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Zwei Männer sterben in derselben Nacht - im Teufelsmoor verbrennt ein drogensüchtiger Student in einem Auto, ein erfolgreicher Chirurg wird vor seiner Villa überfahren. Hauptkommissarin von Seelenthin übernimmt die Fälle und droht bald in einem Morast aus Hass und Lebenslügen, häuslicher Gewalt und falscher Loyalität zu versinken. Denn auch in der Mordkommission gibt es Irrlichter, die sie auf unsicheres Terrain locken wollen. Zudem gerät die Freifrau privat aus dem Tritt. Dann geschieht ein dritter Mord, und immer noch ist kein Verdächtiger in Sicht …
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Seitenzahl: 421
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Ina Bitter
Tod im Teufelsmoor
Kriminalroman
Abgründige Geheimnisse Als Freifrau Eija von Seelenthin nach einem weinseligen Abend von ihrem Gutshof ins nächtliche Teufelsmoor schaut, traut sie zunächst ihren Augen nicht: Mitten im Naturschutzgebiet lodert ein Feuer! Ihre finsteren Ahnungen bestätigen sich: In einem ausgebrannten Auto wird die Leiche eines Mannes gefunden. Am nächsten Morgen wird von Seelenthin, Hauptkommissarin in Bremen, zu einem weiteren Tatort gerufen. Ein erfolgreicher Chirurg wurde direkt vor seiner Villa überfahren. Bald findet sich ein Zusammenhang zwischen den Opfern: Beide Männer konsumierten Crystal Meth. Zwei Morde im Drogenmilieu? Von Seelenthin und Kommissar Ralf Dremmler stoßen während ihrer Ermittlungen auf verstockte, teil skurrile Zeugen – und auf weitere Motive: Erpressung, häusliche Gewalt, enttäuschte Liebe. Dann geschieht ein weiterer Mord … Drei Leichen und kein Tatverdächtiger – Hauptkommissarin von Seelenthin gerät zunehmend unter Druck. Und dann ist da noch dieser neue Polizeidirektor, der sie aus dem Tritt bringt.
Ina Bitter, Jahrgang 1970, studierte Germanistik, Kunst und Kunstgeschichte. Im Anschluss unterrichtete sie als Studienrätin, textete in Werbeagenturen, arbeitete als Journalistin und in einer Kunstgalerie. Zwischenzeitlich schrieb und illustrierte sie zwei Kinderbücher. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren Hunden in Osnabrück. »Tod im Teufelsmoor« ist ihr erster Kriminalroman.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © KaMay/shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-5694-7
Dr. Olaf Cordes, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Bremen.
Dr. Anne Müller, Diplom-Psychologin.
Frank Oevermann, Pressesprecher der Polizei Osnabrück.
Pressestelle der Feuerwehr Osnabrück.
Meinem Mann Roland.
Meiner Schwester Eva.
Dem Team vom Gmeiner-Verlag für die freundliche und professionelle Betreuung meines Buches, insbesondere meiner Lektorin Claudia Senghaas für ihre akribische und sensible Arbeit am Manuskript.
Für Roland
Immer wieder versuchte die Fliege, sich aus dem Glas zu befreien, und genauso oft rutschte sie wieder hinunter in die goldschimmernde, transparente Flüssigkeit. Berenice Ingstedt beobachtete das Insekt mit leisem Unwillen bei seinen zunehmend angestrengteren Versuchen, dem Tod zu entkommen.
»Hier sind Sie ja, Königin der Nacht! Und so allein!« Die Stimme von Professor Herbert Schrootens, Chef des Weserklinikums für plastische Chirurgie und damit auch Chef von Julius, ihrem Ehemann, war zu laut, die Artikulation unsauber. Schrootens zwinkerte ihr zu: »Auf einen letzten Tanz, Verehrteste, bevor ich verhaftet werde.« Er stockte und schlingerte dann mit stierem Blick auf sie zu wie ein angezählter Jahrmarktboxer. Die weit ausholende Pranke des Arztes wischte zunächst das Glas mit dem warm gewordenen Chablis vom Tisch und verkürzte damit den Todeskampf der Fliege, bevor sich die schwere Hand fest um den Unterarm von Berenice legte und sie anschließend in einer überraschend fließenden Bewegung vom Tisch zog. Der Stuhl kippte nach hinten und Schrootens’ Bein verfing sich im bodenlangen schweren Leinentischtuch. Der angetrunkene Mann verlor das ohnehin kaum noch vorhandene Gleichgewicht und fiel mit Berenice im Arm, das Tischtuch samt den darauf stehenden Vasen, Tellern und halb ausgetrunkenen Weingläsern mit sich reißend, auf die Terrasse des Steigenberger Hotels. Einen kurzen Augenblick war es unnatürlich still. Eine einzelne Vase rollte an Berenices ausgestrecktem Arm vorbei.
»Herbert! O Gott, nein! Wie ist das denn jetzt wieder passiert?« Margarethe Schrootens stämmige und kurzbeinige Gestalt kniete neben ihrem unglücksseligen Gatten nieder und griff resolut nach dessen Arm. »O Gott, o Gott, Herbert! Dass das aber auch jedes Mal wieder …«
»So göttlich war der Auftritt deines Mannes jetzt nicht, Grete!«, fuhr Uwe Mellinghaus, kaufmännischer Leiter des Klinikums, ärgerlich dazwischen. Er rückte einen Tisch beiseite und wuchtete den übergewichtigen Mann, der in seinem Abendanzug wie ein schwarz glänzender Käfer auf dem Rücken lag und mit Beinen und Armen ruderte, zur Seite.
»Haben Sie sich verletzt, Frau Ingstedt? Alles in Ordnung soweit?«, fragte er Berenice und half der zierlichen Frau unter dem laut schnaufenden Schrootens hinweg wieder auf die Beine.
»Ja, ja. Danke, es geht schon«, erwiderte sie und holte zitternd Luft. Sie blickte sich um und sah in das Gesicht ihres Ehemannes. Obwohl er reglos zwischen den anderen Gästen stand, konnte sie die Energie seiner Körperspannung über mehrere Meter hinweg fühlen. Sie sah den angespannten Unterkiefer mit den zusammengekniffenen Lippen, die steile Falte zwischen den Brauen, den starren Blick.
Während der Fahrt zurück nach Hause sagte er kein Wort. Seine Hand war verkrampft und zitterte, als er die Haustür aufschloss. Julia, die Babysitterin, stand schon mit Tasche und Jacke in der Diele und verfolgte den Hausherrn mit großen Augen, der sich, ohne sie zu beachten, fast grob an ihr vorbei in Richtung Wohnzimmer schob. Je regelmäßiger sie das große, weiße Haus mit den dunklen Fensterscheiben besuchte, desto drängender wurde in ihr das Verlangen, diesen Ort möglichst schnell wieder zu verlassen. Julia wandte sich zu Berenice Ingstedt, die mit ihrer silbergrauen Seidenstola über dem Arm vor der weiß glänzenden Einbaugarderobe stand und in den mannshohen Spiegel sah. Die Frau stand da wie festgefroren; eine schmale durchsichtige Gestalt, deren Gesichtszüge so blutleer und unfertig wirkten, als habe man einen blassen Ballon mit halbleerem Filzstift bemalt. Nur ihr Blick bewegte sich unruhig durch den großen Raum, so als suchte er etwas, an dem er sich festhalten könnte. Das junge Mädchen räusperte sich, fuhr sich nervös mit der Hand durch das kurze rötliche Haar.
»Philipps Bett war wieder nass. Ich habe es abgezogen. Sonst war alles okay. Wir haben erst Playmobil gespielt und dann ›Arielle, die Meerjungfrau‹ geguckt. Seit zwei Stunden schläft Philipp jetzt. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Abend?« Unsicher blickte Julia auf die große Laufmasche, die sich über das gesamte rechte Schienbein der Hausherrin zog. Diese löste sich aus ihrer erstarrten Haltung, zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend:
»Ein kleines Missgeschick. Aber danke, Julia. Das Geld haben Sie von der Küchenbar genommen, ja? Ich werde Sie anrufen, wenn wir Sie wieder brauchen sollten. Gute Nacht, Julia.«
Julia schluckte. Sie roch und fühlte Angst oder etwas, das noch dumpfer und schwerer war und sich wie ein klammes, gestocktes Tuch auf ihre Nase und ihren Mund legte. Dieses unangenehme Gefühl war wie schon so oft zuvor mit dem Ehepaar Ingstedt ins Haus gekommen.
»Ja danke, dann auf Wiedersehen.«
Obwohl es ein milder Spätsommerabend war, hatte sich leichter Nebel gebildet. Als Julia durch die Haustür ging und eilig die kopfsteingepflasterte Einfahrt hinunterschritt, wurde sie fast augenblicklich vom Dunkel der Nacht umschlossen. Der Bewegungsmelder schaltete mit einem leisen Klicken die Außenbeleuchtung des Hauses an und schickte schwache Lichtstrahlen hinter dem Mädchen her, die es jedoch nicht mehr erreichten.
Berenice sah ihr nach, trat dann, ohne sich umzudrehen, einen Schritt zurück und verschloss mit einer langsamen und konzentriert ausgeführten Bewegung die Tür.
Der erste Schlag traf sie an der linken Schläfe. Sie fiel sich drehend gegen das Sideboard und die scharfe Griffkante schlitzte die Haut über ihrem Jochbein auf. Ihr rechter Fuß in der silbernen Sandale klemmte verkantet unter dem Sideboard. Benommen starrte sie darauf, als sie eine dünne Stimme hörte.
»Mama?«
Sie drehte den Kopf. Sein dunkelrotes, wutverzerrtes Gesicht war dicht über ihr, die rechte Faust geballt und bereits zum nächsten Schlag ausholend.
»Julius, der Mann war betrunken, ich konnte doch nichts …«
»Mama!«
Philipp kam barfuß die Treppe herunter, seinen Stoffaffen hinter sich herziehend. Berenice streckte die Hand nach dem Sideboard aus und versuchte, sich in eine sitzende Position hochzuziehen. Sie hörte die Angst in ihrer eigenen Stimme:
»Philipp, mein Schatz, bitte gehe in dein Bett. Die Mami kommt gleich.« Sie spürte warmes Blut über ihre Lippen laufen und bemerkte überrascht, dass es bereits unregelmäßige Tropfen auf dem hellen Granitboden hinterlassen hatte. Der Junge hielt sein Stofftier fest umklammert und sah seine Mutter an. Seine Augen weiteten sich und er öffnete den Mund zu einem Schrei. Berenice drehte den Kopf weg. Es wurde dunkel.
Sie blickte sich in dem kleinen Raum um. Das schäbige Sofa hatte sie mit Tüchern und Decken in verschiedenen Rottönen verhüllt, ebenso den abgewohnten Ohrensessel, den Nadine ihr zum Einzug geschenkt hatte. Auf den runden Tabletts aus messingfarbigem Blech, die sie auf zierlichen Tischchen und dem Fußboden verteilt hatte, flackerten unzählige kleine und große Teelichter und Kerzenstumpen, als unterhielten sie sich untereinander in einer lautlosen Sprache. Räucherstäbe glommen in hölzernen Kästchen und die Aromen von Moschus und Patschuli waberten durch die Luft und drangen wie unsichtbare Tentakel in jede Ritze des Zimmers. Während sie barfuß durch ihr dunkles Reich schritt und sich anmutig zu den sphärischen Klängen von Sigur Ros’ Musik bewegte, prüfte sie das getroffene Arrangement mit kritischem Blick: Die Shisha Pfeife war auf einem Beistelltisch unter der Dachschräge platziert, ein paar Aschenbecher hatte sie auf den Fensterbänken verteilt und ein weiteres Tablett mit Gläsern stand bereit. Alles war so, wie sie es geplant hatte. Sie war zufrieden. Ein Hauch von Marrakesch, dachte sie, und ein sardonisches Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel. Ihr Blick richtete sich auf die Matratze in der Ecke des Raumes. Auch sie war mit einem dunkelroten Laken bezogen und mit vielen Kissen dekoriert. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Was, wenn das Licht nicht ausreichte? Eine weitere Lampe musste her. Schließlich sollte der alte Sack doch genau sehen können, was das liebe Töchterlein so trieb, wenn es sich auf Referate vorbereitete. Sie kicherte bösartig. Das verwöhnte Balg hatte es nicht anders verdient! Und dieser elende Scheißkerl, der ihre Mutter bestieg, auch nicht. Der würde es sowieso nicht mehr lange machen, der verdammte Junkie. Es klingelte an der Tür. Kurz schloss sie die Augen und wappnete sich gegen den Ekel, der sie ansprang wie eine fette Ratte. Kontrolliert atmete sie ein und aus, konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.
»Hi, Robin.«
Sie trat einen Schritt zurück und wies mit einer einladenden Geste hinter sich in die Wohnung. Dabei glitten ihre Augen wie Scanner über seine Gestalt. Er war auf Speed, aber nicht total zu. Außerdem war er frisch geduscht, trug ein weißes Hemd und die schwarze Lederhose. Sie nahm seinen Duft wahr. Er hatte das Aftershave benutzt, das sie für diesen Zweck besorgt hatte.
»Pass auf, Robin. Sie hört dieses esoterische Gedudel den ganzen Tag, steht auf Gedichte, Rilke und so. Außerdem mag sie …«
»Halt die Klappe, Joelle!«, unterbrach Robin Piontak sie barsch. »Ich weiß genau, wie diese Edelhühner ticken. Außerdem rede ich heute nicht mit der Kleinen. Die wird mich gleich nur ansehen und hin und weg sein, vor allem Letzteres.« Er grinste Joelle herausfordernd an. »Wo hast du das Liquid?«
»In der Küche«, antwortete sie, »und grins’ nicht so. Deine Zähne sind nicht unbedingt das Schönste an dir.«
Er holte aus, doch sie ließ seine Bewegung ins Leere laufen, indem sie geschickt zur Seite auswich. Wage es ja nicht!, sagte ihr Blick. Wieder klingelte es. »Versau’ es nicht, Robin«, raunte sie ihm zu und bedachte den Mann mit einem letzten warnenden Blick, bevor sie zur Tür ging. Wenig später betrat ein junges Mädchen das Zimmer.
»Total schön hast du es hier, Joelle! Ups, bin ich etwa die Erste?«
Robin betrachtete das Mädchen: reine Haut, hellblonder Pferdeschwanz, offener Blick, aufrechte Haltung. Irritierend wirkte nur das Piercing: Trotzig prangte der silberne Ring wie ein buchstäblicher Fremdkörper in ihrer Unterlippe. Robin kannte Mädchen wie sie von früher. Als er klein war, hatte ihn sein Vater am Wochenende manchmal mitgenommen: Sie waren mit seinem Auto zu Eisdielen außerhalb der Stadt gefahren; einige Male hatte ihn sein Vater zu Reitturnieren mitgenommen, manchmal auch auf sein Segelboot. Überall dort war er Mädchen wie ihr begegnet. Überhaupt ähnelten die Menschen, mit denen sein Vater sich umgab, einander. Trafen sie auf Bekannte, spürte Robin ihre Blicke und die Nervosität seines Vaters. Er, Robin, hatte nie dazugehört. Jetzt suchte er den Blick des Mädchens, bis sie ihn schließlich erwiderte. Nora Hesselbach also. Er hatte sich vorgestellt, dass er sie hassen würde, und wartete auf irgendeine Reaktion seines Körpers. Ein scharfes Brennen im Magen vielleicht. Es kam nicht. Stattdessen fühlte er gar nichts. Er würde das jetzt durchziehen hier. Das Mädchen war nur Mittel zum Zweck. Es würde ihm helfen, seinen Feind zu vernichten. Er lächelte sie an, achtete darauf, dass er die Lippen geschlossen hielt. Gelassen stand er vom Sofa auf und stellte sich ihr vor. Es klirrte leise, als die Gastgeberin sich näherte.
»So, ihr beiden. Willkommen in meinem neuen Zuhause und auf einen schönen Abend!« Joelle balancierte drei Gläser mit einer klaren Flüssigkeit auf einem Tablett und stellte es auf dem niedrigen Couchtisch ab. Das Glas mit dem roten Strohhalm reichte sie Nora. Robin und sie selbst nahmen sich ebenfalls ein Glas und stießen an.
Nora zog am Strohhalm. Wodka mit Tonic, Wasser und Limette. Bitter und irgendwie leicht seifig? Aber so oft trank sie keinen Alkohol. Süßer Typ, dieser Robin. Joelle kannte viele interessante Leute, war viel erwachsener als sie. Sogar eine eigene Wohnung hatte sie schon! Während ihre eigene Mutter sie wahrscheinlich noch gerne zu Hause hätte, wenn sie längst studierte.
»Hörst du gerne Musik?«
Da war auf einmal so ein Brummen in ihrem Kopf. Fast hätte sie die Frage nach ihrer Lieblingsmusik nicht mitbekommen! »Ich, äh, alles Mögliche halt. Am liebsten aber Sigur Ros.« Nora kicherte. So ein Zufall, genau die Musik lief gerade! Meine Güte, es war so heiß hier drin, und diese vielen Kerzen. So ein Flimmern überall! Sie musste unbedingt aufstehen, an die frische Luft. Ob es hier einen Balkon gab? Es klingelte, neue Gäste? Gesichter tauchten vor ihr auf, nein, nur ein Gesicht, Robin. Sie stützte sich am Sofa ab und versuchte, sich daran hochzuziehen.
»Moment, ich helfe dir.« Robins Stimme klang warm und weich in ihrem Ohr. Er roch so gut, irgendwie warm und vertraut, nach zu Hause. Es war der Duft ihres Vaters. »Papa? Was ist los? Wo bin ich?« Seine Arme hielten sie, und sie fiel hinein wie in eine kühle weiche Wolke.
»Yalla! Yalla, Robin! Glotz’ nicht rum und zieh dich aus! In Verbindung mit Alkohol hält die Wirkung länger an. Aber lieber kein Risiko eingehen!« Die Stimme von Joelle klang gehetzt und gleichzeitig herrisch, während sie dem reglosen Mädchen die Jeans öffnete und sie an den Beinen herunterzerrte. Ein paar Minuten später lag Nora rücklings auf der Matratze. Sie war fast nackt, bis auf ein Paar Plateaustiefel aus imitiertem Lackleder und einem ebenso billigen Hüftgürtel aus industriell gefertigter Spitze. Joelle drehte den Lichtkegel der kleinen Stehlampe so, dass das Paar auf der Matratze perfekt ausgeleuchtet war. »So, und jetzt action, Robin!«
Die Kamera fuhr über den ausgezehrten Oberkörper des jungen Mannes, schwenkte auf seine vernarbten Hände, die ungelenk den fleckigen Slip herunterstreiften. Er kniete auf der Matratze und ließ sich nach vorne fallen. Zitternd stützte er sich auf seinen dürren Oberarmen ab, während er grob gegen ein Bein von Nora trat und sich zwischen ihre Schenkel legte. Ein Schweißfilm glänzte auf Stirn und Oberkörper. Der Körper des Mannes schwankte, als könne er sein eigenes Gewicht kaum halten. Joelle hielt die Kamera konzentriert auf das Paar gerichtet. In ihrem Mund prickelte eine Mischung aus Ekel, Verachtung und Schadenfreude, als sie die Lippen über die Zähne zurückzog und vor sich hinmurmelte: »Und nun, meine Damen und Herren, sehen Sie die Neuverfilmung der ›Marquise von O‹ in einer ganz speziellen Version. Wir widmen diesen Film dem Vater unserer beiden Hauptdarsteller, Hennes Hesselbach!«
»Sie haben es doch gehört, Euer Ehren: Ich war’s nicht. Die Kleine ist, wie hat sie das noch so schön gesagt«, der junge Mann beugte sich nach vorn und zwinkerte der blassen Gestalt im Zeugenstand zu, »unglücklich gestürzt.« Lässig zurückgelehnt legte er den Kopf schief.
»Ja, ja. Das passiert schon mal.« Die hochgezogene Oberlippe legte entzündetes Zahnfleisch und eine unregelmäßige Reihe maroder Zähne frei.
»Dann sind wir hier doch fertig, oder?« Mit diesen Worten legte der Angeklagte seinem Verteidiger eine rotfleckige Hand mit gelb verfärbten, brüchigen Fingernägeln auf den Unterarm.
Dem Verteidiger schien die Geste unangenehm zu sein. Er flüsterte seinem Mandanten etwas zu. Dabei beugte er seinen Oberkörper steif dem Angeklagten zu, während er gleichzeitig seinen Unterarm zurückzog und so tat, als müsse er dringend etwas notieren. Die vorsitzende Richterin betrachtete beide Männer ohne Regung im Gesicht.
»Wann und vor allen Dingen ob wir hier fertig sind, entscheide ich, Herr Piontak. Die Dame im Zeugenstand heißt Frau Knaaß und wird von Ihnen während der weiteren Verhandlung auch so angesprochen. Herr Verteidiger, bitte halten Sie Ihren Mandanten zu einem angemessenen Verhalten vor Gericht an. Mir scheint, der Angeklagte ist sich seiner Situation nicht bewusst.« Die Richterin machte eine Pause und sah zum Tisch der Staatsanwaltschaft, dann suchte ihr Blick die junge Frau im Zeugenstand. »Der Angeklagte Piontak ist bereits mehrfach einschlägig verurteilt worden. Im Übrigen wird seitens der Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung in diesem Fall bejaht.«
»Mit Verlaub, Frau Vorsitzende«, unterbrach der Verteidiger, »wenn ich das richtig sehe, gibt es hier keinen Fall mehr. Wie mein Mandant mir soeben mitteilt, sind er und die Zeugin seit gestern Abend verlobt.«
Der Angesprochene kicherte und hob die Hand, an der ein silberner Ring steckte, und bedeutete der Frau im Zeugenstand, es ihm gleichzutun. Der Verteidiger drehte sich zu Piontak um und redete leise auf ihn ein, bevor er fortfuhr: »Frau Knaaß macht also als Angehörige von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.«
Die Richterin schaute die junge Frau an. »Frau Knaaß, entspricht die Aussage der Wahrheit?« Die Frau im Zeugenstand sah nach unten, zog die Unterlippe zwischen die Zähne und murmelte etwas. »Frau Knaaß«, wiederholte die Richterin, »sind Sie mit dem hier angeklagten Robin Piontak verlobt?«
»Ich, äh, ja. Seit gestern Abend.« Nadine Knaaß räusperte sich und reckte trotzig ihren schmalen Oberkörper. Ihr Blick ruhte auf der Hand mit dem Ring in ihrem Schoß, und plötzlich saß sie aufrechter auf dem unbequemen Stuhl.
»Und als Verlobte des Herrn Piontak möchten Sie sich zu den Geschehnissen in der Nacht vom 27. auf den 28. Mai nicht mehr äußern?« Nadine Knaaß holte Luft und bog die Schultern zurück. Sie sah zum Richtertisch. Das Veilchen an ihrem rechten Auge war auch unter der dicken Schicht billigen Make-ups deutlich sichtbar.
»Nein, ich sage nichts, also ich möchte mich nicht äußern.« Sie sah zu Piontak hinüber und dieser warf ihr einen Luftkuss zu.
»Das ist mein Mädchen!« Grinsend schlug er seinem Verteidiger auf die Schulter. Dann blickte er in gespielter Demut zum Richtertisch auf und artikulierte übertrieben deutlich: »Euer Ehren, ich bin mir sehr bewusst, dass ich in der Vergangenheit den einen oder anderen Fehler gemacht habe. Wer hat das nicht? Aber Menschen können sich ändern. Ich bin mir total sicher, dass mein Nadinchen, Entschuldigung, Frau Knaaß und ich sehr glücklich werden.«
Beherrscht schloss die Richterin die Tür hinter sich. In ihrem Büro allerdings knöpfte sich Katharina Struckmann-Jarr mit unnatürlich ruckartigen Bewegungen die schwarze Robe auf und riss dabei einen Knopf ab. Sie wickelte sich den schwarzen Stoff mehrmals in schneller Folge um den Unterarm und schleuderte ihn dann in den Sessel, der neben ihrem Schreibtisch stand. Die Richterin fasste sich an die Stirn und unterdrückte ein Stöhnen. Hinter ihren Augenlidern sirrte seit den Morgenstunden ein Schmerz wie der schrille Ton einer Trillerpfeife. Sie hob den Knopf vom Boden auf und legte ihn auf dem Schreibtisch ab. Dann griff sie nach der Robe und schüttelte sie sorgfältig aus, bevor sie das Stück Stoff ordentlich auf einen Bügel und an den dafür vorgesehenen Haken hängte. Das Handy auf ihrem Schreibtisch blinkte. Sieben eingegangene Nachrichten. Alle vom Handy ihrer Tochter. Als sie nach dem Telefon griff, um zurückzurufen, klopfte es an der Tür. Bevor die Richterin auch nur »Herein!« rufen konnte, öffnete sich die Tür mit Schwung und eine dicke Frau in kaftanartigen Gewändern stürmte wütend in den Raum. Mehrlagige Stoffbahnen umwehten ihren Körper, sie stützte ihre runden Fäuste auf den Hüften ab und blieb schließlich vor dem Schreibtisch stehen.
»Der Angeklagte ist freizusprechen, da die Beweislast nicht ausreichend ist. Der Tathergang kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, da die geschädigte Nadine Knaaß mit dem Angeklagten verlobt ist und so als Angehörige von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht!«, wiederholte die voluminöse Frau den entscheidenden Teil des Urteilsspruchs. Dabei gestikulierte sie aufgeregt mit ihren kräftigen Armen und ließ sich schließlich schwer in den Ledersessel vor dem Schreibtisch fallen. »Das ist dann das Ergebnis! Es ist immer das Gleiche! Da verbringe ich ganze Nächte im Frauenhaus und rede auf diese armen Seelen ein, und wofür? Kaum kommt so ein Verbrecher wie dieser Piontak um die Ecke und säuselt denen was von Verlobung, Familie und, ach ja richtig, von Liebe ins Ohr, fallen Mädels wie die Knaaß um! Schnell ein billiges Glassteinchen an den Finger gesteckt und die Welt ist wieder bunt und schön! Himmel, Sack!«
Erhitzt von ihrem Monolog legte die Frau den Kopf in ihren massigen Nacken und schloss kurz die Augen, dann blickte sie wieder auf. »Haben Sie was zu trinken hier, bitte? Ich habe die Schnauze so was von voll von diesem Job!«
Katharina Struckmann-Jarr erhob sich und ging zu einem eleganten Art Deko Buffet auf der gegenüberliegenden Zimmerseite. Mit einer Flasche stillem Wasser und zwei schweren Kristallgläsern in der Hand kehrte sie zurück und nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz. Angesichts der Aussicht auf ein Glas lauwarmes Wasser sackten die Gesichtszüge der Sozialarbeiterin nach unten, was ihrem Gesicht das Aussehen einer enttäuschten Bulldogge gab. Während die Richterin großzügig einschenkte, hob sie resigniert die Schultern. »Ach, Frau Willomeit. Das war nicht das erste und wird auch nicht das letzte Mal sein, dass es so läuft. Ohne Aussage der Klägerin ist keine Verurteilung möglich. So will es das Gesetz.«
Katharina Struckmann-Jarr beendete ihre frühmorgendliche Joggingrunde durch den Stadtwald und schloss die schwere dunkle Eichenholztür der Jugendstilvilla in der Kulenkampffstraße auf. Die sportliche Mittfünfzigerin kniete sich auf die Schmutzmatte vor der Haustür und schnürte ihre lehmverkrusteten Laufschuhe sorgfältig auf, bevor sie sie zum Auslüften vor der Tür stehen ließ. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, die zugeknoteten Schuhe einfach abzustreifen oder gar mit den schmutzigen Sportschuhen das Haus zu betreten. Struckmann-Jarr genoss als Richterin den Ruf, die Dinge sehr genau zu nehmen. Kompromisse machte sie ungern, vorschnelle Vergleiche gab es bei ihr nicht. Mit koordinierten, ruhigen Bewegungen hängte die eher grobknochige Frau ihre Jacke an die Garderobe, nahm die Zeitung aus dem Briefschlitz und legte sie in der Küche auf dem großen hellen Holztisch ab. Dann stellte sie eine Tasse samt Untertasse, Teelöffel und einen Frühstücksteller dazu. Seit Ulrich, ihr Mann, vor sechs Jahren ums Leben gekommen war, hatte die Richterin für sich die gemeinsame Gewohnheit beibehalten, in Ruhe zu frühstücken und dabei die Zeitung zu lesen. Sie war eben dabei, die Packung mit dem Schnittkäse aus dem Kühlschrank zu holen, als das Telefon im Nebenraum zu klingeln begann. Unwillig schloss sie die Kühlschranktür wieder. Sie mochte keine Überraschungen.
»Struckmann-Jarr hier«, nahm sie das Gespräch mit ihrer ruhigen dunklen Stimme an, dann erhellte sich der Tonfall: »Berenice, guten Morgen! Ich habe gestern schon gesehen, dass duversucht hast, mich zu erreichen, und ich bin noch gar nicht dazu gekommen, zurückzurufen. Aber wir sehen uns ja heute und …« Ihre Stimme brach ab und sie lauschte konzentriert, dann runzelte sie die Stirn. »Berenice, du klingst so undeutlich. Wie bitte? Gestürzt, ja«, sagte sie langsam und ihre Hand fasste den Hörer fester. »Aber selbstverständlich komme ich! Ich habe es Philipp versprochen und dabei bleibe ich auch. Notfalls gehe ich mit ihm alleine in den Zoo. Ja, bis später dann.«
Sie legte auf. Ihre Augen wanderten zu dem runden Spiegel, der über einer ausladenden Biedermeierkommode hing. Die Richterin hatte die Zähne so fest aufeinandergepresst, dass ihre Kiefer schmerzten. Sie lockerte die verspannte Kieferpartie bewusst und massierte sie beidseitig mit den Zeige- und Mittelfingern. Ihr Blick fiel auf den gläsernen Bilderrahmen auf der Kommode. Ulrich. Schon der Blick dieser wachen braunen Augen war heilsam, versprach nichts als Güte und Großzügigkeit. Wie anders als sie war ihr Mann gewesen! Wenn eines ihrer Enkelkinder ein neues Wort gelernt hatte, konnte Ulrich sich immer wieder aufs Neue begeistern. Und auch das hundertste Bild mit den immer ähnlichen bunten Krakeleien darauf betrachtete er so aufmerksam und voll Großvaterstolz, dass es sie befremdete. In diesen Momenten hatte sie sich immer ausgeschlossen gefühlt. Sie warf dem geliebten Gesicht einen letzten Blick zu, drehte sich um und ging in die Küche zurück.
Einige Stunden später fuhr Katharina Struckmann-Jarr die bekannte Strecke nach Oberneuland. Während sie auf der breiten, von hohen Bäumen beschatteten Straße fuhr, dachte sie an die protzige Hochzeit ihrer Tochter, die sie hier vor acht Jahren gefeiert hatten. Unwillkürlich fasste sie die Hände fester um das Lenkrad ihres Coupés. Ulrichs Eltern waren mehr als wohlhabend gewesen, dennoch hatten sie damals zu zweit an der Nordsee geheiratet. Kein Pomp, kein Prunk, weder Verwandte noch Freunde hatten sie begleitet, der Tag hatte nur ihnen beiden gehört. Ihr Kleid hatte Ulrich eine halbe Stunde vorher in der Fußgängerzone von Norderney gekauft, Schuhe hatte sie nicht gebraucht. Sie lächelte, als sie an ihn dachte und die leise Melancholie, die sie seit seinem Tod ständig begleitete, meldete sich ziehend in ihrer Brust. Drei Kinder hatten sie bekommen. Berenice, Johannes und Gereon. Alle drei hatten sie mit größtem Engagement gefördert. Nichts war ihnen zu viel gewesen, alles hatten sie ermöglicht. Die Kinder bewegten sich von Anfang an ganz selbstverständlich in exklusiven Restaurants, kannten die mondänsten Urlaubsorte auf der Welt und begegneten Menschen mit jener souveränen Gelassenheit, die man später nicht mehr erlernen kann. Hatten sie hier als Eltern Fehler gemacht? Hätten die Kinder mehr kämpfen müssen, sich durchbeißen sollen? Katharina Struckmann-Jarr schüttelte sich energisch das halblange Haar aus dem Gesicht, als wolle sie die Zweifel vertreiben. Sie seufzte, als sie an ihren Schwiegersohn dachte. Julius Ingstedt. Das Kontrastprogramm: aufgewachsen als Kind einer alleinerziehenden und überforderten Mutter. Der Vater war kurz vor seiner Geburt verschwunden und seine Mutter hatte kurz vor ihrem 40. Geburtstag die Chance ergriffen, einen 30 Jahre älteren Landarzt zu heiraten und sich als Arztfrau zu verwirklichen. Sehr offensichtlich hatten weder bei der Heirat seiner Mutter noch bei Julius’ Berufswahl altruistische Motive eine Rolle gespielt, ganz im Gegenteil: Mutter und Sohn betrieben ihren gesellschaftlichen Aufstieg offensiv und skrupellos. Angewidert kniff sie die Lippen zusammen, als die kleine dünne Frau mit dem harten Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte. Im Gegensatz zu seiner Mutter war Julius zwar deutlich intelligenter, subtiler war er nicht. Sie bog die Sonnenblende herunter und rief ihrem Spiegelbild ein lautloses Iiih! zu, als sie sich an die erste Begegnung mit ihrem Schwiegersohn erinnerte. Mit einem affektierten Handkuss hatte er sich ihr vorgestellt, und sie hatte ihn vom ersten Moment an widerlich gefunden. Berenice war wie immer gegen alle guten Ratschläge, ja sogar gegen ihre unverhohlenen Drohungen, immun gewesen. Und dann diese Hochzeitsfeier! Julius verwechselte Selbstsicherheit mit Überheblichkeit, Großzügigkeit mit Protzerei. Wie ein kleinbürgerlicher Gatsby war er zwischen all den geladenen Honoratioren der Stadt herumstolziert. Mit einer dünkelhaften Rede hatte er seine wenigen Freunde düpiert und die aus offiziellen gesellschaftlichen Gründen erschienenen Hochzeitsgäste peinlich berührt. Die Bräutigammutter platzte derweil fast vor Stolz auf ihren brillanten Sohn. Wie eine Königin war sie durch das Haus geschritten und hatte den Gästen eine Führung vom Keller bis zum Dachboden aufgenötigt. Während Julius’ Mutter auf verschiedene Möbel bekannter Designer gezeigt hatte, nannte sie laut und deutlich auch den entsprechenden Kaufpreis dazu. Mit zu viel und in zu kurzer Zeit genossenem Champagner machte sie die Gäste auf Originale von Miró und Chagall aufmerksam, wobei sie bei Miró die Betonung auf die erste Silbe legte und bei Degas die letzte Silbe aussprach wie Gas. Heiße Luft, ganz buchstäblich. Bei dem Gedanken an diese denkwürdige Veranstaltung lächelte sie traurig. Damals auf der Fahrt zurück nach Hause hatten sie derart lachen müssen, dass Ulrich sich verschluckte und bei dem Versuch, am Straßenrand zu halten, einen Kilometerstein rammte. Dieser Kilometerstein hatte die Wagentür so unglücklich getroffen, dass der Wagen abgeschleppt werden musste. Über dieses unrühmliche Ende einer Dienstfahrt hatten sie sich im Taxi noch weiter amüsiert. Julius’ Mutter hatten sie nur zur Taufe Philipps noch einmal gesehen und darüber hinaus jeden Kontaktversuch erfolgreich abgewehrt. Zwei Jahre nach Ulrichs Tod war auch sie dann an einem Herzinfarkt verstorben. Sie seufzte. Wie viel Zeit seit diesem Tag vergangen war! Die Richterin drosselte die Geschwindigkeit, setzte den Blinker und bog in eine kleine gewundene Stichstraße ein. Schon kurz nach Philipps Taufe begannen sich die unerklärlichen Unfälle von Berenice zu häufen. Sie war ausgerutscht und mit dem Kopf an die Türzarge geschlagen, hatte die Stufe zur Terrasse übersehen, war aus dem Bett gefallen und mit der Schulter gegen den Nachttisch geprallt, die offenstehende Schranktür übersehen und so weiter und so fort. Und nun war sie also wieder einmal unglücklich gestürzt. Der Wendehammer kam in Sicht, die Richterin setzte abermals den Blinker und bog ein. Als sie die mit Blaubasalt gepflasterte Einfahrt hinauffuhr, zog sich ihr Magen krampfhaft zusammen. Mit einem Stirnrunzeln stoppte sie den Wagen und schnallte sich ab. Als sie den Schlüssel abzog und aus dem Wagen stieg, fiel ihr Blick auf die Haustür der modernen Villa. In die gläsernen Elemente der zweiflügeligen Tür waren die verschlungenen Initialen des Ehepaares eingeätzt worden. Einen Halbkreis darunter bildete der Familienname in handtellergroßen Versalien. Zwei überdimensionierte Äskulapstäbe rechts und links des Namens gaben dem Besucher einen wenig subtilen Hinweis auf den Berufsstand des Hausherrn und auf dessen übergroßes Ego. Die Krönung war dann der bronzene Türklopfer in Form eines Schlangenkopfes, der auf dem hölzernen Seitenteil der Tür angebracht war. Das Hochzeitsgeschenk von Julius’ Mutter war derart neureich und geschmacklos, dass Katharina Struckmann-Jarr jedes Mal die Luft wegblieb, wenn sie es bewusst betrachtete. Berenice musste wirklich sehr verliebt gewesen sein, buchstäblich blind vor Liebe! Plötzlich öffnete sich die in Glas und Holz manifestierte Geschmacklosigkeit, und der Hausherr trat ihr entgegen. Er stellte sich so in die Haustür, dass er den Weg ins Haus versperrte.
»Katharina, guten Tag«, begrüßte er seine Schwiegermutter förmlich.
Diese nickte ihm zu, kein Lächeln. »Julius.« Der Schwiegersohn ließ seine Autoschlüssel auf eine Art und Weise durch die rechte Hand gleiten, die sie an Drohgebärden von Vorstadtrockern in schlechten Filmen erinnerte. Er zog die Brauen hoch und verzog die Lippen zu einem ironischen kleinen Lächeln. Nach einer unangenehm langen Pause sagte Julius in einem Tonfall, der das falsche Lächeln noch unterstrich:
»Ja, liebe Schwiegermutter, dein Besuch kommt leider etwas ungelegen heute. Berenice ist schlimm gefallen letzten Samstag. Die Arme. Ich musste die Wunde sogar nachts noch nähen.« Er verzog den Mund und imitierte einen Schmerzenslaut. »Sie hatte vorher schon einen ziemlich peinlichen Auftritt mit Schrootens auf dem Sommerfest der Mediziner, aber nun. Du weißt ja, wie ungeschickt sie sein kann.«
»So?«, erwiderte Katharina Struckmann-Jarr, die sich zwang, ruhig und kontrolliert zu atmen. »Ehrlich gesagt ist mir das neu. Ich kannte meine Tochter vor ihrer Ehe immer als äußerst kultivierte junge Dame, die Wert auf ein entsprechendes Umfeld legte. Diese neuerlichen Ungeschicklichkeiten müssen an ihrer Umgebung oder vielmehr an ihrem Umgang liegen.« Julius Ingstedts unechtes Lächeln verrutschte. Er griff nach einigen Unterlagen, die hinter ihm auf dem Sideboard lagen, und machte einen Schritt auf seine Schwiegermutter zu. Die blieb stehen, und er stieß absichtlich hart gegen ihre Schulter, als er an ihr vorbeischritt. Mit vor Wut gerötetem Gesicht drehte er sich um.
»Du kannst deiner Tochter ausrichten, dass es spät wird bei mir. Der alte Bernau wird verabschiedet. Ich bin mit all meinen Kollegen im ›ÜberFluss‹. Meine liebe Ehefrau kann jaleider nicht mitfeiern, da sie wieder einmal indisponiert ist.«
Die Richterin sah ihm nach, dann drehte sie sich um und betrat das Haus. Berenice kniete mit dem Rücken zu ihr und zog Philipp seine blauen Schuhe mit den gelben Schnürsenkeln an. Der Junge stand still da, fast teilnahmslos und blickte konzentriert nach unten auf den Kopf seiner Mutter. »Hallo, mein kleiner Forscher«, rief Katharina Struckmann-Jarr betont fröhlich in seine Richtung, »bist du bereit für ein Abenteuer?« Der Junge blickte auf.
»Omakat«, erwiderte er fast flüsternd, als handele es sich um ein Geheimnis. »Mama hat Aua.«
»Ich möchte nicht darüber reden, Philipp!« Die Stimme von Berenice war leise, klang aber wie aus Metall. Der Junge zuckte leicht zusammen und begann, seine kleinen Hände an der seitlichen Hosennaht zu reiben. »So, fertig«, sagte Berenice etwas freundlicher. Sie zog die letzte Schleife fest zu, drehte sich um und richtete sich auf. Dann sah sie ihrer Mutter direkt ins Gesicht. »Ich bleibe wohl besser hier, was?«
Katharina Struckmann-Jarr wich erschrocken zurück. Das Gesicht ihrer Tochter war linksseitig so geschwollen, dass der Mund sich sichelförmig nach unten verzog. Ein tiefroter Schnitt verlief auf der Wange, zusammengehalten von schwarzen Fäden, die dick wie Kellerspinnenbeine aus der Haut ragten. Das linke Auge war komplett geschlossen. Die Richterin ballte die Hand zur Faust und musste schlucken. Sie fühlte ein Brennen von der Kehle bis in den Magen, als habe sie einen glühenden Stein geschluckt.
»Berenice, du kannst doch so nicht weitermachen«, setzte sie an, doch die junge Frau fiel ihr ins Wort.
»Doch, Mutter, ich kann. Es ist alles in Ordnung. Ich bin mit Julius’ Chef hingefallen, beim Tanzen. Ganz großes Kino! Dabei kenne ich doch diesen Schrootens! Alle anderen Damen hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht, nur ich bin da bräsig am Tisch sitzengeblieben. Immer muss ich ihn so blamieren. Ich bin ein solcher Trampel!«
»Das ist doch Unsinn, Berenice, und das weißt du auch!«, entgegnete Katharina Struckmann-Jarr aufgebracht. Philipp, der sich inzwischen seine Jacke geholt und angezogen hatte, begann unruhig zu werden und quengelte.
»Omakat, Zoo! Affen gucken und Elfanten!«
»Elefanten«, verbesserte sie automatisch. »Sofort, mein Schatz.« Berenice strich ihrem Sohn in einer mechanischen Bewegung mehrmals über den Kopf. »Omakat fährt jetzt los mit dir, und wenn du zurückkommst, gibt es Pizza, ja?«
Katharina Struckmann-Jarr nahm ihren Enkel an die Hand und wandte sich an der Haustür noch einmal zu ihrer Tochter um. »Julius ist heute mit Kollegen im ›ÜberFluss‹. Was ist das?« Berenice verkrampfte und verzog schmerzhaft das Gesicht, als sie nach dem gebürsteten Edelstahlgeländer griff, das ins obere Stockwerk führte. »Das ist so ein Designhotel an der Schlachte, genauer gesagt die Dachterrasse mit Blick über das Wasser. Er ist häufiger dort. Mit Kollegen«, antwortete sie, den Blick die Treppe hinauf gerichtet.
Im oberen Stockwerk angekommen, beobachtete sie durch das bodentiefe Fenster in Philipps Zimmer, wie ihre Mutter gewissenhaft den Enkelsohn in den Kindersitz setzte und ihn anschnallte. Sie beugte sich über das Kinderbett und hielt die Luft an. Wie das stank! Schnell zog sie die nasse Bettwäsche ab. Wann hatte das alles angefangen? Ihr ganzes Leben entglitt ihr, rutschte ihr aus den Händen wie nasses Gras. Was war gestern passiert, als sie bewusstlos war? Philipp redete nicht mit ihr, fing zu weinen an, wenn sie ihn fragte, ob der Papa ihn ins Bett gebracht habe. Papa! Allein das Wort war eine Lüge. Ihr ganzes Leben war eine Lüge. Das reiche Mädchen aus bester Familie eine Nullnummer! Nur die exklusivsten Schulen im In- und Ausland, teure Ausbildungen, hochkarätige Praktika in Agenturen und Firmen mit Weltnamen, und nichts hatte sie daraus gemacht. Wer war sie schon? Die Tochter von, die Ehefrau von, eines Tages dann die Mutter von. Sie selbst war ein Nichts. Keine Ausbildung beendet, dafür aber mit knapp über 20 Jahren ein Kind bekommen, wie jede beliebige Sozialhilfeempfängerin ohne Schulabschluss. Aber Philipp hatte nur sie. Pech für ihn. Armer Junge! Sie musste ihren Sohn beschützen, das erwartete man doch von einer guten Mutter, oder nicht? Ihre Hand mit dem nassen Laken krampfte sich zusammen. Angeekelt blickte sie darauf und schleuderte das Bettzeug in den Flur. Berenice Ingstedt krümmte sich und sackte schluchzend vor dem Bett ihres Sohnes zusammen. Diese unerträglichen Kopfschmerzen! Fast automatisch glitt ihre Hand in die Tasche ihrer Hose und zog den zerdrückten Blister mit den gelblichen Pillen heraus. In schneller Folge drückte sie drei der kleinen Tabletten heraus und schluckte sie ohne Wasser. Dann ließ sie sich gleich neben dem Bett ihres Sohnes auf den Teppich gleiten. Irgendwann schlief sie ein.
Er trommelte den eingängigen Rhythmus auf dem Lenkrad mit. I’m fighting for a better life for me. It’s got something worth living and dying for … Julius Ingstedt war mehr als zufrieden mit dem Abend. Jetzt, wo der alte Bernau sich endlich in den Ruhestand verabschiedet hatte, konnte er voll durchstarten. Und dann noch das süße Betthupferl eben. Er runzelte kurz die Stirn. Zickig war sie gewesen, die Kleine, aber das renkte er schon wieder ein, wenn nötig auch ganz buchstäblich. Er griff in die Innentasche seines Jacketts. Fast zärtlich rieb er die Scheine zwischen seinen Fingern. Anerkennend grinste er sich selbst im Rückspiegel zu. Ganz klar: Beruflich war er auf der Überholspur. Wer sollte ihm denn jetzt noch im Weg stehen? Arnsfeld etwa, diese Weichwurst? Der machte ja nicht einmal dann den Mund auf, wenn er etwas gefragt wurde. Stammelte vor sich hin und glotzte auf seine billigen Schuhe mit den Gummisohlen, Einser-Examen hin oder her. Flachpfeife! Oder diese kleine Neue, Frau Doktor Schumacher? Julius krauste angeekelt die Nase, als er an die junge Medizinerin dachte: Spitze kurze Zähne in wulstigem rosa Zahnfleisch, farblose dünne Haare ohne Schnitt, braune eng stehende Augen, die pausenlos unruhig blinzelten. Rattengesicht! Wenn er sich die erst einmal vorgenommen hatte, sagte die gar nichts mehr, so viel war sicher. Überhaupt, wie kam so eine Frau zur plastischen Chirurgie? Er hätte die nie eingestellt, was hatte das denn für eine Außenwirkung in Sachen Ästhetik? Die Leute dachten einfach nicht nach! Aber das würde sich bald ändern, wenn er erst einmal ganz oben war. Zufrieden bog er in die ruhige Straße ein, genoss wie jedes Mal die letzten Meter bis zu dem großen weißen Architektenhaus mit dem dunklen Schieferdach. Er ließ die Fensterscheibe herunter und atmete die milde Nachtluft ein. Die Luft hier war einfach anders: Sie duftete nach Wohlstand, nach Erfolg und Selbstbewusstsein, nach Ich-habe-es-geschafft! Er klickte auf den Sender und das breite Tor aus Edelstahl bewegte sich langsam und gleichmäßig zur Seite. Dann stoppte es plötzlich. Julius Ingstedt beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können. Steckte da etwas in der Schiene fest? Der Arzt fluchte ungeduldig und schnallte sich ab. Er stieg aus dem Wagen und ging auf die Stelle zu, an der das Tor angehalten hatte. Er fröstelte; es war kälter, als er erwartet hatte. Der angenehme Glimmer des Alkohols verflog. Etwas ungelenk kniete er sich auf das Pflaster und streckte die Hand nach dem kalt glänzenden Gegenstand aus, der sich in der Mechanik des Tores verkeilt hatte. Das Geräusch eines anspringenden Motors ließ ihn in der Bewegung innehalten. Er blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ein Auto stand mitten auf der Straße, etwa 60 Meter entfernt. Wie ein großes dunkles Tier, lauernd. Julius Ingstedt dachte an eine unheimliche Geschichte, die seine Mutter ihm erzählt hatte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Die Geschichte handelte von einem schwarzen Ritter in einer stählernen Rüstung, der um Mitternacht mit einer Fackel in der Hand auf seinen Feind wartet. Der Arzt kam leicht schwankend auf die Beine und ging auf die Straße. Er blieb stehen und schaute einen Moment unschlüssig in Richtung des Autos. In diesem Moment leuchteten die Scheinwerfer auf und das gleißende Fernlicht verblitzte ihm die Augen. Der schwarzeRitter reckt die Lanze und nimmt den Feind ins Visier. Irritiert blickte er auf und hielt sich die Hand vor die Augen. Der Motor heulte auf und der Wagen schoss nach vorne. Der schwarzeRitter galoppiert auf den Feind zu. Er begriff viel zu langsam, stand geblendet und wie betäubt mitten auf der Straße, bevor er sich endlich umdrehte und zu laufen begann. Er rannte jetzt, doch Alkohol und Panik lähmten seine Beine. Sein Atem kam stoßweise aus der Kehle, das Zwerchfell krampfte. Im Laufen sah er sich um, erkannte hinter dem Steuer ein Gesicht. Der schwarze Ritter hebt sein Visier und fixiert seinen Feind. Der Wagen erfasste ihn, knickte die Knochen seiner Beine wie dürre, trockene Äste. Sein Kopf zerbrach beim Aufschlag auf die Kühlerhaube wie ein rohes Ei. Der schwarze Ritter trifft sein Opfer und bringt es zu Fall. Als er nur Sekunden später auf den Asphalt geschleudert wurde, war Julius Ingstedt tot.
»Wirklich großartig, dieser Saar Riesling.« Clemens Fahnenstedt hielt das Glas in Augenhöhe und betrachtete fast andächtig die goldgelbe und leicht moussierende Flüssigkeit. »Ein ganz ausgezeichneter Winzer, eher ein Bacchus, dieser Niewodni…, Niewo…«.
»Roman Niewodniczanski«, vollendete Elmar Sickenried vom Sofa aus den schwierigen Namen und lächelte seinem alten Schulfreund zu. »Aber du hast absolut recht. Was der in den paar Jahren aus dem Weingut gemacht hat, verdient den höchsten Respekt. Dabei stammt er aus einer Bierdynastie! Ein Gott ist er deshalb aber noch nicht.« Elmar, vor zwei Jahren überraschend verwitwet, war häufig zu Gast auf dem Mooreichenhof. Die abgeschieden gelegene Hofstelle unweit des Künstlerorts Worpswede war seit 13 Jahren das Zuhause von Clemens Fahnenstedt und seiner Exfrau, der Kriminalhauptkommissarin Elisabeth Maria von Seelenthin. Diese sah gerade aufmerksam zu den beiden Männern herüber und warf ihrem einstigen Ehemann einen amüsierten Blick zu.
»So, ihr lieben Freunde von Wein, Weib und Gesang. Ein schöner freier Tag geht zu Ende. Ich lasse jetzt die Hunde noch einmal hinters Haus und gehe dann ins Bett.«
»Gute Nacht, Eija, und danke für den schönen Abend«, verabschiedete sich Elmar, während Clemens ihr übertrieben schmatzend eine Kusshand zuwarf.
Der Abend war wie fast jedes Mal amüsant gewesen. Elmar war ein eloquenter Gesprächspartner: Von Politik über Literatur und Film, bis hin zu ökologischer Tierhaltung und Wein konnte man mit ihm reden. Nur nicht über Religion. Der von Clemens absichtlich platzierte Name des Weingottes war der Startschuss für eine endlose Debatte und eine ebensolche Nacht. Professor Elmar Sickenried war Psychiater und verfügte über profunde Kenntnisse in der Naturwissenschaft, und er war überzeugter Katholik. Ein Widerspruch, fand Clemens, der sämtliche Religionen konsequent ablehnte und Kirchenmitglieder respektlos als Sektierer bezeichnete. Sickenried verteidigte die Existenz und die Funktion der Religion für die Gesellschaft ebenso überzeugt, wie Clemens sie bekämpfte. Was ihre langjährige Freundschaft auszeichnete, war, dass sie trotz dieser unüberbrückbaren Differenzen bedingungslosen Respekt für den jeweils anderen hegten. Die Worte Voltaires »Mein Herr, ich verachte zutiefst Ihre Meinung, aber ich werde mein Leben dafür geben, dass Sie diese vertreten dürfen«, beendeten oft, wechselseitig zitiert, die ergebnislose Debatte und leiteten das gemeinsame Frühstück ein. Von Seelenthin kannte diesen Ablauf seit vielen Jahren und verließ angenehm bettschwer nach mehreren Gläsern Wein den Raum zusammen mit zwei der drei Doggen. Wotan, der ältere der beiden Rüden, wich Clemens nicht von der Seite und würde ihm später ins obere Stockwerk folgen. Seit ihrer Trennung und der später erfolgten Scheidung bewohnten sie den Hof, bis auf Schlafzimmer und Bad, noch immer gemeinsam. Clemens hatte das größere der beiden Gästezimmer mit angeschlossenem Bad bezogen. Keiner von ihnen hatte sich dazu durchringen können, dieses mit so viel Liebe, Mühe, und Herzblut gestaltete Zuhause zu verlassen. Auch das gemeinsam investierte Geld spielte eine Rolle, wenn auch eine eher untergeordnete. Obwohl von Seelenthin den Löwenanteil des Geldes aufgebracht hatte, war auch Clemens mit allem, was ihm zur Verfügung stand, mit eingestiegen. Dieser Hof war ihr Lebenstraum gewesen, und das war er auch heute noch. Die veränderte Form ihres Zusammenlebens änderte daran nichts. Das Gebäudeensemble bestand aus einem großen Haupthaus, dem langgestreckten Stall und einer kleinen Scheune, die als Garage diente. Das Haupthaus war ein rechteckiger, im unteren Drittel aus Feldsteinen gemauerter Bau mit großen bogenförmigen Sprossenfenstern und Dielentoren aus Holz. Die oberen zwei Drittel des Gebäudes bestanden ausFachwerk, und aus dem mit roten Tonpfannen gedeckten Dach ragten viele Gauben und drei aufwendig gemauerte Kamine hervor. Kurz nach der Jahrtausendwende war das Haus von einem sehr wohlhabenden Kunsthändler nach dem Vorbild englischer Landhäuser in Auftrag gegeben worden. Mit viel Sachverstand und Liebe zum Detail hatte der Kunstexperte wertvolle historische Baumaterialien verarbeiten lassen. Die Decken stützten baumdicke Eichenbalken, auf den Böden lagen jahrhundertealte Sandsteinplatten und das importierte Mosaik aus Porzellan bildete den Fliesenspiegel in der Küche, hinter dem sich neueste Haustechnik versteckte. Vor der Fertigstellung des Haupthauses war der Bauherr jedoch schwer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt und ein halbes Jahr später verstorben. Fast zwei Jahre stand das außergewöhnliche Bauprojekt still, bevor es Clemens und von Seelenthin zum Kauf angeboten worden war. Die beiden verliebten sich auf den ersten Blick in das unvollendete Bauwerk und kauften es nur wenige Tage später. Bis sie es beziehen konnten, ging allerdings noch fast ein halbes Jahr ins Land, das sie zusammen mit zwei großen Hunden in einem geräumigen Wohnwagen auf ihrem neu erworbenen Hof verbrachten. Obwohl es sehr eng und wenig komfortabel gewesen war, war diese Zeit mit die glücklichste während ihrer Ehe gewesen.
Sie seufzte zufrieden, als sie sich auf der weichen Matratze des großen Bettes ausstreckte, das Kissen zurechtknautschte und die Augen schloss. Eine Weile lauschte sie ihrem eigenen Atem, doch eine innere Unruhe ließ sie nicht einschlafen. Von Seelenthin öffnete die Augen und sah hinauf in den von starken Eichenbalken getragenen, offenen Dachstuhl. Irgendetwas war anders als sonst. Die beiden Hunde lagen auf den Schaffellen, die überall in dem hallenartigen Raum auslagen. Sie schliefen jedoch nicht, sondern bewegten unruhig die großen Köpfe und sahen aufmerksam zwischen ihrem Bett und dem Fenster hin und her. Sie setzte sich auf. Die Hunde winselten jetzt und wedelten gleichzeitig, als von Seelenthin ein seltsames Licht vor dem Schlafzimmerfenster wahrnahm. Hier brauchte man keine Gardinen oder gar Jalousien. Der Hof grenzte direkt an das Naturschutzgebiet und der nächste Nachbar wohnte mehr als zwei Kilometer entfernt. Nachts störten weder Autos noch Straßenlaternen oder Ähnliches, von Menschen gemachtes Licht. Woher kam dann dieses Licht? Sie kniff die Augen konzentriert zusammen, während sie ans Fenster trat. Tatsächlich, in großer Entfernung nahm sie das unregelmäßige Flackern eines kleinen Feuers wahr. Jugendliche, die ein Lagerfeuer mitten im Naturschutzgebiet veranstalteten? Eine illegale Beseitigung alter Autoreifen? Schlimmeres? Von Seelenthin suchte auf dem Nachttisch nach ihrem Handy und wählte die Nummer des Bereitschaftsdienstes. Mit steifen Bewegungen stieg sie wieder in die eben abgelegten Sachen. Ein Blick zum Fenster, das Feuer loderte jetzt stärker. Brandbeschleuniger. Die Hunde knufften sie mit den Schnauzen an, als freuten sie sich auf einen zusätzlichen Spaziergang. Bereitwillig verließen sie ihren Schlafplatz und folgten ihr nach unten. Dort vernahm von Seelenthin die zunehmend lauter werdende Stimme Elmars, der gerade einen Monolog über die befreiende Wirkung des katholischen Beichtrituals hielt.
»Einfach auf null und du fängst ganz unbelastet von vorne wieder an.«
Clemens würde dieses Ritual in den nächsten Minuten vermutlich verbal in Stücke hacken, zumindest deutete sein aggressiv klingendes Räuspern dies an. Sie zog ihren Pulli über und ging über den Hof in Richtung des Stallgebäudes. Das Kollern und Schnauben der unruhigen Shire Horses hallte über den mit Moorklinkern gepflasterten Hof. Stroh raschelte unter den gewaltigen Hufen, als sich ein Tier unruhig in seiner Box drehte. Die feinen Sinne der Pferde hatten das nahe Feuer vermutlich schon viel früher als Gefahrenherd wahrgenommen. Etwa einen Kilometer noch. Sie schritt trotz des nassen hohen Grases zügig voran. Ein Rascheln in der mächtigen Krone der knorrigen Mooreiche, die dem Hof einst seinen Namen gegeben hatte. Wahrscheinlich die Wiesenweihe, die sie seit Wochen an dieser Stelle sah. Auf der steinernen Bank unter der Eiche lag ein aufgeschlagenes und bereits wellig gewordenes Taschenbuch, das Clemens hier an seinem Lieblingsplatz vergessen hatte. Von diesem Punkt aus ging der Blick über weite Heideflächen bis zu einem Birkenwäldchen am Horizont. Kurz hielt sie inne und blickte nach oben. Der fast volle Mond über dem nächtlichen Teufelsmoor mit seinen vom Wind gezausten Birken und schweren Felsbrocken ließ das Bild von Carl Vinnen lebendig werden und sie fragte sich einmal mehr, ob der Maler und seine Freunde der Künstlerkolonie womöglich einmal genau hier entlanggegangen waren, um nach Inspirationen oder konkreten Szenerien für ein neues Bild zu suchen. Sie atmete tief ein, während sie zügig weiterging, und nahm die Gerüche des sterbenden Sommers in sich auf. Das Fallobst, von Insekten und Vögeln zerfressen. Verblühte Stauden. Warme, leicht dampfende Erde. Es war nahezu windstill. Zum Glück. Noch 500 Meter. Der weitläufige Garten des Mooreichenhofs endete hier und die beiden Doggen waren bereits bis zum angrenzenden Weideland vorausgelaufen. Sie öffnete das Gatter. Hier konnte sie das Feuer schon deutlich riechen. Sie hörte ihr eigenes Atmen und das aufgeregte Schnüffeln der Hunde. Als sie etwa die Hälfte des Weges über die nächtliche Weide gegangen war, vernahm sie plötzlich ganz entfernt das stotternde Sprotzen eines startenden Zweitakters. Eine Geländemaschine. Das Geräusch wurde lauter, schwang unregelmäßig auf und ab, wurde schwächer und schließlich war nur noch ein entferntes Brummen zu hören. Offensichtlich war der Feuerteufel auf dem Feldweg, der zur Landstraße führte, davongefahren. Sie lief schneller, noch 200 Meter. Das Motorengeräusch war jetzt nicht mehr zu hören, dafür aber das Feuer. Es schmatzte, knackte und knisterte, einzelne Flammen schlugen fauchend aus der Mitte hervor. Eine Frau und zwei riesenhafte Doggen, die wie bei einem heidnischen Ritual aufgeregt um sie herumtanzten und das Feuer anbellten. Eine Hexe und ihre Zerberusse. Wider Willen musste sie über diese unfreiwillige Inszenierung schmunzeln, während sie den Brandherd weiträumig umrundete und in die Flammen blickte. Gleich mussten Polizei und Feuerwehr hier sein. Sie lauschte. In einer Umgebung ohne menschliche Nachbarn hört man die Dinge, lange bevor man sie sieht. Von Seelenthin starrte angestrengt in das Feuer und nahm die Silhouette eines Autos wahr, blickte durch die verrußten, teils geborstenen Scheiben des brennenden Wracks. Sie lauschte angestrengt. Aus der Entfernung heulte eine Sirene und nur Minuten später rumpelte ein Löschfahrzeug den schmalen Feldweg entlang, der sonst dem landwirtschaftlichen Verkehr vorbehalten war. Die Feuerwehrmänner sprangen aus ihrem Fahrzeug und rollten zwei Schläuche aus. Sofort schossen Wassermassen auf das brennende Auto und hinterließen zehn Minuten später ein schwelendes Wrack, das stinkende Tentakel aus Rauch in den Nachthimmel schickte.
»Ein Glück, dass es so nass war in den letzten Tagen«, sagte der kleinere der beiden Feuerwehrmänner zu ihr, der sich zuvor als Brandmeister Schröder vorgestellt hatte. »Das hätte einen Flächenbrand geben können, mit dem wir Tage zu tun gehabt hätten!«