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Irgendwo in Deutschland in den 1960er-Jahren: Die Bewohner einer ländlichen Gemeinde, darunter ein eingeschworener Kreis von Jägern, hadern mit den Folgen des Krieges und ihrer eigenen Vergangenheit. Ihr Versuch, zur Normalität zurückzufinden, wird durch den gewaltsamen Tod des Försters jäh gestört. Und es folgen weitere mysteriöse Morde, ausnahmslos an Jägern. Kommissar Rottek, ebenfalls Anhänger der grünen Zunft, ermittelt auch im Kreise seiner Jagdkameraden – und wird fast selbst zum Opfer.
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Seitenzahl: 302
LUTZ G. WETZEL
TOD IMWALDWINKEL
Auf, auf zum fröhlichen Morden
KOSMOS
Regenschauer hatte der Novemberwind die ganze Nacht über das Land getrieben. Deshalb war die Ohrmuschel des toten Försters an diesem Morgen noch mit einer kleinen Pfütze gefüllt. „Sieht fast hübsch aus“, sagte Rottek, der sich über den Kopf der Leiche beugte. „Wie ein kleiner Badesee im Sauerland.“ Hauptwachtmeister Kesselring schnaufte empört. „Ich bitte Sie, Herr Kommissar, ein deutscher Beamter ist erschossen worden!“ Er schnaufte noch einmal besonders laut, während er mit einem Ast suchend im feuchten Laub herumstocherte. „Da macht man keine Witze.“
„Herr Hauptwachtmeister, ein toter Beamter ist für mich auch nur eine Leiche, die mir Arbeit macht“, meinte Rottek, erhob sich und schaute zu, wie ein leuchtender Sonnenfleck durch den herbstlich gefärbten Eichenwald wanderte und sich dann in den Wiesen verlor. „Ich bewerte meine Toten nicht nach ihren Pensionsansprüchen.“
Der grüne Filzhut des Försters war zwei Schritte weit ins Blaubeergestrüpp gerollt. In den braunen Haaren des Opfers hatten sich gelbe Birkenblätter gefangen. Der Lodenmantel war noch ordnungsgemäß zugeknöpft und hing nass und schwer an der Leiche. Sogar das Gewehr trug der Förster auch im Tod an der Schulter, leicht verrutscht. Seine linke Geheimratsecke hatte er zu Lebzeiten eitel mit Haaren aus dem rechten Schläfenbereich überdeckt. Ein kleines böses Loch klaffte jetzt darin und die dünnen Strähnen wehten ungehorsam im frechen Herbstwind.
Rottek schaute ihm ins fahle Gesicht. „Förster Simon. Es ist unser Förster Simon.“
„Sie sind ja auch von dieser merkwürdigen grünen Zunft“, brummte Kesselring grimmig. „Waidmänner unter sich. Das wird die Ermittlungen sicher enorm beschleunigen.“ Der Hauptwachtmeister mochte keine Jäger. In der schlechten Zeit, nach dem Krieg, hatten sie ihm viel Ärger gemacht. Sie wussten, wenn er in seinem Garten die Kohlrabipflänzchen goss und die Kaninchenställe saubermachte. Dann hörte er es von weitem knallen aus dem Johannisgrund oder aus Konopkas Fichten.
Jagd und Waffenbesitz war ja für Deutsche noch verboten damals. Für die französischen Besatzer musste der Hauptwachtmeister deshalb dicke Akten über die illegalen Schüsse anlegen und sogar abends schwitzend Streifengänge durch die Wälder machen, währen die Nachbarn schon in den Gärten saßen und Maibowle tranken. Jäger, das waren für ihn widerspenstige Gesetzlose. „Jäger sind Strolche“, das war sein Spruch. Und er vergaß nie anzumerken, dass es ja auch diesen dicken Reichsjägermeister gegeben habe: „Ein ganz besonderes Früchtchen.“ Nur wenn Rottek ihm zur Weihnachtszeit den Wildschweinbraten brachte, dann machte er ausnahmsweise mal keine bissige Bemerkung über die Jagd.
Rottek kniete sich noch einmal auf den Waldboden und drehte die Leiche vorsichtig um. Das austretende Geschoß hatte den Hinterkopf zertrümmert. Ein weißlicher Brei leuchtete in der klaffenden Öffnung. Hirn, von der Beschaffenheit eines Mandelpuddings. „Küchenschuss“, sagte Rottek. Und als er Kesselrings fragenden Blick sah: „Küchenschuss, das sagen wir Jäger, wenn die Kugel beim Wild keine edlen Teile beschädigt hat. Die Keule oder den Rücken. Solche Bratenstücke mögen Sie ja auch.“
„Herr Kommissar, ich bitte Sie!“, zischte Kesselring. „Das Hirn ist bei einem Förster wirklich das edelste Teil. Sie können einen Staatsbeamten nicht mit einem Sonntagsbraten vergleichen. Immer diese Sprüche von Ihnen im Angesicht des Todes!“ Rottek meinte, auf Kesselrings Gesicht ein mühsam unterdrücktes Lächeln zu bemerken. Aber er konnte sich auch geirrt haben.
Doktor Rotgold hatte seinen Arztkoffer auf den Gepäckträger des Damenfahrrads geschnallt und kam klingelnd den Waldweg entlanggeradelt.
„Alarm, Alarm“, rief er von Weitem. „Leichensache oder Ohnmachtsanfall?“, witzelte er und stieß Kesselring leicht mit dem Ellenbogen in die Rippen. Der antwortete nicht.
„So ein schöner Mann“, sagt Rotgold leise zu sich selbst. Er liebte Männer, und jeder im Ort wusste es. Aber das ahnte Rotgold nicht. Wenn am Wochenende junge Kerle bei ihm zu Besuch kamen, wurden laut Schallplatten gespielt und es ging lebhaft her in dem Einfamilienhaus neben dem Ehrenmal für die Gefallenen. „Wir hatten ein medizinisches Symposium“, erklärte der Arzt montags seiner Sprechstundenhilfe. „Weiterbildung. Die Wissenschaft schreitet voran.“
Doktor Rotgold kniete sich theatralisch auf den Waldboden und fühlte der Leiche den Puls. „Hiermit erkläre ich den Förster für verstorben“, sagte er augenzwinkernd.
„Wenn es mal mit der Medizin nicht mehr klappt, können Sie immer noch hauptberuflich Witzbold werden“, knurrte Kesselring, „Wir können uns kaum halten vor Lachen.“
„Ein Späßchen hier und da würzt das Leben“, kicherte der Doktor mit erhobenem Zeigefinger.
„In Ordnung“, brummte der Hauptwachtmeister streng. „Hier und da, aber nicht angesichts eines ermordeten deutschen Beamten.“
Doktor Rotgold zog eine Grimasse. Er hatte bereits das Stethoskop herausgeholt und wollte seinen bei der Leichenschau üblichen Scherz anbringen: Abhören möglicher Herztöne. Aber angesichts des grimmigen Hauptwachtmeisters packte er seine Utensilien wieder ein, füllte die Papiere aus und radelte unter lautem Klingeln und „Alarm, Alarm“-Rufen davon.
In einer jungen Fichte hinter ihnen zeterte laut ein Zaunkönig. Aus der Waggonfabrik am Ortsrand klang das dumpfe Stampfen des mächtigen Schmiedehammers. Gleißend weiße Wolken zogen hastig über die Baumwipfel. Sonne und Schatten wechselten schnell. Der schöne Herbst des Jahres 1963. Ein paar Sekunden lang erinnerte sich Kommissar Rottek an einen langen Spaziergang mit Anita letzte Woche über die Höhen des Westerwaldes an einem Tag, an dem wie jetzt gerade die Wolkenfetzen am blauen Himmel hinweggeflogen waren, so schwerelos und uneinholbar wie ein Glück, das verweht.
„Warum schießt man auf einen Forstbeamten?“, fragte Rottek nachdenklich. „Wenn man doch nichts von ihm will, außer dass er tot umfällt.“
Kesselring zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie es nicht wissen, dann weiß ich es erst recht nicht. Ich bin nur ein einfacher Schutzmann. Ich weiß, wie man ein Fahrrad auf ordnungsgemäße Beleuchtung kontrolliert. Aber für Mord gibt es kluge Leute wie Sie.“
Rottek klopfte nasse Kiefernnadeln von seiner speckigen alten Lederjacke, machte mit seiner Voigtländer Fotos von dem Toten und von der Umgebung und packte die Jagdwaffe des Försters in den grünen Polizeikäfer.
Der schwarzglänzende Leichenwagen von Bestatter Ellermann schaukelte den holprigen Waldweg herauf durch den Kalten Grund. Man sagte, der Heckflossen-Mercedes habe an die 120 PS und der alte Ellermann würde sich bei Überführungsfahrten auf der Autobahn Rennen mit BMW-Fahrern liefern. Ohne Rücksicht auf die Pietät und die sterbliche Hülle hinten auf der Ladefläche.
Ellermann hielt auf dem nassen Laub des Waldwegs neben dem Toten. Er war auch Jäger. Jagdpächter im Nachbarort. Feixend öffnete er die Heckklappe. „Waidmannsheil, Herr Kommissar, ein bedauerlicher Jagdunfall?“
Rottek gab keine Antwort. Er mochte ihn Beerdigungsunternehmer nicht. Eigentlich mochte den kaum jemand. Denn er pflegte ohne Rücksicht auf seinen ernsten Beruf einen höchst schlüpfrigen Humor. Deswegen trug er im Ort den Spitznamen „Zotengräber“ und ältere Damen gruselten sich davor, einst als Verstorbene in seine Hände zu geraten.
„Gestern beim Jägerstammtisch hat mir der Förster noch erzählt, dass er gerade großen Ärger mit Holzdieben hat“, erzählte Ellermann. „Die würden ihm sogar ganze Stämme aus dem Wald klauen. Eine Familie Kerschbaum aus Weyersbusch hatte er im Verdacht. Die wollte er sich greifen. Vielleicht haben die ihm aufgelauert?“
„Vielleicht, vielleicht …“, murmelte Rottek. „Morde fangen bei mir immer an mit einem großen Vielleicht.“
Bestatter Ellermann schob mit seinem stämmigen Gehilfen im grauen Hausmeisterkittel den Zinksarg in den Laderaum. „Koblenz?“, fragte er.
„Koblenz“, antwortete Rottek. Dort war die Gerichtsmedizin.
„Diese Kerschbaums mit den sechs Kindern, das sollen die Holzdiebe sein“, rief der Bestatter Rottek noch aus dem Autofenster zu, bevor er losfuhr. „Die klauen alle. Und die Frau putzt in der Bahnhofskneipe. So eine gefährliche Rothaarige. Sie wissen ja: Rostiges Dach hat einen feuchten Keller.“ Sein hässliches Lachen meckerte im Wegfahren durch den Wald. Bald war das Motorengebrumm verstummt.
Ein paar Minuten noch stocherten die beiden Polizisten im Waldboden nach verwertbaren Spuren der Tat. „Hallo! Hier!“ Hauptwachtmeister Kesselring deutete aufgeregt auf eine Stelle an einem Eichenstamm in Kopfhöhe. Dort steckte ein deformiertes Teil des Projektils in der zerfetzten Baumrinde. „Ganz ausgezeichnet“, lobte Rottek. „Sie dürfen jetzt Frühstück machen. Haben Sie denn Ihr Eibrot schon gegessen?“
Der Hauptwachtmeister bestand darauf, vormittags pünktlich um halb zehn ein kräftig nach Speck und Butter duftendes Eibrot zum Frühstück zu verzehren. Dazu schlürfte er genussvoll käsigen Milchkaffee aus dem Becher der Thermoskanne. Seine Ehefrau sorgte für ihn und gab ihm sogar Schnittlauch in einem Steingutfässchen mit. „Von meinen eigenen Hühnern!“, rief Kesselring jedes Mal stolz in die Runde, bevor er in das Eibrot biss.
An diesem Tag hatte er das Frühstückszeremoniell wegen des Leichenfundes verschieben müssen. „Pflichtbewusstsein ist wichtiger als Hunger“, erklärte Kesselring ernst mit erhobenem Zeigefinger. „Das hat unsere Generation noch gelernt. Sie würden ja wegen eines Käsebrötchens jeden Sittenstrolch laufen lassen.“
„Ihre Generation hat noch ganz andere Sachen gelernt.“ Rottek schob ihm von hinten die Polizeimütze ins Gesicht. „Irgendwas soll da doch vorgefallen sein.“
„Frecher Rotzbengel“, schimpfte Kesselring und schnaufte entrüstet. „Das war eine andere Zeit. Das wissen Sie doch auch. Ich hatte damals nicht den Ehrgeiz, ins Geschichtsbuch zu kommen, sondern meinen Kindern Schuhe kaufen zu können. Die Zeit rollt über dich hinweg und hinterher wird dir von den ganz Schlauen vorgeworfen, dass du kein Held gewesen bist.“
„Hier.“ Rottek hielt ihm die Schachtel Ernte23 hin. Sie lehnten sich an den Streifenwagen und rauchten schweigend.
Eine Minute später räusperte sich jemand hinter ihnen vernehmlich. „Soll ich noch was sagen?“, fragte mit brüchiger, kehliger Stimme ein junger, schlaksiger Mann, der in alte Militärsachen gekleidet war. „Wollen Sie mich nicht doch noch was fragen?“, wiederholte er jetzt, laut und frech. „Zu dieser Sache hier?“
Dunkles, fettiges Haar stand in Strähnen von seinem dicken Schädel ab. Er war unrasiert und hatte wulstige Lippen. „Kröten-Jörg“ nannte man ihn im Ort. Als Kind schlitzte ihm ein Landwirt beim Heumachen bei einem grässlichen Unfall mit der Sense die Wange vom Mundwinkel bis fast zum Ohr auf, und die spannenlange Narbe entstellte sein Gesicht: Das furchtbare Grinsen einer Kröte. Daher sein Name. Kröten-Jörg lebte allein in seinem großen, halb verfallenen Elternhaus nahe dem Sägewerk. Sein Vater galt nach der Schlacht am Kursker Bogen im Sommer 1943 als vermisst. Jörgs Mutter wurde bei einem Bombenangriff in dem Luftschutzkeller unter dem Salzturm verschüttet. Erst Jahre später hatte man sie aus dem Trümmergebirge gegraben. Man konnte die Frau nur noch identifizieren, weil sie auch im Tod noch die Aktentasche mit dem Familienstammbuch umklammert hielt.
Er hatte keine Verwandten, und sein früheres Leben als Kind mit Vater und Mutter war in einem Dunkel versunken, dass keine Erinnerung mehr durchdringen konnte. Der Wald war sein Zuhause. Bei jedem Wetter streifte er durch den Forst, kannte ihn besser als jeder andere. Die Kinder lachten über ihn und sein entstelltes Gesicht. Sie hopsten wie die Frösche, wenn er auf der Mauer vor seinem Haus saß und sie auf dem Schulweg an ihm vorbei mussten: „Kröten-Jörg, Kröten-Jörg pupst schlimmer als ein Gartenzwerg.“
Doch die Jäger behandelten ihn, als wäre er einer von ihnen. Denn Kröten-Jörg wusste als einziger, in welcher Dickung die Wildschweinrotte sich eingeschoben hatte, auf welcher Wiese der alte Rehbock austrat, wo im Sommer die Hirsche stundenlang bewegungslos im flimmernden Bruch standen und wo der Fuchs am Bahndamm unterm Ginster seine Jungen großzog. Die Jäger fragten ihn um Rat, wenn es um die richtige Platzierung eines Hochsitzes ging und er führte sie oft als Treiber im Winter über die Felder, auf denen sich Hasen, Fasanen und Rebhühner ins graue, bereifte Kraut oder in die fahlen Horste des überjährigen Schmielgrases drückten.
Als Jagdhelfer lebte er nicht schlecht. Kröten-Jörg nahm sich aus der Natur, was er brauchte. Fiebernd spürte er, unbekümmert von Reviergrenzen, einem Reh oder einem Wildschwein nach, wenn im „Weißen Falken“ ein Wildgulasch auf der Speisekarte stehen sollte oder wenn Frau Amtsgerichtsdirektor am Samstagabend Gäste zum Rehbraten erwartete. Und er schoss nur selten vorbei. Die Jagd hatte ihm niemand erlaubt. Aber alle wussten davon. Und schwiegen darüber. Auch Förster Simon.
Kröten-Jörg hatte dessen Leiche gefunden. Wer sonst. Am Vormittag hatten die beiden eigentlich im Forsthaus die Möglichkeiten einer Herbstjagd besprechen wollen, erzählte er. Jörg kannte die geheimen Wege und Aufenthaltsorte des Wildes und wusste, wo der mächtige Keiler im undurchdringlichen Brombeergestrüpp seine Burg hatte. Dieses Wissen brauchte der Förster, denn ein Regierungsdirektor aus dem Landwirtschaftsministerium wollte in der nächsten Woche ein möglichst großes Wildschwein schießen, und Simon war auserwählt worden, ihm eins vor die Büchse zu schaffen. Dieses Projekt hatte sich nun allerdings erledigt.
Als Jäger kannte Kommissar Rottek natürlich Kröten-Jörg und sein Schicksal. Fast alle im Ort kannten Jörg und sein Leben, das er frei von den Fesseln des Rechts führte. Niemand hatte ihn erzogen. Und das Unheil seiner Eltern hatte ihn befreit von den Spielregeln der Gemeinschaft. Es war für viele einfach so, als seien die Eltern ein Opfer gewesen, das man in jenen wilden Tagen einfach hatte bringen müssen. Wie viele andere auch, die niemals wieder nach Hause zurückkehrten, weil sie der Rachen der bösen Zeit verschlungen hatte.
In solch dunklen Tagen, so predigte es Pastor Hühnchen ihnen damals beim ersten Friedensgottesdienst, holt sich der Tod eben seine Leute. Und die Menschen der kleinen Stadt sahen es als ihrer aller Aufgabe an, dem Waisenkind Jörg durchs Leben zu helfen, denn die Zeit der Opfer war vorbei. „Schuld“ war ein Wort, das man nicht aussprach in jenen Tagen und das doch alle ratlos machte.
Zudem sahen viele das furchtbare Krötengrinsen in Jörgs Narbengesicht als ein heiliges Zeichen und nicht wenige trauten ihm sogar geheime Kräfte zu. Er würde in heißem Basaltstaub baden, erzählten sich die alten Frauen schaudernd am Waschtag, und den Staub in der Osternacht mit dem Wasser einer tief im Wald sprudelnden Ahnenquelle abwaschen. Gesehen hatte das noch niemand, aber es musste doch so sein, wenn einer so von den Mächten des Schicksals gezeichnet war.
Für Rottek war Kröten-Jörg nicht mehr als ein Sonderling und ein schlauer Wilderer. Schon manches Mal hätte er ihn vor Gericht bringen können. Er gab sich keine Mühe, seine Straftaten zu verheimlichen und spazierte unbekümmert mit einer Wildsau oder einem Reh auf der Schubkarre durch den Ort.
Aber alle verziehen ihm seine Gaunereien, und nicht selten stand sogar ein Teller mit frischem Streuselkuchen oder ein Weckglas mit Erbsensuppe auf der Treppe vor seinem Hauseingang. Rottek war sich mit Dorfpolizist Kesselring einig, dass eine Strafverfolgung Jörgs, wie so vieles damals, nicht von Interesse und nicht so dringend war.
Der Kommissar winkte Kröten-Jörg herbei. „Weißt du, was der Förster heute Nacht vorhatte?“
„Ja, aber ich werd’ es dir nicht erzählen.“
„Ich kann dich zwingen. Der Polizei muss man alles sagen.“ Rottek hielt ihm die Zigarettenpackung hin, aber Kröten-Jörg lehnte mit einem verächtlichen Wink ab.
„Ich weiß alles über euch“, flüsterte er. „Ich weiß, was nachts geschieht. Ich weiß, wer über dunkle Straßen geht.“
„Der Förster war dein Freund?“ Rottek legte ihm den Arm um die Schulter. Kröten-Jörg schwieg und schüttelte Rotteks Arm ab. Auch der besonders strenge Blick von Hauptwachtmeister Kesselring brachte ihn nicht zum Sprechen.
Kröten-Jörg hob die Hände segnend wie ein Priester. „Was im Wald geschieht, in den Wipfeln, zwischen den Kräutern und unter dem Moos, das wissen nur wenige. Ihr werdet es nie erfahren.“
Rottek holte seinen Notizblock hervor. „Jetzt mal Schluss mit deinem blöden Waldgesäusel. Wann hast du ihn gefunden? Was hast du hier gemacht? Wir können dir Schwierigkeiten machen, mein Freund. In Limburg ist letzte Woche ein Wilderer für fünf Jahre eingesperrt worden.“
„Mir Schwierigkeiten machen? Mir?“, wiederholte Kröten-Jörg trotzig und traurig zugleich. „Schwierigkeiten? Meine Schwierigkeiten bringen dich auch nicht weiter.“ Er schaute Rottek dabei in die Augen. Der konnte diesem Blick nicht standhalten. Hauptwachtmeister Kesselring stapfte zum Streifenwagen, holte etwas aus seiner speckigen Aktentasche, stellte sich vor Kröten-Jörg und hielt ihm sein Eibrot hin. „Komm“, sagte er. Mehr nicht.
Ein Ausdruck echten Bedauerns überzog das Gesicht von Kesselring, als sein kostbares Eibrot innerhalb erstaunlich kurzer Zeit im Dunkel von Jörgs breitem Krötenmund verschwand. Alle drei lehnten danach rücklings am Streifenwagen.
„Und?“, fragte Rottek.
Kröten-Jörg stocherte mit einem trockenen Buchenast im Farnkraut. „Es sind nachts Holzdiebe unterwegs. Sie räumen ganze Stämme ab. Diese Kerschbaums aus Weyersbusch hatte er im Verdacht. Die sieben Kerschbaums. Er wollte sie stellen. Im Morgengrauen gegen sechs kam ich hier lang, von zu Hause, und da habe ich den Förster gefunden bei meiner Morgenrunde. Dann habe ich gleich bei Bäcker Fackelmann Bescheid gesagt, dass er nach der Polizei telefoniert. So war das.“
Rottek rieb nachdenklich sein unrasiertes Kinn. „Hast du vielleicht einen Schuss gehört? Oder jemanden gesehen? Hast du vielleicht ein Auto bemerkt?“ Kröten-Jörg wandte das Gesicht dem unruhigen Himmel zu, schloss die Augen und öffnete den Mund. So verweilte er zehn Sekunden. „Nichts“, flüsterte er dann, „nichts. Morde geschehen doch heimlich.“
„Hattest du deine Waffe dabei?“ Rottek blickte ihm forschend in die Augen.
„Welche Waffe?“ Er lächelte die beiden mit seinem verzerrten Krötenmund so grässlich an, dass sie sich abwandten. Ein Schwarzspecht rief klagend drüben im Buchenaltholz. Über das Gesicht der Försterleiche lief ein bräunlicher Käfer mit klammen Beinen.
„Was jetzt?“, fragte Jörg frech.
Rottek und Kesselring schauten sich unsicher in die Augen. Dann zuckten beide mit den Schultern. „Du kannst gehen“, sagt Rottek und drehte sich zu Kröten-Jörg um. Aber der war schon verschwunden.
„Irgendeine Vermutung?“ Rottek zeigte in die Richtung, in der Kröten-Jörg gerade noch gestanden hatte.
„Ich vermute nicht nur, ich bin mir sicher“, brummte Hauptwachtmeister Kesselring, „dass mein schönes Eibrot keine gute Investition in die Aufklärung des Falles war.“
„Ein Kännchen schwarzen Tee, bitte. Und einen Weinbrand.“ Susi Eigenherz saß im „Weißen Falken“ am Wirtshaustisch unter dem großen Ölbild von einem mit zwei schweren Belgiern pflügenden Bauern und breitete eine alte Landkarte vor sich aus. „So“, sagte sie zu sich selbst. „Kann losgehen hier.“ Sie schüttelte unternehmungslustig den Kopf, und das Blond floss über ihre Schultern auf die grobe Wolle des rosa Rollkragenpullovers. Aus einer alten, abgegriffenen Mappe holte sie einen mit Buntstiften handgemalten Plan, vielleicht so groß wie zwei Schreibmaschinenseiten, und legte ihn daneben.
„Oh, sie wollen Ausflüge machen?“ Gastwirt Fettweiß stellte das ovale Tablett mit den Getränken vor ihr auf den Tisch. „Äffchen“ nannten ihn die Einheimischen, wenn sie in der verräucherten Wirtsstube saßen, von der Saujagd erzählten, Skat kloppten und über Fürze lachten. „Äffchen“, denn als Junge war er der beste Kletterer gewesen, der die Elsternnester im höchsten Kirschbaum aushob und der die senkrechten Kiefernstämme hochkraxelte. Die blonde Frau hatte sich gestern Abend im „Weißen Falken“ einquartiert.
„Machen Sie Ausflüge in unsere schöne Natur! Wir haben eine gute Luft. Das hat der Kaiser schon gesagt, der war mal hier in den Manövern. Neunzehnhundertzehn, so die Zeit. Plötzlich ist er hier reingekommen und sein Adjutant hat gerufen: Schinkenbrote für Ihre Majestät! Meine Mutter war allein im Haus und hat einen großen Schreck bekommen, aber sie hat ihm Schinkenschnittchen gebracht. Sie hatte gerade Brot gebacken. ‚Möchte der Herr Kaiser auch ein Ei? Sie sind ganz frisch!‘, hat meine Mutter gerufen. Da hat der Kaiser gelacht und gesagt: ‚Madame, ihr habt hier so eine gute Luft, da brauche ich kein Ei mehr!‘ Wie es so war.“
„Das ist ja sehr interessant“, schmunzelte Susi Eigenherz und rührte in ihrer Teetasse. „Dann danke ich erst mal schön.“ Sie beugte sich über die Karten. Äffchen Fettweiß schaute interessiert auf das Papier. „Ach, Sie haben sich da schon ein Plätzchen eingezeichnet. Geht’s zum Picknick? Wir machen Ihnen gerne was zurecht für unterwegs. Das ist Rehbeins Hafer, was Sie da eingezeichnet haben, die Stelle. Gehörte zu dem alten Mönchskloster Mariengnaden. Das ist abgebrannt gleich nach dem Krieg. Die Mönche hatten Schweine gemästet und an die französischen Besatzer Speck verkauft, Wurst und Schinken. Den Einheimischen haben sie nichts mehr abgegeben, sondern nur noch vom Jesulein gesprochen und der Herr wird euch sättigen. Dann hat es da gebrannt eine Nacht, und es stehen heute nur noch ein paar Mauern. Die Mönche sind in den Ort gekommen und haben gebettelt vor Hunger, aber die Leute haben nur gesagt: Liebliches Jesulein, der Herr wird euch sättigen. Wie es so war.“
„Danke, ich komme schon zurecht“, sagte Susi Eigenherz freundlich, aber knapp und deckte den handgemalten Plan beiläufig mit einer Serviette ab.
„Auf Rehbeins Hafer war ein Flüchtlingslager“, fuhr Äffchen Fettweiß unbeirrt fort. „Solche Leute aus dem Osten, mit Pferdewagen. Die sind dann irgendwo bei Verwandten untergekommen und waren auf einmal weg. Da haben sich unsere Bauern die Wagen geholt. Einige stehen wahrscheinlich immer noch in den Scheunen.“
„Ist gut jetzt“, zischte Susi Eigenherz ärgerlich scharf. „Entschuldigung, aber das stört mich jetzt, dass Sie mir einen Vortrag halten.“
Gastwirt Fettweiß drehte sich schulterzuckend um und schlurfte mühsam zum Tresen. Seine linke Hüfte wollte nicht mehr. „Verschleiß“, hatte der Arzt gesagt, „nimm Dachsschmalz.“ Susi Eigenherz legte ihre Karten nebeneinander und verglich sie lange. Dann nippte sie am Weinbrand, holte noch einen vergilbten Brief aus der Schreibmappe und buchstabierte ihn angestrengt. Äffchen Fettweiß lehnte sich hinter den Tresen an den Gläserschrank, presste die Hand gegen die schmerzende Hüfte und schaute nachdenklich aus dem Fenster, wo seine drei Enkelkinder sich auf der Straße kreischend mit einer toten Ratte bewarfen.
Einmal, vor vielen Jahren, da wohnte schon einmal eine schöne, blonde Frau für zwei Wochen im „Weißen Falken“, die suchte nasses Land zu kaufen für Karpfenteiche. Sie hieß Claudia und war in einem hellblauen Fiat 1100 mit offenem Verdeck angekommen. Er hatte ihr spät abends noch einen Speckpfannkuchen gemacht und dann hatten sie Riesling getrunken von der Mosel.
Bis früh um vier waren sie mit dem Cabriolet durch die Nacht gefahren. „Komm mit mir. Wir sind füreinander bestimmt“, hatte sie ganz dicht an seinem Ohr geflüstert, als über Scharfensteins Kartoffelacker schon der Himmel rosa wurde. „Mein Geld reicht für uns beide.“ Aber seine Irmgard lag damals schon hilflos im Bett mit ihren entzündeten dicken Beinen, die immer schwärzer wurden und die er morgens und abends einsalben und bandagieren musste.
Die blonde Frau fuhr an einem Sonntagnachmittag wieder fort und Äffchen Fettweiß hatte lange auf der Herrentoilette geweint. Jetzt war seine Irmgard schon so lange tot, und in Gedanken fuhr er oft mit Claudia durch die Sommernacht. Er nahm ein Geschirrtuch und trocknete Gläser. „Wie es so war“, murmelte er gedankenverloren. „Wie es so war.“
Zum Forsthaus führte eine lange Birkenallee. Zwei Jagdhunde, Deutsch Drahthaar, liefen Rottek neugierig entgegen, als er auf den Hof fuhr. Die Förstersfrau stand schon auf der Steintreppe vor der Haustür, die Hände vor dem Mund gefaltet, die Augen gesenkt. Sie war eine Schönheit: dunkelhaarig, groß, schlank. Sogar in der hellblauen Kittelschürze sah sie gut aus.
„Frau Simon?“, fragte Rottek nur leise und führte sie ins Haus.
„Sie sind ja ganz kalt“, schluchzte sie. „Ich mach Ihnen erst mal etwas Heißes.“ Rottek wehrte ab, aber sie setzte Wasser auf dem Emailleherd in der Küche auf und gab zitternd Kaffeemehl in den Papierfilter. „Nehmen Sie Milch und Zucker?“ Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern sank auf einen Stuhl.
„Wo haben Sie ihn gefunden?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
„Im Kalten Grund. Er wurde erschossen.“
Die Förstersfrau weinte leise in ein Handtuch. Beklemmende Minuten, die kein Ende nehmen wollten. Längst sprudelte das Kaffeewasser auf dem Herd. Rottek setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch, zeichnete bedächtig mit dem Zeigefinger das Margeritenmuster auf dem Wachstischtuch nach, hob ab und zu den Kopf und schaute aus dem Fenster.
Leuchtend rote Dahlien und violette Astern blühten noch in einem kleinen Beet. Dunkle Kiefern bogen sich im Wind vor dem weißblauen Herbsthimmel. Krähen flogen mit schwimmendem Flügelschlag krächzend um einen Wipfel, in dem ein Bussard saß. Am Küchenschrank ein blasses Farbfoto von den beiden Simons als junge Menschen. Sie saßen auf einem Hochsitz und lachten. „Dagmar und Bernd, Berzhausen 1951“ stand auf dem vergilbten Rand.
Dagmar Simon holte ein Taschentuch aus der Schürzentasche und schnäuzte sich laut. Dann ging sie zum Herd, goss den Kaffee auf. „Gestern hat er noch ein Schwein geschossen.“ Ihre Stimme klang fester. „Wollen Sie es sehen?“
Rottek hatte schon viele Leichen gesehen. Auch tote Sauen. Deshalb lehnte er ab. Die Försterei hatte die einzige gekühlte Wildkammer weit und breit. Deshalb brachten die meisten Jäger ihr erlegtes Wild nach dem Ansitz hierher. Sie klingelten und Dagmar Simon schloss die Wildkammer auf. Meistens war das spät abends oder sogar nachts. Der Schlachter holte es am nächsten Tag ab.
„Was muss ich denn jetzt machen?“, fragte sie hilflos. „Es kommt ja so viel auf mich zu. Und dann auch noch die Leiche. Es ist so viel zu regeln.“
„War denn gestern irgendetwas Besonderes?“, fragte Rottek. „Oder überhaupt: Hatte er Schwierigkeiten mit jemandem? Als Beamter hat man ja immer irgendwelche Querulanten. Ich hab was gehört von solchen Holzdieben. Diese Leute aus Weyersbusch mit den sechs Kindern, die sollen das sein. Haben Sie da was mitbekommen?“
„Im Mai hat er Kletterrosen gepflanzt, da vorne am Hundezwinger. Echte Rosen mit einem englischen Namen aus einem Katalog. Welcher Mann macht das schon? Und dann schießt man ihn tot.“ Sie weinte wieder, aber sie brühte den Kaffee dabei auf.
„Er hat in den letzten Wochen oft telefoniert. Öfters als sonst, glaube ich, und er hat am Telefon geschimpft. Das konnte ich hören. Es ist Holz weggekommen, viel Stammholz. Das hat ihn sehr geärgert. Und dann gab es immer wieder Schwierigkeiten mit den Jägern wegen irgendwelcher Schüsse. Wissen Sie, wer etwas zu verteilen hat, der bekommt immer Ärger. Mein Mann hat alles sehr genau genommen in seinem Beruf.“
Sie verstummte und goss Rottek ein. Der Kommissar rührte nachdenklich in der Tasse, obwohl er weder Milch noch Zucker genommen hatte. Die Förstersfrau blieb am Herd stehen, schaute mit leeren Augen vor sich auf den Boden.
„Er war so einzeln“, flüsterte sie halblaut. „So ein ganz einzelner Mensch, und zu mir ganz zugeschlossen. Ich hab immer gedacht: Da lebt man mit ihm, Jahr um Jahre, und dann weiß man nicht einmal, was er denkt. Wissen Sie, hier draußen im Wald, und dann mit so einem ernsten Mann, da hat man Angst, dass man das Sprechen verlernt. Für mich war er oft nur eine abwesende Amtsperson. Im Wald unterwegs mit den Arbeitern, viele Stunden auf der Jagd, am Stammtisch in der Gaststätte. Gestern? Ich habe gefüllten Wirsing gemacht mit Salzkartoffeln. Und eine schöne Specksoße dazu. Nach dem Essen ist er in den Wald gefahren und ich habe Fotos geschaut von früher. Nachts hatte ich von unserem zahmen Reh geträumt. Deshalb habe ich am Nachmittag die alten Fotos vorgeholt.“
Rottek stand auf. „Sein Büro?“, fragte er. „Er hatte doch eins?“
Dagmar Simon hob abwehrend die Hände. „Da durfte man nicht so ohne Weiteres hinein, das hat er sehr genau genommen.“ Dann lächelte sie. „Aber jetzt ist es ja egal. Er kommt ja nicht wieder.“
Von des Försters Schreibtisch aus schaute man die Birkenallee entlang. Eine Wand war bedeckt mit Rehgehörnen und Wildschweinzähnen. Über der Schreibmaschine ein Damhirschgeweih. Im Regal Bücher über Forstgeschichte, über Jagdhunde, über Kanada, über Pilze. Viele Leitzordner.
Dagmar Simon stand in der Tür. „Kennen Sie das, wenn etwas für immer verloren ist?“, fragte sie leise.
Rottek schaute nachdenklich aus dem Fenster. „Ich kenne es, wenn man die Welt anhalten will, weil man nicht mehr weiter weiß“, sagte Rottek nach einiger Zeit, ebenso leise.
„Schussbuch und Jagdtagebuch“, las er auf dem Rücken einer Kladde. Er schlug sie auf. Der letzte Eintrag, vom Tag zuvor. „Pastorentannen, ein Überläufer, 44kg, 7 Uhr 35“, las Rottek. Und, mit Bleistift ganz klein darunter geschrieben: „Ein Schatten vor der Kiefernschonung.“ Er blätterte zurück. Häufig fanden sich in den letzten Monaten solche Einträge mit Bleistift. „Schritte hinter mir in den Buchen“ stand dort in winziger, feiner Schrift. „Eine Hand im Weißdorn am Diestelberg“ oder „Person in der kleinen Anpflanzung“.
„Holzdiebe verfolgen einen Förster nicht. Eher umgekehrt“, sagte Rottek zu sich selbst. „Warum hätten ihm die Kerschbaums nachstellen sollen?“ Die wollten doch nur in Ruhe klauen.
Er hörte die Förstersfrau in der Küche hantieren. „War ihr Mann ein ängstlicher Mensch?“, rief er. Sie kam und blieb wieder in der Tür des Büros stehen.
„Er war sehr ordentlich“, sagte sie, „auch bei der Jagd. Gewissenhaft, das war eines seiner Lieblingswörter. Gewissenhaft. Wer nicht gewissenhaft war, den hat er abgelehnt. Deshalb hat er manchmal Jäger weggeschickt. Hier sind ja immer Jäger, die ansitzen dürfen. Da hat es so einen Schießwütigen gegeben, der im Forst zur Jagd gehen durfte. Dieser Uhrmacher war das, der mit dem roten Gesicht. Der hat neulich mal wieder ein Reh angeschossen und sich nicht um das Tier gekümmert. Am anderen Tag hat unser Birko das tote Reh zufällig im Wald gefunden. Der Förster ist wütend geworden und hat den Uhrmacher aus der Jagd rausgeworfen. Dann hat er ihn noch angezeigt, wegen Tierschutz und solchen Sachen. Der Uhrmacher muss den Jagdschein wohl abgeben. Der hat dann hier im Büro herumgebrüllt: Du Beamtenarsch, ich zeig dir noch mal, wie man richtig trifft. Und auch am Telefon hat er dauernd Ärger gemacht. Wie heißt der denn noch?“
„Diedrich heißt der.“ Rottek kannte ihn. Der Uhrmacher hatte ein riesiges Feuermal auf der ganzen Stirn. Man sagte, er dürfe nicht in Kinderwagen schauen, weil der Säugling sonst blutigen Durchfall bekäme. Er galt als Fachmann für alte Uhren. Alte Standuhren mit Westminster-Gong und goldene Taschenuhren, die Großväter ihren Enkeln schenken wollten und die vorher durchgesehen werden mussten. Diedrich saß im weißen Kittel mit der Lupe im Auge viele Stunden still über seine Werkbank und die winzigen Teile der Uhrwerke gebeugt.
Aber eine unerklärliche Wut staute sich tagsüber in ihm auf. Am Tresen vom „Weißen Falken“ brüllte er dann abends immer den gleichen alten Zorn heraus, schimpfte auf die vergangene Zeit, auf die Amerikaner und auf die Politik, bis sich in ihm nach einer Viertelstunde wieder Ruhe und Heiterkeit ausbreiteten. Dann drückte er in der Musibox „Im Hafen von Adano“ und sang laut und glücklich mit. Es gab etliche Männer, die im „Weißen Falken“ nach ein paar Gläsern laut wurden. Andere wurden schweigsam beim Trinken und verfluchten den Krieg. Uhrmacher Diedrich war auch im Krieg gewesen, wie fast alle Männer aus dem Ort. Er sprach nicht darüber. „Sonderauftrag“, sagte er nur, wenn die anderen ihn fragten. Später fragten sie nicht mehr.
Wenn junge Mütter zu ihm in den Laden wollten, für ein neues Lederarmband oder wegen eines defekten Uhrenglases, ließen sie den Kinderwagen draußen auf dem Gehweg stehen und bekreuzigten sich, bevor sie hineingingen. Wegen dem Teufelsmal auf seiner Stirn. Diedrichs Frau kaufte jeden Morgen bei Bäcker Fackelmann Mohnbrötchen für ihn. „Er ist so gut zu mir“, erzählte sie der Bäckersfrau, wenn sonst niemand im Laden war, „und zärtlich, zärtlich, zärtlich. Hättest du geglaubt, dass ein Uhrmacher so gut küssen kann? Und auch sonst …“
Die anderen Jäger mochten Diedrich nicht. „Die Kugel muss raus“, brüllte er, wenn sie ihm wegen seiner schlechten Schüsse und seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Wild Vorhaltungen machten. „Raus muss sie. Jagd ist, wenn’s kracht.“ Jetzt hatte Förster Simon ihn also wegen Tierquälerei angezeigt. Diedrichs Jagdschein sollte entzogen werden, und am Tresen vom „Weißen Falken“ schimpfte er so laut und böse keuchend auf den Förster und auf alle Beamten, dass der Speichel in seinen Mundwinkeln schäumte.
Gastwirt Äffchen Fettweiß versuchte, ihn zu besänftigen und redete mit seiner weichen Stimme auf ihn ein. „Aber du hast doch genug Unglück angerichtet bei den Tieren. Das kannst du keinem anderen vorwerfen. Wir wissen es alle. Ich hab das Wild doch gesehen, wenn es hier in die Küche gebracht wurde. Du hast es völlig zerschossen. Hast du denn kein Mitleid mit der Kreatur?“
Diedrich mahlte mit dem Unterkiefer und zerbröselte einen Bierdeckel in winzige Fetzen. „Wer Mitleid hat, der soll nicht zur Jagd gehen“, brummte er böse. „Jagd ist Härte.“
„Der Diedrich also“, sagte Rottek und schaute der Förstersfrau durch zwei Türen zu, wie sie auf dem Küchentisch mühsam Quitten in Viertel schnitt. Ihr schönes Gesicht war weich und sanft geworden. Ein Mariengesicht. Er versuchte sich ein paar Sekunden lang vorzustellen, wie diese Frau auf ihren Mann schoss. Aber es gelang ihm nicht. Er hatte schon Frauen erlebt, die ihre Männer getötet hatten. Es hatte für sie keinen anderen Weg gegeben. Aber hier? Ein geordneter Beamtenhaushalt. Frieden, Harmonie und Zweisamkeit. Der Förster hatte seiner Frau sogar Rosen gepflanzt.
„Werden sie den Diedrich jetzt verhaften?“, rief Dagmar Simon mit einem Unterton voll schüchterner Hoffnung in der Stimme aus der Küche. „Wenn einer so wütend ist, dann schießt er doch auch:“
„Wütend zu sein ist nicht verboten.“ Rottek zeigte auf das Schussbuch des Försters. „Das Tagebuch Ihres Mannes nehm ich mal mit. Kommen Sie zurecht alleine?“
Die Förstersfrau schaute ihn an und nickte. „Irgendwie war ich hier immer alleine. Wenn Sie mit einem Jäger zusammen sind, dann ist das schlimmer, als wenn ein Mann eine Geliebte hat. Die Geliebte wird ihm irgendwann langweilig. Die Jagd nie.“
Fast stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. Aber ihre Stimme wurde härter. „Diese Jäger sind mit ihrer Seele immer im Revier. Die leben in ihrer eigenen Welt. Da finden Frauen ganz oft nicht hinein. Bernd war auch so einer. Der Wald und die Jagd, die Jagd und der Wald. Dagegen hatte ich keine Chance. Deswegen muss ich mich jetzt nicht groß umstellen.“
„Ich weiß“, sagte Rottek. „Ich bin auch Jäger. Ich weiß. Man muss sich entscheiden.“
Dagmar Simon sprach lächelnd weiter, als ob sie es nicht gehört hätte. „Und ich hab ja die Hunde. Die halten zu mir. Aber zu mir wird er ja nicht kommen, der wütende Diedrich.“
Sie gingen zur Tür. Von der Seite warf Rottek noch einen Blick auf Dagmar Simon. Einen Moment lang war er versucht, sie tröstend in den Arm zu nehmen. Aber sie hob abwehrend die Hände, als ob sie es gespürt hätte. Gelbe Ahornblätter wirbelten neben der Treppe. Rottek war es, als husche ein Schatten hinter den Hartriegelbüschen in den Kiefernwald. Aber es konnte auch ein Reh gewesen sein.
„Denken Sie über alles noch einmal nach. Sie können mich jederzeit antelefonieren, wenn ihnen noch etwas in den Sinn kommt.“ Er wollte Dagmar Simon die Hand reichen. Aber sie zögerte.
„So einen Mord aufzuklären, das ist ja auch keine angenehme Tätigkeit“, meinte die Förstersfrau mit einem heiteren Unterton in der Stimme. „Eine Leiche und so viele böse Menschen. Und immer grübeln, bis man die Wahrheit weiß. Haben Sie denn keinen anderen Beruf gefunden?“
Rottek schwieg ein paar Sekunden lang. „Ich weiß auch nicht“, sagte er. „Ich glaube, es war gerade keine andere Stelle frei.“
Susi Eigenherz zog knarrend die Handbremse von dem Opel Olympia an und stieg aus dem Auto. „Rehbeins Hafer“ hatte Gastwirt Fettweiß die Stelle genannt, zu der sie jetzt mühsam hingefunden hatte. Auf der Motorhaube breitete sie wieder ihre Karten aus, drehte sie hin und her, schritt das Gelände ab und wischte sich nach einer halben Stunde verzweifelt über die Augen. Ein steiniger Acker, eine zerfallene Scheune und zwischen Kreuzdornbüschen dünn gewordene, vergehende Brennnesseln, die sich vom flegelhaften Herbstwind schütteln lassen mussten. Mehr konnte sie hier nicht sehen.
Ein Rotkehlchen rollte seinen melancholischen Gesang von einem hohen Holunderast über das Feld. Weit im Ort kreischte eine Kreissäge immer wieder wie eine misshandelte Kreatur auf. Noch einmal hielt Susi die mit Buntstiften handgezeichnete Karte hoch, drehte sie vor ihrem Gesicht und ließ dann die Hände hilflos sinken. Noch einmal versuchte sie sich zu orientieren, setzte Schritt für Schritt, zählte dabei und fand sogar ein Stück Mauer, das auf der Karte eingezeichnet war. Aber am Ende sank sie mutlos in das Auto, und die Federung des Opels seufzte dabei kläglich auf, als ob sie das Elend der Schatzsucherin mitfühlen würde.
Susi war sicher: Der große Koffer mit dem Familiensilber mussten immer noch hier tief unter diesem öden Feld schlummern. Die Mutter hatte ihn 1945 mit viel Glück auf der Flucht aus Westpreußen unter den Betten auf dem Pferdewagen bis hierher gebracht und dann in einer Mainacht mühsam vergraben, als sie Schüsse hörte aus dem Ort und Gebrüll. „Die Russen sind da“, sagten die anderen Flüchtlinge und die Frauen versteckten sich im Wald. Es waren nicht Russen gewesen, sondern Franzosen, aber am Ende wussten sie, dass es da keinen großen Unterschied gab. Die Mutter hatte sich am anderen Morgen Buntstifte von den Kindern geborgt, um sorgfältig diese Karte zu zeichnen, mit deren Hilfe der Silberschatz wiedergefunden werden sollte, wenn die Zeiten einmal besser geworden wären.
Susi Eigenherz war schon im November 1944 mit den Wuthenows aus Westpreußen geflüchtet. Die Mutter wartete weiter mit gepackten Koffern, was geschehen würde. „Vielleicht wird ja alles doch noch gut“, sagte sie immer wieder. „Es kann doch nicht sein, dass alles zusammenbricht. Ich habe doch so viel gebetet.“ Außerdem hatte ja der Mann mit dem Bärtchen im Radio so oft den Sieg versprochen, und wem sonst sollte sie glauben als demjenigen, für den sich ihr Mann in Frankreich von einer Granate hatte zerreißen lassen.