frauensperson unter einem Dache.“

Das Weiblein schlug kichernd die Hände zusammen.

„O du meine Güte. Aber, Herr Weihrauch, ich bin dreiundsiebzig Jahre alt!“

„Das ist egal. Das Alter ändert am Geschlecht nichts. Mindestens das Bett muss noch heute raus!“

Das Storchenpaar, das natürlich vom Nestrande neugierig zugehört hatte, klapperte und schlug amüsiert mit den Flügeln.

„Faule Kunden!“ sagte der Storchenmann.

„Sehr faule!“ sagte das Weib. „Hat sich was mit Kindern! Die sind keine magere Kaulquappe wert, geschweige einen Frosch.“

Indes sagte das Weiblein unten im Garten:

„Ich zieh’ gerne fort. Seit dem Tode meines Seligen war es mir hier immer sehr einsam und wehmütig. Ich ziehe noch heute zur Tochter unten in der Stadt. Mein Schwiegersohn hat ein Speditionsgeschäft, der holt meine paar Sachen auf einem Rollwägelchen ab, noch heute.“

Da sagte Titus:

„Das trifft sich ja gut; da kann er doch unsere Sachen vom Bahnhof gleich abholen und uns heraufbringen.“

Die Alte sagte: „Ich weiss nicht, ob das heute möglich sein wird; der grosse Möbelwagen ist oft unterwegs.“

Titus erklärte ihr:

„Ein grosser Möbelwagen ist nicht nötig! Hören Sie, was Ihr Schwiegersohn abzuholen hat: Zwei kleine Tische, zwei Brettstühle, einen Küchentisch, einen Küchenstuhl, zwei Strohsäcke mit Strohkissen und einige Decken, einiges Küchenzeug, einige Bilder und Figuren, eine Kiste mit Wäsche, zwei Kisten mit Büchern und ein Harmonium.“

„Sonst nichts?“ fragte das Weib.

„Nein, sonst nichts!“

„Das andere kommt nach?“

„Nein, es wird nichts nachkommen, es ist alles, was wir haben und brauchen.“

„Auch nicht einmal Bettstellen und Kleiderschränke?“

„Nein, die sind unnötig!“

Das Weiblein wurde wieder von Angst ergriffen.

„Wenn die Herren erlauben, geh’ ich sogleich hinab nach der Stadt.“

„Ja, gehen Sie!“

Die Alte machte, dass sie fortkam.

Noch ehe die Sonne sank, war der Einzug beendet. Jeder der beiden Paulusjünger bewohnte ein Zimmer für sich. Am winzigen Fensterlein stand der kleine Tisch mit seinem Stuhl; auf dem breiten Fensterbrett lagen zwei Bücher: die Bibel und das Gesangbuch, bei Titus die lutherische, bei Timotheus die kalvinische Ausgabe. An der Hinterwand lag ein Strohsack mit einem Strohkissen an der Erde; an den bestbeleuchteten Stellen der Wand aber war in jeder der beiden armseligen Klausen ein Schmuckstück; auf kunstvollem Sockel in karrarischem Marmor der Torwaldsensche „Christus“, in jedem Zimmer auch zwei gute Kopien in Öl, bei Titus: „Pauli Bekehrung“, bei Timotheus: „Paulus predigt den Athenern von der Treppe der Akropolis“. In der Zelle des Titus hing ein Bild von Luther, in der des Timotheus eines von Calvin. Die Bücher, die an einer Wand am Fussboden lehnten, waren fast ausschliesslich religiöser Art und enthielten auch den schweren Zwiespalt zwischen Luther und Calvin. Gerade die Streitschriften der beiden Geisteskämpfer waren für Titus und Timotheus, die sich liebten, eine Quelle stetigen Grames und öfters auch des Streites; aber keiner wollte von seinem Standpunkt auch nur um eine Linie zurückweichen, namentlich nicht, was Abendmahls- und Prädestinationslehre betraf.

Es war Abend geworden. Die „Paulusjünger“ lehnten am Gartenzaune und sahen hinab nach der entzückenden Bergstadt, die in die weichen Arme von Wäldern und Gärten gebettet war, ringsum behütet von kraftvollen Bergen.

Allerhand Volk wanderte den Berg herauf, sah in den Garten und bestaunte die „Neulinge“.

„Wieviele Leute hier gehen,“ sagte Timotheus, „wir scheinen leider an eine Hauptstrasse der Stadt geraten zu sein.“

„Nein,“ sagte Titus, „sie kommen aus Neugierde. Unsere Ankunft ist unten wohl schon bekannt geworden durch die Alte, und nun strömen sie herbei, uns zu betrachten, wie sie ehedem zu dem hohlen Baume schlichen, in dem das gefangene Tierchen jammerte. Die Menschen sind so. Je nüchterner und alltäglicher sie sind, desto mehr sind sie aus nach Sensationen. Sie interessieren sich immer am meisten für das, was sie angeblich verachten.“

„Es wird nicht leicht sein mit den Leuten,“ sagte Timotheus. „Ja, lieber Bruder, nichts auf Erden ist so schwer, wie anders zu sein als die andern. Aber es ist immer besser, die Leute sehen nach uns als wir nach ihnen. Es ist der einzige Weg zur Selbständigkeit und Harmonie. Wer nach den andern sieht, wird platt.“ —

Die Gartentür knarrte. Ein Student trat ein. Er zog in der schneidigen Art der Couleurstudenten seine bunte Mütze, verneigte sich und sagte mit leicht schnarrender Stimme: „Verzeihen die Herren mein Eindringen! Meine einzige Entschuldigung ist mein ungeheurer Lokalpatriotismus. Ich bin geborener Altenrodaer und könnte nicht schlafen, wenn ich zwei Neubürger in meiner Heimatstadt wüsste, die ich persönlich noch nicht kenne. Ich kenne alle Einwohner von Altenroda, die meisten sogar auch mit Vornamen, alle 8527. Und so bitte ich, auch Ihre werte Bekanntschaft machen zu dürfen. Ich erlaube mir, mich vorzustellen: Gustav Brünning, cand. med., Mediziner im vierzehnten Semester, gegenwärtig bereits im Staatsexamen.“

„Brünning,“ flüsterte Timotheus seinem Bruder zu, „das ist der Student, von dem das Mädchen sprach.“

Dem Ankömmling erklärte Timotheus, dass er und sein Bruder entschlossen seien, sich von der Welt zurückzuziehen und hier ein abseitiges Leben zu führen, daher auch keinerlei Bekanntschaften zu machen wünschten, nicht aus Menschenscheu oder gar Menschenverachtung, sondern aus einem tiefen Einsamkeitsbedürfnis heraus. Sie hiessen Titus und Timotheus aus Begeisterung für den grossen Apostel Paulus, wollten mit aller Welt in Frieden, aber ganz für sich leben. Wenn Brünning in guter Absicht gekommen sei, wollten sie seinen Gruss entgegennehmen und erwidern; im übrigen möge er in Frieden wieder gehen.

Trotz dieser deutlichen Ablehnung blieb der cand. med. Gustav Brünning da. Er erbot sich, den beiden Brüdern von einer Gartenecke aus das Stadtbild zu erklären, was sie sich schweigend gefallen liessen, da hilfloses Anstandsgefühl draufgängerischem Wesen nie gewachsen ist.

Brünning sprach im Tone eines berufsmässigen Fremdenführers mit gefährlichem Wortschwall.

„Hier, meine Herrschaften, zu unseren Füssen malerisch hingelagert, sehen Sie die Stadt Altenroda, schon aus der Zeit der Piastenfürsten Bolko I., Bolko II. oder Bolko III. rühmlichst bekannt. Die Fürstennummer steht nicht ganz fest. Altenroda liegt unter dem 52. Breiten- und l7. bis 19. Längengrade, 325,008 Meter über dem Meere, zu beiden Seiten des wasser- und fischhaltigen Knullerbaches, der seine Fluten von West nach Ost durch die Stadt wälzt. Im Osten erhebt sich der majestätische Ochsenkopf, dessen jähe Abstürze im Winter als Rodelbahn benutzt werden. Hinter uns ist der gewaltige Eulenwald, in dem mancherlei passiert ist, so die Rauchertragödie des Köhlers Jakobus und die beklagenswerte Geschichte von der ungetreuen Emma Rillek. Vor uns sehen Sie die erhabene Silberkoppe. Die Koppe ist da, das Silber fehlt; aber wir lassen uns an dem schönen Namen genügen und an der trostreichen Sage, dass es da mal Silber gegeben hat. Und nun zur Stadt Altenroda selbst! Sie sehen da einen Wald von Türmen!“

„Nur fünf Türme zähle ich,“ sagte Timotheus.

„Ja, ich habe ja auch nicht gesagt, einen Urwald von Türmen. Übrigens sind es sechs Türme. Der gotische Bau ist die evangelische Kirche, sie besitzt eine Kanzel aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Ob Luther darauf gepredigt hat, ist nicht recht erwiesen, obwohl Meister Leonhard von der Kringelgasse, der der Kirchgemeinde das Altertumsstück von weither besorgt hat, das ehrenwörtlich behauptet.“ „Dieser Mann ist ein Fälscher!“ knirschte Timotheus. „Man sollte diese Kanzel aus der Kirche entfernen!“

„Nein, das würden sich die Leute nicht gefallen lassen. Sie hängen an dem Altertum und erfinden immer neue Geschichten, die sie fremden Besuchern erzählen. — Dann die Kirche im Kathedralstil ist die katholische. Eigentlich ist sie nur ein Kathedrälchen; man sollte diesen Stil für Kirchen, die nur grössere Kapellen sind, niemals anwenden. — Dann der Turm in dem strengen Stil der Frührenaissance überragt das Rathaus. Das Rathaus selbst ist in überblühtem Barock gehalten, was einen gewissen Zwiespalt darstellt zwischen dem Turm, der seit Jahrhunderten nicht renoviert wurde, und dem Hause, das ein Meister aus der Gründerzeit der siebziger Jahre schnörkelreich geschmückt hat. — Der alte klobige Geselle da rechts, der Backsteinbau, durch dessen Fuss ein Tor geht, ist der alte Schuldturm. Dessen merkwürdige Geschichte müssen Sie in Spezialwerken nachlesen, hier würde das zu weit führen. Der fünfte Turm dort drüben, die scheussliche Rotunde, ist der Wasserturm, er verwässert auch wirklich das ganze Stadtbild. Er liegt wie ein Mastodon im Primeln- und Veilchenbilde dieser herrlichen Stadt. Der sechste Turm ist der, den Sie da drüben am Waldrande rauchen sehen, er gehört zur Papierfabrik.“

„Aber das ist doch ein Schornstein!“

„So könnte man sagen! Die Altenrodaer aber nennen alles, was hoch und schlank ist, ‚Turin‘. Auf dem wildromantischen Ochsenkopf sind zwei freistehende Sandsteinfelsen, einer 10, der andere sogar 12½ Meter hoch, die nennt die Volkssprache ‚die Türme‘. Unsere Gymnasiasten besteigen sie manchmal, machen mit Kuhglocken von oben Festgeläute oder blasen auf einem Türmerhorn. Also nennen wir auch den Schornstein ‚Turm‘. Wenn es einen Wasserturm gibt, warum nicht auch einen ‚Feuerturm‘? Das ist Geschmackssache und kommt auf den souveränen örtlichen Sprachgebrauch an. Unser Feuerturm ist 27 Meter hoch, er ist der höchste aller unserer Türme.“

„Der ist nicht normal,“ dachte Timotheus.

„Der ist dreist, aber drollig,“ dachte Titus.

„Jawohl, in Berlin oder in Münchener Cafés fühlen und denken die Leute anders als wir in Altenroda. Ich hoffe, dass Sie sich durch einiges Seltsame in unserem Stadtbilde nicht verärgern lassen werden.“

„O nein, vielleicht wird uns die Bürgerschaft hier auch für einigermassen seltsam halten!“

„Ganz recht, ganz recht! Das haben Sie gleich richtig erraten. Und nun weiter in der Betrachtung der Stadt. Das hohe Dach da neben dem Rathause ist der ‚Goldene Löwe‘. Erstes Haus am Platze. Zehn Fremdenzimmer. Warmes und kaltes Wasser aus der Küche zu jeder Tageszeit. Ein tadelloses Haus. Wenn Sie mal einen Dämmerschoppen machen wollen —“

„Wir trinken keinen Alkohol.“

„Das ist schade,“ sagte Brünning in aufrichtigem Bedauern. „Wir haben hier einen Abstinenzlerverein, der ist sowieso schon auf elf Mitglieder angeschwollen, also werden es jetzt leider dreizehn werden. Doch der ‚Löwe‘ selbst! Sie sehen das Wappentier auf dem Giebel, den ‚Goldenen Löwen‘. Er funkelt prächtig, nicht wahr? Alle fünf Jahre wird er neu bronziert, alle Vierteljahre vom Haushälter neu geputzt. Bei Feierlichkeiten wird er illuminiert. Man sieht den Löwen auf unserer Gebirgsbahn schon drei Stationen vor Altenroda in der Sonne funkeln. Er ist unser Stadtstolz. Aber er hat einen Fehler, er hat einen in zwei Hälften gespaltenen Schwanz. Sie sehen es deutlich! Es ist nämlich ein böhmischer Löwe. Böhmische Löwen haben gespaltene Schwänze. Kaiser Karl IV., der Böhme, der einmal Herr von Schlesien war, hat den Urahnen des jetzigen Inhabers dereinst zur Zeit der Goldenen Bulle mit dem Schankrecht belehnt. Da hat man den Löwen mit dem böhmischen Hoheitszeichen auf dem Dache angebracht. Aber das wird jetzt anders! Wir wollen einen deutschen Löwen! Wir wollen, dass dem Löwen über dem ‚Löwen‘ der böhmische gespaltene Schweif ausgerupft und durch einen einheitlich deutschen Schwanz ersetzt werde. Die Geldfrage macht noch Sorgen, aber schon wird zugunsten der vaterländischen Tat allenthalben Skat gespielt, und ich selbst habe auch drei Mark gezeichnet, wenn man sie mir auch vorläufig noch stunden muss.“ —

Ein silbernes Gelächter schallte über den Zaun.

„Der tolle Brünning bei den Paulusbrüdern!“ rief die blonde Helga.

Alle drei fuhren herum, und alle erkannten das Mädchen. Brünning geriet in Erregung.

„Entschuldigen die Herren, ich muss die Erklärung des Stadtbildes leider abbrechen, ich habe der jungen Dame dort dringend etwas mitzuteilen!“

Er eilte über den Garten, setzte mit einem tollkühnen Sprunge über den hohen Zaun, begrüsste das Mädchen und zog mit ihr lachend den Berg hinab.

Die Paulusjünger standen beklommen da. Timotheus sagte: „Ich hielt diesen Zaun für unüberspringlich; er ist es nicht. Ich wundere mich!“

Titus sagte: „Es war ein turbulenter Einzug. Ich hatte ihn mir weit stiller vorgestellt.“ —

Nun war das neugierige Volk bei eintretender Dunkelheit nach Hause gezogen. Der blaue Schleier der Nacht wehte durch die Bergeinsamkeit und fächelte Kühlung auf alle Stirnen. Am Himmel oben und aus den kleinen Menschenhäusern unten funkelten Sterne.

„Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“

„Wir wollen zur Ruhe gehen, denn wir sind weit gewandert.“

In einem gemeinsamen Zimmer war das Harmonium. Auf ihm stand ein Kreuz, umgeben von zwei Kerzen. Titus spielte, die Kerzen brannten, sie sangen einen Abendchoral. Dann reichten sie sich die Hände, und jeder ging in seine Klause. — —

Nachtbetrachtungen.

Ach, wohl waren sie müde, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Der ernste Gedanke, jetzt hast du an einem neuen fremden Ort deine Hütte gebaut, darin du zu leben entschlossen bist bis an dein Ende, verscheuchte den Schlummer. Die Vergangenheit kam mit ihren alten Bildern, von denen es nun Abschied zu nehmen galt für immer.

Titus starrte nach der dunklen Zimmerdecke, er dachte an Vergangenes. In allen entscheidenden Augenblicken des Lebens kommen die Bilder der Jugend zurück, sogar in das erlöschende Auge eines Sterbenden. Auch vor dem Auge des weltflüchtigen Titus wurden alte Bilder lebendig.

Sein Vater war Arzt gewesen. Er erinnerte sich seiner noch dunkel. Er war ein grosser Mann mit einem Vollbarte. Er hat immer viel Spass mit ihm gemacht, und Titus hatte den lustigen Vater lieber gehabt als die stille Mutter. Sie besassen ein leichtes Wägelchen, das von einem munteren Schimmel gezogen wurde. Mit diesem Gefährt fuhr der Vater zu den Kranken nach den Dörfern. Er nahm den Jungen oft mit. Vor der Tür des Kranken musste der Knabe warten. Er guckte sich dann die Dorfstrasse an, hielt die Pferdeleine und freute sich, wenn vorübergehende Dorfkinder mit einem gewissen Respekte sagten: „Das ist Doktors Junge!“ Einmal ist der Schimmel mit ihm losgegangen, er hatte aus Langweile zu stark an der Leine gezupft. Der Schimmel setzte sich gleich in Trab, und da hörte der Junge auch schon den Vater schreien, und er wusste wohl, dass er dem Wagen nachrannte. Aber der Schimmel hatte einen starken Vorsprung und hatte sich in seinen berühmten „schlanken Trab“ gesetzt. So war für den Vater nichts zu erreichen. Dem kleinen Titus, der damals noch Philipp hiess, fiel ein, er könne die Bremse andrehen, aber die Bremse ging zu schwer, er konnte sie nicht drehen. So musste er weiterfahren. Die Dorfstrasse war belebt, zwei Heufudern musste er ausweichen, zwei Radfahrern, einer Langholzfuhre und einer Herde Gänse. Die Gänse waren das schlimmste Hindernis; denn sie wollten nicht ausweichen. Der Wagen schleuderte, als er durch die kreischende Schar lenkte. Schliesslich gelang es ihm, durch kosende Zurufe das Temperament des Weissen zu sänftigen und ihn durch milde Zusprüche und etliches Leinezupfen zu bewegen, an einer verbreiterten Stelle der Strasse vorsichtig und ganz regelrecht zu wenden und die Dorfstrasse zurückzutrotten. So begegnete er dem Vater, der ausser Atem war. „Du musst nicht böse auf den Schimmel sein, Papa, ich habe an der Leine gezupft, da hat er gedacht, du sitzest schon im Wagen, und ist losgegangen.“