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"Töchter der Hekuba" spielt in einem kleinen süddeutschen Dorf, das durch den Ersten Weltkrieg alle Männer verliert und in dem die Frauen allein zurückbleiben. Das gemeinsame Schicksal von Hunger, Not, Armut und Angst um die Kinder hilft, alte Gegensätze zwischen Adel und Bürgertum zu überwinden. Die ungewöhnliche Solidarität der kleinen Dorfgemeinschaft ist nicht nur ein Lichtblick in den Wirren des Krieges, sondern liefert – so die Botschaft Clara Viebigs – auch den Beweis dafür, dass ein menschenwürdigeres Dasein möglich ist.AutorenporträtClara Viebig (1860–1952) war eine deutsche Erzählerin, Dramatikerin und Feuilletonistin, die insbesondere der literarischen Strömung des Naturalismus zugerechnet wird. Aufgewachsen an der Mosel in Trier, verbrachte sie die meiste Zeit ihres Lebens in Berlin. Sie gehört zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre Werke zählten damals in den bürgerlichen Haushalten zur Standardbibliothek. Bekannt wurde die Autorin vor allem durch den Roman "Das Weiberdorf", der 1900 erschien. Die Stärke Viebigs liegt unter anderem in der äußerst komplexen, oft symbolhaft wirkenden Darstellung der spröden Landschaft und ihrer Bewohner. Ihre Werke wurden insbesondere ins Französische, Spanische, Englische, Italienische, Niederländische, Norwegische, Schwedische, Finnische, Tschechische, Ukrainische, Slowenische und ins Russische übersetzt, einige auch in Blindenschrift übertragen. Clara Viebig, die mit einem jüdischen Verleger verheiratet war und nach 1935 im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr publizieren durfte, geriet nach dem Krieg für lange Zeit in Vergessenheit und wird nun endlich wiederentdeckt.-
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Seitenzahl: 382
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Saga
Die Frau saß aufrecht im Bett. Sie horchte. Es war nichts zu hören. Wie war das früher anders gewesen! Da hatten die Söhne schon am Morgen das Haus mit Gepolter erfüllt, mit soviel frischem Leben. Jetzt war es still. Sie waren fort. Daß Heinz ging, war selbstverständlich, er hätte ohnehin gerade dienen müssen. Und er hatte immer den Wunsch gehabt, Offizier zu werden – was denn auch sonst? Besondere Talente hatte er nicht, fürs Studium keine Neigung; aber Mut, Tatkraft, körperliche Gewandtheit hatte er, gute Haltung und ein hübsches Gesicht. Als er das erste Mal heim kam über den Sonntag aus Spandau – als Fahnenjunker bei der Artillerie –, war etwas wie Stolz in ihr Herz gekommen. Wenn alle so aussahen wie Heinz und sich so leicht in die Anstrengungen des Dienstes schickten, dann konnte es Deutschland nicht fehlgehen. Unwillkürlich richtete sich die Frau höher auf; sie wendete den Kopf zum Nachttisch, auf dem neben ihrem Bett, in einem Rahmen vereint, die Bilder ihrer zwei Söhne standen. Ihr Mann hatte jeden von ihnen kurz vor dem Ausrücken noch photographieren lassen, die Mutter dann Weihnachten, am ersten Weihnachtsfest ohne die Kinder, damit überrascht. Es war gut von ihm gemeint gewesen, er gedachte sie zu erfreuen, aber sie hatte weinen müssen, so sehr weinen, daß er anfangs besorgt war, dann aber ärgerlich wurde: War es denn nicht selbstverständlich, daß die Söhne draußen waren, gesunde, kräftige Menschen? Wenn alle Mütter ihre Söhne nun hätten zurückhalten wollen, was dann? Und die Jungen lebten ja noch, ganz wohlbehalten.
Ja, Gott sei Dank, aber, aber – sie hatte selbst nicht mehr recht gewußt, was sie sagen wollte. Ach, daß ihr Jüngster auch gegangen war! Erst achtzehn; er hätte es noch nicht nötig gehabt. Aber der allgemeine Taumel hatte ihn mitgerissen. Aus der Schule kam er, die Bücher schleuderte er von sich, daß die zerfledderten Blätter umherflogen – wieder hatte ihn heute ein Lehrer gefragt: „Wie, Bertholdi, Sie sind noch immer hier? Sie sind doch groß und stark.“ Diese Schulmeister, oh diese Schulmeister! Die Bitten, die Vorhaltungen der Mutter: ‚Geh nicht! Du bist noch zu jung, du erträgst die Strapazen nicht‘, waren ganz vergebens. Sie waren eben alle nicht bei Sinnen gewesen, die Söhne nicht, die Lehrer nicht, die Väter nicht – alle nicht. Nur die Mütter sahen, wie es wirklich war; die ahnten, wie es kommen würde. Gekommen war.
Fröstelnd zog sich Hedwig Bertholdi die Decke höher an den Hals. Ihre Schultern beugten sich ganz nach vornüber, es legte sich ihr wie mit Eisengewicht ins Genick. Das war die Faust des Krieges.
Falsche Propheten, die damals verheißen hatten: Wenn der erste Schnee fällt, läuten die Glocken Frieden. Es war mehr daraus geworden, als nur ein kurzer Marsch durch Feindesland, als ein keckes Draufgehen, ein rascher Sieg. Der Schnee war gefallen und geschmolzen, Grün war ersprossen und erstorben – Frühling, Sommer, Herbst – Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Und wiederum war es Winter geworden, Frühling und Sommer. Nur die Natur hatte ihr Kleid verändert, unverändert stand noch der Krieg. Breit, groß, unerbittlich; jetzt schon fast mit grausamer Selbstverständlichkeit. Es roch nach Blut.
Die Frau schauderte. Ihre feinen Nasenflügel bebten. Durch die geöffnete Balkontür kam von der Straße der Duft der Linden herauf. Sie roch ihn nicht. Die Knie hochziehend, stützte sie beide Ellenbogen auf und barg das Gesicht in den Händen.
Ein Schmetterling wehte herein als flüchtiger Gast, eine Biene irrte ins Zimmer, beladen mit Blütenstaub, und umsummte sie. In der großen Linde, die breitgeästet im Vorgarten schattete, jagten sich zwitschernd ein paar Finken. Jenseits der Villenstraße in dem alten Park gurrten die Waldtauben.
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