Tod im Piemont - Trüffel, Nougat und Barolo - Anna Merati - E-Book

Tod im Piemont - Trüffel, Nougat und Barolo E-Book

Anna Merati

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Beschreibung

Sofia Dalmasso betreibt ein kleines Café in einem Bergdorf unweit des Lago Maggiore. Während die einen wegen ihres Risottos bei ihr einkehren, kommen die anderen, um sich die Zukunft voraussagen zu lassen. Denn Sofia hat von ihrer Großmutter das Kaffeesatzlesen gelernt. Als eines Tages ein Fremder ihr Café betritt und auf ihrer Kunst besteht, sieht sie zum ersten Mal das Symbol für den Tod. Am Tag darauf wird der Mann leblos aufgefunden. Von Schuldgefühlen geplagt, beginnt Sofia sich im Dorf umzuhören.

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Anna Merati

Tod im Piemont – Trüffel, Nougat und Barolo

Kriminalroman

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © e55evu / istockphoto

ISBN 978-3-7349-3076-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Corazzo, Piemont, 06. Oktober 2001

Als der Bauer vor seiner Tür stand, atemlos und mit Furcht in den Augen, zögerte Tommaso keine Sekunde: Ein Unfall, auf der Landstraße kurz vor Corazzo. Ein Junge, ein junger Mann … keuchend hielt der Bauer sich die Seiten, und Tommaso sprintete los. Keine fünfhundert Meter, hatte der Bauer gesagt, gleich am Ortseingang. Eleonora hatte den Notruf gewählt, telefonierte jetzt sicher mit den Kollegen, während Tommaso rannte. Er musste nur schnell sein. Corazzo war nicht groß, lächerlich klein eigentlich, und doch kamen ihm diese fünfhundert Meter vor wie eine Ewigkeit. An Claras Pension vorbei, der ausladenden Wiese dahinter, auf der ein Esel graste, jetzt musste es gleich so weit sein. Tommaso keuchte.

Es war nicht der erste Autounfall, zu dem er gerufen wurde. Seit fast zwanzig Jahren war er nun bei den Carabinieri und hatte trotz aller Tragödien seine Arbeit immer gern gemacht. Doch heute … heute hasste er nichts mehr als diesen Job. Dort! Kurz hinter dem Ortseingang, wie der Bauer gesagt hatte, lag ein Roller, knallrot, zerschmettert neben der Straße. Dahinter musste er sein. Oddio! Er kannte diesen Roller! Sah ihn beinahe jeden Tag im Dorf. Antonio hatte schon mehr als einmal eine Verwarnung von ihm erhalten. Den jungen Mann, der reglos im Gras lag, erkannte Tommaso an den blonden Locken auch im trüben Morgengrauen schon von Weitem.

»Lass ihn überlebt haben, bitte, lass ihn überlebt haben«, schickte Tommaso ein stummes Gebet in den Himmel. Wie sollte er das den Eltern beibringen?

Er beschleunigte seine Schritte, das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Kühl war es um diese Uhrzeit, er spürte die kalte Luft in den Lungen. Zu viel Blut, dachte er, da war zu viel Blut. Tommaso rannte jetzt, stürzte regelrecht auf den Jungen zu. Kniete sich hin, umfasste vorsichtig seinen Kopf, strich Antonio die blonden Locken aus der Stirn und stöhnte auf, als er die große Wunde an der Schläfe entdeckte. Das war zu viel Blut. Tommaso tastete nach einem Puls, fand keinen. Kalt, er war so kalt wie der junge Morgen. Sein T-Shirt roch noch schwach nach Waschmittel und Bier und Blut.

Tommaso suchte nach dem Brustbein, begann mit der Herzmassage, weigerte sich, an die Fruchtlosigkeit seines Unterfangens zu glauben. Der Krankenwagen müsste bald da sein, Eleonora hatte schon mit dem Notruf gesprochen, als er aus der Tür gestürzt war.

Antonio, dachte er. Was hatte er mitten in der Nacht hier verloren? Und welcher gottverdammte Bastardo hatte den Jungen angefahren und in der Einsamkeit der Nacht einfach verbluten lassen?

Herzdruckmassage – Mund zu Mund – Herzdruckmassage – Mund zu Mund – Herzdruckmassage – Wo blieb der Krankenwagen? Endlich, endlich konnte Tommaso die Sirenen hören.

Doch für Antonio kam jede Hilfe zu spät.

Später, viel später würde Tommaso erfahren, dass der Junge schon lange tot gewesen war. Jetzt, in diesem Moment, betete er voller Hoffnung, dass der Notarzt etwas tun konnte, und als der Mann nur traurig den Kopf schüttelte, schrie Tommaso seine Wut heraus. Das Schicksal war ungerecht. Hatte einen jungen Mann grausam aus dem Leben gerissen. Und der Verantwortliche, der Unfallfahrer, hatte nicht den Mumm gehabt, zu seiner Tat zu stehen, war feige geflohen, hatte Antonio einfach so seinem Schicksal überlassen.

Tommaso schwor sich an Ort und Stelle, diesen feigen Hund zu finden und festzunehmen. Antonios Tod würde er nicht ungesühnt hinnehmen. Für Corazzo fühlte er sich verantwortlich, er war der Carabiniere.

Doch als er später, nach einem mitgebrachten Kaffee von seiner wunderbaren Eleonora, nach dem Zuspruch der Kollegen und aufmunterndem Schulterklopfen, als einzigen Hinweis auf den Unfallfahrer dunkelgrüne Lackspuren finde konnte, da wurde ihm plötzlich mulmig zumute.

1. Kapitel: Der Mokka

Sofia Dalmasso war nicht abergläubisch. Natürlich, wie jeder normale Mensch streute sie Salz auf verschüttetes Öl und fasste Eisen an, um Krankheiten oder Unglück abzuwenden, aber das war allein gesunder Menschenverstand. Schließlich gab es einen Unterschied zwischen Aberglaube und Leichtsinn!

Es war nur so, dass Sofia im Großen und Ganzen eben nicht an schwarze Katzen glaubte, die Unglück brachten. Dass sie keine Angst vor der Zahl siebzehn und auch keine Vorbehalte gegen bestimmte Wochentage hatte. Sofia Dalmasso war, so könnte man sagen, durch und durch rational. Was auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mochte, wenn man bedachte, dass sie die Wahrsagerei sozusagen beruflich betrieb. Nicht hauptberuflich, nein, nur hin und wieder, vielleicht zweimal in der Woche kam eine alte Frau oder auch ein nervöser junger Mann mit dem Foto einer Angebeteten zu ihr und bestellte einen Mokka. Dann nickte sie wortlos, führte ihren Gast in die Küche, hinter den hölzernen Vorhang, der die Fliegen fernhalten sollte, und holte die verzierte bronzene Kanne mit Stiel vom Sims. Zuerst gab sie fein gemahlenes Pulver hinein, füllte es mit Wasser auf und ließ den Kaffee dann zweimal aufkochen. Das Besondere am Mokka war das feine Kaffeemehl, das mit eingegossen wurde und nach dem Trinken am Boden der Tasse verblieb. Dies stürzte Sofia dann auf eine Untertasse, wo es leicht austrocknete, und anschließend konnte sie aus dem Kaffeesatz die Zukunft der Person vorhersagen, die den Mokka getrunken hatte.

Sofia hatte ihrer Großmutter noch nie einen Wunsch abschlagen können, und so hatte eines zum anderen geführt und gemeinsam mit dem kleinen Café, in dem sie Kaffee, Gebäck und einen Mittagstisch anbot, hatte Sofia die Kunst der Wahrsagerei von Nonna Valerija geerbt. Dank ihrer Großmutter konnte Sofia die beste Torta di Nocciole Piemontese nördlich von Turin backen und wusste nebenbei, wie man aus einem dunklen Mokka die Zukunft lesen konnte. Bisher hatte sie geglaubt, dass man dafür nur gute Augen brauchte – oder in ihrem Fall eine gute Brille – und die Fähigkeit, sich zu merken, welches Bild welche Bedeutung trug. Keine Hexerei.

Deshalb wunderte sie sich jedoch umso mehr, dass der Mann, der an diesem Nachmittag vor ihrer Theke stand, sie so sehr verunsicherte. Er hatte einen Mokka bestellt, die Besonderheit, die man nicht auf der Karte ihres kleinen Cafés fand. Auf der großen Tafel hinter ihrer Theke standen Espresso und Cappuccino, auch einen Doppio konnte man bestellen, einen Latte Macchiato oder einen Caffè Americano, was die meisten, die Sofias Café besuchten, auch taten.

Nun stand also dieser Fremde vor ihr. Sofia hatte ihn noch nie zuvor gesehen und nicht die leiseste Ahnung, weshalb er von ihr und dem Mokka wusste. Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.

»Ich kann Ihnen einen erstklassigen Espresso anbieten«, versuchte Sofia ihn stattdessen zu überzeugen.

»Gianluca Ferrari«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand über die Theke. Sein Händedruck war angenehm, fest und warm, und dennoch glaubte Sofia für einen Moment, einen feinen, kaum wahrnehmbaren elektrischen Schlag bekommen zu haben. Ohne Zweifel wirkte Gianluca sympathisch, eine ruhige Art gepaart mit offener Freundlichkeit. Trotzdem gab es da etwas, das Unruhe in ihr auslöste. Obwohl er jung war – sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, nur einige Jahre älter als sie selbst – und gut aussah mit seiner feinen Bräune und den dunklen Augen, strahlte er etwas aus, das sie nicht einordnen konnte. Etwas, das ihr … Angst machte.

»Und ich glaube Ihnen, dass Sie einen hervorragenden Espresso anbieten. Aber ich möchte wirklich einen Mokka.« Er blickte ihr fest in die Augen. »Es ist mir wichtig.«

Sofia musterte ihn, die feinen Fältchen, die sich um den Mund abzeichneten, die erste graue Strähne, noch gut versteckt unter einer Locke, die ihm in die Stirn fiel. Machte er ihr Angst? Nein. Sie kniff die Augen hinter ihrer Brille zusammen, nicht er. Etwas an ihm, etwas, das jedoch nichts mit ihm selbst zu tun hatte. Mamma mia, jetzt wirst du schon so wie Valerija, schalt Sofia sich. Denn ja, Nonna Valerija, ihre Großmutter, war abergläubisch gewesen. Hatte gewusst, wie man die Kaffeetasse stürzen musste, wie man die Zeichen im Satz zu lesen hatte, hatte Sofia eingeschärft, dass man Glück und Verderben, doch niemals den Tod vorhersagen konnte. Sie hatte fest daran geglaubt, die Zukunft wirklich vorherzusagen, Glück oder Verderben, Liebe oder Trauer.

Sofia … nicht.

Eine Weile schwiegen Gianluca und sie, er abwartend, sie nachdenklich, bis sie sich schließlich einen Ruck gab. Es bestand kein Grund zur Sorge. Sie würde ihm einen Mokka aufbrühen, er würde den Kaffeesatz stürzen, und dann würde sie ihm unerwarteten Geldsegen prophezeien. Oder die Begegnung mit der Liebe seines Lebens, vielleicht würde sie es auch vage halten, ihm Anerkennung vorhersagen und ihn wieder seiner Wege schicken.

»Kommen Sie mit«, sagte sie also. Sie hielt ihm den hölzernen Vorhang auf, damit er in ihre Küche treten konnte.

Sofias Küche war ihr ganzer Stolz: Sonnendurchflutet, mit einem Holztisch in der Mitte, frische Kräuter standen auf der Fensterbank, Basilikum, Thymian und Rosmarin, ein getrockneter Strauß Oregano hing über dem Herd neben getrockneten Chilistangen und einem aus Knoblauchzehen geflochtenen Zopf, ein geräucherter Schinken komplettierte ihre Ausstattung. Direkt über dem Herd, einem modernen Gasherd mit Umluftbackofen, war ein Brett für die Bialetti, die mechanischen Espressokännchen, angebracht – und eben auch für die Mokkakanne. Es duftete nach gerösteten Haselnüssen, die sie für hausgemachtes Nougat in den Ofen geschoben hatte.

»Setzen Sie sich.« Sie deutete auf einen der beiden Stühle am Küchentisch und griff zur kleinen Mokkakanne mit dem Stiel und dem rußgeschwärzten Boden. Dann löffelte sie das Pulver hinein, gab Wasser hinzu und bemerkte, dass ihre Hände leicht zitterten. In diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und ihre sonst so helle Küche wirkte seltsam düster. Sie versuchte, alle Gedanken an dunkle Omen abzuschütteln, stattdessen drehte sie sich zu Gianluca, als die Flamme des Gasherds brannte.

»Kann ich Ihnen vielleicht einen Keks anbieten?« Sie nahm das große Glas, das auf der Arbeitsfläche stand und mit Biscotti gefüllt war. Diesmal waren es Mandelkekse, die sie am Wochenende gebacken hatte.

Doch er verneinte. »Nur den Mokka, bitte.«

Sofia nickte und schöpfte den Schaum ab, der sich gebildet hatte, als der Kaffee zum ersten Mal kochte. Dann nahm sie sich selbst einen Keks und knabberte daran herum, während sie darauf wartete, dass der Mokka erneut aufkochte.

»Sie haben die Kunst von Ihrer Großmutter gelernt, richtig?«

Erstaunt blickte Sofia auf.

Er lächelte. »Es ist ein kleines Dorf.«

Das war es in der Tat. Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Unterhaltung musste Sofia grinsen. Mit Schwung warf sie sich ihren Zopf über die Schulter, dann goss sie den Mokka in eine kleine Tasse und stellte sie Gianluca hin. »Zucker?«

Erneut verneinte er.

Sie setzte sich ihm gegenüber, während er trank, bedächtig, langsam, damit das Pulver Zeit hatte, sich am Boden abzusetzen. Obwohl er jung war, obwohl er gut aussah, strahlte er etwas aus, das Sofia urplötzlich mit dem Traum verband, den sie in dieser Nacht gehabt hatte. Seit ein paar Tagen träumte sie schlecht, sie hatte es auf die Wärme geschoben, die schon jetzt nachts herrschte. Aber in diesem Moment fühlte sie genau das Gleiche, das sie heute Morgen beim Aufwachen gespürt hatte: eine allumfassende Schwere, eine Düsternis, die sie mit sich zog.

Schließlich schob er die leere Tasse zu Sofia hinüber, die sie vorsichtig auf eine Untertasse stürzte. Das dunkle Kaffeemehl zog feine Fäden auf dem Weiß der Tasse, bildete Figuren und Symbole. Sofia suchte nach dem ersten Bild, einem Kreuz. Nicht gut, nicht gut. Sie atmete tief ein, versuchte, Gianluca beruhigend zuzulächeln, und suchte nach dem nächsten Symbol. Nein. Das konnte nicht sein. Noch nie hatte sie so etwas gesehen, noch nie so eindeutig. Sofort blickte sie auf, zu ihrem Gast. Hatte er bemerkt, wie erschrocken sie war? Er musste es registriert haben, denn erwartungsvoll schaute er sie an. Bevor er fragen konnte, was los war, sah sie ihn an, sah in seine dunklen, forschenden Augen und versuchte zu lächeln.

»Der Kaffeesatz ist nicht immer so eindeutig«, murmelte sie. Ihr Herz klopfte wie wild.

Der Tod! Es war der Tod!

»Ihre Zukunft …«, stotterte Sofia ein wenig verloren. Der Tod! Wie sollte sie ihm … wie sollte sie überhaupt? Noch nie hatte sie den Tod gesehen. Und doch waren die Bilder heute so klar wie nie zuvor. Konnte das stimmen? Oder war sie nicht vielleicht einfach übernächtigt, von den schlechten Träumen verängstigt, und sah nun Gespenster, wo keine waren?

Mit der Zungenspitze fuhr sie sich über die Lippen. Wie hatte Nonna Valerija ihren Kundinnen schlechte Nachrichten überbracht? Zum Glück fiel es ihr wieder ein.

»Seien Sie auf der Hut vor Gefahren«, sagte Sofia langsam. Das war eine gute Möglichkeit, denn wenn man auf der Hut war, bedeutete das, man konnte die Gefahren abwenden. Erneut blickte sie dem Mann in die Augen und erneut wurde sie von einer inneren Unruhe ergriffen. Sie unterdrückte den Impuls, auf ihrem Stuhl herumzurutschen. Stattdessen starrte sie wieder intensiv auf den Kaffeesatz, auf die Untertasse vor ihr. Was war es genau gewesen, von dem sie geträumt hatte? Nicht nur diese Nacht, auch die Tage davor. Sie konnte sich nicht erinnern, nicht genau, nur an dieses lebensbedrohende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Als sie aufgewacht war, hatte sie entgegen ihrer Gewohnheit ein Kreuz geschlagen.

»Seien Sie vorsichtig«, flüsterte sie noch einmal.

Gianluca nickte ernst. »Das bin ich«, sagte er und stand auf. »Was schulde ich Ihnen?«

Sofia schüttelte den Kopf. »Das erste Mal ist gratis«, antwortete sie nicht ganz wahrheitsgemäß. Aber sie konnte es nicht über sich bringen, Geld von ihm zu verlangen, nicht, wenn sein Kaffeesatz so aussah. »Passen Sie einfach auf sich auf«, sagte sie leise, als er das Café verließ.

*

Obwohl die Sonne schien, fröstelte Sofia auch eine halbe Stunde später noch. Sie drehte sich zu ihrer Espressomaschine um, nahm den Siebträger heraus und befüllte ihn mit dem frisch gemahlenen Pulver aus der Mühle. Dann drehte sie ihn fest in die Maschine, kontrollierte, ob noch genügend Wasser vorhanden war, und drückte auf den Knopf. Während goldbraune Flüssigkeit in die Tasse lief, band sie den Zopf neu, in den sie ihre langen dunklen Haare gefasst hatte und der ihr schwer über die Schulter fiel. Sofia schnappte sich die Tageszeitung, die auf der Theke auslag, nahm ihren Espresso und ging nach draußen. Für eine kleine Auszeit war der Platz unter der ausladenden Kastanie direkt vor dem Eingang ihres Cafés wie geschaffen.

Am Nebentisch spielten Massimo und Raffaele Karten. Die beiden alten Herren hatten zwei leere Tassen Caffè sowie zwei halb volle Weingläser vor sich stehen, die sie in einer Viertelstunde etwa nachfüllen würde. Mit abnehmendem Espresso- und steigendem Weinkonsum wurde ihr Spiel lauter, bis sie sich am frühen Abend so in die Haare bekommen würden, dass Raffaele mit einem wütend hingeworfenen »Basta!« abrauschte und sich weigerte, jemals wieder ein Wort mit Massimo zu wechseln. Bis zum darauffolgenden Nachmittag, an dem sie beide pünktlich um vierzehn Uhr an der Bar standen und nach einem Caffè verlangten. Manchmal leistete der Dorfpfarrer ihnen Gesellschaft, Padre Fabrizio, der Priester von San Giovanni Battista, dessen Schwäche für gutes Essen man seinem ausladenden Bauch ansehen konnte und der zeit ihres Lebens mit Nonna Valerija auf Kriegsfuß gestanden hatte.

An den Nachmittagen, an denen die beiden alten Männer jedoch ohne den Priester bei Sofia saßen, spielten sie um Geld.

»Wer gewinnt?«, fragte Sofia die zwei älteren Herren lächelnd.

»Massimo, wie immer.« Raffaele verzog den Mund. Sofia hatte Fotos von ihm als jungen Mann gesehen, auf denen er verträumt, eine schwarze Locke in die Augen fallend, in die Ferne zu den Alpen gestarrt hatte. Heute befanden sich keine Haare mehr auf seinem Kopf, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich täglich herauszuputzen, als wäre er noch der schöne junge Mann aus dem Jahr 1970. Sein Mit- und Gegenspieler Massimo hatte noch volles Haar, inzwischen beinahe schlohweiß, und ein dröhnendes Gelächter, von dem Sofia hätte schwören können, dass sein Echo bis ins Tal des Lago Maggiore zu hören war. Jetzt nickte er in die Richtung, in die der Fremde verschwunden war, nachdem er das Café verlassen hatte. »Was wollte er?«, fragte er.

»Nichts.«

Die Augenbrauen beider Herren wanderten gleichzeitig nach oben.

»Nichts Bestimmtes«, schob sie schnell hinterher. Beide wussten vom »Mokka«, Raffaeles Ehefrau Rosa kam regelmäßig bei ihr vorbei, dennoch wäre es Sofia unangenehm gewesen zu erzählen, dass Gianluca ihr Angst eingejagt hatte. Nicht Gianluca, sein Kaffeesatz, verbesserte sie sich.

»Er bleibt ein paar Tage hier im Dorf. Urlaub«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Sie ging davon aus, dass es stimmte. Weshalb sollte er sonst hier sein?

»Ah, ist er einer dieser …« Massimo machte eine undefinierte Handbewegung. »Wanderer?«

Sofia musste sich das Lachen verkneifen. Sie selbst genoss es durchaus, durch die Wälder zu streifen, aber die meisten der alten Generation in ihrem Dorf hatten kein Verständnis für diese in ihren Augen neumodische und wenig zielführende Art der Fortbewegung. Schlimmer angesehen war wahrscheinlich nur noch Joggen.

»Sag ihm, mit dem Auto ist er in einer halben Stunde bei der Capella Fina«, sagte Raffaele. Die Kapelle mit Aussichtspunkt war ein beliebtes touristisches Ziel in der Region. Ziemlich steil ging es bergauf, aber der Blick belohnte für alle Strapazen – fand Sofia jedenfalls, im Gegensatz zu Raffaele und Massimo.

»Wo wohnt er denn?«, fragte Massimo. »Bei Clara in der Pension?«

Sofia hatte nicht gefragt, da Clara aber die einzigen Unterkünfte in der näheren Umgebung vermietete, ging sie davon aus, dass er dort übernachtete.

»Das heißt Agriturismo«, verbesserte Raffaele. »Weil Clara einen Esel hat. Da kann sie pro Nacht das Doppelte verlangen.«

Massimos Lachen dröhnte.

»Einen Hund hat sie auch«, verteidigte Sofia die Pensionsbesitzerin. Clara, die nur Frühstück anbot, schickte ihre Gäste gern zum Mittagstisch ins Café, und Sofia war dankbar für das zusätzliche Geschäft. Außerdem hatte Clara ein großes Herz für Kinder, sodass ihre kleinen Mietbungalows bei Familien ausnehmend beliebt waren.

Raffaele winkte ab. »Na, wir werden schon noch erfahren, was der junge Mann hier wollte.«

2. Kapitel: Der Tote vom Sacro Monte

Zwei Tage später hatte Sofia die unheimliche Begegnung mit Gianluca schon beinahe wieder vergessen. Sie liebte den Sommer, und wenn er noch nicht so heiß war, dass die Pflanzen in den Gärten verbrannten, war es gleich doppelt so schön. Torta di Nocciole wollte sie heute backen, die berühmte Haselnusstorte aus dem Süden des Piemonts, wo man im Herbst Haselnusssträucher in Hülle und Fülle finden konnte. Die weltbesten Haselnüsse, so sagte man, kamen aus der Region Langhe, genauer gesagt aus dem Dorf Cravanzana bei Alba. Für eine perfekte Torta di Nocciole brauchte man die besten Haselnüsse, natürlich wuchsen die hier im Piemont, einen Schuss Rum dazu und danach benötigte sie ganz viel Ruhe. Die perfekte Torta di Nocciole war eine Liebeserklärung: süß und zartbitter, weich mit Biss.

Sofia liebte es zu backen, und so nahm sie sich mindestens einmal in der Woche Zeit, um in ihrer kleinen Küche Haselnüsse zu hacken, Eier schaumig zu schlagen und schließlich den fertigen Teig in die gusseiserne Form ihrer Großmutter zu gießen.

Wenn der Duft aus dem Ofen durch ihr Café zog, setzte sie sich mit einem Caffè und der Tageszeitung unter die Kastanie draußen vor dem Eingang und genoss die Sonnenstrahlen, die durchs Blätterdach auf ihre sommersprossigen Arme fielen.

Es war Anfang Juni, und die Natur stand in voller Blüte. Das saftige Grün der Kastanienblätter, das kräftige Blau und Weiß der Hortensien, die sie in Kübeln aufgestellt hatte, und der süße Geruch des Feigenbaums an der Hauswand begrüßten sie am Morgen, wenn sie ihr kleines Café aufschloss. »Valeria« hatte sie es genannt, die italienische Variante des Namens ihrer Großmutter Valerija. Sie war aus Kroatien gekommen, sie und Sofias Großvater hatten sich in Deutschland kennengelernt, als beide in der gleichen Firma am Fließband gestanden hatten. Aber Giuseppe, Sofias Großvater, hatte seine italienische Heimat so sehr vermisst, dass er krank geworden war. Heute würde man es wohl Depression nennen, aber damals hatte man noch keinen Namen dafür und keinen Grund, mit Traurigkeit zum Arzt zu gehen. Doch Valerija hatte geahnt, was ihrem Mann fehlte, und so hatte sie, hochschwanger mit Sofias Vater, schließlich die Koffer gepackt, ihren Mann auf den Rücksitz des roten Fiats verfrachtet und war über die Alpen gefahren. In ein für sie weiteres fremdes Land, in dem eine weitere fremde Sprache gesprochen wurde.

»Ciao, Sofia!«

Unsanft riss Laura, ihre beste Freundin, sie aus ihren Gedanken. Sie winkte ihr von draußen zu und parkte ihren Roller vor der Kastanie. Wie üblich hatte sie die gelbe Warnweste, die sie als Postbotin eigentlich tragen sollte, hinten in das Aufbewahrungsfach ihres Rollers gestopft. »Die Arbeitskleidung passt nicht zu meinem Stil«, erklärte sie jedem, der es wissen wollte, und warf dabei ihre langen glatten Haare über die Schulter. »Und ohnehin kennt mich schließlich jeder im Dorf.«

Sofia fand, das Gelb ihres Rollers gab ebenfalls Aufschluss über ihre Rolle, und so hatte sie verständnisvoll genickt, als Laura ihr die Argumentation vorgetragen hatte. Laura kam jeden Tag mindestens einmal bei Sofia vorbei, am Vormittag auf einen Espresso und ein Cornetto, und wenn ihr langweilig war, stattete sie ihr auch am Nachmittag noch einen Besuch ab. Schon seit dem Kleinkindalter waren die beiden Frauen befreundet. Von jeher wohnten ihre Eltern im gleichen Haus, und so hatten sie bereits als Babys miteinander gespielt, in der Scuola Primaria die Brotdosen geteilt und in der Scuola Secondaria den ersten Liebeskummer erlebt. Kaum jemand kannte Sofia besser als Laura – oder Laura sie.

»Caffè?«, fragte Sofia jetzt also und stand auf.

»Besser einen Grappa«, schnaufte Laura und folgte ihr hinein an die Bar. »Nein, nein, ich mache Witze, ich muss den vermaledeiten Roller noch bis nach oben zum Bauernhof fahren. Die Lafrattas wohnen ja fast in Esio!«

Sofia lächelte. »Sei froh, dass du den Roller hast und nicht das Rad nehmen musst.«

»So, wie die Autos hier rasen? Ich bin doch nicht lebensmüde.« Wie an vielen Orten rund um den See waren auch hier in Corazzo rote Ampeln eher so etwas wie ein unverbindlicher Vorschlag, und Schilder zur Geschwindigkeitsbegrenzung schienen die meisten Dorfbewohner nicht einmal zu lesen. »Hier, die Post, zweimal für dich, einmal für Davide, Zia Rebecca, die kommt doch später noch vorbei, richtig?« Laura zählte die Briefe und legte sie auf die Theke. »Massimo«, murmelte sie und gab einen weiteren Brief dazu. »Raffaele.« Ein kleines Päckchen. »Ach, und zur Kirche müsste ich auch noch, bin aber schon spät dran. Monsignore Fabrizio kommt ja sicher auch bald wieder her. Hier, das ist nichts Eiliges.«

Sofia verdrehte die Augen. Sollte sie etwas sagen? So etwas wie »Ich bin nicht die Post. Das bist du«? Aber dann entschied sie sich dagegen, Laura hatte ja recht: Rebecca würde noch vorbeikommen, Massimo und Raffaele sowieso, und Davide war Lauras Bruder. Jedes Mal, wenn sie mit ihm Streit hatte, ließ sie seine Briefe bei Sofia. Außerdem war Laura aufgewühlt, also angelte Sofia schulterzuckend zwei Tassen aus dem Schrank und klopfte den Siebträger der Kaffeemaschine aus. »Woher weißt du, dass es nichts Eiliges ist für unseren Padre?«

Laura winkte ab. »Kommt vom Erzbischof, mit dem liegt er im Clinch, die Briefe öffnet er aus Prinzip erst einmal drei Tage nicht.«

»Du kennst eindeutig zu viele Details über unser Dorf und seine Bewohner«, murmelte Sofia. Durch ihren Beruf wusste Laura, wer mit dem Finanzamt auf Kriegsfuß stand oder wer geheime Post mit Herzchen bekam. »Wissen ist Macht«, pflegte sie feierlich zu sagen. »Und mit Macht kommt Verantwortung.« Welche weisen Sprüche sie zu diesem Thema sonst noch auf Lager hatte, bekam Sofia meist nicht mehr mit, weil beide Freundinnen zu sehr lachen mussten. Doch mehr als nur einmal hatte Sofia die Postbotin davon abhalten müssen, einen Plan in die Tat umzusetzen. Vor etwa zwei Jahren hatte sich die alte Signora Rossi mit ihrer besten Freundin verkracht, und Lauras Idee war es gewesen, den beiden Damen jeweils die Briefe der anderen zu bringen, sodass sie sich treffen und wieder versöhnen mussten. Dieses Treffen hatte in einem blauen Auge für Signora Rossi und einer harten Lektion für Laura geendet. Was sie jedoch nicht davon abhielt, sich weiterhin in das Leben der Dorfbewohner, gern auch Sofias, einzumischen und ständig neue Pläne zu entwickeln. Doch heute gab es noch etwas anderes, das Laura beschäftigte. Sofia drückte auf den Knopf der Kaffeemaschine.

»Also, was ist los?«, fragte sie, als sie ihrer Freundin den Espresso hinüberschob.

»Erst das Cornetto, ich brauche eine Stärkung.«

*

Friedlich war die Stimmung am Sacro Monte di Ghiffa, die weißen Gebäude des Wallfahrtsorts hoben sich strahlend von dem satten Grün des Waldes dahinter ab. Vom Lago Maggiore, der sich himmelblau in der Tiefe erstreckte, tönte leise das Horn einer Fähre hinauf in die Stille, und Commissario Alessandro Ranieri hätte die Augen schließen und sich im Urlaub wähnen können. Wäre da nicht der Tote gewesen. Er hing an dem dicken Ast eines Baums neben der Kapelle. Was für ein Baum es war, dafür hätte Alessandro jemanden fragen müssen. Doch er wollte die Ruhe, die hier herrschte, nicht stören.

Die beiden Carabinieri, die den Sacro Monte di Ghiffa abgeriegelt und die Questura in Verbania verständigt hatten, standen etwas abseits auf der Straße, um den Kollegen von der Spurensicherung, die sicher bald eintreffen würden, den Weg zu weisen.

Bis dahin hatte Alessandro Zeit. Zeit, sich den toten Mann am Baum genauer anzusehen. Ein Eichhörnchen lief den Stamm hinauf, stockte plötzlich in der Bewegung, raste dann wieder hinunter und schließlich in Richtung Kapelle davon. Alessandro blickte ihm für einen winzigen Augenblick hinterher, bevor er sich wieder dem Toten widmete. Die Leiche war kein schöner Anblick, das waren Erhängte selten, und auch bei diesem hatte sich das Gesicht bläulich verfärbt. Ein dickes Seil war um seinen Hals und um den Ast geschlungen. Jemand hatte versucht, die Tat wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Doch schon die beiden Carabinieri hatten auf den ersten Blick erkannt, dass es sich nicht um einen Suizid handelte: Unter dem Seil war am Hals eine dünne und blutunterlaufene Linie zu erkennen, der Mann war also nicht an dem Strick gestorben. Jemand hatte ihn vorher mit einem Draht erdrosselt, es mochte auch ein Kabelbinder oder etwas Ähnliches gewesen sein. Genaueres konnte ihm hoffentlich die Forensik sagen.

Anschließend hatte der Täter ihn hier hinauf verfrachtet, er musste kräftig gewesen sein – suchte er also nach einem Mann? Vielleicht, vielleicht auch nach einer kräftigen Frau.

Der Tote war noch jung, Alessandro schätzte ihn auf ein ähnliches Alter wie sich selbst, etwa Mitte dreißig. Ob er aus Ghiffa stammte? Alessandro selbst kam im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen in Verbania weder aus einer der Städte um den Lago Maggiore noch überhaupt aus dem Piemont. Seine Heimat lag in Neapel. Vor drei Jahren hatte es ihn hierher in den Norden verschlagen. Der Posten in der Questura in Verbania hatte einen Karrieresprung bedeutet, und da er zu diesem Zeitpunkt gerade eine unglückliche Beziehung beendet hatte, war er bereit gewesen, am Lago Maggiore noch einmal neu anzufangen. Manchmal vermisste er seine Heimat. Der Norden unterschied sich schon sehr vom Süden. Hier oben war alles organisiert und sauber, die Menschen besaßen gut bezahlte Jobs und hielten einen gewissen Lebensstandard. Alessandro genoss den See und die Berge, aber hin und wieder fehlte ihm hier die Wärme und vor allem das Essen seiner Großmutter.

Jetzt dröhnten die Geräusche von Automotoren zu ihm hinüber, Menschenstimmen, ein Gewirr aus Gesprächsfetzen, offenbar hatten die Carabinieri alle Hände voll zu tun, Touristen vom Betreten des Geländes abzuhalten.

»Ranieri!« Der Mann, der mit einem Koffer in der Hand auf ihn zukam, gehörte zur Spurensicherung. Guzzo hieß er, wenn Alessandro sich recht erinnerte, bisher hatte er meist mit einem seiner Kollegen zu tun gehabt. Guzzo war Ende fünfzig mit einem dunklen Haarkranz um eine Glatze. Seine Mundwinkel hingen konstant herunter, sodass er immer missgelaunt wirkte. Er blieb vor dem Baum stehen, stellte seinen Koffer ab und bekreuzigte sich. Dann ließ er den Koffer aufschnappen, winkte einem Kollegen, der eben von der Straße herantrabte, und wandte sich an Alessandro.

»Ein Toter an einem Wallfahrtsort?«, fragte er angewidert. »Blasphemie.«

Alessandro zuckte mit den Schultern. »Bei einem Mord kommt es auf eine Todsünde mehr oder weniger wahrscheinlich auch nicht mehr an.«

*

Mit Puderzuckerresten noch auf der Nasenspitze fühlte Laura sich nach einem Cornetto crema, mit Vanillecreme, endlich in der Lage, Sofia zu erzählen, was passiert war.

»Ich habe Clara ihr Paket geliefert, sie hat neue Servietten bestellt, zitronengelb, weil ihr Wohnzimmer doch neu gestrichen wurde. Sie will auch anbauen, wusstest du das? Sie bekommt neuerdings Briefe eines Bauunternehmens, da scheint sie schon im Kontakt zu stehen.«

»Oder sie muss das Dach reparieren oder etwas völlig anderes«, sagte Sofia, die Laura manchmal bremsen musste, was ihre Schlussfolgerungen aus den Postsendungen anging, die sie beförderte.

»Na, ist auch egal.« Erneut wedelte Laura mit der Hand. »Jedenfalls betrete ich nichts ahnend ihre Pension und es wimmelt nur so vor Polizei.«

»Polizei? Wurde eingebrochen?« Vor Schreck stellte Sofia ihre Kaffeetasse wieder hin. Sie hatte Corazzo, eigentlich alle Dörfer hier oberhalb des Lago Maggiore in und um den Nationalpark Val Grande, bisher immer für so etwas wie die Insel der Glückseligen gehalten, ein Fleckchen Frieden in einer feindseligen Welt.

»Schlimmer.« Laura machte eine dramatische Pause und blickte Sofia eindringlich an. »Ein Gast von ihr wurde ermordet.«

Und mit voller Wucht kam die Erinnerung an Gianluca und seinen Kaffeesatz zurück. Sofia wurde schlecht. »Nicht Gianluca«, flüsterte sie und war sich nicht sicher, ob es eine Frage oder eine verzweifelte Bitte war.

»Du kennst ihn?«

Er war es also. Sofias Mund wurde trocken. »Wie … was ist passiert?«

»Sie haben ihn im Wald gefunden, heute früh, mehr weiß ich nicht. Mamma mia, Sofia, du bist ja ganz blass.« Besorgt fasste sie nach Sofias Hand.

»Es geht mir gut.« Sie versuchte zu lächeln, doch es fiel etwas schwach aus, das merkte sie selbst. »Er war vor zwei Tagen hier«, erklärte sie dann. »Wollte einen Mokka.«

»Du hast ihm die Zukunft vorhergesagt?«, fragte Laura.

Sofia nickte. »Ich habe ihm geraten, auf der Hut zu sein.«

»Maledetto– verdammt«, fluchte Laura leise.

So konnte man es auch ausdrücken. Sofia blickte auf ihre Hände, unbewusst hatte sie begonnen, an der Schleife ihrer Schürze zu nesteln. Dabei fiel ihr auf, dass sie die Schürze noch trug, wobei sie wiederum an die Haselnusstorte erinnert wurde, die noch im Ofen wartete. »Ich bin gleich zurück.« Sie flog in die Küche, nahm den Kuchen aus dem Ofen und stützte sich für einen Moment auf dem Tisch ab, um tief Luft zu holen. Sie hatte Gianluca nichts getan. Sie konnte die Zukunft nur vorhersagen, sie konnte sie nicht herbeireden. Und wahrscheinlich konnte sie sie nicht einmal vorhersagen. Hatte sie denn daran geglaubt? Die Träume, dachte sie, sie hatte keine Luft bekommen, Todesangst gehabt, Angst zu ersticken. Wie war der Tote gestorben? Sofia atmete tief ein und presste die Hände auf die Augen. Hätte sich etwas geändert, wenn sie ihm die Wahrheit über die Bilder in seinem Kaffeesatz gesagt hätte? Wenn sie ihn deutlicher gewarnt hätte? Hätte er ihr überhaupt geglaubt? Sie glaubte sich doch selbst nicht! Und was genau hatte er von ihr gewollt, weshalb war er bei ihr gewesen? So viele Fragen und keine Antworten, ihr schwirrte der Kopf. Langsam zählte sie bis zehn, versuchte ihre Gedanken zu beruhigen, selbst ruhig zu werden. Draußen wartete Laura, machte sich sicher Sorgen. Sofia fuhr sich über die Augen und atmete noch einmal tief ein. Dann straffte sie sich und ging hinaus, bevor Laura zu ihr in die Küche kommen würde.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ihre Freundin besorgt. Sie war schon vom Barhocker aufgestanden.

Sofia nickte. »Alles in Ordnung«, antwortete sie und hoffte, ihre Stimme zitterte dabei nicht. »Was ist denn passiert?«, fragte sie nach.

Doch Genaueres konnte Laura ihr auch nicht sagen. »Sie haben die ganze Pension auf den Kopf gestellt, die arme Clara war komplett aus dem Häuschen. Dabei hatte sie extra frischen Käse zum Frühstück besorgt. Du weißt ja, wie die Touristen sein können.«

Sofia nickte geistesabwesend.

»Ein Commissario war da, aus Verbania. Commissario Ranieri. Daran erkennt man, dass es ernst ist, wenn zwischen den ganzen Uniformen noch einer in Zivil herumläuft.«

»Wie lange hat er denn bei Clara gewohnt?«

»Der Commissario hat …« Laura zog die Augenbrauen zusammen. »Ach, der Tote. Natürlich. Ich weiß es nicht.« Forschend blickte sie Sofia in die Augen. »Geht es dir wirklich gut? Vielleicht trinkst du selbst noch einen Caffè. Und hier …« Sie angelte ein weiteres Cornetto aus der Vitrine und drückte es Sofia in die Hand. »Du solltest etwas essen.«

Das war in der Tat nicht die schlechteste Idee, dachte Sofia und hoffte, dass das Gebäck gegen ihren flauen Magen half.

Plötzlich blickte Laura auf die Uhr und hielt erschrocken inne. »Du liebe Zeit«, murmelte sie, bevor sie den letzten Krümel ihres eigenen Cornettos mit dem Zeigefinger auftupfte und sich in den Mund steckte. »Kommst du klar?«

Sofia nickte.

»Gut. Wir sprechen später! Die Lafrattas im Bauernhof verzeihen es mir nie, wenn ich erst zu Mittag mit ihrem Päckchen auftauche.« Sie verabschiedete sich mit Küsschen von Sofia und schob den Barhocker zur Seite. Im Gehen rief sie über die Schulter: »Und vergiss nicht, dich um deine Post zu kümmern! Davides Brief ist wichtig! Er muss nicht noch wütender werden, als er ohnehin schon ist.«

3. Kapitel: Der Commissario trinkt Espresso

Eine halbe Stunde später hatte Sofia sich wieder so weit gefasst, dass sie sich um ihre übliche Kundschaft kümmern konnte: Die drei Damen Rosa, Rebecca und Eleonora saßen lachend und plaudernd an dem Tisch in der Ecke, an dem sie mittwochvormittags immer saßen, sommers wie winters, bei Regen oder Sonnenschein.

»Prego.« Das Geschirr klapperte nur leicht, als Sofia das Cornetto in einer fließenden Bewegung neben Rosas Espresso stellte. Als Einzige hatte sie ein Croissant bestellt, »albicocca«, mit Aprikosenmarmelade, wie auch Sofia sie am liebsten aß.

Die drei Frauen kamen gerade vom Einkaufen. Lauras Eltern besaßen den einzigen – kleinen – Supermarkt Corazzos, und wie jeden Mittwoch genehmigten sich die Damen eine kleine Stärkung bei Sofia, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten, um sich dort fürs Mittagessen an den Herd zu stellen. Rosa nannte es liebevoll »Schichtwechsel«, wenn sie heimging und kurz darauf ihr Ehemann Raffaele bei Sofia an der Theke stand. Rebecca, Lauras Tante, sah aus wie eine ältere Version der Postbotin, mit glatten dunklen Haaren, die ihr bis zur Schulter reichten und im Alter nur ganz leicht dünner geworden waren. Laura hatte ihre Schönheit definitiv von ihren mütterlichen Genen geerbt. Auch wenn Rebecca mittlerweile fünfundsiebzig Jahre zählte, so konnte man ihr immer noch ansehen, welche Schönheit sie früher einmal gewesen war.

Eleonora war die einzige Alleinstehende unter ihnen, ihr Mann Tommaso, der frühere Carabiniere, war vor nicht allzu langer Zeit gestorben, weshalb sie nach alter Tradition auch heute Schwarz trug. Sein Tod hatte ihr sehr zugesetzt, aber zumindest konnte sie wieder über die Scherze ihrer Freundinnen lächeln und wirkte nicht mehr ganz so traurig, wie sie es noch zu Ostern getan hatte. Die Zeit mit ihren Freundinnen tat ihr gut, und Sofia, die Eleonora sehr mochte, freute sich darüber.

»Was riecht denn so gut?«, fragte die Witwe jetzt und schnupperte. »Hast du eine Torta di Nocciole gebacken?«

»Es ist schließlich Mittwoch«, antwortete Sofia lächelnd, die genau wusste, dass sie den drei Damen jeweils ein Stück Kuchen zum Nachtisch würde einpacken müssen.

»Ich sollte nicht!« Rosa verzog den Mund, woraufhin ihre Begleiterinnen und auch Sofia lautstark protestierten. Zufrieden mit den vehementen Bekundungen, dass sie sich bei ihrem Gewicht alles erlauben könne, biss Rosa in ihr Cornetto.

»Ich schneide die Torte gleich auf«, kündigte Sofia an. Mit der Torta di Nocciole in Händen kam sie kurz darauf durch ihren hölzernen Vorhang zurück und wäre beinahe mit einem neuen Gast zusammengeprallt. Der Mann war groß, mit dunklen Haaren, die ihm leicht in die Stirn fielen, dunklen Augen und einem Bartschatten von etwa zwei Tagen. Er hatte die obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet und trotz des warmen Wetters trug er ein graues Jackett darüber. Er war nicht von hier, Sofia hatte ihn nie zuvor gesehen. Der Kleidung und dem Aussehen nach konnte er durchaus Polizist sein, da er jedoch keine Uniform trug, arbeitete er nicht als Carabiniere.

»Buongiorno, Commissario Ranieri«, begrüßte Sofia ihn daher.

Sein verblüffter Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass sie richtig lag.

»Neuigkeiten verbreiten sich in einem Dorf wie Corazzo schnell«, sagte Sofia, stellte den Kuchen auf die Theke und wischte sich schnell die Hände an der Schürze ab, bevor sie ihm ihre rechte reichte. »Sofia Dalmasso, mir gehört das Café.«

»Zu Ihnen wollte ich.« Er blickte sie aufmerksam an, musterte sie, als suche er etwas in ihrem Gesicht, in ihren Augen. Vielleicht tat er das auch.

»Ich habe mit ihm gesprochen. Vor zwei Tagen.« Sie musste ihm nicht sagen, mit wem, sie wussten beide, weshalb er hier war.

»Gianluca Ferrari«, sagte er. Der leichten Färbung in seiner Sprache nach zu urteilen, stammte der Commissario nicht aus dem Piemont. Er kam aus dem Süden, vielleicht Neapel. »Kannten Sie ihn?«

»Darf ich Ihnen vielleicht zuerst einen Caffè anbieten?«, fragte sie.

Dieses Angebot nahm er dankend an, und Sofia war froh darüber, ihm für einige Augenblicke, während sie die Kaffeemaschine bediente, den Rücken zudrehen zu können. Was sollte sie ihm erzählen? Die Wahrheit. Aber wie? Wenn er tatsächlich aus Neapel kam, war ihm der Malocchio, der böse Blick, sicher nicht fremd, dann hängte er vielleicht selbst ein Cornicello, ein Glückshörnchen, an den Rückspiegel seines Autos. Und dennoch …

»Prego.« Lächelnd wandte sie sich ihm wieder zu, um die kleine Tasse vor ihm abzustellen. Er gab keinen Zucker hinein und stürzte den Espresso hinunter.

»Noch einen?«, fragte Sofia amüsiert.

»An Tagen wie diesen darf es gerne ein Doppio sein«, sagte der Commissario seufzend. Einen Doppio, einen doppelten Espresso, trank ihr Vater am Vormittag auch immer.

»Ich werde es mir merken für nächstes Mal.« Schon machte sie sich daran, ihm einen zweiten Espresso zuzubereiten: zweimal eins gleich ein doppelter. Dann fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Nein, ich habe ihn nicht gekannt. Gianluca meine ich«, beantwortete sie die Frage, die der Commissario schon vor einiger Zeit gestellt hatte. Und dann beschloss sie, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Er war am Montag bei mir, um sich seine Zukunft vorhersagen zu lassen.«

Zum zweiten Mal innerhalb ihres kurzen Gesprächs war der Commissario für einen kurzen Augenblick sprachlos. Er blinzelte, runzelte die Stirn, dann fragte er vorsichtig nach, als habe er nicht richtig gehört: »Er hat was?«