Tod im Kontinuum - Edgar Achenbach - E-Book

Tod im Kontinuum E-Book

Edgar Achenbach

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Beschreibung

»Hey, es wird schon nicht so schlimm werden«, sagt Alinas Vater zu ihr, als sie aus seinem Wagen steigt und am ersten Tag nach den Sommerferien den Hof ihrer neuen Schule betritt. Aber es wird schlimm. Es wird viel, viel schlimmer als sich Alina oder ihr Vater das je hätten vorstellen können. Kurz nach Unterrichtsbeginn stürmen fünf bewaffnete Männer den Klassenraum und nehmen Alina und ihre Mitschüler als Geiseln. Die Situation eskaliert, als der aggressive Anführer der Geiselnehmer ohne jede Vorwarnung Alinas Tischnachbarin Sarah erschießt und die Mündung seiner Pistole nur einen Augenblick später auch an Alinas Schläfe presst. Das lässt der mittlerweile vor der Schule positionierten Spezialeinheit der Polizei keine Wahl: Der Einsatz wird mit Waffengewalt beendet. Ein Jahr später hat zwar keiner der Schüler den Vorfall vergessen, aber zum größten Teil verarbeitet. Allerdings denkt Alina, dass sie eine erhebliche Mitschuld an Sarahs Tod trägt und sie wünscht sich, sich eines Tages bei Sarah entschuldigen zu können. Ein Wunsch, der natürlich niemals in Erfüllung gehen kann. Dann aber werden mehr und mehr Personen aus Alinas Freundes- und Bekanntenkreis brutal ermordet. Während die Polizei im Dunkeln tappt, beginnt Alina zu ahnen, dass letzten Endes sie es ist, die im Zentrum der Aufmerksamkeit des Killers steht. Mit einer Existenz, die nur noch an einem bereits angerissenen seidenen Faden hängt, versucht Alina, ihre Rolle in diesem sadistischen Spiel zu verstehen und macht schließlich eine Bekanntschaft, die sie niemals hätte machen dürfen. Jetzt hat Alina nur noch eine Wahl. Um das Leben ihrer Freunde zu retten, muss sie sterben – immer wieder...

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Danksagung

An Tod im Kontinuum habe ich knapp zwei Jahre gearbeitet; ungefähr ein Jahr länger als geplant. Während dieser Zeit haben mich meine Familie und meine Freunde immer wieder – unendlich – unterstützt und motiviert.

Im Besonderen möchte ich mich bei den folgenden Personen bedanken, ohne deren ganz unterschiedliche Art der Unterstützung Tod im Kontinuum in dieser Form niemals das Licht der Welt erblickt hätte.

Bei meiner Frau Annette und meiner Tochter Elisabeth, für die Liebe und das Verständnis für mein Hobby; bei Tony, für die Freundschaft und die Motivation; bei Dirk Hannemann und Tillman Suhr, für das Coaching im Bereich Marketing und Design

Inhaltsverzeichnis

TEIL I - SIE

SCHULD

WUNSCH

TEIL II - ICH

NEUANFANG

AUSFALL

BENETZT

WIDMUNG

GEFÜHLE

UNBEHAGEN

LEERE

ERSTE ANALYSE

HERKUNFT

NAVIGATION

MANÖVER

ROUTINE

ESKALATION

ZWANG

MASSNAHMEN

DÄMMERUNG

BEGEGNUNG

ERFÜLLUNG

TEIL III - TOD IM KONTINUUM

PASSIV

AKTIV

WEHRLOS

VERTRAUEN

TIMING

TEIL IV - WIR

HOFFNUNG

ERINNERUNG

EPILOG - ZUSAMMENFÜHRUNG

IN DIE FINALE INTERFERENZ

TEIL I

»SIE«

SCHULD

••••

7. September 2015

»Entschuldigung? Dürfte ich bitte einmal auf die Toilette gehen?«

»Aber ja! Natürlich. Nur zu!«, antwortete Trance. Dann zeigte er mit einer schwungvoll einladenden Geste zur Tür und trat locker grinsend zur Seite. »Aber komm wieder. Okay!«, ergänzte er und zwinkerte mir zu.

Ich nickte, schob meinen Stuhl nach hinten und stützte mich mit den Handflächen auf der Tischplatte ab, um mit einem ›Vielen Dank‹ auf den Lippen aufzustehen.

Ohne seinen Blick von mir abzuwenden und ohne irgendeine Vorwarnung ließ Trance seinen rechten Arm nach oben fahren, presste die Mündung seiner Pistole an Sarahs Stirn und drückte ab. Einfach so. Mit einem stolzen Triumph in seinen Gesichtszügen, der schnell blankem Zorn wich.

»Was? Waaas! Was genau hast du dumme Kuh denn hier nicht kapiert? Häh?«, schrie er mich an. »Was ist denn an ›Es wird hier niemandem etwas passieren, wenn ihr alle die Klappe haltet!‹ so schwer zu verstehen? Oder liegt die Sache bei dir anders? Fehlt dir einfach nur der nötige Respekt vor mir und meinen Jungs? Denkst du Schlampe etwa, wir kommen hier nur mal so zum Spaß in eure bescheuerte Klasse und wollen einen auf Sachkunde machen und euch mal unsere peng peng Ballermänner in Aktion zeigen und– … ach nee, weißt du was? Das ist doch alles scheißegal. Bekomm du Miststück einfach nur in deine ignorante Birne, dass du die Brillenschlange da auf dem Gewissen hast. Ja! Na klar! Was schaust du so? Der Dreck hier ist doch nicht meine Schuld. Der ist deine! So isses! Hättest du dein Maul nicht aufgemacht, dann wäre sie noch am Leben. Aber nein. Du musstest uns ja alle nerven. Du musstest mich ja provozieren. Also klebt das Hirn der Schnalle jetzt da hinten an der Wand. Das ist deine Schuld. Das hast du angerichtet. Mann, was bist du nur für eine egoistische Fotze. Aber gut. Ich gebe dir noch eine Chance. Sieh jetzt mal ganz schnell zu, dass du die Sache wieder gutmachst. Geh nach vorne, hol einen Lappen, mach ihn schön nass und wisch die Sauerei weg, bevor sie anfängt zu stinken. Sonst müssen die Leute hier drin nämlich gleich kotzen und das mag ich nicht.«

Nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr in meiner Wahrnehmung funktionierte noch richtig. Das bisschen, das ich von Trances Gebrüll verstand, verwandelte sich in ein übersteuertes Klirren. Es stach in mein Trommelfell ein. Es paralysierte mich. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich konnte mich keinen Millimeter mehr bewegen. Ich sah nur noch Sarahs Augen vor mir, die in den letzten zwei Millisekunden ihres Lebens wohl verstanden hatten, was gleich passieren würde.

»Was raffst du Dreckstück denn jetzt schon wieder nicht?«, ging das Geschrei weiter. »Hab ich mich nicht klar genug ausgedrückt oder was? Also los! Setz dich in Bewegung! Nerv mich ja nicht weiter, sonst schlag ich dir mit meinem Baby hier flach die Zähne aus. Glaub mir. Das mach ich. Dann vergeht dir schon das Lachen! Dann kannste für den Rest deines Lebens echt nur noch lutschen.«

Zornig hob Trance erneut die rechte Hand. Er fixierte mich mit der blanken Seite seiner Pistole, holte mit Schwung aus, fror dann aber seine Bewegung ein. »Komm, lass gut sein. Ich kann deine dumme Fresse auch nicht mehr seh’n. Ab zu deiner Freundin. Soll die dir doch in den Arsch treten.«

Trance drehte die Pistole in seiner Hand wieder zurück und rammte mir ihre Mündung an die Schläfe. Sie brannte. Hitze schnitt sich in meine Haut, die gleichzeitig aufriss und schmolz.

Ich spürte die Vibration. Ich spürte, wie Trances Zeigefinger den Abzug durchzog. Diesmal mit Genuss.

Alle möglichen Bilder jagten durch meinen Kopf. Meine Eltern. Meine alten Freunde. Noch einmal Sarahs letzter Blick. Ihre Furcht. Dieselbe Furcht, die ich jetzt spürte und die…

Ein Klirren. Ich hörte ein Klirren, ein Zischen, ein Flatschen – und einen Moment später den Schuss.

Meine Augen! Meine Augen waren nicht geschlossen! Warum waren meine Augen nicht geschlossen, als Trances Gesicht, oder besser gesagt, das Drittel, das davon übrig geblieben war, dicht vor meinen Wimpern nach unten floss und mich dabei seinen Tod einatmen ließ?

Trances Körper klatschte auf den Boden. Ich blieb regungslos sitzen.

Mehr Klirren, mehr Zischen, mehr Flatschen und noch viel mehr Schreie drangen in das ein, was wahrscheinlich mein Bewusstsein war. Ein roter Wirbel, der … Tischplatte … Kante …

WUNSCH

••••

Der dumpfe Schmerz und die Übelkeit verschwanden und ich gewöhnte mich schnell an die Schwerelosigkeit, in die ich gezogen worden war, bevor ich … bevor ich was? Bevor ich auf die Tischplatte aufschlug?

Oder hatte ich das vielleicht schon gar nicht mehr spüren müssen? Schwebte ich etwa bereits davon? Für immer davon?

Bilder tauchten vor meinen Augen auf. Männer in Weiß, die mich hoben, senkten und sanft schaukelten; Blitze einer Frau, die mir in die Augen leuchtete; Gesichter, die sich besorgt zur Seite drehten; Mama und Papa … immer wieder Mama und Papa; und auch Herr Conrad, der mit Tränen in den Augen …

Alles wurde zu viel. Ich schrie. Der rote Wirbel kam zu mir zurück, aber er bedrohte mich nicht. Er war mein Freund. Er legte sich schützend über mich. Er gab mir Ruhe. Ich hatte keine Angst mehr.

••••

Die Zeit verging. Nach einer Weile sagte mir der rote Wirbel, dass ich ihn nun nicht mehr bräuchte. Aber es sei meine Entscheidung. Einzig und allein meine Entscheidung. Ich traf sie. Zufrieden ließ er mich frei.

••••

Meine Augenlider fuhren nach oben. Ich war über die Klarheit überrascht, mit der ich die Dinge um mich herum wahrnehmen konnte.

»Alina?«, sprach mich meine Mutter an, während sie mit ihrer rechten Hand meine, und mit ihrer linken die meines Vaters hielt.

»Mama. Papa. Was … was ist passiert?«

Meine Eltern zögerten für einen Moment, sahen sich an und blickten dann gemeinsam zu der Frau, die mir gerade eben – oder vielleicht auch vor einer Ewigkeit? – in die Augen geblitzt hatte. Sie ging auf mich zu, fühlte meinen Puls und sah auf die Monitore, die neben dem weißen Bett standen, in dem ich lag. Sie konzentrierte sich. Lauschte dem gleichmäßigen Piepsen, das aus der Richtung der Monitore kam. Sie nickte zufrieden und sagte meiner Mutter etwas von fünf Minuten. Dann verließ sie den Raum. Die Zeit für die Wahrheit war gekommen.

»Ihr wurdet als Geiseln genommen«, begann Papa mit einfühlsamer Sachlichkeit.

»Als Geiseln? Was wollten die?«

»Ehrlich gesagt, weiß das niemand so genau. Natürlich ist die GSG 9 sofort mit Scharfschützen und einem hoch spezialisierten Negotiator angerückt. Zu eurem Schutz wollte man selbstverständlich erst einmal ausschließlich auf Verhandlung setzen. Da gab es keinen Kompromiss. Ich selbst war auch so schnell wie möglich vor Ort. Habe einfach meine Schüler sitzen lassen und bin los. Als ich dann dem Einsatzleiter meine Visitenkarte gezeigt habe, hat er mich netterweise als passiven Zuhörer in das Funknetz zuschalten lassen. Und da habe ich es live mitbekommen. Nichts! Die Geiselnehmer sind zu keinem Zeitpunkt mit jemandem in Kontakt getreten und haben auch auf keinen Versuch des Negotiators reagiert, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Und der Mann hat wirklich alles gegeben. Der war ein echter Profi. Also hat die Einsatzleitung nach einer Weile beschlossen, die Situation bis auf Weiteres erst einmal nur zu beobachten. Mehr wäre zu riskant gewesen, auch weil sich immer mindestens zwei der Geiselnehmer außerhalb einer klaren Schusslinie aufgehalten hatten. Zugriff war da niemals eine Option gewesen, bis…«

»Das Mädchen neben mir. Sarah. Sie ist … das ist wirklich passiert, oder?«

Mein Vater nickte, drückte meine Hand noch fester und schaute mir in die Augen.

»Ja, aber damit haben die Geiselnehmer eine Grenze überschritten. Eine Grenze, die man niemals überschreiten darf. Sie haben etwas getan, das sie niemals wieder gut machen und das wir niemals entschuldigen können; und als dann nur einen Moment später klar wurde, was als Nächstes geschehen würde, hat die Einsatzleitung ohne zu zögern Zugriff erteilt. Den klaren Befehl gegeben, den Anführer der Geiselnehmer sofort zu … zu neutralisieren, weil er sonst…«

Die Stimme meines Vaters brach, denn wir alle wussten, was fast noch passiert wäre.

»Aber dieser Mann, der war doch nicht allein. Da waren noch mehr dabei, Papa. Seine Komplizen. Die hatten auch alle Waffen. Haben die dann…?«

»Nein. Von den Mittätern hatte anscheinend niemand mit dieser sinnlosen Eskalation gerechnet. Nachdem ihr Anführer ausgeschaltet worden war, sind sie alle aus ihrer sicheren Deckung hinter den Fenstern hervorgekommen und haben wie paralysiert auf das schreckliche Szenario vor ihren Augen gestarrt. Nur konnte in diesem Moment niemand im Einsatzteam mit Sicherheit sagen, was diese ja weiterhin schwer bewaffneten Männer nach ihrem ersten Schock tun würden. Man durfte und man wollte kein Risiko mehr eingehen. Es musste eine Entscheidung getroffen werden und…«

»…und so hat man die anderen Männer auch neutralisiert«, beendete ich den Satz meines Vaters. Ich war überrascht, nicht die geringste Spur an Mitleid in meiner Stimme zu hören.

Papa nickte. »Ja. Zwei Sekunden später war alles vorbei. Vier präzise Schüsse. Niemand von euch wurde mehr verletzt.«

»Aber Sarah ist tot, Papa. Und das ist meine Schuld.«

»Nein, Alina, das ist es nicht. Dein neuer Klassenlehrer, Herr Conrad, er ist noch am selben Abend, also vor zwei Tagen, ins Krankenhaus gekommen. Er hat uns genau erzählt, was passiert ist, und er hat geahnt, dass du dir für den Tod des Mädchens die Schuld geben würdest. Aber das musst du nicht. Weder Herr Conrad, noch sonst jemand macht dir einen Vorwurf. Das, was geschehen ist, das war einzig und allein das Werk eines gefährlichen Psychopathen. Nicht deins, Alina. Nicht deins.«

••••

Und genau so kam es dann auch. Alle sprachen mich von meiner Schuld frei: Herr Conrad, der mich anschließend noch einmal im Krankenhaus besuchte; die Schulpsychologin, die sich eine Weile um mich kümmerte; meine Therapeutin, zu der ich anschließend regelmäßig ging. Auch meine neuen Mitschüler machten mir niemals auch nur im Ansatz einen Vorwurf, sondern integrierten mich zwar erst einmal vorsichtig, aber trotzdem ohne jeden Widerstand in die Klassengemeinschaft.

Nur machte es mich traurig, als ich erfuhr, dass Sarah, das Mädchen, das von Trance ermordet worden war, keinen leichten Stand in der Klasse gehabt hatte. Niemand wusste so richtig warum. Sie war nicht unattraktiv gewesen und sie kam auch nicht aus einem seltsamen Elternhaus, aber aus irgendeinem Grund hatten sich alle regelmäßig über sie lustig gemacht und sie hatte sich dann mehr und mehr zurückgezogen und mit niemandem mehr geredet.

Was für ein Mensch war Sarah gewesen?, fragte ich mich und wünschte mir, sie besser kennengelernt zu haben. Vielleicht wären wir ja Freundinnen geworden. Die Außenseiterin und die Neue. Das hätte doch prima gepasst, oder? Aber das … das war natürlich ein Wunsch, der niemals in Erfüllung gehen konnte.

Es sei denn, das alles hier wäre nicht das Ende meiner Geschichte, sondern deren Anfang.

TEIL II

»ICH«

NEUANFANG

••••

»Benjamin holt dich ab?«, sagte mein Vater in einem Ton, der Frage und Feststellung miteinander kombinierte.

»Das macht er; und du weißt, dass er es wirklich ernst meint, wenn er sagt, dass du gerne einmal eine Runde mit ihm fahren und seinen Fahrstil kontrollieren darfst. Du kannst dabei meinetwegen auch deine Uniform anziehen und deinen Kollegen mitbringen, der bei euch immer die Fahrerlaubnis prüft. Und die Sache mit dem ‘Kein Alkohol am Steuer’, die nimmt Ben sehr ernst. Ich auch. Ich würde da keinen Spaß verstehen und mir ein Taxi nehmen oder euch anrufen.«

»Das weiß ich«, sagte Papa und blickte schmunzelnd erst aus dem Fenster und dann auf seine Uhr, die selbstverständlich das von einem ehemaligen Militärpiloten erwartete Sammelsurium an filigranen Zeigern und funktionsbeladenen Knöpfen vorzuweisen hatte. »Ihr habt 07:30 Uhr ausgemacht?«, frag-/feststellte er weiter.

»Haben wir.«

»Dann hat dein Freund wirklich Anstand. Er hat vor drei Minuten sauber rückwärts eingeparkt und sitzt jetzt um 07:28 Uhr noch brav in seinem Wagen.«

»Vielleicht erschreckt es meine Freunde ja auch nur, wenn sie hören, dass mein Vater bis letzten Sommer Eurofighterpilot und Staffelführer an einem Stützpunkt nahe der deutsch-dänischen Grenze war und sich jetzt hier als durchgesternter Ausbildungsoffizier bei der örtlichen Luftwaffe niedergelassen hat.«

»Aber vielleicht ist Ben ja auch einfach nur ein ordentlicher Kerl. Okay. 07:29 Uhr. Er steigt langsam aus dem Wagen aus, aber nicht ohne vorher in den Seitenspiegel zu sehen, und jetzt macht er sich auf den Weg. Hm-hm. Pünktlichkeit ist wirklich sein Ding.«

Punkt 07:30 Uhr klingelte es bei uns an der Tür. Papa grinste mich an. Ich wusste nicht, ob ich zurückgrinsen oder einfach nur schmollen sollte. Na ja. Egal. Ich trank einfach noch schnell meinen Latte aus, packte meinen Schulrucksack am Griff und lief zur Tür. Bevor ich sie öffnete, schaute ich noch einmal zu meinen Eltern. Mein Blick traf die Augen meines Vaters. Sie schauten ernst. Die Ironie, die während der letzten fünf Minuten frech und himmelblau in ihnen geblitzt hatte, war verschwunden. Wir beide wussten, was wir in diesem Moment dachten. Woran wir uns erinnerten.

Hey, es wird schon nicht so schlimm werden. Mit diesem Satz hatte mich mein Vater vor einem Jahr vor dem Graf-Stauffenberg-Gymnasium abgesetzt. Das hatte damals gut gepasst. So etwas sagt man doch zu seiner Tochter, wenn sie dabei ist, das erste Mal ihre neue Schule zu betreten, weil sie aufgrund der Versetzung ihres Vaters zum Anfang der 11. Klasse nach Kelkheim-Sonnengrund im Taunus gezogen ist – in so einen Stadtteil, den irgendwie keiner kennt und bei dem man den Eindruck hat, den hätte sich so ein Typ einfach nur an seinem Computer ausgedacht, um ein bisschen kreatives Minecraft zu spielen. Aber dass das Schicksal meinen Vater dann doch so brutal austricksen würde und dass ich nur drei Stunden später als Opfer einer sinnlosen Geiselnahme mit ansehen musste, wie eine Mitschülerin direkt vor meinen Augen eiskalt erschossen wurde, das hatte damals niemand geahnt.

Und jetzt? Zwölf Monate später? Nein, vergessen, was damals geschehen ist, das hat niemand. Aber wir haben es alle irgendwie geschafft, die Gewalt zu verarbeiten. Immerhin kommen meine Albträume jetzt nicht mehr so häufig. Sie sind auch nicht mehr so schlimm, glaube ich. Ich wache zumindest nicht mehr so oft schreiend auf.

Viel geholfen dabei hat uns Herr Conrad, und ich verstand sehr schnell, warum wir von allen Schülern des Graf-Stauffenberg-Gymnasiums beneidet wurden, ihn als Klassenlehrer zu haben.

»Du schaffst das, Alina«, riss mich mein Vater schließlich aus meinen Gedanken. »Und lass dich nicht abschrecken. Die Sache mit dem Kurssystem ist anfangs vielleicht etwas verwirrend, macht aber nach einer Weile eine Menge Spaß.«

»Okay, also dann. Bis heute Abend.«

Ich drehte mich wieder um und öffnete die Haustüre. Ehe er groß ›Guten Tag‹ zu meinen Eltern sagen konnte, schnappte ich mir Bens Hand und zog ihn zur Seite. Die Nische neben dem Briefkasten war sicher.

»Das ging aber schnell«, sagte Ben freudig überrascht nach dem Begrüßungskuss.

Als Antwort pendelte mein Blick zweimal schmunzelnd zwischen seinem geparkten Wagen und unserem Küchenfenster hin und her. Ben verstand.

»Wahrscheinlich bereut mein Vater es jetzt, dass er mir schon im Vorschulalter enthusiastisch erklärt hat, was eine Sichtlinie ist«, sagte ich, als wir schließlich zu Bens Wagen gingen. Aber hey! Keine Angst! Bekommt jetzt bitte nicht den falschen Eindruck! Ben und ich wussten natürlich, dass mir meine Eltern nicht wirklich nachspionierten. Dafür hatten sie nach einer kurzen Grummelphase viel zu viel Vertrauen in Ben und in meine Beziehung mit ihm gefasst, in der wir jetzt seit fast acht Monaten glücklich schwebten.

»Dann waren deine Lehrer doch mit Sicherheit schon damals von deinem ungewöhnlichen Vokabular begeistert.«

»Nein, nicht wirklich. Ich habe sogar mal Punktabzug von meiner Deutschlehrerin bekommen, weil ich ›Sichtlinie‹ und ›Situationsanalyse‹ in einer Geschichte verwendet habe, in der ein kleiner Hase vor einem Fuchs davonläuft. Sie war der Meinung, dass ein neunjähriges Mädchen so Worte noch gar nicht kennen kann und erst recht nicht weiß, was sie bedeuten.«

»Und?«

»Die Sache ist hochgepurzelt und schließlich bei der Direktorin gelandet, die dann aber stur blieb, selbst als mein Vater noch einmal persönlich und in Uniform bei ihr aufgetaucht ist, um die Sache zu besprechen und die Schuld voll auf sich und die Luftwaffe zu schieben.«

»Was nach deinem 15 Punkte Aufsatz über In einem anderen Land aber jetzt nicht mehr notwendig war. Bei Herrn Conrad hat dein Vokabular ja die vollste Anerkennung gefunden.«

»Vergiss aber bitte nicht den netten jungen Mann, der mich in Ruhe hat schreiben lassen«, antwortete ich und begann, in meinem Rucksack zu wühlen. Ich wollte Ben noch etwas geben, bevor wir einstiegen. »Warte. Hier. Die habe ich gestern Abend noch von dir gemacht. Wir konnten uns ja leider nicht sehen. Da musste ich mich trösten.«

»Die ist toll. Danke«, antwortete Ben, nachdem ich ihm das DIN-A5 Blatt mit der Bleistift-Porträtzeichnung von ihm gegeben hatte. »Dann fahren wir jetzt los ins neue Abenteuer?«

»Ja, das tun wir«, antwortete ich und stieg in seinen Wagen.

••••

Kennt ihr das? Es gibt eine Frage, die ihr jemandem stellen möchtet, aber vor deren Antwort ihr euch schrecklich fürchtet. Also schiebt ihr dieses Thema auf. Nach hinten. Vor euch her. Wieder und wieder.

So ging es mir mit einer Sache mit Ben. Da gab es etwas, das geklärt werden musste, aber vor dem ich mich bisher mit vollstem Erfolg gedrückt hatte. Nur konnte das so nicht weitergehen. Ich konnte diese brennende Ungewissheit nicht länger ignorieren, denn immerhin war ich heute dabei, einen neuen Abschnitt in meinem Leben zu beginnen.

»Können wir für einen Moment anhalten und kurz reden?«, fragte ich also. »Es ist wirklich sehr wichtig.«

Ben schaute mich leicht irritiert an, fand dann aber schnell einen freien Parkplatz im Seitenstreifen und fuhr hinein. Seine Finger legten sich um den Zündschlüssel und er schaute mich an. Nachdem mein Blick ihm wohl signalisiert hatte, dass das Gespräch länger dauern würde, stellte er den Motor ab.

»Also, ich … ich möchte dich gerne etwas sehr Persönliches fragen. Es ist nichts Schlimmes, aber es ist etwas, das mir sehr wichtig ist und ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist. Bitte. Und ganz egal, was du gleich antwortest, es wird nichts daran ändern, was ich für dich empfinde. Wirklich nicht«, betonte ich noch einmal, da sich die Sorgenfalten auf seiner Stirn zu mehren begannen.

»Okay.«

»Ben, hast du mit zu den Leuten gehört, die Sarah in der Schule das Leben zur Hölle gemacht haben?«

Bens Augen hielten Blickkontakt. Traurigkeit stand auf einmal zwischen uns.

»Nein. Das habe ich nicht. Sarah und ich, wir … wir haben eigentlich nie etwas miteinander zu tun gehabt. Aber ich habe auch nichts dagegen unternommen, und das war mindestens genauso mies. Ich meine, ich hatte am Anfang der Zehnten meine zweite Hessenmeisterschaft im Tischtennis eingefahren. Das hat sich ganz gut auf meine Charismaplatzierung in der Klasse ausgewirkt, also hätte ich etwas tun können – tun sollen – um den Mist zu stoppen. Ein Wort. Eine Geste hätte da vielleicht genügt. Und bevor du fragst. Lex war auch nie daran beteiligt. Du kennst ihn ja. Er kann sich zwar wie ein Volltrottel aufführen, aber dabei macht er ja immer nur sich selbst zum Clown und niemals jemand anderen. Er ist wirklich nicht der Typ, der irgendeine Art von Genugtuung dabei empfindet, jemanden fertigzumachen. Kirstin und Christina auch nicht. Die beiden haben sich nie um Sarah gekümmert oder sie beachtet. Aber das lag nicht an Sarah und das war von KiChri auch nicht böse gemeint. Die beiden sind ja irgendwie seelenverwandt. Da hätte kein drittes Mädchen Platz im Team. Außerdem sind sie doch viel zu sehr damit beschäftigt, das zu erhalten, was auch immer sie mit Lex haben. Das Ding zwischen denen ist ja so kompliziert, da bleibt für keinen von den Dreien auch nur eine Millisekunde übrig, jemanden zu ärgern oder gar eine Intrige zu spinnen.«

Ich musste grinsen, denn da hatte Ben den Nagel auf den Kopf getroffen. Lex war Bens bester Freund. Die beiden hatten sich am ersten Tag im Kindergarten den Milchreis um die Ohren gehauen und waren seitdem unzertrennlich. Irgendwann in der Mittelstufe haben sich die beiden noch mit Kirstin und Christina angefreundet. Und dann wurde es etwas anders, denn irgendwie ist Lex in beide verschossen und irgendwie finden beide Lex sehr, sehr nett. Aus dieser trilogischen Ausgangssituation heraus entstand schließlich das berüchtigte ‘Lex-Kirstin-Christina’-Dreieck, das zwar danach schreit, aufgelöst zu werden, das aber letzten Endes nicht gelöst werden kann, ohne dass einer der drei verletzt und deren besondere Freundschaft wahrscheinlich für immer vernichtet wird. Also sind Lex, Kirstin und Christina den ganzen Tag über damit beschäftigt, wild herumzualbern und wirklich jeden Schritt zu vermeiden, der gefährlich werden könnte. Aber okay, zumindest hatte ich erfahren, was ich wissen musste.