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Unterhaltsame Mörderjagd in Stuttgarts Schlössern – Frech, ironisch, spannend. Bea Pelzers Führung durch das Lust- und Jagdschloss Solitude sollte eigentlich mit einer Weinverkostung und passendem Schokoladen-Tasting als krönendem Abschluss enden – stattdessen wird eine Kollegin von Bea tot auf dem Schlossgelände aufgefunden. Während Kommissar Gabriel die Ermittlungen aufnimmt, verfolgt Bea ihre eigenen Spuren und verschweigt dem Kommissar einen wichtigen Hinweis. Als der Täter erneut zuschlägt, wird ihr klar, dass das vielleicht keine so gute Idee war . . .
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Seitenzahl: 416
Martina Fiess stöberte als Journalistin so manche Leiche im Keller anderer Leute auf, trennte als Sachbuchlektorin Fiktion von Fakten und manipulierte als Werbetexterin den schönen Schein. Dank dieser perfekten Vorbildung veröffentlichte sie bereits zahlreiche unterhaltsame Kriminalromane und Kurzgeschichten. Seit einigen Jahren pendelt Martina Fiess zwischen Stuttgart und Schwäbischer Alb.
www.martina-fiess.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind bis auf wenige Ausnahmen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Klaus Steinkamp/Alamy/Alamy Stock Photos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Julia Lorenzer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-206-2
Stuttgart Krimi
Originalausgabe
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Für meine Großmutter B., von der ich als Teenager meine ersten Cowboystiefel bekommen habe.
Und für meinen Großvater W.,
der Gedichte und Geschichten geschrieben hat und seine Freude an Worten an mich weitergab.
EINS
Auf der Liste der Weltkulturerbestätten rangierte Schloss Solitude nicht einmal »unter ferner liefen«. Für die meisten Stuttgarter und Touristen aus aller Welt war das malerisch gelegene Jagd- und Lustschloss dennoch ein Sehnsuchtsort, an dem sogar Pietisten ins Schwärmen gerieten. Um ihren großen Tag vor dem verschnörkelten champagnerfarbenen Prachtbau verewigen zu lassen, standen Brautpaare mit ihren Hochzeitsfotografen hier Schlange. Auch unter Influencern war die verträumte Kulisse von Schloss Solitude ein Hotspot – worin eine gewisse Ironie lag. Schließlich hatte der Erbauer Herzog Carl Eugen ihm einen Namen verliehen, der »Einsamkeit« bedeutete.
Einsam war es auf Schloss Solitude nicht einmal an frostigen Wintertagen. Genau wegen dieser Beliebtheit hatte mein prestigesüchtiger Agenturchef André Hohlberg das Schloss als Schauplatz für sein nächstes Genießer-Event ausgewählt. So nannte er die sorgfältig inszenierten Verkostungen mit Wein und feinen Häppchen, bei denen er sich als Weinkenner und Wichtigtuer in Szene setzte. Diese Events bildeten den krönenden Abschluss meiner Führungen, die ich im Auftrag seiner Werbeagentur für zahlungskräftige Kunden durchführte.
Die Werbeagentur »Hohlbergs Reich« lag in der Neuen Weinsteige im Süden Stuttgarts. In der Jugendstilvilla in Halbhöhenlage entwickelten Designer und Texterinnen wie ich Werbekampagnen für Unternehmen aus der Landeshauptstadt und ihrem Speckgürtel. Diese Kampagnen sollten Image und Umsatz der Auftraggeber fördern. Die Aussicht auf noch mehr Umsatz machte Schloss Solitude in Hohlbergs gewinnorientierter Weltsicht zu einer perfekten Location. Je spektakulärer die Schauplätze meiner Führungen waren, umso mehr rollte der Euro. Und zwar in erster Linie für ihn und seine Agentur. Weniger für mich und meine Kollegen, die er gern rund um die Uhr und auch am Wochenende für sich schuften ließ, und zwar für das geringstmögliche Gehalt. Eindeutig ein Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention der UNO, aber in der Werbebranche galten völlig andere Gesetze. Oder besser gesagt gar keine. Dort herrschte noch immer der Wilde Westen.
Wie viel Kohle André Hohlberg seinem neuen Lieblingsmitarbeiter, dem jungen Influencer Jake, bezahlte, wollte ich lieber nicht wissen. Mit Sicherheit war es deutlich mehr als das, was er mir und den anderen Kreativen seiner Agentur gönnte. André hatte nämlich nicht nur die repräsentativen Schlösser der württembergischen Herzöge als umsatzfördernde Locations entdeckt, sondern auch die virtuellen Schauplätze der Sozialen Medien. Wenn es nach mir ginge, hätte man sie genauso gut als Unsoziale Medien bezeichnen können. Gab es etwas Stilloseres, als sein Leben ungefragt vor aller Welt zu präsentieren? Genauso gut hätte man auf der Königstraße jedem Passanten sein Familienalbum oder die Galerie im Smartphone zeigen können.
Jake war seit ein paar Monaten für die Präsenz von Hohlbergs Agentur in den Sozialen Medien zuständig. Seine Aufgabe war es, meine Führungen und die Events unseres Chefs auf Netzwerken wie Instagram, TikTok und YouTube als aufsehenerregende, authentische Ereignisse zu platzieren. Inklusive mir als Blickfang in passenden historischen Kostümen aus dem Fundus der Staatsoper, die ich dabei tragen musste. Das war nicht nur lästig, sondern auch unpraktisch. Mit den Reifröcken blieb ich an jedem Mauervorsprung hängen, und das beinharte Schnürkorsett, das meine Brüste wie Äpfel auf einem Silbertablett präsentierte, neigte dazu, unvorteilhaft zu verrutschen. Darüber hinaus musste ich eine aufgetürmte Lockenperücke aufsetzen, die den Körperschwerpunkt gefährlich verschob und meinem Gang etwas Giraffenartiges verlieh.
Bei meiner morgigen Führung durch das prunkvolle Jagd- und Lustschloss Solitude würde ich als Franziska von Hohenheim auftreten. Franziska war 1772 im Alter von vierundzwanzig Jahren die offizielle Geliebte des damaligen Landesfürsten Herzog Carl Eugen von Württemberg geworden. Pikanterweise war Franziska dem Herzog zum ersten Mal bei einer seiner Jagdgesellschaften begegnet, zu der sie ihren Ehemann, einen schwäbischen Freiherrn, begleitete. Auf Wunsch meines Chefs sollte ich die Führung mit ein paar anrüchigen Details der ländlesweit bekannten Liebesgeschichte würzen.
Vor der Premierenführung musste ich den abgerissenen Spitzenvolant am Saum meines Kleides annähen, damit ich nicht ins Stolpern geriet. Mein Kopfkino begleitete die ungewohnte hausfrauliche Tätigkeit mit traumatischen Erinnerungen an den Handarbeitsunterricht in der Schule. Was mich tröstete, war, dass ich dieses Schicksal mit meinen Agenturkolleginnen und -kollegen teilte. Sie sollten ähnlich unbequeme Kostüme tragen, die nach Barock und Rokoko aussahen. Ich saß im Wohnzimmer auf dem roten Sofa und nähte mit mehr oder weniger gleichmäßigen Stichen die Spitzenborte an den Rocksaum. Vor mir auf dem Parkett brachte meine Freundin und Agenturkollegin Jeannette einige Abnäher an ihrer Korsage an, die an ihrer mageren Figur sonst nur schwer Halt finden würde. Jeannette und ich lebten in einer Wohngemeinschaft in der Reinsburgstraße im Stuttgarter Westen. Unsere Wohnung bot vier WG-Mitgliedern Platz. Eines der Zimmer hatten wir an einen Studenten vermietet, der gerade ein Auslandssemester in den USA einlegte. Das vierte Zimmer war kürzlich frei geworden und leer gestanden. Bis es eines Abends an der Wohnungstür geklopft hatte. Davor stand unsere Agenturkollegin Pauline mit zwei Koffern und dem riesigen Rucksack, mit dem sie im Sommer die Alpen überquert hatte. Pauline hatte es nicht länger bei ihrem aufbrausenden Freund Dragan ausgehalten und bei uns Zuflucht gesucht. Natürlich hatten Jeannette und ich sie aufgenommen. Ihren Ex kannten wir in der Zwischenzeit auch. Dragan war ein paarmal hier gewesen und hatte versucht, Pauline zurückzugewinnen. Jeannette und ich spekulierten insgeheim bereits darüber, ob Dragan die unfreiwillige Trennung in einem neuen Rap-Song verarbeiten und damit die große Hip-Hop-Gemeinde der Landeshauptstadt beglücken würde, die ihn unter seinem Künstlernamen StuggiD kannte.
Pauline hockte im Schneidersitz neben mir auf dem Sofa und bearbeitete die rehbraune Perücke, die sie morgen anziehen sollte, mit einem Lockenstab. Offenbar hatte sie meine Gedanken gelesen. »Bea, hast du gegoogelt, ob Dragan ein neues Stück herausgebracht hat? Mir fehlt der Mut, weil ich fürchte, er verdreht alles und stellt mich als Bitch hin. Oder als Schlampe. So hat er es mit meiner Vorgängerin gemacht.« Mit traurigem Blick kaute sie auf ihrer Unterlippe herum.
Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck und zuckte mit den Schultern. »Dazu hatte ich heute keine Gelegenheit.« Als Erklärung glitt meine Hand über den himmelblauen Chiffonstoff des ausladenden Rocks, der über meinen Beinen lag. »Ich war den ganzen Tag damit beschäftigt, meine Führungstexte vorzubereiten und mich geistig in Franziska von Hohenheim zu versetzen.« Das war eine Lüge, besser gesagt eine Notlüge, mit der ich meine Freundin schützen wollte. Tatsächlich war heute ein Statement von Dragan in den Sozialen Medien viral gegangen, in dem er einen neuen Song ankündigte. Darin wolle er eine momentane Lebenskrise verarbeiten. Ob Pauline der Grund für diese Krise war, hatte der Rapper offengelassen. Vermutlich war es so, denn auch zwei Wochen nach dem Beziehungs-Aus bombardierte er Pauline mit Nachrichten auf ihrer Mailbox, in unserem Briefkasten und auf ihrem Facebook-Account.
Ein verschmorter Geruch stieg mir in die Nase. Hatten wir einen Kurzschluss? Oder war das Rauch? Mein Blick schoss zur Duftkerze auf dem Wohnzimmertisch. Sie brannte friedlich vor sich hin und verbreitete ein Orangenaroma. Vielleicht kam der Gestank aus der Nachbarwohnung. Dort lebte ein Single-Mann, der kürzlich das Kochen als neue Leidenschaft entdeckt hatte und uns regelmäßig mit seinen zweifelhaften Kreationen beglückte.
»Hätte ich gewusst, dass Dragan jede Minute seines Lebens zu Hip-Hop verarbeitet, hätte ich mich nicht auf ihn eingelassen, das könnt ihr mir glauben.« Pauline zog die Nase hoch. »Was meint ihr, sollte ich es ihm gleichtun und auch was komponieren? Ein Stück oder ein ganzes Album? Über Männer wie ihn, die aus Gefühlen Geld machen. Vor allem aus den Gefühlen anderer. Und über solche, die erst gar keine Gefühle haben und keine Grenzen kennen. So wie die Grapscher, die ungefragt an einem herumtatschen.« Sie winkte ab. »Na ja, das Thema MeToo ist inzwischen ausgetreten, oder? Damit würde ich keinen Grammy gewinnen. Zum Glück gibt es auf diesem Planeten auch ein paar nette, höfliche Männer.« Ihre Miene hellte sich auf. Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Bevor ich nachfragen konnte, was es mit diesem plötzlichen Anfall von Seligkeit auf sich hatte, rief Jeannette: »Pauline, pass auf! Deine Perücke brennt!«
Aus Paulines Schoß stieg eine kleine Rauchsäule auf. Der eklige Geruch nach verkohltem Kunststoff überlagerte den Orangenduft der Kerze. Der Gestank kam vom Lockenstab beziehungsweise der Kunsthaarsträhne, die Pauline zu lange bearbeitet hatte. Sie zupfte die wie festgebacken wirkende Ringellocke aus dem Stab und fächelte den Brandgeruch weg.
»Diese Locke ist für alle Ewigkeit gestylt«, stellte Jeannette fest und stach sich vor Lachen mit der Nähnadel in den Finger. Blut tropfte auf den cremefarbenen Stoff ihrer Korsage. »Mist. Wenn André das sieht, flippt er aus«, knurrte sie und versuchte, den Fleck mit der Zunge aufzutupfen.
»Mach ein paar weitere Flecke, dann sieht es aus wie ein Muster aus Blütenblättern«, schlug Pauline kichernd vor.
Als ein dumpfes, rhythmisches Wummern durch den Raum drang, musterte sie das Parkett unter ihren Füßen. »Spielen eure Nachbarn Schlagzeug? Oder hören sie gern Hip-Hop?« Ihr Blick wurde starr und glitt zum Fenster. Abrupt sprang sie auf, kam allerdings nicht weit. Ihr Fuß hatte sich in den Stoffmassen meines Rocks verhakt. Mit einem schnellen Griff zur Sofalehne fing sie sich und lief zum Fenster an der Straßenseite. »Die Bässe kommen von draußen«, stellte sie fest und schob die Vorhänge zur Seite. Ihr Gesicht war bleich geworden, als hätte sie eine böse Ahnung.
Auch ich hatte einen Verdacht. Ich deponierte den Rock samt halb angenähtem Volant über dem Sofa und folgte Pauline zum Fenster. Draußen war es bereits dunkel, obwohl es gerade einmal acht Uhr war. Durch die undichten Altbaufenster waren die Bässe deutlich zu hören und zu spüren. Kräftige Wellen waberten durch meinen Körper, als würde jemand neben mir eine Trommel schlagen.
Die Straßenlampen erhellten die Reinsburgstraße. Aus den Fenstern im Erdgeschoss gegenüber drang Licht auf den Gehweg und den Asphalt. Das Dröhnen kam von links, wo die Straße leicht bergauf führte. Ich beugte mich über die Fensterbank und fühlte die Kühle der Scheibe in meinem Gesicht. Ein schwarzer Wagen rollte im Schritttempo heran. Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich auf seinem glänzenden Lack. Es war ein PS-starker BMW, der sich auf breiten Reifen unserem Mietshaus näherte.
Neben mir schnappte Pauline nach Luft und wich vom Fenster zurück. Ohne zu blinken, hielt der Wagen auf der anderen Straßenseite in der zweiten Reihe. Das Motorenbrummen verstummte. Die dumpfen Bässe wummerten weiter durch die enge Straßenschlucht und fluteten bis zu uns in den vierten Stock. Pauline zog den Vorhang auf ihrer Seite vor und suchte hinter meinem Benjamini Deckung. Vertrocknete Blätter lösten sich von den Ästen und fielen raschelnd zu Boden.
»Das ist er, oder?«, flüsterte Pauline.
Durchs Fenster verfolgte ich, wie die Fahrertür des BMWs aufschwang und ein kräftiger Mann in schwarzer Jeans und Hoodie ausstieg. Auf dem Schild seiner Baseballkappe machte ich ein goldenes D aus. Das war Dragans Markenzeichen. Als hätte der Rapper meinen Blick bemerkt, schaute er zu unserer Wohnung hoch. Er überquerte die Fahrbahn und kam auf das Haus zu.
Gerade wollte ich vom Fenster zurücktreten, als ich ein paar Meter entfernt von Dragans BMW eine Bewegung wahrnahm. Auf der anderen Straßenseite hielt sich jemand im Schatten eines Hauseingangs auf. Der Lichtkegel der nächsten Straßenlampe reichte nur bis zu den hellen Stiefelspitzen, die unter dem Saum einer Jeans hervorragten. Ich war gebannt von der Gestalt dort unten und ließ mich von dem stürmischen Dauerklingeln, das durch unsere Wohnung drang, nicht ablenken. Jetzt trat die Gestalt ein Stück vor, und ich erkannte im Lichtkegel eine Frau. Sie schien so alt wie ich, also Mitte dreißig, und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Ein geflochtener Zopf schwarzer Haare lag über dem hellen Stoff ihrer Jacke. Von oben sah ich hohe Wangenknochen und einen schmalen Nasenrücken.
Während ich die Frau beobachtete, hörte ich, wie Jeannette zur Wohnungstür lief und den Hörer von der Sprechanlage riss. Die Frau eilte den Gehweg auf der anderen Straßenseite entlang und verschwand in der Dunkelheit. Täuschte ich mich, oder hatte ich sie letzte Woche vor der Villa in der Neuen Weinsteige gesehen, in der die Agentur logierte?
Im Flur brüllte Jeannette in den Hörer: »Dragan, hör auf! Das Klingeln nervt. Was willst du hier?«
Die Hände auf die Fensterbank gestützt, suchte ich den Abschnitt der Reinsburgstraße ab, den ich von hier aus sehen konnte. Die mysteriöse Frau war weg.
Als ich mich zu Pauline umdrehte, lehnte sie am Türrahmen. Ihre Hände waren vor der Brust ineinander verschlungen, die Fingerknöchel traten weiß hervor.
»Du willst mit Pauline sprechen?« Den Hörer am Ohr, warf Jeannette ihr einen fragenden Blick über die Schulter zu.
Pauline schüttelte den Kopf und wich zurück ins Wohnzimmer.
»Sie ist unterwegs«, sagte Jeannette. »Ich erzähle ihr von deinem Besuch. Dragan? … Hallo?« Sie hängte den Hörer in die Halterung. »Hat wohl endlich kapiert, dass er keine Chance mehr bei dir …« Als schwere Schritte im Hausflur zu hören waren, brach sie ab. Jemand stieg die Treppe hoch.
»Der Typ macht nur Ärger«, schimpfte Jeannette. »Pauline, du musst ihm endlich klarmachen, dass es zwischen euch aus ist. Sonst werden wir ihn nie los.«
Mittlerweile waren die Schritte auf unserem Stockwerk angelangt. Der Holzboden im Flur knarrte, und das tat er nur an einer bestimmten Stelle. Der Besucher stand vor unserer Wohnung. Statt erneut Sturm zu klingeln, trommelte er mit den Fäusten gegen die Holztür.
»Babe, ich muss dich sprechen! Mach auf.« Das war Dragan.
Pauline hob abweisend die Hände. Ihre Lippen formten ein energisches »Nein«.
»Ich habe die Fotos im Netz gesehen«, ließ Dragan uns und alle anderen Bewohner des Hauses wissen. Seiner Stimme war anzuhören, wie verärgert er war. »Wieso lässt du dich halb nackt fotografieren? Hast du keine Ehre?« Ein einzelner Schlag seiner Faust ertönte, doppelt so laut wie die zuvor.
Halb nackte Fotos? Meine Augenbrauen hoben sich wie von selbst. In Paulines Gesicht stand geschrieben, dass sie wusste, wovon Dragan sprach.
Der Rapper drückte die Klingel. Ein schriller Dauerton schallte durch die Wohnung und durchs Treppenhaus. Unter uns wurde eine Tür geöffnet. Eine Männerstimme brüllte: »Was soll der Lärm? Sofort aufhören!«
Das beeindruckte Dragan wenig. Er kombinierte nun Klingeln mit Fußtritten gegen die Tür. Gleichzeitig rief er in Dauerschleife Paulines Namen.
»Der ruiniert uns noch die Tür.« Jeannette wandte sich an Pauline. »Bitte rede mit dem Spinner!«
Sie legte die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Der Geruch von Bohnerwachs drang herein. »Hör auf, uns zu belagern, Dragan. Das ist Hausfriedensbruch. Bea alarmiert gerade die Polizei.«
Dies zu behaupten war ein cleverer Schachzug. Ich holte das Handy aus meinem Zimmer, falls das tatsächlich nötig werden sollte.
Der Rapper kickte mehrmals gegen die offene Tür. Die Sicherheitskette klirrte, als sie sich im Rhythmus seiner Tritte abwechselnd spannte und lockerte.
»Mensch, Dragan, lass das! Wir sind nicht versichert.« Jeannette winkte Pauline mit einer energischen Bewegung zu sich und machte ihr Platz.
Als Dragan seine Ex im Türspalt sah, hörte er auf zu kicken. »Babe, ich wusste, dass du da bist. Fresh siehst du aus«, umgarnte er sie. »Du, ich hab die krassen Fotos im Netz gesehen. Wer hat dich so fast ohne Kleider fotografiert?«
Pauline löste die Kette, trat in den Flur und lehnte die Wohnungstür hinter sich an. »Es ist vorbei. Lass mich in Ruhe.«
Dragan blieb hartnäckig. Er beschuldigte sie, ihn mit den Fotos demütigen zu wollen. Bald schrien die beiden sich an.
Jeannette öffnete den Garderobenschrank und griff nach dem Baseballschläger, den wir für gefährliche Situationen dort deponiert hatten.
»Das alles geht dich nichts mehr an, Dragan«, fauchte Pauline. »Ich hab mich von dir getrennt, kapier das endlich.«
Ein Klatschen war zu hören, offenbar eine Ohrfeige. Pauline stieß einen überraschten Schrei aus, dann ertönten Geräusche, die nach Ringkampf klangen.
Ich schob das Handy in die Jeanstasche und riss die Tür auf. Pauline und Dragan hatten sich ineinander verhakt. Es war ein ungleicher Kampf, weil der Rapper deutlich größer und kräftiger war. Die schwarze Kappe war von seinem Kopf gerutscht und gab den Blick auf dunkelbraune Haare frei. Sein fülliger Pony endete auf halber Höhe der Stirn in einer exakten Kante und geriet kaum außer Form, als er seine Ex in den Schwitzkasten nahm. Pauline fuhr die Krallen aus und zog ihm die Fingernägel über die Wange.
Dragan schrie auf, wich zurück und gab sie frei. Diese Pause nutzte ich, um mich zwischen die beiden zu stellen.
Jeannette hob den Baseballschläger. »Dragan, hau ab! Oder soll ich dir damit eine verpassen?«
Nach einem letzten Blick auf Pauline trampelte er die Treppe hinunter.
»Puh, das war knapp.« Jeannette stützte sich auf den Baseballschläger. »Noch eine Sekunde, und ich hätte ihm eine übergezogen. Lasst uns reingehen.«
Ein paar Minuten später saßen wir auf dem Sofa und spülten den Schreck mit einem Glas Chianti hinunter.
»Danke für eure Hilfe.« Pauline seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich ohne euch mit Dragan fertiggeworden wäre.«
»Kein Problem. Wir spielen gern den Schlägertrupp«, gab Jeannette zurück und warf mir einen kurzen Blick zu. »Aber sag mal, was hat es mit diesen Fotos auf sich?«
Pauline drehte ihr Glas in der Hand und beobachtete, wie der Chianti darin kreiste. »Ach, das ist halb so wild. Erzähle ich euch ein andermal. Ich muss ins Bett, damit ich morgen fit bin für meine schwere Perücke.« Mit dem Glas in der Hand verließ sie das Wohnzimmer.
Jeannette wandte sich mir zu. »Bea, weißt du irgendetwas über diese Fotos? Sind die für eine unserer Kampagnen gedacht? Wohl kaum für den Pitch bei der Landeshauptstadt, oder?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Geht es um einen Kunden deines Vaters?«
Mein Vater Peter Herzog war vor knapp zwei Jahren überraschend aus München nach Stuttgart zurückgekehrt und von André als zweiter Geschäftsführer eingestellt worden. André war der alleinige Inhaber geblieben und hatte weiterhin das Sagen in der Agentur. Um Konflikte von vornherein zu vermeiden, teilten er und mein Vater sich die Kunden auf. »Soweit ich weiß, nein«, erwiderte ich. »Warten wir’s ab. Pauline wird uns bald einweihen. Jetzt muss ich endlich diesen blöden Volant annähen.«
Als ich damit fertig war, deponierte ich den Baseballschläger sicherheitshalber neben der Wohnungstür.
ZWEI
Meine Führung begann um zehn Uhr. Davor musste ich in meinem Kostüm als Franziska von Hohenheim für Jake posen. Um rechtzeitig da zu sein, machten Pauline und ich uns kurz nach acht in meinem Corsa auf den Weg zum Schloss Solitude. Als wir unsere Kostüme in Kleidersäcken auf die Rückbank legten und die Perückenschachteln im Kofferraum verstauten, sah sich Pauline in alle Richtungen um. Wahrscheinlich nach ihrem Ex. In der Nacht hatte es geregnet. In ein paar Pfützen auf dem Gehsteig spiegelte sich das Sonnenlicht. Für Ende September war es tagsüber recht mild. An den Abenden und morgens lag jedoch eine feuchte Kühle in der Luft. Der Herbst hielt langsam Einzug.
Wir verließen unser Viertel auf der Rotenwaldstraße und fuhren am Birkenkopf vorbei nach Westen. Auf dem Beifahrersitz gähnte Pauline herzhaft.
»Hast du dich von dem Schreck gestern Abend erholt?«, erkundigte ich mich und spürte ein Frösteln beim Gedanken an ihren Ringkampf mit Dragan.
»Der steckt mir noch in den Knochen. Und im Kopf. In meinen Träumen spukte eine ganze Armee aus Rappern herum. Alle hatten den gleichen Haarschnitt wie Dragan und haben das Haus belagert.«
»Klingt eher nach Alptraum«, gab ich zurück, während meine Phantasie die skurrile Szene einer Belagerung durch Dragan-Klone vor meinem geistigen Auge ablaufen ließ. »Pauline, wie du weißt, habe ich gleich ein Foto-Date mit unserem Influencer.« Meine Stimme flatterte, ein deutliches Zeichen dafür, wie nervös ich war. Ich hasste es, fotografiert zu werden. Und noch mehr hasste ich es, in den Sozialen Medien von André als Werbefigur benutzt zu werden. Viele Kommentare waren hämisch und machten sich über mich lustig.
»Kannst du alles für den Rundgang vorbereiten?«, bat ich Pauline, die mir bei der Führung assistieren und die Teilnehmer mit Getränken versorgen sollte.
»Klar, keine Sorge. Ich hab alles im Griff«, beruhigte sie mich und klang nun wieder wie die alte Pauline. »Wir haben die Stationen ja durchgesprochen. Ich komme kurz vor zehn zur Freitreppe, okay?«
Wir verließen die Schnellstraße durch den Glemswald und bogen auf das Solitude-Gelände ab. Obwohl es erst halb neun war, waren bereits zahlreiche Jogger, Schlossfans und Bewohner der umliegenden Häuser auf der Anlage mit ihren zahlreichen Nebengebäuden unterwegs. Dazu gehörten auch das Graevenitz-Museum und der Dienstsitz des Ministerpräsidenten. Die riesige Villa mit Pool war meist unbewohnt, weil der bodenständige Kretschmann lieber in seiner Sigmaringer Heimat lebte. Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Schloss fuhr ich Schritttempo. Rechts von uns war bereits das weiße Zelt aufgebaut, in dem unser Chef sein Event zelebrieren wollte. Ein erdbeerroter Teppich bedeckte den Boden. Fehlte nur noch das Wappen der Hohlbergs, dachte ich. Mein Magen zog sich beim Anblick der vielen Besucherinnen und Besucher rund ums Schloss zusammen. In ein paar Minuten würde mich Jake in meinem lächerlichen Aufzug fotografieren. Dutzende weitere Handykameras würden auf mich gerichtet sein, und wenig später würden Fotos und Videos von mir im Netz kursieren.
Auf einem reservierten Parkplatz vor der Akademie Schloss Solitude im ehemaligen Offizienbau stellte ich den Corsa ab. Die Akademie förderte künstlerischen Nachwuchs mit Stipendien, Wohnräumen und Ateliers. In einem Nebenzimmer zogen Pauline und ich uns um. Widerwillig zwängte ich mich in das enge Mieder und strich meinen Rock glatt. Darunter hatte ich weiße Sneakers an. Die waren bequem und außerdem ein kleiner Akt der Rebellion gegen meinen Chef.
Pauline und ich halfen uns gegenseitig dabei, die schweren Perücken aufzusetzen. An den Schläfen klebte ich die widerspenstigen Locken mit Spucke fest. Erst als wir uns in vollem Ornat gegenüberstanden, fiel mir auf, dass wir beide hellblaue Kleider mit Mieder und rehbraune Kunsthaarperücken trugen.
»Wir sehen aus wie Zwillinge«, stellte ich verblüfft fest.
Pauline lachte und schlug die Hand vor den Mund. »Sehe ich ebenso doof aus wie du, Bea? In diesem künstlichen Look fühle ich mich wie ein Petit Four.«
»Ohne Zuckerguss, dafür mit einer Extraportion Sahne«, ergänzte ich und hob meinen Rock an, unter dem sich weiße Unterröcke bauschten.
Seite an Seite schritten wir von erstaunten Blicken begleitet hinüber zum Hauptgebäude, dem eigentlichen Schloss. Aus Rücksicht auf unsere Kostüme wichen wir ein paar feuchten Stellen auf dem Pflaster aus. Vor der Freitreppe am Schloss wartete Jake bereits auf mich. Pauline verabschiedete sich und lief zum Agenturzelt, um letzte Anweisungen von André entgegenzunehmen.
»Guten Morgen, Durchlaucht.« Jake deutete eine Verbeugung an, die sich mit seinem modernen Outfit biss. Dem Dresscode von Werbeagenturen entsprechend trug der schlanke Sechsundzwanzigjährige enge schwarze Cargohosen, Wildlederschuhe und ein schwarzes Leinenhemd.
»Hör auf zu feixen, Jake, sonst schubse ich dich in den Schlossteich.« Das war ein Scherz. Auf der Solitude gab es keinen Teich. Das Dauergrinsen des gut aussehenden Influencers nervte mich. Glücklicherweise war ich im Gegensatz zu fast allen Frauen in meinem Umfeld immun gegen seinen Charme. »Wieso bist du der einzige Agenturmitarbeiter, der kein Kostüm anhaben muss?«
Mit gespielt irritiertem Gesichtsausdruck wiesen Jakes Zeigefinger auf ihn selbst. »Das ist mein Kostüm, Bea. Normalerweise trage ich ausgeleierte Jogginghosen.« Ungefragt begann er, mich mit dem Handy zu knipsen, ließ es dann sinken und kniff die Augen zusammen. »Wo ist dein Hut? André hat mir ein Porträt gezeigt, auf dem Franziska ein riesiges Modell mit Federbusch trägt. Das wäre ein super Eyecatcher im Web.«
Jake spielte auf ein berühmtes Ölgemälde aus dem Landesmuseum im Alten Schloss an, auf dem der Maler Jakob Friedrich Weckherlin Franziska im Jahr 1790 verewigt hatte. Die Herzogin war darauf mit einem großen Strohhut mit grauer Schleife und Straußenfedern abgebildet.
»Mit dieser hohen Perücke das Gleichgewicht zu halten, ist schwierig genug. Würde ich auch noch den Hut mit dem ganzen Aufputz tragen, könnte ich kaum mehr aufrecht stehen.«
»Na, das wäre schade. Dann kämen deine entzückenden Pfirsiche nicht so gut zur Geltung.«
»Pfirsiche?« Ich senkte den Kopf. Beim Anblick meines hochgepushten Dekolletés verstand ich und zog das Mieder zurecht.
Jake deutete zur Freitreppe. »Geh ein paar Stufen hinauf.«
Nachdem ich meine Röcke gerafft hatte, stolzierte ich steif wie ein Stock die Treppe nach oben. Mit meiner Haltung passte ich mich weniger dem gesellschaftlichen Stand von Landesherrin Franziska an, sondern versuchte schlicht und ergreifend, die Balance zu halten.
»Stopp. So ist es gut, Bea. Lehn dich an die Balustrade und fächle dir Luft zu.«
Mittlerweile waren viele Besucher auf unser Schauspiel aufmerksam geworden und scharten sich am Fuß der Treppe. So gut es ging, ignorierte ich die erhobenen Handys und versuchte, mich auf Jake zu fokussieren. Ich setzte ein Lächeln auf, nahm den Fächer aus einer Rocktasche und öffnete ihn.
Jake blickte über sein Handy hinweg zu mir. »Den Fächer tiefer, Bea. Denk an deine Pfirsiche.« Sein Grinsen war unverschämt. »Bleib in deiner Rolle. Ich nehme ein Video von dir vor dieser märchenhaften Fassade mit ihren verrückten Schnörkeln auf.«
Der Junge mochte etwas von Social Media verstehen, von Ornamenten hatte er dafür keine Ahnung. Ich wollte Jake gerade erklären, dass das Schloss den späten Rokoko-Stil am Übergang zum Klassizismus repräsentierte, als mir das Wort im Hals stecken blieb. Am Rand der Schaulustigen entdeckte ich Georg. Genauer gesagt Dr. Georg Bergmann von der Stuttgart Bank. Sein sandfarbener Anzug harmonierte mit den dunkelblonden Haaren, und die hellgrüne Krawatte hatte exakt den Ton seiner schönen Augen, die mir auf Schritt und Tritt folgten.
Als mir das Blut in den Kopf stieg, begann ich hektisch zu fächeln.
»Bea, schau zu mir«, ermahnte mich Jake. »Schenk mir ein happy Smile, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Das hatte ich tatsächlich. Bis vor ein paar Monaten waren Georg und ich ein Paar gewesen. Ein ungleiches Paar, aber halbwegs glücklich. Bis zu dem Tag, an dem Georg mich auf einem Kurzurlaub in Venedig mit einem Heiratsantrag überrascht hatte. Im Schockzustand hatte ich damals die Flucht ergriffen. Seitdem gingen wir auf Distanz. Georgs Anwesenheit war wenig erstaunlich, denn die Stuttgart Bank war ein Sponsor von Schloss Solitude. Zudem sollte ich heute ein Marketingteam dieses noblen Bankhauses herumführen.
Geraune und vereinzelte Lacher unter den Schaulustigen waren zu hören, als ein Mann in barocken Kleidern inklusive weiß gepuderter Lockenperücke aus dem Agenturzelt kam. Er lief zu Jake und gab ihm einen neuzeitlichen Klaps auf die Schulter.
Jake ließ das Handy sinken und wies mit großer Geste auf den Verkleideten. »Darf ich vorstellen: Friedrich Schiller«, verkündete er der Menge.
Sofort begann jemand zu klatschen, und weitere Zuschauer fielen ein. Das wunderte mich wenig, denn die Schwaben waren überaus stolz auf »ihren« Schiller. Allerdings waren sie ihrem Nationaldichter zu dessen Lebzeiten eher ablehnend gegenübergestanden. Schiller hatte wegen seines Schauspiels »Die Räuber« sogar aus Stuttgart fliehen müssen. Trotzdem bekam der falsche Schiller viel Applaus. Er machte einen Bückling und hielt dabei geistesgegenwärtig die Lockenperücke fest.
Auf Anweisung von Jake eilte Schiller nun die Treppe herauf und lehnte sich neben mir an das Geländer.
»Hallo, Bea«, raunte Teddy mir zu und zwinkerte verschwörerisch. Teddy war Grafiker in der Agentur und hatte mir verschwiegen, dass er heute mit mir posen würde. Er lächelte verschmitzt. Neben seinen Mundwinkeln erschienen die kommaförmigen Grübchen, die mir früher viel Ärger eingebrockt hatten.
»Das kann doch nur ein Scherz sein«, erwiderte ich und fächelte heftig.
»Du willst sagen: eine großartige Marketingidee unseres geschäftstüchtigen Chefs.« Teddy wies auf die Schaulustigen. Fast alle hatten ihre Handys erhoben und filmten das historisch nicht belegte Treffen zwischen Franziska von Hohenheim und Friedrich Schiller.
»Wetten, das treibt unsere Likes in die Höhe?« Teddy griff sich meine Finger und gab mir einen Handkuss. »Mach einfach mit, Bea. Spiel deine Rolle.«
Was blieb mir anderes übrig? Mit stoischer Miene ließ ich den Rest des Shootings über mich ergehen. Sobald Jake mich entließ, stürmte ich die Stufen hinunter und verzog mich in die mit rotem Samt veredelte Dixi-Toilette, die André hinter dem Zelt hatte aufstellen lassen.
Ein paar Minuten später verließ ich das Toilettenhäuschen und wäre fast in die Arme meines Chefs gelaufen, der mich bereits erwartete. Selbstverständlich trug André Hohlberg kein Kostüm, sondern einen teuren dunkelgrauen Anzug über einem weißen Stehkragenhemd. Zur Feier des Tages ragte ein rotes Seidentuch aus seiner Brusttasche, das zum Teppich passte.
»Mon Dieu, Bea. Wieso versteckst du dich dadrinnen?«, schäumte er. Sein Blick war scharf wie ein Stilett. »Noch eine Sekunde länger, und ich hätte dich von der Feuerwehr rausholen lassen.«
»Ein menschliches Bedürfnis, André«, gab ich zurück. »Ich muss los, meine Führung beginnt gleich.«
»Das sehe ich genauso«, fuhr er mich durch zusammengepresste Kiefer an. »Kümmere dich gefälligst um die Kunden. Weißt du, wo Pauline steckt? Wart ihr zu zweit in der Toilettenkabine?«
»Was? Nein. Mit unseren Kostümen würden wir da niemals beide reinpassen. Sie wollte an der Treppe auf mich warten.«
Schnellen Schrittes verließ ich den Schlechte-Laune-Dunstkreis meines Chefs und eilte zum vereinbarten Treffpunkt an der geschwungenen Treppenanlage, die zum Hauptgeschoss im ersten Stock, der sogenannten Beletage, hinaufführte. Unter den farbenfroh gekleideten Schlossbesuchern und Spaziergängern machte ich die Mitarbeiter der Stuttgart Bank als graue Masse von Anzugträgern aus. Es war eine reine Männergruppe. Leider entdeckte ich Pauline nirgends und musste meine Rundtour ohne sie beginnen. Jake stand bereit, um Ausschnitte davon zu filmen.
»Seid willkommen, meine Untertanen«, begrüßte ich die Gruppe. Ich streckte die Wirbelsäule durch und nahm eine meiner Rolle gemäße Körperhaltung ein. »Ich bin Franziska Theresia Reichsgräfin von Hohenheim, die Gemahlin eures Landesfürsten Herzog Carl Eugen von Württemberg.« Franziska war vor ihrer Vermählung mit dem Herzog dreizehn Jahre lang seine offizielle Mätresse gewesen, obwohl sie mit einem anderen verheiratet war. Das behielt ich für mich. Reine Männergruppen waren schwierig, weil sie beim kleinsten Anlass dazu neigten, sich in schlüpfrigen Phantasien zu ergehen.
Lautlos zählte ich die Teilnehmer durch. Es waren zwanzig, wie angemeldet. Zu meiner Erleichterung war Georg nicht unter ihnen. Langsam schreitend führte ich die Gruppe zur Freitreppe, wobei Jake vor uns rückwärtsging und alles filmte. Auf der Treppe begann ich meinen Vortrag.
»Seit 1763 hat mein Gemahl hier eine ausgedehnte Schlossanlage mit weitläufigen Gärten geplant. Davon ist nur der Hauptbau erhalten, das eigentliche Lustschloss.« Wie erwartet, schmunzelten einige Banker beim Wort Lustschloss. Es war unter meiner herzoglichen Würde zu erläutern, dass ein Lustschloss keineswegs dazu da war, ausgreifende Orgien zu feiern, sondern die früher übliche Bezeichnung für ein Landhaus war. Mit gutem Grund formulierte ich meine Erklärung anders. »Kleine Schlösser dieser Art dienten dem privaten Vergnügen abseits des förmlichen Hofzeremoniells. Statt dort eine bühnenreife Rolle spielen zu müssen, verbrachte der Adel seine Freizeit in solchen Jagdschlössern eher individuell, etwa mit Musizieren, Landschaftspflege oder eben der Jagd.«
Einige Teilnehmer beäugten lieber mein Dekolleté, als die Architektur zu würdigen. Ich schritt die Treppe hinauf, die Gruppe folgte mir. Oben angekommen, schlug ich meinen Fächer auf und hielt ihn mir vor die Brust. Mit sichtbarem Bedauern wanderte die Aufmerksamkeit der Teilnehmer zum Schloss.
»Als Wohngebäude war dieses Bauwerk nie gedacht. Es diente allein der Repräsentation«, fuhr ich fort. »Der Herzog und sein Gefolge lebten gegenüber im östlichen Flügel, während der Hofstaat die Kavaliershäuschen bewohnte. Bitte folgen Sie mir nun ins Innere.« Den Fächer ließ ich sinken, hob dafür die Röcke an und betrat die Beletage.
»Diese reich verzierten Prunkräume spiegeln den Dekorationsstil des späten Rokoko am Übergang zum Klassizismus«, erklärte ich. »Im feierlichen, elegant gestalteten Weißen Saal empfing der Herzog hohe Gäste – so wie Sie, meine Herren.«
Meinen Scherz goutierten die Banker mit Schmunzeln. Ich war mir sicher, dass ihnen die Zweideutigkeit entgangen war.
»Dort fanden rauschende Bälle statt, prächtige Empfänge und Galadiners, wie Sie sie aus der Regenbogenpresse von Königshäusern kennen.« Beiläufig warf ich einen Blick zum Getränkewagen neben dem Eingang. Dort hätte Pauline nun Sekt ausschenken sollen. Wo steckte meine Kollegin nur? Langsam wurde ich sauer auf sie.
Mit neutraler Miene wies ich zur Decke hinauf. »Das Deckengemälde stammt vom Hofmaler Nicolas Guibal und zeigt die Verherrlichung der Regierung Carl Eugens, sprich, wie gut es dem Land Württemberg unter dem Herzog ging. Heutzutage müssten Sie sich dort oben Herrn Kretschmann und sein Kabinett vorstellen.«
In das herzliche Lachen seiner Kollegen hinein äußerte ein Teilnehmer: »In unserem Veranstaltungssaal der Bank müsste dann unser Vorstand verewigt sein. Und der Aufsichtsrat.«
Sein Nachbar fügte trocken hinzu: »Mit oder ohne unseren Oberbürgermeister? Herr Nopper führt schließlich den Vorsitz.«
Um das gefährlich glatte Parkett der Politik zu umgehen, lotste ich die Gruppe weiter in das offizielle Appartement des Herzogs mit Schlaf- und Arbeitszimmer. Durch die Flügeltüren traten wir hinaus auf die Plattform, die das Schloss umgab. »Dieser sogenannte Belvedere«, erläuterte ich, »war zugleich Aussichtspunkt und fürstlicher Empfangsbereich.« Mit dem Fächer wies ich in Richtung Norden. »Von hier aus führt eine dreizehn Kilometer lange Straße schnurgerade nach …« Ich machte eine Pause und sah mich erwartungsvoll um.
»Zum Residenzschloss nach Ludwigsburg«, beendete ein Mann mit Glatze meinen Satz.
»Richtig«, lobte ich. »Wissen Sie auch, dass diese Solitudestraße für den Hofstaat reserviert war? Allen anderen war das Betreten verboten.«
»Das wäre praktisch«, erwiderte ein untersetzter Rothaariger. »Eine Straße nur für die oberen Zehntausend von Stuttgart.« Er warf sich in die Brust. »Wir von der Stuttgart Bank würden selbstverständlich dazuzählen.«
Seine Kollegen stimmten begeistert zu, während ich mir Mühe gab, angesichts dieser Arroganz keine Miene zu verziehen. Mein Konto bewegte sich meist im roten Bereich, ich gehörte zu einer anderen Gesellschaftsschicht.
Wir hatten das Schloss auf der Plattform umrundet und waren am Ausgangspunkt angelangt. Dort erwartete uns Teddy in seiner Verkleidung als Friedrich Schiller. Der Grafiker sollte als eine Art lebende Dekoration für den Abschluss meiner Führung dienen.
»Diesen Herrn kennen Sie vielleicht.« Ich deutete mit dem Fächer auf Teddy, der mit seinem feinen hellblauen Gewand, den weißen Kniestrümpfen und der Lockenperücke albern aussah. »Es ist unser Nationaldichter Friedrich Schiller, der hier auf der Solitude an der Hohen Karlsschule ein Jurastudium begonnen hatte, bevor er sich fürs Schreiben entschied. Zu den weitläufigen Gärten rund ums Schloss gehörten neben ornamental bepflanzten Beeten und geometrischen Rasenflächen auch Obst- und Gemüsegärten. Schillers Vater war damals für die Zucht seltener Apfelsorten verantwortlich.«
Mein Blick glitt zu dem verschnörkelten Silbertablett mit Äpfeln. Bei diesem Stichwort hätte Pauline eigentlich Äpfel an die Teilnehmer verteilen sollen. Auffordernd sah ich zu Teddy, doch der verstand nicht, was ich von ihm wollte. Oder er stellte sich absichtlich dumm. Innerlich seufzend griff ich mit behandschuhten Händen zu und teilte das Obst selbst an die Banker aus.
»Im Zelt erwartet Sie nun André Hohlberg zu seinem Genießer-Event. Dort halten wir kühle Erfrischungen für Sie bereit. Viel Vergnügen.« Herzoglich fächelnd, verabschiedete ich mich erleichtert von den Bankern. Auch ohne Pauline hatte alles geklappt.
»Vielleicht musste sie unserem Chef im Zelt helfen«, raunte ich Teddy zu, der herzhaft in einen rotbackigen Apfel biss und dessen Saft verspritzte. »André wäre es zuzutrauen, sie mit Gläserspülen zu beschäftigen, während ich die Führung allein bewältigen muss.«
»Ach, Bea, du bist die geborene Herzogin«, gab er zurück und warf den Apfelstrunk in weitem Bogen davon. »Von den Bankern hat keiner Pauline vermisst.«
Dort, wo der rote Teppich vor dem Agenturzelt begann, wies an jeder Ecke ein kaum zu übersehender Aufsteller auf eine »Geschlossene Gesellschaft« hin. Trotzdem traten ständig Passanten zum Zelt, um zu erkunden, was es darin zu entdecken gab. Wie eine Palastwache hatte sich Jeannette am Eingang platziert und komplimentierte alle weiter, bevor sie Andrés Event stören konnten. Die Teilnehmer meiner Führung waren bereits ins Zelt gegangen und von unserer Agenturpraktikantin Tamara mit einem Glas Champagner empfangen worden.
Als ich auf Jeannette zuging, verdrehte sie die Augen. »Diese Schwaben denken immer, es gäbe was umsonst. Du, Bea, wo steckt eigentlich Pauline? Es war ihr Job, die Schokohäppchen für die Verkostung vorzubereiten. Das musste nun ich machen, dabei habe ich wirklich anderes zu tun, als Bedienmamsell zu spielen.«
Anders als ich stellte Jeannette keine historische Persönlichkeit dar, sondern hatte sich als Dame aus dem Adel kostümiert. Ihr smaragdgrünes Kleid und die cremefarbene Korsage waren mit kontrastierenden pinkfarbenen Bordüren besetzt. Auf der Lockenperücke thronte ein keckes lila Hütchen mit Schleier, der bis über ihre Augen reichte. Die historisch bedenkliche Kopfbedeckung war Jeannettes persönliches Statement zum Kostümierungszwang, denn das Hütchen hatte sie dieses Jahr zum Cannstatter Faschingsumzug getragen.
»Bei meiner Führung hat Pauline auch gefehlt«, erwiderte ich und hob die Schultern. »Ich kann nur hoffen, dass Dragan uns nicht hierher gefolgt ist und sich irgendwo mit Pauline streitet. Oder Andrés Event platzen lässt.«
Entsetzt zuckte Jeannette zurück. »Das wäre eine Katastrophe.« Von einer Sekunde auf die andere heiterte sich ihre Miene auf, und ihr nun strahlender Blick glitt an mir vorbei.
Als ich mich umdrehte, kam der Grund für ihr plötzlich so businessmäßig-freundliches Gesicht aufs Zelt zu. Es war Schokoladenfabrikant Bäuerle, ein neuer Agenturkunde mit stolzem Etat, gefolgt von einigen seiner Führungskräfte. Martin Bäuerle hatte das Traditionsunternehmen kürzlich von seinem Vater übernommen und Hohlbergs Reich mit einem moderneren Erscheinungsbild und einer Werbekampagne für seine Schokoladenerzeugnisse beauftragt. Die Herstellung von Schokolade hatte eine lange Tradition in Stuttgart, das im 19. Jahrhundert sogar als Schokoladen-Metropole bekannt gewesen war. Damals waren die Produkte klassischer Marken wie Eszet, Toblerone oder Waldbaur-Katzenzungen hier produziert worden. Geschäftstüchtig, wie unser Chef war, hatte er die heutige Weinverkostung kurzerhand um ein Schokoladen-Tasting erweitert.
»Frau Pelzer, schön, Sie zu sehen.« Bäuerle schüttelte mir die Hand und verneigte sich. »Sie sind als Herzogin Franziska unterwegs, das hat Herr Hohlberg mir verraten.« Durch den offenen Eingangsbereich spähte er ins Zelt. »Ich bin sehr gespannt, wen Pauline heute verkörpert.«
Nach einem verschwörerischen Blickwechsel mit Jeannette erwiderte ich: »Äh, ja, unsere Kollegin ist noch unterwegs. Wir hoffen, sie wird rechtzeitig zum Event da sein, Herr Bäuerle.«
Bäuerle wirkte enttäuscht, fing sich aber, als André aus dem Zelt trat, seinem neuen Premiumkunden die Hand gab und ihn hineinbegleitete.
Zehn Minuten später schritten Jeannette und ich aus dem abgetrennten Küchenbereich des Zeltes zu den Gästen, in den Händen elegante Silbertabletts voller Schokohäppchen von Nugat bis Zartbitter. Da Pauline nach wie vor untergetaucht war, musste Jeannette mir assistieren. Den Weinausschank übernahm der falsche Schiller. Zwanzig ausschließlich männliche Mitarbeiter der Stuttgart Bank sowie mehrere Manager und der Inhaber der Schokoladenfirma Bäuerle warteten auf gepolsterten Empire-Stühlen. André hatte sie von einem Antiquitätenhändler ausgeliehen, aber sie hätten ebenso aus dem Schloss stammen können. Influencer Jake dokumentierte das Event für die Verwertung auf Social Media von einer Zeltecke aus.
Unser Chef hatte sich neben einer klassizistischen Kommode platziert, auf der drei Weinflaschen der Edition Schloss Solitude aufgereiht waren. Diese Weine wollte er mit der passenden Schokoladenbegleitung aus Bäuerles Produktion anbieten. Dabei würde er sich in gewohnt größenwahnsinniger Manier als Weinkenner in Szene setzen.
»Sehr verehrte Herren.« Andrés Rundblick glitt zufrieden über die Gäste, die ihm lauschten. »Wir starten unser Genießer-Event mit köstlichen Schokoladenspezialitäten des Traditionsherstellers Martin Bäuerle, der zu meiner großen Freude heute unter uns weilt.«
Bäuerle nickte nach allen Seiten und strich verlegen über seine Krawatte, was ihn mir noch sympathischer machte.
André präsentierte die erste Flasche. »Diese milde Riesling-Auslese harmoniert wunderbar mit dem weichen Schmelz der Vollmilchschokolade des Unternehmens Bäuerle.«
Mit einer ruckartigen Bewegung seines Kinns gab er mir das Kommando, die Schokolade zu verteilen. Teddy machte parallel dazu die Runde mit den funkelnden Kristallgläsern.
Während die Gäste vom Riesling kosteten, lief André zur Höchstform auf. »Dieser preisgekrönte Tropfen«, erklärte er, »erweckt mit einem innigen Kuss all die Obstsorten wieder zum Leben, die Schillers Vater früher auf der Solitude züchtete: zarte Pfirsiche, süße Orangen und saftige Äpfel.«
Seit wann wuchsen in unseren Breiten Orangen, fragte ich mich im Stillen. Nun ja, wenn der Klimawandel ungehindert fortschritt, wäre dies wohl bald möglich. Wie hatte das eigentlich Schillers Vater früher hinbekommen? Hatte der Herzog dafür ein Gewächshaus errichten lassen? Wie auch immer, André war der Houdini der Fakten und bog diese um des schönen Scheins willen nach Gutdünken zurecht.
Mein Chef nahm einen Schluck aus seinem Glas und ließ den Wein über die Zunge rollen. »Mmh, dazu das mineralische Aroma von Granit und ein genial dosierter Hauch Muskatnuss. Diese Paarung schenkt uns ein superbes Aromen-Feuerwerk.«
Beim Wort Granit musste ich einen Lachanfall unterdrücken. André brachte es fertig, dem Wortspiel »auf Granit beißen« eine völlig neue Bedeutung zu verleihen.
Mit verzücktem Blick fuhr er fort: »Kosten Sie zu dieser samtigen Balance aus Säure und Süße von der Schokolade, deren lieblicher Kakaoschmelz eine phantastische Geschmacksexplosion im Gaumen auslöst und vom Wein quasi umarmt wird.« Er schob sich ein Bröckchen Schokolade in den Mund und ließ es mit mahlenden Bewegungen schmelzen.
Nachdem die Gäste mit ähnlichen Lautmalereien ihr Vergnügen kundgetan hatten, trugen Jeannette, Teddy und ich die nächsten Köstlichkeiten auf.
»Lassen Sie nun ein Stück der edelherben Schokolade im Mund zergehen«, forderte André seine Gäste auf. »Der hohe Kakaoanteil formt mit der charakterstarken Beerenaromatik und den Lakritz-Anklängen dieses kräftigen Spätburgunders ein Gesamtkunstwerk voller Kraft und Körper.«
Mein Chef fabrizierte Satz-Ungetüme, die er mir sofort aus jedem Text gestrichen hätte. Mit stoischer Miene reichte ich die dunkle Schokolade herum.
»Eine sinnliche Kombination«, stimmte ein Banker mit Schnurrbart zu. »Der wäre was für unsere Kantine.«
Sein Nebenmann stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Für die Kantine wäre dieser Tropfen zu hochpreisig. Besser würde er in unser Casino im Penthouse passen.«
In das einhellige Nicken hinein war von draußen ein Schrei zu hören, der mich zusammenzucken ließ.
Der Schnurrbartträger räusperte sich. »Einer unserer Mitarbeiter scheint das wohl anders zu sehen«, scherzte er.
Erneut schrie draußen jemand, diesmal eine Frau. Als weitere Rufe zu hören waren, stellte ich das Tablett ab und eilte zum Zelteingang. Ich schob die Plane auf und betrat den roten Teppich.
Die Menschenmenge vor dem Schloss wandte sich nach rechts. Von dort kamen die Schreie.
»Wir brauchen einen Arzt!«, rief jemand. »Vielleicht lebt sie noch.«
Ein dunkelhaariger Mann in Jeans und Polohemd bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. »Lassen Sie mich durch! Ich bin Arzt.«
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Wie von selbst setzten sich meine Beine in Bewegung. Als ich mich der Akademie näherte, entdeckte ich eine Menschenansammlung vor einer Gruppe von Bäumen und Sträuchern.
»Vielleicht ist der Typ ja nur Orthopäde«, murmelte ein Mann in Shorts neben mir und tippte in sein Handy. »Ich rufe den Notarzt.«
Mit den Ellbogen drängte ich mich durch die Schaulustigen zur Baumgruppe. Mehrere Büsche mit viel Blattwerk verstellten mir den Blick auf den Ort des Geschehens. Von hier aus konnte ich nur den Arzt erkennen, der auf dem Rasen kniete und sich über etwas beugte. Sein Knie lag in einer Pfütze, der Jeansstoff war an dieser Stelle dunkler, weil er sich mit Wasser vollsog.
Dann sah ich einen schwarzen Turnschuh. Er ragte unter dem Busch hervor. Und ein Stück hellblauen Stoff. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich trat näher. Da lag jemand hinter dem Busch. Wie in Zeitlupe nahm ich glänzenden blauen Satin und eine Spitzenborte am Rocksaum wahr, die an mehreren Stellen dreckverkrustet war.
»Oh mein Gott, das ist Pauline!« Ich lief um den Busch herum und stockte, als ich meine Kollegin auf dem Rasen liegen sah. Ohne nachzudenken, warf ich mich auf die Knie und griff nach ihrer Hand. »Pauline, was ist los mit –« Dann bemerkte ich das Seil um ihren Hals und verstummte. Ihr hübsches Gesicht war aufgedunsen. Die Lippen waren blau angelaufen, ihre Augen weit aufgerissen und die Pupillen starr. Kleine rote Punkte, nicht größer als ein Stecknadelkopf, sprenkelten ihre Augen, die Lider und die Stirn. Die braune Perücke fehlte.
Der Arzt schaute auf und suchte meinen Blick. Für einen Moment, der ewig zu dauern schien, sah er mich still an. Dann schüttelte er sanft den Kopf. »Ich kann nichts mehr für sie tun. Tut mir leid. Die Frau ist tot.«
DREI
Meine Haut kribbelte am ganzen Körper. Mir war auf einmal so kalt, als hätte ich mich in eine der Marmorstatuen aus dem Schloss verwandelt. Unkontrolliert begann ich zu zittern. Meine Zähne klapperten. Was um mich herum vorging, bekam ich nur gedämpft mit. Meine Aufmerksamkeit galt allein Pauline, die im Gras lag und sich nicht rührte. Nach wie vor hielt ich ihre Hand. Sie fühlte sich so lebendig an. Wie konnte Pauline tot sein, wenn ihre Haut warm war? Vielleicht hatte sie sich nur ausruhen wollen und war eingeschlafen?
Jemand ging neben mir in die Hocke und legte den Arm um meine Schultern. »Bea, du musst aufstehen. Komm, ich helfe dir. Langsam, ein Bein nach dem anderen.«
Diese Stimme kannte ich, aber es gelang mir nicht, mich zu bewegen.
»Sie hat einen Schock«, hörte ich den Arzt neben mir sagen. »Bleiben Sie bei ihr, ich hole meine Tasche aus dem Auto und gebe ihr ein Beruhigungsmittel.« Er stand auf, und seine Schritte entfernten sich.
»Das arme Mädchen«, jammerte eine Frau hinter mir und schluchzte. »Sie ist ja kreidebleich. Ob die tote Frau ihre Freundin war?«
Das alles nahm ich wie durch eine Wand aus Glas wahr. Meine Finger krallten sich um Paulines Hand und hatten nicht vor, sie jemals wieder loszulassen. Warum stand sie nicht auf? Sie musste doch frieren. Ich griff nach dem Volant an ihrem Ärmelbund und zog ihn über das Handgelenk. Es war gerötet, und die Haut hatte ein paar Kratzer, als hätte sie sich an Dornen verletzt.
»Lassen Sie mich zu ihr.« Jemand nahm meinen Arm. Kühle Finger schoben den Ärmel meines Kleides hoch. Was war das für ein stechender Geruch? Rasierwasser?
»Bea, gleich geht’s dir besser«, redete die Frauenstimme, die ich kannte, auf mich ein. »Der Arzt gibt dir etwas zur Beruhigung, dann stehen wir auf und gehen zum Zelt. Dort kannst du dich ausruhen.«
Als gehörte mein Körper einer fremden Person, spürte ich einen Stich in der Ellenbeuge. Es tat nicht weh. Mir tat nichts mehr weh. Und so sollte es auch bei Pauline sein. Ich beugte mich über sie und griff nach dem Strick um ihren Hals, um ihn zu lockern.
»Bitte lassen Sie das«, sagte der Mann neben mir und löste meine Finger vom Seil. »Sie dürfen nichts verändern, bis die Polizei eintrifft.«
Plötzlich fühlte ich mich schwer, so schwer, als hätte sich die Erdanziehung verdoppelt.
»Bea, du musst aufstehen. Bea? Hörst du? Ich bin’s, Jeannette.«
Wie hätte ich aufstehen können, wo mein Gewicht mich zu Boden zog? Ich musste mich hinlegen, am besten neben Pauline, damit sie nicht allein war.
»Teddy, gut, dass du kommst«, hörte ich die Frauenstimme sagen. »Bea will nicht aufstehen, aber sie muss Paulines Hand endlich loslassen.«
Ein Rascheln neben mir, dann sagte eine Männerstimme: »Jeannette, rutsch zur Seite. Ich kümmere mich um Bea.«
Auch diese Stimme kam mir bekannt vor. Jemand fasste nach meinen Fingern, die um Paulines Hand gekrallt waren, und löste sie behutsam einen nach dem anderen. Ein Arm schlang sich um meine Taille. Meine Knie knackten, und die Beine fühlten sich bleiern und gleichzeitig so weich an, dass sie mein Gewicht kaum trugen. Der warme Griff um meine Taille verstärkte sich. Ein anderer Arm fasste unter meinen Kniekehlen durch.
»Bea, ich trage dich zum Zelt, einverstanden? Ganz ruhig, dir kann nichts passieren.«
Als mich jemand hochnahm, löste sich mein Blick ohne mein Zutun von Pauline. Ich starrte vor mich hin ins Leere. Ein bekannter Geruch stieg mir in die Nase. Es war der Mann. Seine Haut roch nach Wildleder. Und nach Zigarettenrauch. Und nach etwas, das mir sehr vertraut war.
»Teddy«, flüsterte ich und spürte, wie ich schwerer wurde.
Jemand küsste mich auf die Wange. Bartstoppeln kratzten über meine Haut. Ich schloss die Augen, bis mich die Sirene eines Martinshorns aufschreckte. Mein Puls raste, als das schrille Kreischen näher kam. Blaues Licht flackerte auf.
»Wir müssen den Rettungswagen vorbeilassen.« Teddy blieb stehen und drückte mich an sich. Er wich zurück, als der Notarzt uns passierte und auf die Wiese fuhr. Das blaue Flackern blendete mich. Ich schloss die Augen. Etwas Warmes lief über meine Wangen.
»Ja, das ist gut, Bea«, flüsterte Teddy. Sein Atem roch nach Zigarettenrauch. »Wein ruhig.«
Um mich herum wurde es schwarz, und ich flüchtete mich in die wohltuende Dunkelheit.
Als ich wieder zu mir kam, spürte ich einen stechenden Schmerz in der Hüfte. Ich veränderte meine Position, doch es tat weiterhin weh.
»Sie wacht auf«, hörte ich Jeannette flüstern.
Meine Lider waren verklebt, und ich brauchte eine Weile, um sie auseinanderzuzwingen. Vor mir sah ich Jeannette. Ihre grünen Augen waren fast auf gleicher Höhe wie meine. Groteskerweise standen sie übereinander statt nebeneinander. Und sie waren gerötet. Hatte sie geweint? Unmöglich, Jeannette weinte doch nie. Mein Körper versteifte sich, und der Schmerz in der Hüfte wurde stärker.
Ich lag auf etwas Hartem und Unbequemem. Mit der Hand drückte ich mich so weit hoch, bis Jeannettes Gesicht in der Senkrechten war. »Das war ein grauenhafter Alptraum«, sagte ich, »so was Schlimmes habe ich noch nie …« Unter mir geriet etwas ins Wanken.
»Pass auf, Bea, sonst fällst du runter«, warnte mich Jeannette. »Teddy und ich haben ein paar Stühle zusammengestellt, wir wollten dich nicht auf den Boden legen.«
Behutsam tastete ich mit der Rechten nach oben, bis ich die Stuhllehne zu fassen bekam, und setzte mich auf. Vor mir stand eine Kommode mit Weinflaschen und einem Silbertablett, das bis auf ein paar Schokoladenkrümel leer war.
»Wo sind die Gäste?« Meine Stimme klang undeutlich, weil mein Mund trocken war. Die Zunge klebte mir am Gaumen fest, und ich hatte Durst. »Ist die Verkostung schon vorbei?«
Jeannette schob sich aus der Hocke hoch und nickte mit angespannter Miene. »Bea«, setzte sie in einem behutsamen Tonfall an, der für sie ungewöhnlich war. »Erinnerst du dich, was passiert ist?«
Was passiert ist? Was meinte sie damit? Ich forschte in meinem Gedächtnis nach. Da war irgendwas mit Schokolade, dann ein Schrei. Mein Herz geriet ins Stolpern, als mir alles wieder einfiel.
»Pauline! Wie geht es ihr?«
Statt einer Antwort schluckte Jeannette hörbar.