Blutwellen - Verlorene Freundschaft - Edgar Achenbach - E-Book

Blutwellen - Verlorene Freundschaft E-Book

Edgar Achenbach

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Beschreibung

Annas Begegnung mit der Vampirin Valery endete mit einem Unentschieden, für das Anna teuer bezahlen musste. Aber gerade als Anna dabei ist, wieder in ihr normales Leben zurückzukehren und das dunkle Erbe zu akzeptieren, das Valery ihr aufgezwungen hat, wird Anna von einer geheimnisvollen Organisation kontaktiert, deren Vertreter so viel mehr über Anna und ihr Schicksal weiß, als ihr lieb ist. Schnell versteht Anna, dass von ihrer Entscheidung, wem sie in den nächsten Wochen vertrauen darf und wem nicht, nicht nur ihr Leben, sondern auch das anderer abhängt. Und so wählt sie schließlich einen Verbündeten, mit dem sie zumindest eine Gemeinsamkeit hat: eine verlorene Freundschaft. Verfolgt von Valerys Schatten begibt sich Anna auf eine Reise, die sie im Jetstream eines Jagdflugzeugs und entlang der Schienen des Eurotunnels in die Villa einer durchgeknallten Vampirin führt. Doch ganz egal, wie sich Anna auf diesem turbulenten Weg auch schlagen mag, am Ende wird sie gezwungen sein, eine der schwersten Entscheidungen ihres Lebens zu treffen ...

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Betrug

Alle Register

Die Balance drohender Gefahr

Verlorene Freundschaft

Böses planen

Trost

Böses tun

Ein Hauch von Poesie

Eine Frage der Zeit

Licht und Schatten

Ein hochgesteckter Plan

Check-In

Taxi

Pre-Flight

Abbruch

In die Unendlichkeit

Vergangene Zukunft

Überraschende Schlagfertigkeit

Schritt für Schritt

Unterschätzte Schönheit

Das Erbe der ersten Mrs. Rochester

Schwingungen verlorener Zeit

(Unterlassene) Hilfeleistung

Beschäftigungstherapie

In die Dunkelheit

Dahinter

Trennung

Trauma

Tarnen und Täuschen

Willkommen in Frankreich

Die Mädchen, die noch am Leben waren

Für immer?

Ein Notfall

Berüchtigt

Endspiel

Im Spektrum des Kontinuums

Im Schatten der Ewigkeit

Im Rhythmus des Lebens

Lichter in der Nacht

Im Zwielicht

Identität

Zukunft

Neugierde

Epilog

Schatten der Vergangenheit

Biss bald

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Danksagung

Keine Geschichte wird in einem Vakuum geschrieben. Kein Autor kann in einem Vakuum arbeiten. Aus diesem Grund möchte ich mich bei allen bedanken, die mich im Laufe der letzten 24 Monate direkt oder indirekt bei der Erstellung von Blutwellen: Verlorene Freundschaft unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt hierbei meiner Frau Annette und meiner Tochter Elisabeth; meiner Schwester Sabine, die vor 40 Jahren mein Interesse an den Hammer-Horror-Filmen und damit an dem Vampirgenre geweckt hat; Tony und Bernie für die Jahrzehnte der Freundschaft und für den regelmäßigen Austausch über alle Themen aus dem Bereich Film- und Literatur; Dennis Teschner für das Coaching im Bereich der Kommunikation.

BETRUG

....

Mindy schloss leise, mit aller Vorsicht die Tür. Sie wollte mich wahrscheinlich nicht stören, aber ihr Gesicht sprach Bände. Es war vollkommen verheult. Strähnen ihrer Frisur klebten an ihren Wangen. Und noch während sich meine Finger von der Tastatur meines Notebooks lösten, ließ Mindy ihre Tasche einfach auf den Boden fallen, rannte zu ihrem Bett und schnappte sich eines ihrer Kuscheltiere. Dann brach alles heraus.

Ich stand von meinem Schreibtisch auf, ging zu ihr und kniete mich vor das Kopfende ihres Betts. Mindys Gesicht war bereits vollständig in ihrem Kissen verschwunden, aber ich hoffte, dass sie mich noch wahrnehmen würde.

»Hey, was ist los?«

»Er w- ... wird mich d- ... d- ... durchfallen lassen.«

»Was? Wer? Wer wird dich durchfallen lassen?«

»Der Neue. P- ... Professor K- ... K- ... König. Er hat ge- ... gesagt, dass ich geschummelt hätte. Ihn belogen. Bei meinem Essay. Alles abgeschrieben und im Internet geklaut. Deshalb hat er mir wegen Plagiarismus ein ‘X’ gegeben. Er gibt mir auch keine Chance, mein Essay zu überarbeiten oder es durch eine zweite L- ... Leistung auszugl- ... gleichen. Außerdem will er mich schon jetzt von der schriftlichen Semesterprüfung ausschließen; und im nächsten Jahr soll ich mich gar nicht erst in seiner Vorlesung blicken lassen. Er meint, das alles dürfe er machen. Weil ich eine fiese Betrügerin sei, und hier an der Uni nichts verloren hätte.«

Mindy begann, zu zittern. Ich nahm ihre Hand, die sich bereits fest in ihr Kopfkissen verkrampft hatte. Ihre Fingernägel pressten sich für einen Moment in meine Haut, dann aber ließ der Druck nach. Gut, denn ich hatte schon Angst gehabt, dass die Sache gleich beim Notdienst enden würde.

»Hey, Mindy. Ganz ruhig. Was der Kerl dir vorwirft, ist Unfug. Ich habe doch gesehen, wie du die letzten drei Wochen über für dein Essay recherchiert und dir wirklich alles selbst erarbeitet hast. Das kann ich bezeugen. Bei Bedarf auch ganz formell an Eides statt. Außerdem sind diese Drohungen vollkommen überzogen. Bei einem ersten Betrugsversuch stehen einem Professor diese Maßnahmen überhaupt nicht zur Verfügung. Ein ‘X’ dürfte er dir geben, aber das war es dann auch schon. Da sind die Regeln hier an der Uni ziemlich unmissverständlich formuliert – und die gelten ohne jede Ausnahme fachbereichsübergreifend.«

»Das scheint Professor König aber eg- ... egal zu sein, denn er will auch der K- ... Kommission b- ... berichten. Er meint, er w- ... wolle denen natürlich nicht empfehlen, mein St- ... Stipendium zu streichen, aber sein Kurs ist Pflicht, Anna, und wenn ich den zweimal verhaue und keinen Schein bekomme, dann liege ich ein Jahr zurück und dann können die es mir tatsächlich wegnehmen, weil es ja so aussieht, dass ich selber schuld bin. Und ... und das war es dann. Meine Eltern, von denen bekomme ich nichts.«

Okay. Das war genug! Jetzt wurde ich richtig wütend auf diesen Professor König. Dass jemand mal einen miesen Tag hat und bei der Korrektur eines Essays seine schlechte Laune an einer Studentin auslässt, kann vorkommen. Das ist zwar nicht schön, aber man kann es mit Hilfe einer ehrlichen Entschuldigung schnell wieder aus der Welt schaffen. Nur ging mir das hier wirklich zu weit. Wenn sich jemand derart bösartig in das Privatleben meiner Freundin einmischt und sogar damit droht, ihre Zukunft zu vernichten, dann darf ich das nicht zulassen. Dann muss ich dem einen Riegel vorschieben. Jetzt gleich!

Und woher weiß ein stinknormaler Professor überhaupt von Mindys Stipendium? Der Vertrauensprofessor ist in der Regel informiert, das macht ja auch Sinn, aber sonst geht das niemanden etwas an. Und selbst wenn Professor König aus was für Gründen auch immer Wind von dem Stipendium bekommen haben sollte, dann dürfte er nicht darüber plaudern und es erst recht nicht als Druckmittel einsetzen. So Informationen unterliegen nämlich aus gutem Grund dem Datenschutz. Also bricht hier nicht Mindy die Regeln, sondern dieser Mistkerl.

Okay, ganz ruhig, Anna, dachte ich und trat auf die Bremse. Mit Wut würde ich hier nicht weiterkommen. Jetzt war eiskalte und wohlkalkulierte Sachlichkeit gefragt, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Es genügte im Moment vollkommen, dass sich Mindy in ihren Emotionen verloren und wieder mit dem Stottern begonnen hatte. Das hatte sie schon seit Wochen nicht mehr gemacht. Eigentlich kaum noch, nachdem wir uns am Anfang des Semesters kennengelernt hatten. Ich durfte nicht zulassen, dass sie einen Rückfall erlitt.

»Ich hole uns beiden etwas zur Beruhigung«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder da.«

Ich stand auf und ging zu unserem Kühlschrank, der in unserem gemeinsamen Zimmer im Studentenwohnheim der Rhein-Main-University nahe bei der Zimmertür stand. Dort angekommen nahm ich zwei kleine Glasflaschen heraus und mixte Mindy einen Kirsch-Banane-Saft. Einen KiBa. Ihr Lieblingsgetränk.

Dann ... dann verschwamm plötzlich alles vor meinen Augen. Etwas packte mich und riss mich in die Vergangenheit. Ich erinnerte mich daran, wie vor gerade einmal ein paar Monaten Natalie noch die Rolle der Beschützerin eingenommen und mir immer einen Tee zur Beruhigung gemacht hatte, nachdem ich wieder einmal laut schreiend aus meinem Albtraum aufgewacht war – aus dem Albtraum, durch den für mich alles begann und für Natalie alles endete.

Mindys Schluchzen führte mich zurück in die Gegenwart. Ich lief wieder zu ihr und gab ihr das Glas mit dem KiBa. Ich blickte mit einem ganz kleinen bisschen Stolz auf das Getränk. Es war kristallklar marmoriert. Keine Ahnung, wie ich das geschafft hatte.

Mindy nahm sofort einen Schluck und es schien ihr auch schon wieder etwas besser zu gehen. Allerdings war sie definitiv noch nicht in der Lage, sich Gedanken darüber zu machen, was wir beide als ersten Schritt gegen die Anschuldigungen von Professor König unternehmen würden. Also würde ich mir etwas einfallen lassen.

»Hey, Mindy, du hast bei deinem Essay nicht geschummelt. Das weiß ich und das können wir auch beweisen. Da in der Kiste, da liegen doch noch alle deine handgeschriebenen Notizen. Damit kannst du klar belegen, wie intensiv du recherchiert hast. Das wird wahrscheinlich schon genügen, um die Sache zu klären.«

»Sicher?«

»Ganz sicher!«

»Und mein Stipendium?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kommission auf die Eingabe eines einzelnen Professors reagiert. Das dürfen die doch gar nicht. Da stünde ja sonst Haus und Hof für Missbrauch offen. Nein, mit diesen unverschämten Drohungen bewegt sich dein Professor auf sehr, sehr dünnem Eis. Sein Verhalten grenzt an Nötigung. Und das war eben noch ziemlich nett von mir ausgedrückt. Er macht sich schlicht und ergreifend strafbar, wenn er so tief in dein Privatleben eindringt. Es hat ihn nicht zu interessieren, wer dir dein Studium bezahlt. Aber ... Professor König? Wer ist dieser Kerl überhaupt? Du hattest seinen Namen bisher noch nie erwähnt.«

»Er ist neu. Er hat die Reinhardt abgelöst. Die hat ganz kurzfristig eine super Stelle in Essen angeboten bekommen. Nur einen Tag später ist der König aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Von dem hatte bisher noch keiner von uns was gehört. Die anderen Professoren wohl auch nicht, aber die geben so etwas ja nicht zu.«

»Hmm. Dann ist der Kerl irgend so ein junger Hotshot, der seine Professur bekommen hat, ehe Google auf ihn aufmerksam werden konnte?«

»Nein. Das genaue Gegenteil. Professor König ist bereits um die Mitte sechzig. Aber das ist echt nicht das Problem, denn es ist der absolute Wahnsinn, was er alles weiß und wie lebendig er uns unterrichtet. Mit den modernsten Medien und Methoden.«

»Also ist er kein abgehobener Langweiler?«

»Das ist er definitiv nicht. Professor König hat echtes Charisma und er war vom ersten Augenblick an bei allen wirklich sehr beliebt, auch wenn wir so unseren Respekt vor ihm haben. Ich meine, er ist immer freundlich, aber er hat gleich klargestellt, dass man ihm nicht auf der Nase herumtanzen kann und dass er Leistung sehen will, die er aber fair bewertet – was er bis vor einer Stunde ja auch getan hat.«

»Dann war sein bösartiges Verhalten also nicht vorherzusehen?«

»Nein, das war es nicht. Gar nicht und ... und er hat es auch ganz leise gesagt, so dass es sonst niemand mitbekommen hat. Den Vorwurf mit dem Betrug und die anderen bösen Worte, meine ich.«

»Okay, wir schaffen das aus der Welt. Professor König überschreitet hier eindeutig seine Kompetenzen. Was hältst du davon, wenn wir einen Termin bei ihm ausmachen? Dann kannst du ihm deine Unterlagen zeigen und noch einmal in aller Ruhe mit ihm reden. Wenn wir ihm dabei eine Brücke bauen und die Sache von Anfang an als Missverständnis deklarieren, dann wird er mit etwas Glück wieder zurückrudern.«

»Sicher?«

»Na ja, falls er trotzdem weiter mit Konsequenzen drohen sollte, dann werde ich ihm freundlich aber bestimmt erklären, was er im Falle eines Betrugsversuches überhaupt tun darf und was nicht. Immerhin gilt auch hier die Unschuldsvermutung.«

»Danke.«

»Aber den Termin solltest du ausmachen. Sähe sonst blöd aus. Ruf am besten gleich in seinem Vorzimmer an und sei bitte penetrant. Wer weiß, wie lange es sonst dauert, bis wir vorbeischauen dürfen. Hast du seine Nummer?«

»Er hat das Büro von der Reinhardt übernommen. Wahrscheinlich hat er auch ihre Nummer behalten. Wenn nicht, frage ich mich bei der Zentrale durch.«

Mindy schien sich wieder beruhigt zu haben. Ich stand also auf, ging zurück zu meinem Schreibtisch, speicherte mein Dokument und loggte mich im Studentenbereich der Rhein-Main-University ein, um mir die ‘Allgemeine Studienordnung der Universität’ und die ‘Spezielle Studienordnung des Fachbereichs Geschichte’ herunterzuladen. Es würde zwar mit Sicherheit noch ein paar Tage dauern, bis wir einen Termin bekämen, aber ich wollte mich auf jeden Fall schon einmal vorbereiten.

Und so schlecht sah die Sache auch gar nicht aus. Zumindest bestand formell kein Zweifel daran, dass Professor König hier außerhalb seines Kompetenzbereiches handelte; und das würde ich, Anna Lichtner, ambitionierte Jurastudentin und angehende Staatsanwältin, dem Mann sehr sachlich unter die Nase reiben. Er hat das falsche Mädchen bedroht!

Während mein Notebook die Dateien herunterlud, ging ich zum Wasserkocher. Lesen, schreiben und Notizen machen ging bei mir am besten mit einer Tasse English Breakfast Tee – heiß und mit Milch und Zucker. Da konnte ich besser denken.

Ich wartete, bis das Wasser vor sich hin sprudelte. Dann übergoss ich die beiden Teebeutel. Aber als ich mir schon einmal die Zuckerwürfel und die Milchtüte aus dem Regal und aus dem Kühlschrank holen wollte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Mindy hatte gerade das Gespräch beendet und schaute ungläubig und immer nervöser werdend auf die Tastatur ihres Handys.

»Mindy? Was...?«

»Er hat gleich einen Termin für uns. Er möchte, dass wir sofort kommen und in zehn Minuten bei ihm sind.«

Zehn Minuten? Na klasse! Wir würden bereits mehr als 5 Minuten bis zu den Büros des Fachbereichs Geschichte brauchen. Damit blieb für das Ausdrucken der Studienordnung keine Zeit mehr. Geschweige denn dafür, halbwegs vorbereitet in dieses wichtige Gespräch zu gehen. Also stand es bereits vor Beginn der Unterhaltung 1:0 für Professor König.

ALLE REGISTER

....

Meine Augen huschten über meinen Schreibtisch. Ich besaß ein 15 Zoll Notebook. Das könnte ich jetzt abstöpseln und mitnehmen, aber ich hasste es, wenn ich bei einem wichtigen Gespräch mit meinem Gegenüber reden und dabei gleichzeitig auf dem Bildschirm nach Informationen suchen musste. Da verlor ich viel zu leicht den Fokus und gab meinem Gesprächspartner auch noch eine wasserdichte Entschuldigung, mir hin und wieder einfach nicht mehr folgen zu können.

Aber egal. Das war die einzige Möglichkeit, die Studienordnung mitzunehmen. Denn die brauchte ich, wenn ich in dem Gespräch mit Professor König sachlich und auf den Punkt kommend argumentieren wollte. Immerhin ging es hier um Mindys Zukunft, und die durfte ich nicht einer guten Vermutung oder gar einem falsch zitierten Paragraphen überlassen.

Gerade als ich das Stromkabel aus dem Gehäuse meines Notebooks herausziehen wollte, hatte ich eine Idee. Ich lief zu meinem Nachttisch, schnappte mir mein Smartphone und wählte Svens Nummer. Er ging zum Glück gleich ran.

»Hallo Sven, hier ist Anna. Kannst du Mindy und mir einen großen Gefallen tun? Es ist wirklich sehr wichtig.«

»Und sehr kurzfristig?« Sven ahnte wohl, was auf ihn zukommen würde.

»Ja«, gab ich zu. »Ich meine, hast du vielleicht einen Tablet-PC, den du mir leihen könntest? Ich bräuchte ihn auch nicht lange. Nur für eine halbe Stunde, oder so. Für einen Termin bei einem von Mindys Professoren.«

»Ja, natürlich. Aber du hast wahrscheinlich noch etwas anderes auf dem Herzen, oder?«

»Ja. Könntest du uns vielleicht noch die ‘Allgemeine Studienordnung der RMU’ draufladen; und wenn es geht, auch die ‘Spezielle Studienordnung des Fachbereichs Geschichte’? Aber nicht nur die Zusammenfassungen, sondern die vollständigen Texte.«

»Wenn du so schwer bewaffnet zu dem Termin gehen musst, dann hört sich das nicht nach einem Freundschaftsbesuch an.«

»Nein. Das wird auch keiner. Der Kerl hat sich Mindy gegenüber ziemlich danebenbenommen.«

»Das tut mir leid. Ich helfe gerne. Ich fahre gerade Emilia hoch und lade auch gleich die Dokumente drauf. Das dauert keine zwei Minuten. Ihr könnt sofort vorbeikommen. Kann ich sonst noch etwas für euch tun?«

»Nein. Wirklich vielen lieben Dank, Sven. Auch von Mindy. Bis gleich.«

»Bis gleich.«

Ich legte wieder auf. Ein Teil meines Bauchgefühls sagte mir, dass es richtig war, Sven anzurufen. Aber mir war auch bewusst, dass ich gerade ziemlich egoistisch und vielleicht auch verantwortungslos handelte. Denn als Natalie und ich Sven das letzte Mal um Hilfe gebeten hatten, hatte ihn das seine experimentelle WLAN-Kamera gekostet. Und nachdem was dann passiert war, hat er mich niemals darauf angesprochen.

»Ich ... ich bin soweit«, riss mich Mindy aus meinen Gedanken. Sie hatte ihre gesammelten Unterlagen und Notizen, mit denen wir Professor König beweisen wollten, dass sie bei dem Essay nicht betrogen hatte, in ihre Hello-Kitty-Handtasche gepackt, die, wie so vieles, was Mindy besaß, normalerweise ein wesentlich jüngeres Zielpublikum hatte. Aber Mindy liebte all diese Sachen und letzten Endes fand ich, dass sie damit auf ihre ganz eigene Art und Weise ein unglaubliches Selbstbewusstsein ausstrahlte.

»Gut, dann lass uns gehen«, sagte ich und wir verließen unser Zimmer im Studentenwohnheim der Rhein-Main-University.

Hier stimmt doch etwas nicht, dachte ich, als ich die Tür zuzog. Machtspiele, Existenzangst, Verunsicherung und Zeitdruck. Da zieht jemand alle Register der psychologischen Kriegsführung.. Und der ganze Aufwand nur wegen eines Essays?

Aber gut. Warum sollte ich vor einem normalen Professor Angst haben? Ich meine, egal wie labil das jetzige Gleichgewicht auch war und egal was es mich gekostet hatte, ich hatte die letzten Monate über nicht nur mit einer, sondern gleich mit zwei Vampirinnen ein Unentschieden und eine Art von respektvollem Waffenstillstand aushandeln können. Eine dieser beiden Vampirinnen war sogar eine über vierhundert Jahre alte eiskalte Killerin, die aus Freude tötete und mit deren Blutlinie sich mein Schicksal bereits lange vor meiner Geburt verflochten hatte. Die andere war Natalie, die einmal meine beste Freundin gewesen war und die mich jetzt mehr aus Verzweiflung als aus Rache in ihre Welt ziehen wollte.

Es fiel mir nicht leicht, an diese Ereignisse zu denken, und Mindy war die einzige Person, mit der ich darüber reden konnte. Aber im Moment gab mir meine jüngste Vergangenheit zumindest die Zuversicht, dass ich letzten Endes kein Problem damit haben sollte, vernünftig mit jemandem zu reden, der Geschichte nur unterrichtete. Der sie nicht erlebt hatte und dessen Leben noch nie von den Mächten der Finsternis bedroht worden war.

Oder?

DIE BALANCE DROHENDER GEFAHR

....

Wir liefen erst einmal ein Stockwerk die Treppe herunter, in den rechten Teil des Wohnheims. Sven wartete bereits vor seiner Zimmertür.

»Okay, das hier ist Emilia«, sagte er, als er mir stolz sein Tablet gab. Ich musste grinsen und konnte nicht verhindern, auf einmal an drachenreitende Terminatoren zu denken. »Die beiden Studienordnungen habe ich draufgeladen und auch schon geöffnet. Du kannst mit dem Taskmanager einfach zwischen ihnen hin- und herschalten.«

»Danke. Wann brauchst du es ... wann brauchst du sie wieder?«

»Frühestens heute Abend. Du kannst dir wirklich Zeit lassen.«

»Okay, das reicht auf jeden Fall.«

Ich bedankte mich noch einmal bei Sven und dann machten sich Mindy und ich gleich auf den Weg. Denn über eine Sache war ich mir voll und ganz im Klaren. Die Sache mit dem ‘Zeit lassen’, die hatte die letzten Wochen über nie so richtig funktioniert.

....

Fünf Minuten und eine Campusüberquerung später klopften wir an die Tür von Professor Königs Vorzimmer. Eine Frau Mitte 50 öffnete uns und bat uns herein. Sie meinte, dass der Professor uns bereits erwarten würde.

Wir gingen in den Raum und ich hörte, wie hinter uns die Tür mit einem ‘Klack’ geschlossen wurde. Allerdings stand die Tür zu Professor Königs Arbeitszimmer offen. Dort sah ich einen Mann vor seinem Schreibtisch stehen und Akten sortieren. Die Beschreibung, die mir Mindy auf dem Weg hierher gegeben hatte, passte sehr gut: Professor König war um die Mitte sechzig, sah sehr gut durchtrainiert aus, war vielleicht 1,73 m groß, hatte eine Glatze und braunleuchtende Augen. Die blickten überraschend freundlich und entspannt drein, verschwiegen aber nicht, dass sie garantiert zu eiskalten Dolchen werden würden, wenn man ihnen dumm daherkäme.

Schließlich legte Professor König die letzte Akte auf seinen Schreibtisch, drehte sich zu uns um und bat uns mit einer unglaublich charismatisch klingenden und wohl modulierten Stimme einladend in sein Büro. Während wir hereingingen, überlegte ich kurz, was dort in seiner Aussprache mitschwang. Ja, es war ein leichter, ein praktisch nicht wahrnehmbarer Akzent zu hören. Britisch? Indisch? Ich war mir nicht sicher. Trotzdem merkte ich, dass ich wahrscheinlich gerade den Fehler machte, mich bei ihm irgendwie geborgen zu fühlen.

»Frau Lichtner. Frau Monard. Bitte, nehmen Sie doch Platz«, bat er uns mit einer harmonisch legierten Verbindung aus Einladung und subtilem Befehl in sein Zimmer. Er zeigte dabei zu einem Besprechungstisch an der linken Wandseite des Raums. Und wow, auf dem Tisch standen sogar Getränke. Ein KiBa, eine Tasse English Breakfast Tee mit Milch und Zucker und eine Tasse mit einer vom Geruch her besonders rauen Sorte von Earl Grey Tee.

Nun gut, dann wissen wir zumindest schon einmal, wer wo sitzt, dachte ich.

Während wir uns setzten, beobachtete ich Professor König. Er ging erst noch einmal in sein Vorzimmer und sprach dort mit seiner Assistentin. Der Ton war sehr sachlich, aber auch vertrauensvoll. Zumindest ein Indiz dafür, dass die beiden einen professionellen Respekt füreinander hatten und er kein Psychopath war, der seine Mitarbeiter anschrie. So Deppen gibt es nämlich.

»Sie können sich dann den Nachmittag freinehmen«, sagte Professor König zu seiner Assistentin und wieder fiel mir auf, dass da ein Hauch von Befehl in seiner Stimme mitschwang. Seine Assistentin verstand, packte ihre Sachen zusammen und fuhr ihren PC herunter. Als sie noch korrekt ihre Zeit in den Kalender eintragen wollte, schüttelte Professor König den Kopf und meinte, dass sie das auch noch morgen früh erledigen könnte. Auch das verstand sie.

Professor König reichte seiner Assistentin die Jacke und ich nutzte die paar Sekunden, die ich noch hatte, um mich weiter in seinem Büro umzusehen. Der Raum war in einem angenehm anthrazitfarbenen Ton mit bronzefarbenen Akzenten gehalten und es roch alles noch leicht nach frischer Farbe. Also war die Optik wohl seine Idee gewesen. Gut, das steht jedem Professor der Rhein-Main-University zu.

Ich hörte ein Surren. Die Fensterjalousie wurde heruntergelassen, aber der Raum wurde trotzdem weiterhin mit sanfter Gleichmäßigkeit von Halogenlampen erhellt. Niemand von uns wurde direkt durch ein Licht geblendet. Hier schien Professor König ein Gespür für Offenheit zu haben.

Schließlich kam er zurück in sein Büro. Er setzte sich mit professionellem Abstand zu uns an den Tisch und ließ gut gelaunt zwei Stück Kandiszucker in seinen Tee gleiten, die dort knackend verschwanden. Dann zeigte er einladend auf die Getränke vor uns und schaute mich erwartungsvoll an. »Sie haben um den Termin gebeten«, sagte er schmunzelnd.

Okay, das war mein Signal. Meine Chance, mein hoffentlich zukünftiges Selbst zum Vorschein zu bringen und die wohl modulierte Ruhe in Professor Königs Stimme nicht als Herausforderung oder gar als Drohung, sondern als Motivation zu sehen, dafür zu sorgen, dass hier in zehn Minuten drei Gewinner den Raum verlassen würden.

Wie schon so oft in diesen Situationen war ich innerlich bereits in Tränen ausgebrochen, aber ich wusste, dass ich es auch diesmal wieder schaffen würde, die Kontrolle über meine Stimme zu behalten. Das Emotionale hätte Zeit bis nachher, wenn ich mich bei Bedarf in aller Ruhe in meinem Zimmer ausheulen könnte.

»Herr Professor König, vielen Dank dafür, dass Sie so kurzfristig Zeit für uns haben«, begann ich also. »Ich möchte mit Ihnen gerne über Ihren Verdacht reden, dass sich Frau Monard bei ihrem letzten Essay des Plagiarismus schuldig gemacht hätte.«

»Und dieser Verdacht, Frau Lichtner, der ist ... was?«

»Der ist vollkommen unbegründet, Herr Professor. Frau Monard und ich teilen uns seit mehreren Monaten ein Zimmer im Studentenwohnheim und ich kann Ihnen versichern – sehr gerne auch absolut formell an Eides statt – dass Frau Monard ihr Essay selbstständig recherchiert und geschrieben hat. Selbstverständlich habe ich es Korrektur gelesen und soweit ich das konnte, die Referenzen überprüft. Aber diese Art der Unterstützung ist nicht verboten. Sie wird sogar empfohlen.«

»Aber warum soll ich Ihnen das glauben, Frau Lichtner? Immerhin werden Sie später einmal zu den Menschen gehören, die sich für ein originelles Interpretieren der Realität teuer bezahlen lassen – und darin sind Sie ja anscheinend schon jetzt ziemlich bewandert.«

Ich ignorierte die Frechheit. »Das dürfen Sie natürlich selbst entscheiden, Herr Professor, aber um Ihre Zweifel an meiner Aussage gleich auszuräumen, haben wir Ihnen als Beleg alle Unterlagen und auch alle handschriftlichen Notizen mitgebracht, mit deren Hilfe Frau Monard ihr Essay recherchiert und geschrieben hat. Sie ist die alleinige Autorin. Sie haben wirklich keinen Grund, das anzuzweifeln.«

Ich reichte Professor König die Mappe, die Mindy noch schnell zusammengestellt hatte. Er öffnete sie und sah sich ihren Inhalt überraschend gewissenhaft an.

»Das ist sehr beeindruckend, aber ich muss Ihnen sicherlich nicht erklären, dass man auch Geklautes noch einmal schnell nachträglich auf einen Zettel schmieren kann. Also, Frau Lichtner, was machen Sie, wenn ich Ihnen nun sage, dass Sie mich nicht überzeugt haben und dass ich nachhaltig regelnde Maßnahmen weiterhin für absolut gerechtfertigt halte?«

»Wenn Sie das so sehen, dann müssen wir jetzt über Ihre Befugnisse als Professor der Rhein-Main-University reden«, sagte ich und bereitete mich auf die nächste Runde vor.

»Diese Befugnisse sind sehr weitreichend.«

»Nein. In diesem Fall sind sie das nicht. Zumindest noch nicht. Sowohl die ‘Allgemeine Studienordnung der Universität’ als auch die ‘Spezielle Studienordnung des Fachbereichs Geschichte’ sehen selbstverständlich vor, dass Sie die Arbeit eines Studenten bei einem einwandfrei bewiesenen Betrugsversuch mit einem ‘X’ bewerten und dies auch in der Kursakte festhalten können. Allerdings gibt es als Memorandum die Empfehlung, den Studenten bei einem Erstvergehen ein zweites Thema ausarbeiten zu lassen und dies dann neutral zu bewerten. Das sind die Regeln. Das ist Ihr Spielraum. Selbst wenn Frau Monard betrogen hätte, dürften Sie länger wirkende Maßnahmen gar nicht anwenden. Außerdem – und das ist jetzt eine inoffizielle Anmerkung, Herr Professor – muss ich Sie darauf hinweisen, dass Sie ganz klar Grenzen überschreiten würden, falls Sie jemals damit drohen sollten, sich in Mindys Stipendium einzumischen und darauf einen negativen Einfluss üben zu wollen.«

»Sie weisen mich inoffiziell darauf hin?«

»Ja, natürlich. Ich möchte nur im Vorfeld verhindern, dass Sie eines Tages vielleicht einmal solch einen schwer zu verzeihenden Fehler begehen.«

Professor König schwieg. Er sah mich an. Er musterte mich. Gerade jetzt, als ich mich mit meiner Drohung an den Rand des Machbaren bewegt hatte, tat er mir nicht den Gefallen, etwas zu erwidern. Lautlos machte er mir klar, dass ich weiterhin in der Bringschuld stand.

Ich blickte kurz zu Mindy. Sie nahm gerade leicht verloren einen Schluck von ihrem KiBa. Sie hatte seit dem Beginn des Gesprächs noch nichts gesagt und war von Professor König bisher auch nicht wirklich beachtet worden. Mich schien er im Moment auch zu ignorieren. Vielmehr sah er einladend die gefüllte Tasse Tee an, die vor mir auf dem Tisch stand.

Okay, okay. Verstanden. Ich würde jetzt auch etwas trinken. Das hätte etwas von einem Friedensangebot und würde mir zusätzlich einen netten Grund geben, Professor König auch mal einen Moment warten zu lassen. Mit Tee im Mund kann man eben nicht sonderlich gut argumentieren. Das versteht jeder.

Also griff ich zu der Tasse, führte sie gemütlich zu meinen Lippen und nahm einen Schluck. Das tat gut. English Breakfast mit Milch und Zucker. Perfekt. Genau nach meinem Geschmack und ... und man war ich die letzten 15 Minuten über bescheuert gewesen!

Ich schluckte, was auch immer ich da in meinem Mund hatte, emotionslos herunter und stellte die Tasse mit einen hoffentlich wohl dosierten ‘Klack’ wieder ab. Etwas begann, auch in Mindy zu arbeiten, denn sie fror ebenfalls ihre Bewegung ein und verabschiedete sich von ihrem Getränk. Nur Professor König blieb ganz entspannt. Er genoss einfach nur seinen Earl Grey Tee und wartete dabei gemütlich auf meinen nächsten Zug.

»Es geht in dieser Besprechung gar nicht um Mindys Essay, Herr Professor. Oder? Sofern Sie überhaupt ein Professor für Geschichte sind.«

»Sie haben recht, Frau Lichtner«, antwortete Professor König. »Sie haben recht damit, mir gegenüber misstrauisch zu sein; und Sie haben recht damit, dass das Essay von Frau Monard niemals Gegenstand dieser Besprechung war. Das ist nämlich eine ganz hervorragende Arbeit. Von der Struktur, vom Spannungsaufbau, vom Inhalt und von der Tiefe der Argumentation her ein glattes A. Nur ist es vielleicht auch etwas zu sachlich gehalten, Frau Monard, weshalb ich mir erlaubt habe, es mit einem A- zu bewerten. Mir fehlt da die gewisse Note der feurigen Emotion in Ihrem Text. Das müssen Sie noch in den Griff bekommen, wenn Sie später einmal einen Haufen von Schülern erfolgreich motivieren wollen, Dinge über Leute zu lernen, die schon seit vielen hundert Jahren tot sind – oder die zumindest möchten, dass wir das von ihnen glauben.«

Schließlich überreichte er Mindy ihr Essay, das er bisher zurückgehalten hatte. Dann galt seine volle Aufmerksamkeit wieder mir.

»Worum geht es hier wirklich, Herr Professor?«

»Es geht um Sie, Frau Lichtner. Wir müssen uns dringend unterhalten, aber vorher wollte, nein, aber vorher musste ich mir noch ein Bild darüber machen, wie Sie reagieren, wenn man Sie nicht nur unter Stress und Zeitdruck setzt, sondern auch noch damit droht, die Zukunft von jemandem zu zerstören, der Ihnen sehr nahesteht. Es ist wirklich von Bedeutung für mich, dass ich einschätzen kann, wie Sie bei drohender Gefahr die Balance zwischen Emotion und Sachlichkeit halten.«

»Und?«

»Ich bin beeindruckt.«

»Ich nicht unbedingt, Herr König.«

»Oh, das war subtil.« Professor König grinste. Aber es war kein bösartiges Grinsen. In seinem Gesicht war jetzt vielmehr so etwas wie verschmitzte Entspannung zu lesen. »Natürlich trügt Sie Ihr Instinkt auch hier nicht. Ich bin tatsächlich kein Professor für Geschichte. Ich wurde niemals berufen und ich habe das Fach auch nicht studiert. Allerdings möchte ich betonen, dass Sie sich keinerlei Sorgen um meine pädagogische Qualifikation und schon gar nicht um mein Fachwissen machen müssen. Das kann Frau Monard sicherlich bestätigen«, beendete er seinen Satz und schaute Mindy herausfordernd an.

»Ja, Sie sind ganz gut«, sagte Mindy sachlich und mit einem Hauch von Langeweile in ihrer Stimme. Wow! Die alte Mindy hätte wahrscheinlich nur schüchtern genickt. Aber dieser Volltreffer, der hatte gesessen.

»Ganz gut«, wiederholte Professor König. »Das habe ich wahrscheinlich verdient, aber kommen wir zum Thema. Die Fairness gebietet, dass ich Sie beide nicht länger im Unwissen lasse. Frau Lichtner, ich weiß, dass sich vor wenigen Monaten Ihr Weg mit dem der Vampirin Valery gekreuzt hat und...«

Valery! Woher... ? Nein, egal! Ich holte tief Luft. Jetzt waren nur noch zwei Dinge wichtig. Weiter zu atmen und alles zu leugnen. Mein nächster Satz musste sitzen – und dann nichts wie raus hier!

VERLORENE FREUNDSCHAFT

....

»Was? Vampire? Nein, Herr Professor«, antwortete ich und gab mir Mühe, leicht amüsiert zu klingen. »Mindy ist die Historikerin hier. Ich bin Jurastudentin, wie Sie eben vielleicht bemerkt haben. Ich habe auch nie eine Vorlesung über mythologische Geschichte besucht, in der diese ausgedachten Fabelwesen bespro-«

»Frau Lichtner«, unterbrach mich Professor König. Er blieb super freundlich, signalisierte mir aber, dass ich keinen Spielraum mehr hatte. »Nach all dem, was ich in Ihrer Studentenakte über Sie gelesen und gerade eben beobachtet habe, verabscheuen Sie billige Spielchen mindestens genauso wie ich. Beleidigen Sie deshalb bitte nicht unser beider Intelligenz dadurch, dass Sie mir jetzt widersprechen oder vielleicht sogar noch mit dem Lügen beginnen. Das wäre wirklich nicht Ihr Niveau.«

»Okay.«

»Vielen Dank. Ich verlange im Moment auch nicht mehr von Ihnen, als zehn Minuten Ihrer Aufmerksamkeit. Aber zurück zum Thema. Frau Lichtner, auch wenn ich bei Weitem nicht alle Details Ihrer Begegnung mit Valery kenne, so denke ich doch, dass es eine sehr persönliche Verbindung zwischen Ihnen und der Vampirin gibt.«

Ich zuckte zusammen. Das Band zwischen Valery und mir war nichts, was ich einen praktisch Fremden über mich wissen lassen durfte. So ein Geständnis könnte sehr schnell mit einer Einweisung in die Psychiatrie oder vielleicht sogar mit einem Holzpflock im Herzen enden.

»Nein, bitte. Ihr sorgenvoller Blick ist unbegründet«, versuchte Professor König mich zu beruhigen. »Solch eine Verbindung mit einem Vampir ist nichts Ungewöhnliches. Das gilt im Besonderen, wenn wir von Valery reden. Sie hat nämlich die sehr seltene Fähigkeit, Träume zu induzieren. Das ist ihr Trick. Damit fängt sie ihre Beute. Sie lässt einen jungen Mann mehrmals einen Traum durchleben, in dem sie die Rolle der Jungfrau in Not einnimmt, die vor dem sicheren Tod gerettet werden muss. Natürlich sorgt sie dafür, dass es in dem Traum niemals zu einem Happy End kommt. Das erhöht den moralischen Druck auf den armen Kerl. Dann, nach ein paar Tagen, stellt Valery genau dieses Szenario an einem einsamen Ort nach; und wenn ihr Opfer nun versucht, ihr zu Hilfe zu eilen, ist es zu spät für ihn. Er sitzt in der Falle. Anschließend lässt Valery die Sache wie einen Unfall oder wie einen Selbstmord aussehen und verschwindet für ein paar Jahre aus der Gegend. Sie geht dabei immer überaus präzise vor und nimmt keine Gefangenen. Sie hinterlässt keine Spuren. Allerdings glaube ich, Frau Lichtner, dass Sie Valery da einen Strich durch die Rechnung machen. Sie haben mehr erlebt, als einfach nur einen Traum von ihr zu empfangen. Sie können die Präsenz der Vampirin spüren, oder?«

»Ja, das kann ich«, antwortete ich ehrlich. Lügen machte keinen Sinn mehr.

»Und damit werden Sie für die Vampirin zu einer Gefahr. Zu einem Risiko, dass sie nicht dulden kann. Das hat sie bereits klargestellt und deshalb Ihre frühere Mitbewohnerin Natalie Roth ermordet. Das tut mir sehr leid.«

»Das war eine Warnung. Nur ist es nicht fair, dass es Natalie getroffen hat.«

»Das ist es ganz sicher nicht. Aber lassen Sie sich bitte niemals einreden, dass Sie eine Mitschuld an Natalies Tod hätten. Die haben Sie nicht. Das war Valerys Tat. Nicht Ihre. Trotzdem glaube ich, dass da noch mehr dahintersteckt. Valery kennt normalerweise keine Gnade, aber sie hat Sie verschont. Sie sind noch am Leben. Deshalb denke ich, dass da etwas in Ihnen schlummert, das Valery respektiert und das Valery bisher davon abgehalten hat, auch Sie zu töten.«

»Wer sind Sie, Herr Professor? Oder sollte ich vielleicht besser fragen, was Sie sind?«

»Ich. Ich bin ein ganz normaler Mensch, Frau Lichtner. So wie Frau Monard und Sie, oder, nun ja, je nachdem was sonst noch in Ihnen steckt, vielleicht auch nur wie Frau Monard. Aber keine Angst und zurück zu Ihrer berechtigten Frage nach meiner beruflichen Tätigkeit. Die ist nämlich tatsächlich etwas ungewöhnlich. Ich arbeite für eine internationale Organisation, die sich DIE SCHULE nennt.«

»Die Schule?«

»Ja. Das Gebäude, von dem aus wir operieren, liegt in der Nähe von London. Es war gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Zuhause einer recht progressiven Eliteschule für talentierte junge Damen, deren Eltern der damals nicht gerade alltäglichen Überzeugung gewesen waren, dass ihre Töchter später einmal nicht nur wissen sollten, wie man einen Haushalt führt, schön singt und Bilder malt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Anwesen von zwei Lehrerinnen – eine davon war übrigens eine ehemalige Schülerin – in das umgewandelt, was es heute immer noch ist. Es gab dort nämlich bereits im normalen Schulbetrieb den einen oder anderen recht interessanten Zwischenfall.«

»Das hört sich wirklich nach einer sehr besonderen Schule an. Aber Sie sind sicherlich nicht deren Hausmeister.«

Professor König lachte. »Nein, es wäre ziemlich anmaßend von mir, mich mit ihm messen zu wollen. Ich bin – wenn ich mich jetzt einmal etwas clichéhaft ausdrücken darf, Frau Lichtner – ein Geheimagent. Allerdings keiner, der sich über fremde Nationen Gedanken machen muss. Ich habe mich auf Wesen der Finsternis spezialisiert. Auf Wesen wie Valery.«

»Dann arbeiten Sie im Auftrag der katholischen Kirche? Des Vatikans?«

»Nein. Wir sind dort zwar einem handverlesenen Personenkreis bekannt und tauschen auch immer mal wieder Wissen und Informationen aus, aber wir operieren absolut unabhängig und achten bei der Auswahl unserer Mitarbeiter darauf, uns an keine bestimmte Glaubensrichtung zu binden. Wir setzen bewusst auf harmonische Vielfalt. Das ist eine schöne Sache. Es gab da zum Beispiel einmal einen Dibbuk, der es trotz aller Bemühungen nicht geschafft hat, Zwietracht zwischen einem meiner jüdischen und einem meiner muslimischen Kollegen zu säen. Sie hätten mal sein verdutztes Gesicht sehen sollen. Wir haben den Kerl übrigens am Leben gelassen. Er hat seine Lektion gelernt und sich von dem Tag an benommen.«

»Also gibt es keine Regierung, die Ihnen sagt, was Sie zu tun und was Sie zu lassen haben?«

»Nein, die gibt es nicht. Nur eine sehr weise Frau, der vor langer Zeit eine zweite Chance gegeben wurde.«

Professor König machte eine Pause. Ich verstand. Quid pro quo. Jetzt war ich an der Reihe. Meine Hand fuhr nach unten und hob die Tasse an. Ich nahm noch einen Schluck von dem Tee. Diesmal nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch als ein Zeichen eines ersten, eines sehr, sehr vorsichtigen Vertrauens. Denn eine andere Option hatte ich im Moment nicht.

»Vor fast 100 Jahren ermordete Valery einen Mann, den sie wie von Ihnen beschrieben auf dem Dach einer Kirche in Dornbach im Taunus in die Falle gelockt hatte. Dabei kam es zu einem kurzen Kampf, bei dem der Mann es geschafft hatte, Valery leicht zu verletzen. Die Wunde blutete und durch einen schrecklichen Zufall musste meine Urgroßmutter etwas von diesem Blut schlucken. Sie war damals noch ein Säugling. Das ist meine Geschichte. Deshalb trage ich etwas von Valery in mir.«

»Ich verstehe. Das erklärt einiges. Denken Sie denn, dass Sie die einzige in Ihrer Familie sind, die Valery spüren kann?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Großmutter konnte das wohl auch, allerdings sind sich die beiden nur einmal kurz und ohne jegliche Konsequenzen in den USA über den Weg gelaufen. Aber die ... die Reichweite der Verbindung, die ich mit Valery habe, die ist nicht sehr groß. Ich bekomme erst mit, dass Valery in der Nähe ist, wenn sie sich mir vielleicht drei bis fünf Kilometer genähert hat. Vorher nicht.«

»Das ist keine große Marge, wenn man es mit jemandem wie Valery zu tun hat. Aber wie sind Sie auf all das gekommen?«

»Die Geschichte von dem Mann, der von Valery in eine Falle gelockt und ermordet worden war, die hatte ich ständig geträumt. Damit fing alles an. Ich hielt das nicht mehr aus und nachdem ich durch Zufall herausgefunden hatte, dass es die Kirche aus meinem Traum tatsächlich gibt und sie hier in der Nähe in Dornbach im Taunus steht, bin ich eben dorthin gefahren und habe vor Ort mit meinen Nachforschungen begonnen. Erst dadurch habe ich Valery auf mich aufmerksam gemacht. Deshalb hat sie Natalie...«

Professor König nickte. Mir war klar, dass ich ihm nicht verschweigen konnte, dass Natalie jetzt eine Vampirin war. Wahrscheinlich war das ohnehin keine Neuigkeit für ihn.

»Aber ich weiß wirklich nicht, wo sich Natalie gerade aufhält, Herr Professor. Und Sie müssen verstehen, dass ich Natalie nicht zum Thema machen kann. Bitte erwarten Sie hier keine Hilfe von mir.«

»Darum geht es mir auch gar nicht, Frau Lichtner. Hier haben Sie nichts zu befürchten. Ich habe Natalie beobachtet. Es ist wirklich bewundernswert, wie sehr Sie sich unter Kontrolle hat. So etwas kommt nicht oft vor. Meiner Kenntnis nach hat Natalie bisher noch keinen Menschen angegriffen und die Sache mit den gestohlenen Blutkonserven ist zwar nicht schön, aber immer noch die weitaus akzeptablere Lösung.«

Natalie hat bisher noch keinen Menschen angegriffen, wiederholte mein Unterbewusstsein und machte mir klar, was das bedeutete. Nur konnte ich leider nicht verhindern, dass meine Hand reflexartig an die Stelle meines Halses fuhr, an der mich Natalie vor ein paar Wochen gebissen hatte. Eine ganz kleine Narbe war mir als Erinnerung an den Wandel meiner Freundin geblieben. Zwei kleine helle Punkte; und natürlich entgingen die nicht der Aufmerksamkeit von Professor König.

»Die sieht wirklich nur ein geschultes Auge und die werden auch bald wieder vollständig verschwunden sein. Es liegt in der Natur von Vampiren, keine Spuren zu hinterlassen. Und da dieses Versehen mit Sicherheit mehr als 72 Stunden zurückliegt, haben Sie nichts mehr zu befürchten. Natalie ebenfalls nicht. Das verspreche ich Ihnen. Jeder von uns macht mal Unfug. Ihre Freundin ist nicht der Gegenstand dieses Treffens.«

»Dann wären wir jetzt wohl an dem Punkt angelangt, an dem Sie mir sagen, worum es hier wirklich geht. Was genau Sie von Mindy und mir wollen.«

»Natürlich«, antwortete Professor König und ich bemerkte, dass da auf einmal ein Hauch von Melancholie und Traurigkeit in seiner Stimme mitschwang. Was auch immer er gleich enthüllen würde, es würde sehr persönlich werden.

Professor König griff in die Tasche seines Sakkos, das über seinem Stuhl hing. Er zog eine kleine Brieftasche heraus. Er öffnete sie und legte einen Dienstausweis in der Größe einer Kreditkarte auf den Tisch. Es war ein garantiert gefälschter Presseausweis, auf dessen Passbild ich einen Mann von vielleicht Mitte 40 erkennen konnte. Ich hatte ihn bisher noch nie gesehen, aber ich ahnte, dass ich gleich mehr über ihn erfahren würde, als mir lieb war.

»Es geht um etwas, Frau Lichtner, das uns beide verbindet. Es geht um eine verlorene Freundschaft. Sie müssen wissen, dass wir in der Schule immer in Zweierteams arbeiten. In der Regel besteht ein Team aus einem jüngeren und einem älteren Kollegen. Das hier ist mein ehemaliger Partner. Nicholas. Ich habe ihn vor 20 Jahren ausgebildet und seitdem waren wir ein tolles Team.«

»Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm.«

»Ja. Es stand ein Rollentausch an. Für mich war die Zeit gekommen, mich zurückzuziehen. In den Ruhestand zu gehen. Mich mit etwas Glück auf einer schönen Insel niederzulassen. Und für Nicholas war die Zeit gekommen, vorzurücken. Selbst die Verantwortung für einen jungen Agenten zu übernehmen.«

»Aber dann wurde er ... nein, schlimmer. Er ist übergelaufen, oder?«