Tod in Franken - Katharina Drüppel - E-Book

Tod in Franken E-Book

Katharina Drüppel

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Unterwegs in Nürnbergs dunklen Gassen. An einem See bei Erlangen wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – es ist die Freundin des suspendierten Hauptkommissars Clemens Sartorius, der schnell zum Hauptverdächtigen wird. Um einer Verhaftung zu entgehen, taucht er in Nürnberg unter. Dabei trifft er auf die Forensikerin Marie Mayfield. Kann sie ihm helfen, den wahren Täter zu finden? Und was hat das alles mit der lange zurückliegenden Ermordung von Sartorius' Schwester zu tun? Um diese Fragen zu beantworten, muss er tief in eine schmerzliche Vergangenheit eintauchen …

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Katharina Drüppel wurde 1974 in Heilbronn geboren und studierte Biologie. Neben ihrer Leidenschaft für alles, was den menschlichen Körper betrifft, verbringt sie ihre Zeit mit Schreiben, Lesen und Nähen. Sie ist glücklich verheiratet und Mutter von drei Kindern.

www.katharina-drueppel-autorin.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: lookphotos/Andreas Strauß

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat.de, Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-932-7

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Scripta, München ([email protected]).

Für meinen Papa

Dienstag, 16:30 Uhr

Mit zittrigen Fingern schloss Clemens die Haustür auf. Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen, der Sommer beherrschte mit den heißesten Temperaturen des letzten Jahrzehnts die mittelfränkische Stadt Erlangen. Er hatte über eine Stunde zu Fuß von der Innenstadt bis zu seinem Bungalow am Burgberg gebraucht, ein Weg, den er normalerweise in lockeren dreißig Minuten bewältigte, durchtrainiert, wie er war. Vielleicht hätte er in dem kleinen Café am Bohlenplatz nicht so tief in die Whiskeyflasche schauen sollen. Aber dafür war es jetzt auch zu spät. Die Magensäure war ihm bereits in die Speiseröhre gestiegen, doch alles, was ihn interessierte, war, sich endgültig den Rest zu geben.

Geräuschvoll zog er die Nase hoch. Suspendiert! Er, der Erste Kriminalhauptkommissar der Dienststelle Erlangen, war tatsächlich vom Dienst freigestellt worden. Weil eine Zivilperson durch eine angeblich falsche Entscheidung seinerseits nicht nur in Gefahr geraten war, sondern fast ums Leben gekommen wäre. Sicher, er musste einräumen, dass die Aktion nicht im Mindesten so verlaufen war, wie er sich das erhofft hatte, aber am Ende zählte doch das Ergebnis: Die Täterin war verhaftet, die Zivilistin gerettet worden. Von ihm höchstpersönlich. Es hatte nicht einmal eine Anzeige gegeben. Doch sein Chef Hans Dieter Beil, genannt Hackebeil, hatte nur auf so eine Gelegenheit gewartet, um ihn als potenziellen Anwärter auf seine Stelle loszuwerden. Da machte sich die Freundschaft seines Chefs mit dem Staatsanwalt doch gleich bezahlt.

Clemens knallte die Tür hinter sich zu, sodass die Rigipswände des Flurs in ihren Grundfesten erschüttert wurden. Seiner Freundin Delphine würde das sicher nicht gefallen, aber das interessierte ihn nicht. Ihre Beziehung, oder das, was nach all den Diskussionen noch davon übrig geblieben war, stand momentan sowieso auf dem Prüfstand.

Eine Sisyphusarbeit: Kaum löste er ein Problem, tauchte schon das nächste am Horizont auf. Die lang ersehnte Familienplanung war weit in den Hintergrund gerückt, seitdem ihm bewusst geworden war, dass Delphine, sein süßes Schneewittchen mit der blassen Haut, den tiefschwarzen, langen Haaren und der Vorliebe für roten Lippenstift, auch gerne einmal anderweitig flirtete. Manchmal ertappte er sich bei dem Gedanken, dass sie vielleicht doch nur wegen des Geldes mit ihm zusammen war. Seine Eltern waren Diplomaten, seine Großeltern mütterlicherseits adelig. Er würde in seinem Leben nie am Hungertuch nagen müssen, im Gegenteil. Eigentlich hatte er es nicht nötig, zu arbeiten, aber er liebte seinen Job. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, Verbrecher hinter Gitter und den Angehörigen von Ermordeten die Gewissheit zu bringen, dass der Täter oder die Täterin gefasst worden war.

Vor vierundzwanzig Jahren, als er selbst neunzehn Jahre alt gewesen war, war seine damals siebzehnjährige Schwester Hannah Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, und der Mörder war bis heute nicht gefasst. Seine Eltern und auch er hatten nie mit dem Fall abschließen können. Wie eine dunkle Wolke begleitete er ihn jeden Tag seines Lebens. Nur die Tatsache, dass er es nie so weit kommen lassen würde, dass ein Verbrechen ungesühnt blieb, gab seinem Leben einen Sinn.

Clemens schüttelte den Kopf. Warum machte er sich ausgerechnet jetzt darüber Gedanken? Er schwankte vor dem Spiegel im Flur, unfähig, sein Bild festzuhalten, versuchte, seinen teuren Sommermantel auf einen Bügel zu hängen, was ihm nicht gelang. Ernüchtert ließ er ihn zu Boden fallen. Ein Betonmeißel hämmerte wirre Muster in seine Großhirnrinde und hinderte ihn am Denken. Wo war er gerade gewesen? Er schüttelte erneut den Kopf, doch es wollte ihm nicht mehr einfallen.

Clemens seufzte. Delphine arbeitete noch bis sechs Uhr in ihrer Physiotherapiepraxis, und bis sie zu ihm käme, würde er mit Sicherheit tief und fest schlafen. Mit etwas Glück wachte er einfach nicht mehr auf, dann könnte ihm das Elend dieser Welt egal sein. Er suhlte sich in Selbstmitleid, und er genoss es. Wie eine Welle überschwemmte es ihn und wiegte ihn hin und her, lullte ihn ein wie eine Mutter ihr Kind. Er schlurfte Richtung Küche, griff nach dem Teeling, einem äußerst milden irischen Whiskey, nahm ein Wasserglas aus dem Küchenschrank und goss es fast randvoll.

Hoch konzentriert balancierte er es samt Flasche ins Wohnzimmer und schaffte es tatsächlich, nur eine kurze Tröpfchenspur auf dem Weg dorthin zu hinterlassen. Dann setzte er an und trank, bis es leer war. Er leckte sich den letzten Tropfen von den Lippen und ließ sich auf das Sofa sinken, die Flasche immer noch in der Hand. Mühsam versuchte Clemens, das Etikett zu lesen, aber er schaffte es nicht. Auch egal. Allmählich verspürte er ein angenehmes Gefühl der Schwere, das von seinem Körper Besitz ergriff. Sein Kopf sank auf die Lehne, die Flasche neben ihm auf das Kissen, und er dämmerte in wenigen Sekunden weg.

Clemens erwachte, sein Kopf schmerzte, und sein Mund fühlte sich pelzig an. Ein schaler Geschmack lag auf seiner Zunge, und kurz fehlte ihm jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Umständlich drehte er den Kopf aus der seitlichen Liegeposition Richtung Wand. Die Uhr zeigte halb acht. Gut zwei Stunden war er weg gewesen. Er lauschte, doch nichts rührte sich. Seltsam. Sollte Delphine nicht schon längst hier sein? Oder war sie geflüchtet, als sie ihn auf dem Sofa schlafend vorgefunden hatte? Wenigstens war der Whiskey nicht ausgelaufen, sonst läge er jetzt im Nassen. Umständlich zog er die Flasche hinter seinem Rücken hervor und stellte fest, dass der Verschluss wider Erwarten fest zugedreht war. Da hatte er wohl doch noch mehr geschaltet, als er es sich zugetraut hätte. Wenigstens etwas. Vorsichtig erhob er sich, und Blitze flackerten vor seinen Augen auf. Clemens verzog das Gesicht zu einer Grimasse und stützte sich auf der Lehne ab, bis sich sein Sichtfeld wieder klärte. Ein melodischer Klingelton riss ihn aus seiner Trance. Das Smartphone. Doch wo zum Teufel hatte er es hingelegt?

Mit aller Konzentration befahl er seinen Beinen, sich in Bewegung zu setzen. Er fühlte sich, als würden ihn schwere Betonklötze an den Füßen nach unten in die Tiefe ziehen. Es war ihm fast unmöglich, einen Schritt nach vorn zu machen. Doch es half nichts, das Telefon klingelte unbarmherzig weiter, und der Ton quälte sein vernebeltes Hirn. Er wollte nur, dass es aufhörte.

Endlich ortete er die tönende Heulboje in der Innentasche seines Mantels, der immer noch am Boden lag. Jetzt musste er sich auch noch bücken. Ächzend richtete er sich mitsamt Mantel und dem Smartphone in der Hand wieder auf und blickte darauf: Delphine! Schnell hängte er den Mantel an die Garderobe, wischte auf dem Display nach rechts und nahm das Gespräch an, während er wieder zurück zum Sofa torkelte.

»Clemens?«, nuschelte er mehr, als er es wollte.

»Der Herr Kommissar, wie schön. Haben Sie es doch noch geschafft, sich von Ihrem Sofa zu erheben?«, fragte eine tiefe männliche Stimme.

Das war auf jeden Fall nicht Delphine. Aber wer dann? Und woher wusste der Kerl, dass er sich gerade aus den Polstern geschält hatte, um das Handy zu suchen? Clemens kratzte sich am Kopf und drehte sich ruckartig herum. Sein Blick fiel durch die Fensterfront des Wohn- und Essraums in den Garten. Er kniff die Augen zusammen, doch da war niemand zu sehen. Was sollte das?

»Wer sind Sie?«, fragte er mit heiserer Stimme. Jetzt verwünschte er sich und sein Trinkgelage, er hatte Mühe, sich zu konzentrieren.

Der Mann am anderen Ende lachte kehlig. »Ist es nicht Ihre Aufgabe, das herauszufinden? Sie haben doch jetzt genug Zeit dafür, oder?«

Sollte das ein schlechter Scherz sein? Dieser Mann wusste besser über ihn Bescheid, als ihm lieb war. Clemens atmete tief durch. Er spürte, wie ein Vulkan in seinem Inneren zu brodeln begann.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte er so deutlich wie möglich.

»Haben Sie sich noch nicht gefragt, wo Ihre hübsche Freundin heute geblieben ist?«

Etwas griff um das Herz des Kommissars und quetschte es zusammen wie in einer Saftpresse. Sein Puls raste.

»Was ist mit ihr? Haben Sie ihr etwas angetan?« Er konnte seinen Herzschlag im Hals spüren.

Wieder dieses Lachen, tief und dunkel. »Sie wollten doch immer den Mord an Ihrer Schwester aufklären. Jetzt haben Sie die Gelegenheit dazu.« Der Anrufer räusperte sich. »Aber ich warne Sie. Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit.«

Es klickte, und die Leitung war tot. Clemens keuchte wie eine Dampfmaschine, die unter Höchstbelastung lief. Er war nicht einmal mehr im Dienst. Wo war Delphine? Was war mit ihr geschehen? Und was sollte diese Anspielung auf seine Schwester?

Wieder sah er Hannah mit dem Kopf nach unten, nackt, die schwarzen Haare wie einen Kranz um ihren Kopf gebreitet, im Tegernsee treiben. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits mehrere Tage vermisst worden. Nie wieder würde er dieses Bild aus seinem Gedächtnis vertreiben können.

Dienstag, 20:00 Uhr

Übelkeit übermannte Clemens, und er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, ins Badezimmer. Mit letzter Kraft kniete er sich vor die Toilette und übergab sich geräuschvoll, bis er nur noch bittere Galle hochwürgte. Doch sobald er das grüngelbliche Zeug roch, hob es seinen Brustkorb erneut, und alles ging von vorne los. Selbst auf seinem edlen Hemd prangte ein hässlicher Fleck von was auch immer. Er wollte gar nicht so genau wissen, was es war.

Schluss damit, er konnte doch nicht den Abend mit Kotzen verbringen, er hatte schließlich etwas Wichtigeres zu tun! Er drückte auf die Spültaste und vernichtete den restlichen Schleim in einem Wasserstrudel. Mit der verbliebenen Kraft zog er sich am Waschbeckenrand hoch und füllte einen Zahnputzbecher mit Wasser, gab ein paar Tropfen Mundwasser hinein und gurgelte ausgiebig. Jetzt schmeckte es zumindest nicht mehr nach Mageninhalt, sondern eher nach Pfefferminz. Ob das allerdings besser wäre, würde sich erst noch zeigen.

Clemens stellte das Glas auf der Ablage ab, ließ sich an der gekachelten Wand neben der Toilette nach unten rutschen und lehnte den Kopf an die kühlen Fliesen. Nur kurz die Augen schließen, zwei-, dreimal durchatmen, immer und immer wieder, bis das Bewusstsein sich wieder einschaltete und auf Betriebstemperatur kam.

Einen Moment später zuckte er zusammen und schaute auf die Uhr: Er war doch tatsächlich eine Viertelstunde weggedöst. Sofort überschwemmte ihn seine Erinnerung wie die Regnitz den Wiesengrund bei Starkregen. Er ließ die Luft aus seiner Lunge strömen. Ganz ruhig, befahl er sich, überlege, was als Nächstes zu tun ist. Immer eins nach dem anderen. Das Display seines Smartphones war dunkel. Er wählte Delphines Nummer. Vielleicht war alles nur ein böser Traum gewesen, und er machte sich völlig umsonst Sorgen. Gleich würde Delphine das Gespräch annehmen und sich vermutlich wieder furchtbar über ihn aufregen.

Doch es klingelte, bis die Mailbox ansprang: »Hallo, Sie sprechen mit der Mailbox von Delphine Otto. Leider bin ich gerade nicht persönlich zu sprechen, aber hinterlassen Sie mir gern eine Nachricht nach dem Signalton. Ich rufe Sie dann baldmöglichst zurück.«

Er wartete auf das hohe »Piep« und sprach eine kurze Nachricht auf das Band: »Delphine, hier ist Clemens. Wenn du das hörst, ruf mich doch bitte gleich zurück. Danke.«

Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein! Am liebsten hätte er sein Smartphone durch das Bad geschleudert, aber eine innere Stimme hielt ihn davon ab. Vermutlich die der Vernunft. Schließlich brauchte er es noch.

Cora! Natürlich, warum hatte er nicht gleich daran gedacht, sie anzurufen? Vermutlich, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Er seufzte, suchte im Adressbuch seines Handys nach Coras Nummer, klickte darauf und wartete auf das Freizeichen.

»Eisenstein«, meldete sich die Kriminaloberkommissarin und ständige Partnerin im Dienst. Wobei das momentan nicht ganz stimmte, denn er selbst war nicht mehr im Dienst. Zumindest bis auf Weiteres. »Hallo? Clemens? Bist du das? Sag doch was?«

»Ja, ich bin es«, murmelte er leise und schüttelte den Kopf. War er tatsächlich schon wieder kurz weggetreten gewesen? Teufel noch eins, der Alkohol tat ihm wirklich nicht gut.

»Was ist denn mit dir los? Du klingst, als hättest du ein Reibeisen verschluckt.«

Clemens glaubte, einen stillen Vorwurf hinter ihren Worten zu hören.

»Delphine ist verschwunden«, antwortete er so deutlich wie möglich.

»Wie meinst du das?«

Er erzählte ihr von dem seltsamen Anruf, brauchte dafür mehrere Anläufe, um sein Anliegen möglichst schlüssig zu formulieren. Allerdings unterschlug er die Anspielung auf Hannah, da keiner seiner Kollegen diese Geschichte kannte. Am Ende war er sich trotzdem nicht sicher, ob sie verstanden hatte, worum es ging.

»Sag mal, Clemens, hast du etwa getrunken?«, fragte sie auch prompt.

»Was soll denn jetzt diese Frage, Cora? Ich erzähle dir hier, dass ein Unbekannter womöglich Delphine in seiner Gewalt hat, und du unterstellst mir, dass ich betrunken wäre?« Seine Stimme klang lauter als beabsichtigt.

»Schön, dass du es selbst sagst, Darling.« Sie kicherte. »Du hast auf jeden Fall zu viel erwischt. Vielleicht hast du den Typen auch nur falsch verstanden. Das kann schon mal vorkommen in so einem Zustand. Vielleicht war das nur irgendein Scherzkeks, der von Delphine einen Korb bekommen hat und sich jetzt so an ihr rächen will, indem er dir eine Horrorgeschichte auftischt. Wahrscheinlich will er ihr so die Tour vermasseln, indem er Zwietracht zwischen euch sät.«

»So ein Unsinn! Erstens, was hätte der Typ denn davon? Und zweitens, woher wusste er, dass ich auf dem Sofa liege?« Er hielt kurz inne, fuhr sich durch die Haare. War die Ecke dahinten schon immer so staubig gewesen, oder saß da etwas, irgendwas Tierisches, Ekliges? »Nein, ich sage dir, der hat mich beobachtet, der muss irgendwo in meinem Garten Posten bezogen haben.«

»Klar«, antwortete sie nur.

»Was heißt hier ›Klar‹? Delphine ist vielleicht entführt worden, und du wischst das einfach so weg.«

»Mooooment«, holte Cora aus. »Hat der potenzielle Entführer denn Lösegeld gefordert oder Ähnliches? Immerhin gäbe es bei dir ja einiges zu holen«, spielte sie auf sein gut gefülltes Konto an.

»Nein«, gab Clemens zähneknirschend zu. »Er hat keinerlei Forderungen gestellt, aber irgendwas erzählt von wegen, ob ich mir keine Gedanken machen würde, wo sie bliebe. Ich meine, das schreit doch geradezu nach einem Verbrechen. Glaub mir, das hat etwas zu bedeuten!« Mittlerweile hatte er sich in Rage geredet.

»Hast du sie denn einmal angerufen?«

»Ja, und ich habe auch eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen.«

»Hast du in der Praxis nachgefragt?«

»Nein, natürlich nicht. Es ist doch schon weit nach acht, da ist die Praxis doch längst geschlossen.«

»Okay«, pflichtete Cora ihm bei. »Dann lass uns doch einmal überlegen. Vielleicht ist sie ja auch mit einer Freundin unterwegs. Oder einem Freund«, fügte sie nach einer Pause hinzu. »Und hat einfach keine Lust, ans Handy zu gehen. Vielleicht ist sie auch im Kino oder Theater. Es gibt viele Gründe, weswegen sie gerade nicht telefonieren will oder kann.«

Clemens seufzte. Cora hatte recht, es gab wirklich mehrere plausible Gründe, die Delphine davon abhielten, ihr Smartphone zu benutzen. Trotzdem, er glaubte nicht daran, dass einer davon zutraf.

»Was würdest du denn jemandem erzählen, der mit so einem Anliegen an uns herantritt?«, fragte Cora.

Clemens schnaubte, er wusste ganz genau, worauf Cora hinauswollte, aber er war nicht gewillt, es ihr so einfach zu machen.

»Genau, mein Lieber.« Er hörte sie durch das Telefon schmunzeln. »Du würdest ihm mitteilen, dass jeder das Recht hat, auch einmal nicht erreichbar zu sein oder mal von der Bildfläche zu verschwinden. Und dass das nicht automatisch bedeutet, dass etwas Schlimmes passiert ist. Aber wenn es dich beruhigt, kann ich eine Vermisstenanzeige aufgeben. Allerdings stelle ich mir gerade ihr Gesicht vor, wenn ein Kollege sie nach einem gemeinsamen Kinobesuch mit einer Freundin in der Kneipe abpasst.« Sie kicherte. »Eigentlich ganz witzig, die Vorstellung.«

»Ja, sehr komisch.« Clemens konnte darüber nicht lachen. »Aber vermutlich hast du recht. Wahrscheinlich mache ich mir nur unnötig Sorgen. Aber wenn sie sich bis zehn nicht gemeldet hat, dann gehe ich sie suchen.«

Fragte sich nur, wie. Mit dem Auto bestimmt nicht. Sein Alkoholpegel sprengte vermutlich jegliche Grenzen des Erlaubten. Fahrrad? Auch da kannten die Erlanger Beamten kein Pardon, auch nicht bei Kollegen. Und bei ehemaligen wahrscheinlich erst recht nicht.

»Tu, was du nicht lassen kannst. Aber denk dran, Delphine ist eine erwachsene Frau, die auch einmal, ohne sich abzumelden, einen Abend allein verbringen darf«, warf seine Kollegin ein. »Vor allem, wenn ihr beide im Moment sowieso nicht das beste Verhältnis habt.«

Er hätte ihr doch nicht so viel von seinen Problemen mit Delphine erzählen sollen. Das hatte er nun davon, sie nahm ihn nicht ernst. Aber wie so oft im Leben eines Kriminalbeamten redete man mit seinem Partner oder seiner Partnerin im Laufe eines Tages mehr als mit der eigenen Herzensdame oder auch dem Herzensmann.

Immer diese gendergerechten Bezeichnungen, sie verfolgten ihn schon in seinen Gedanken.

»Bist du noch da, Clemens?«

»Ja«, knurrte er. Er verspürte keine Lust, weiter auf das Thema einzugehen.

»Dann rate ich dir jetzt mal als Freundin, Delphine in Ruhe ihren Abend genießen zu lassen und deinen wohlgeformten Hintern ins Bett zu bewegen.« Wieder kicherte sie. »Du wirst sehen, morgen sieht die Welt schon ganz anders aus, vor allem, wenn dich ein heftiger Kater verfolgt.« Das Lachen wurde lauter.

»Ja, lach du nur, hoffentlich vergeht es dir nicht. Ich werde trotzdem nach Delphine suchen.« Clemens griff sich mit der Hand an die rechte Schläfe und massierte sie vorsichtig.

»Wenn du dich unbedingt vor deiner Freundin lächerlich machen willst, bitte schön.« Cora wirkte eingeschnappt. »Aber ich an deiner Stelle würde erst einmal wieder nüchtern werden. Dann relativiert sich nämlich einiges, vermutlich hast du nicht einmal korrekt verstanden, was der Kerl da von sich gegeben hat. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe noch zu tun.« Es klickte im Lautsprecher, und die Verbindung war beendet.

Mit einem unterdrückten Schrei pfefferte Clemens sein Handy in eine Ecke des Badezimmers. Es landete mit einem dumpfen Klonk auf dem Duschvorleger. Wieso nahm Cora ihn nicht ernst? Er vertraute ihr blind, genau wie sie ihm – und das nicht nur im Dienst. Doch jetzt ließ sie ihn im Stich. Wenn Delphine etwas zustieße, würde er sich das nie verzeihen, so viel war sicher. Aber auf diese Weise kam er nicht weiter. Er brauchte dringend Hilfe.

Schwankend erhob sich Clemens, wankte Richtung Duschvorleger und hob das Smartphone auf. Dann ließ er sich im Wohnzimmer auf die Couch sinken und rieb sich mit der Hand über die Stirn. Es war zwanzig nach neun. Bis um zehn Uhr wollte er Delphine Zeit geben, aber bis dahin sollte er wieder einen halbwegs klaren Kopf haben. Und jemand, der ihn bei Bedarf durch die Gegend kutschierte.

Klaus! Klar, wer sonst? Er war nicht nur sein bester Freund, sondern auch Internist und Vater seines Patenkindes. Clemens beneidete ihn darum, dass er neben einem zehnjährigen Sohn eine Tochter im Teenageralter und mit Cordula eine wirklich bezaubernde Frau an seiner Seite hatte. Die beiden besaßen alles, was Clemens sich wünschte: eine harmonische, langlebige Beziehung und eine Familie. Jemanden, der auf den anderen wartete, wenn er heimkehrte. Der sich freute, wenn sie Zeit miteinander verbrachten. Ein Paar, das seine Probleme gemeinsam statt einsam löste. Noch vor einiger Zeit hatte Clemens gedacht, Delphine könnte diese Frau für ihn sein, aber im Laufe der Zeit kristallisierte sich immer mehr heraus, dass sein Schneewittchen mehr an seinem Geld und seinem Ruf in der Gesellschaft interessiert war als an der Möglichkeit, sesshaft zu werden. Oder anders ausgedrückt: Das war das Letzte, was Delphine wollte. Zumindest, wenn er ihre Worte ernst nehmen konnte. Als er dann noch mitbekommen hatte, dass sie hinter seinem Rücken fremdflirtete, hatte Clemens die Nerven verloren und sie zur Rede gestellt. Es hatte einen heftigen Streit gegeben, bei dem nicht nur nette Worte gefallen waren, aber wie so oft hatte Delphine es am Ende geschafft, ihn mit fadenscheinigen Ausreden zu beruhigen und ins Bett zu zerren, sodass er ihr nicht mehr böse sein konnte. Vermutlich war das sein größter Fehler, seine dringende Sehnsucht nach einer festen Beziehung verleitete ihn zu einer Gutgläubigkeit, die er sich im Job nie erlauben würde.

»Brock?«, meldete sich eine weibliche Stimme am Telefon, als Clemens es endlich geschafft hatte, die Nummer anzuwählen.

»Clemens hier, ist Klaus da?«, brachte er krächzend hervor. Er räusperte sich sofort, was allerdings keine Besserung brachte.

»Um Himmels willen, was ist denn mit dir passiert?«, fragte Cordula. »Du hörst dich ja furchtbar an.«

Clemens verspürte keinerlei Lust, Cordula jetzt auch noch alles zu erzählen, so gern er sie hatte, daher fragte er erneut nach Klaus, nicht ohne sich bei Cordula für seine Unhöflichkeit zu entschuldigen. Seine guten Manieren vergaß er selten.

Cordula fragte glücklicherweise nicht weiter nach, sondern rief nach Klaus. Allerdings in einer Lautstärke, der sich Clemens gerade nicht gewachsen fühlte. Kurze Zeit später hatte er seinen Freund endlich am Apparat.

»Was gibt’s denn, Clemens? Willst du unser Lauftraining morgen etwa absagen?«

»Nein«, winkte Clemens ab, »oder vielleicht doch.« Verdammt noch mal, er musste bei der Sache bleiben. »Darum geht es jetzt nicht, Klaus.« Dann begann er in aller Kürze, die Ereignisse der letzten Stunden zusammenzufassen, so weit sein Zustand es ihm erlaubte. Wenigstens war seinem besten Freund die Geschichte um Hannahs Tod bekannt. Nachdem er fertig war, seufzte Klaus.

»Okay, ich sehe schon, spezielle Ereignisse erfordern spezielles Vorgehen. Ich bin in zehn Minuten da.«

»Aber bring dein Auto mit, hörst du?«, forderte Clemens ihn auf, was Klaus mit einem kurzen »Jawoll!« quittierte, bevor er auflegte.

Clemens lehnte sich in die Kissen zurück und legte sein Handy neben sich. Alles würde gut werden, gleich war Klaus da und würde ihm helfen. Sie würden Delphine finden, ganz bestimmt.

Nachdem er Klaus eingelassen hatte, wedelte dieser erst einmal mit den Händen vor seiner Nase herum.

»Junge, du hast eine Fahne, die bis nach Nepal reicht«, begrüßte er ihn und riss als Erstes einige Fenster auf, um zu lüften. In der Küche programmierte er den Kaffeevollautomaten mit dem stärksten Gebräu, das die Maschine hergab. Wie in Trance reichte ihm Clemens automatisch eine Tasse aus dem Schrank, bevor die heiße Flüssigkeit auf den Tresen fließen würde. Klaus grinste nur und begann, den Inhalt der einzelnen Schränke zu untersuchen.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Clemens, der das Schauspiel beobachtete.

»Ich suche etwas zu essen, Salzstangen, Zwieback oder so. Meinetwegen auch Knäckebrot.«

Wortlos öffnete Clemens den Vorratsschrank in Klaus’ Rücken und angelte eine Packung Salzstangen daraus hervor. Klaus riss sie auf und packte einige davon in ein Glas, das er Clemens in die Hand drückte. Dann schob er ihn Richtung Küchentresen und parkte ihn auf einem der Stühle.

»Hinsetzen, Klappe halten, essen und trinken!«, befahl er Clemens und stellte die volle Tasse Kaffee vor ihm ab. »Und Achtung, heiß!«

Clemens lächelte schwach. »Ja, Papa.« Vorsichtig pustete er über den Rand der Tasse, um den Inhalt abzukühlen. Nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte, wagte er einen Vorstoß. »Fährst du mich gleich bei Delphine vorbei?«

Klaus seufzte. »Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Ich meine, in deinem Zustand? Willst du nicht erst einmal duschen? Du riechst wie eine Szenekneipe auf Malle kurz vor Ladenschluss.«

Jetzt war es an Clemens, zu seufzen. Vielleicht hatte Klaus ja recht. Zumindest Zähne putzen war eine gute Idee. Er zwang sich den Rest Kaffee hinunter und würgte ein paar Salzstangen hinterher. Hoffentlich vertrugen die sich mit seinem Magen. Dann nickte er, schlurfte ins Bad und bemühte sich, seinem Äußeren wieder etwas Schliff zu verleihen.

Kurz darauf stieg er neben Klaus in dessen Kombi, und die beiden fuhren zu Delphines Wohnung in einem Mehrparteienhaus im Röthelheimpark. Nirgendwo in ihren Fenstern brannte Licht, es war augenscheinlich niemand zu Hause. Clemens stieg aus und klingelte mehrmals, aber keiner öffnete. Einen Schlüssel besaß er nicht, weil Delphine darauf bestand, dass sie einen Freiraum für sich bräuchte. Etwas, was Clemens nie wirklich verstanden hatte. Jetzt rächte sich das. Kurzerhand drückte er wahllos auf die anderen Knöpfe, woraufhin mehrfach die Sprechanlage ertönte, bis einer der Bewohner endlich den Türsummer betätigte. Clemens stemmte sich gegen die Tür und eilte nach oben zur Dachgeschosswohnung.

Unterwegs begegnete er einem älteren Herrn, der sich über das Treppengeländer beugte. Offenbar hatte er ihn herausgeklingelt. Clemens entschuldigte sich mit der Ausrede, dass er auf den falschen Knopf gekommen sei, was dem Anwohner glücklicherweise genügte. Unverständliches vor sich hin murmelnd schlurfte er zurück in seine Wohnung. Oben angekommen fuhr sich Clemens über die Wange, was sollte er jetzt unternehmen? Probeweise drückte er auf die Klinke, aber es geschah nichts. Delphine war allerdings eine dieser Kandidatinnen, die ständig nur die Tür ins Schloss fallen ließen, weil sie es so eilig hatte. Genau deswegen besaß ihre Haustür eines dieser modernen Schlösser, die automatisch verriegelten, nachdem sie ins Schloss gefallen waren. Schlecht für Clemens, aber gut gegen Einbrecher. Hier kam er nicht hinein, nicht ohne Schlüssel. Er trat den Rückzug an.

»Lass uns noch bei ihrer Praxis vorbeifahren«, schlug er Klaus im Auto ernüchtert vor. Delphines Physiotherapiepraxis lag am Zollhaus.

»Was willst du denn dort?« Klaus kratzte sich an seinem kahlen Schädel. »Da ist sie bestimmt nicht, die ist doch längst zu. Ich denke, sie ist vermutlich wirklich irgendwo im Kino oder Theater, wie deine Kollegin gesagt hat. Das Handy ist auf stumm geschaltet, und sie hört es deswegen nicht.« Er starrte seinen Freund an. »Ich fahre dich jetzt nach Hause, mein Lieber, dann schläfst du erst einmal deinen Rausch aus, und morgen sehen wir weiter. In Ordnung?«

»Nein, ich will nicht nach Hause! Fahr mich bitte zur Praxis!«, wehrte er Klaus’ Angebot vehement ab, bis dieser schließlich klein beigab.

Doch als sie am Zollhaus ankamen, lagen die Praxisräume im Dunkeln.

»Siehst du, was hab ich gesagt? Niemand da. Reicht es jetzt?«, fragte Klaus genervt.

Clemens überlegte. Was, wenn Delphine irgendwo da drinnen lag, vielleicht im Bad? Wenn sie bereits gehen wollte, schon alle Lichter ausgeschaltet, aber etwas vergessen hatte? Nein, er musste da jetzt rein.

»Ich komm gleich wieder«, meinte er und war schon zur Tür raus.

»Clemens! Was soll das? Du hast doch gar keinen Schlüssel!«

Doch das war Clemens egal. Er warf einen Blick durch die Fenster, wieder war nichts zu sehen. Aber das war ohne Licht auch etwas schwierig. Die Praxis lag ebenfalls in einem Mehrparteienhaus, der eigentliche Eingang war hinter der Haustür. Er könnte einfach wieder alle Klingelknöpfe drücken, um einen Anwohner dazu zu bewegen, ihm zu öffnen. Allerdings war das um diese Uhrzeit, es war bereits nach zehn Uhr, vielleicht nicht mehr ratsam, am Ende rief noch jemand die Polizei. Als hätte ihn eine höhere Macht gehört, öffnete sich in diesem Moment die schwere Tür, und ein Mann verließ das Haus. Er beachtete Clemens gar nicht, sondern lief rasch zu den Parkplätzen gegenüber. Clemens schaffte es gerade noch, die Tür festzuhalten, bevor sie ins Schloss fiel.

Einen Daumen nach oben Richtung Klaus zeigend, huschte er durch den Spalt, und das automatische Licht im Flur sprang an. Als er vor der Praxistür stand, rüttelte er an ihr. Hatte Delphine abgeschlossen? Sah nicht so aus. Er könnte versuchen, das herkömmliche Schloss mit Hilfe einer Kreditkarte oder Ähnlichem zu knacken. Einen Versuch war es allemal wert. Er wühlte seine Geldbörse hervor und griff sich eine Werbekarte daraus. Weshalb er sie überhaupt aufgehoben hatte, war ihm schleierhaft, aber jetzt konnte er sie gut gebrauchen. Er setzte sie in den Türspalt und hebelte den Verschluss mit einem geübten Griff auf. Die Tür schwang auf, und er schlich sich hinein, rief leise Delphines Namen. Niemand antwortete.

Er marschierte zu ihrem Schreibtisch, schaltete die kleine Lampe an und wischte kurz durch ihren Terminkalender, aber da stand auch nichts Weltbewegendes. Der letzte Termin heute war um siebzehn Uhr dreißig gewesen, eine Frau Weigand. Auf dem Anrufbeantworter berichtete nur eine Frau Meisner, dass sie den Termin morgen um zehn leider nicht wahrnehmen könne. Angerufen hatte sie laut Anzeige um neunzehn Uhr sieben. Da war Delphine offensichtlich schon weg gewesen. Clemens warf noch einen Blick ins Bad, aber auch dort war nichts Auffälliges zu sehen. Alles aufgeräumt und sauber. Er seufzte, dann machte er sich wieder auf den Weg zu Klaus, zog dabei die Praxistür leise hinter sich zu. Im Treppenhaus begegnete er einer alten Dame mit Hund. Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an, sagte aber nichts, sondern dackelte an ihm vorbei zur Hintertür hinaus. Clemens wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, aber es lohnte nicht, sich darüber Gedanken zu machen.

Als er sich wieder in das Auto setzte, schaute Klaus ihn vorwurfsvoll an.

»Ich will gar nicht wissen, wie du in die Praxis gekommen bist.« Offenbar hatte er ihn durch das Fenster gesehen.

»Ich werde es dir auch nicht erzählen.«

»Können wir jetzt endlich nach Hause? Oder willst du noch irgendwo anders hin?«

Clemens schüttelte langsam den Kopf. Momentan waren auch ihm die Ideen ausgegangen. Wahrscheinlich machte er sich einfach nur zu viele Gedanken und Sorgen, dem Alkohol geschuldet. Und seinem schlechten Gewissen, weil Delphine und er sich heute früh erst wieder gestritten hatten. Wie üblich über seine Arbeit. Sie hatte gar nicht verstanden, weswegen er so am Boden zerstört war, dass er suspendiert wurde. Jetzt könnte er doch endlich einmal seine Freizeit genießen, mit ihr wegfahren, auf Partys gehen. Dabei hasste er Partys, genauso wie nichtssagenden Small Talk.

Mittlerweile hatte Klaus den Wagen gestartet und fuhr über den Lorlebergplatz Richtung Burgberg. An Clemens’ Bungalow angekommen, ließ er ihn aussteigen und verabschiedete sich. Müde hob Clemens eine Hand zum Abschied, zu mehr fühlte er sich nicht in der Lage. Die Rücklichter des Kombis waren schon längst verschwunden, als er sich endlich Richtung Haustür umdrehte und sie aufschloss. Die Luft war selbst um diese späte Uhrzeit noch aufgeheizt und angenehm warm. Der Duft der weißen Kletterrose neben der Garage wehte zu ihm herüber, aber er konnte ihn nicht genießen. Zu sehr quälten ihn seine Gedanken.

Im Wohnzimmer ließ er sich auf die Couch plumpsen und legte seinen Kopf auf der Lehne ab, schloss die Augen. Was hatte der Typ gemeint mit seiner Schwester? Was hatte das alles mit Delphine zu tun? Er sah sie vor seinem inneren Auge, nur dass jetzt sie im See trieb, nicht seine Schwester. Er zuckte zusammen, wurde aber nicht mehr richtig wach, und die Gestalt in seinem Kopf verwandelte sich wieder in Hannah. Seine kleine Hannah. Mit einer Träne im Augenwinkel fiel er in einen tiefen Schlaf, der ihn endlich von seinen Gedanken erlöste.

Mittwoch, 6:00 Uhr

Etwas kitzelte Clemens’ Nase, und er musste niesen. Mühsam schlug er die Augen auf und fühlte die ersten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht tanzen. Hatte er etwa auf dem Sofa übernachtet? So etwas war ihm bisher noch nie passiert. Sein Mund fühlte sich immer noch pelzig an, der Rachen rau. Von seinem Kopf ganz zu schweigen. Mehrere ICE-Züge schienen sich gegenseitig einen Bremswettbewerb zu liefern, die schrillen Töne jaulten in seinen Ohren, und er spürte, wie sich seine Schläfen in Schraubstöcke verwandelten, die sich immer enger zudrehten. Er schloss kurz die Augen und holte tief Luft, doch es änderte nichts. Kopfschmerztablette, ich brauche eine Tablette, dachte er und stemmte sich aus den Kissen hoch. Sofort erfasste ihn ein Schwindel, der seinen Magen zum Flattern brachte. Er atmete tief aus und hielt sich an der Lehne fest. Nach einer Weile legte sich das Gefühl, und er schlich in die Küche, griff nach einem Glas, füllte es mit Wasser, angelte die Schmerztabletten aus dem Regal, drückte zwei heraus und schluckte sie hinunter. Danach bereitete er sich eine Tasse starken Kaffee zu und setzte sich an den Küchentisch, den Kopf in den Händen vergraben. Das helle Licht war Gift für seine Augen, und er brauchte sein Gehirn, um sich über die letzten Stunden klar zu werden.

Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Delphine, der Anruf. Schnell wollte er sein Handy aus der Hosentasche fischen, als ihm einfiel, dass er es auf die Couch gelegt hatte. Also rappelte er sich wieder hoch und schlurfte über einen kleinen Umweg durch den Hausflur ins Wohnzimmer. Er erinnerte sich dunkel, dass er am gestrigen Abend seine Sonnenbrille auf der Kommode im Eingangsbereich liegen gelassen hatte. Tatsächlich, da lag das teure Stück. Er setzte sie auf, und schon beruhigten sich die Blitze vor seinen Augen. Das Smartphone war zwischen die Ritzen zweier Sofakissen gerutscht und der Akku fast leer. Er schloss es an das Ladekabel an, entsicherte es und scrollte durch seine Nachrichten. Eine von Klaus, eine von Cora, keine von Delphine. Sie musste doch gestern Abend noch bemerkt haben, dass er angerufen und auf die Mailbox gesprochen hatte. Clemens fuhr sich durch die Haare.

Erneut rief er bei ihr an. Keine Reaktion. Was sollte er jetzt tun? Falsch: Wie würde er in diesem Fall als Kommissar vorgehen? Mal abgesehen davon, dass Delphine noch keine vierundzwanzig Stunden, geschweige denn zwölf Stunden vermisst wurde. Und sie natürlich einen Grund gehabt hatte, sich nicht bei ihm zu melden, ihn vielleicht sogar mit Absicht mied. Nein, diese Gedanken musste er beiseiteschieben, sie halfen ihm nicht weiter.

Ob er noch Restalkohol intus hatte? Bestimmt, denn wenn er das richtig im Gedächtnis hatte, baute der Körper etwa null Komma eins Gramm Alkohol pro Kilogramm Körpergewicht in einer Stunde ab. Aber wie viel hatte er eigentlich getrunken? Die Whiskeyflasche auf dem Fußboden war zugeschraubt und noch halb voll. Das hieß, es fehlten ungefähr dreihundert Milliliter. Dazu noch die Whiskeyshots aus dem Café gestern Nachmittag, vielleicht vier oder fünf. Puh. Das waren bestimmt fast zwei Promille gewesen. Aber er hatte sich doch übergeben. Da musste doch auch schon wieder etwas Alkohol verschwunden sein. Egal. Wie er es drehte und wendete, gute vierhundert Milliliter Whiskey mit sechsundvierzig Volumenprozent, das war schon eine Hausnummer. Und damit war er vermutlich noch nicht in der Lage, Auto zu fahren. Klaus brauchte er nicht zu fragen, der hatte genug damit zu tun, seine Kinder aus dem Haus in die Schule zu scheuchen und danach in seine Praxis zu fahren. Cora fiel ebenso flach. Blieb nur ein Taxi. Bis es hier war, blieb ihm noch genügend Zeit, um sich frisch zu machen.

Eine halbe Stunde später läutete es an der Tür, und Clemens griff gewohnheitsmäßig zu dem leichten Mantel, den er aber sofort wieder an die Garderobe hängte, nachdem er dem Taxifahrer die Tür geöffnet hatte. Bereits so früh am Morgen umhüllte ihn schwülwarme Luft wie ein feuchtes Handtuch, sodass er sich mit der langen grauen Chinohose und dem weißen Kurzarmhemd schon falsch angezogen fühlte. Er packte die Geldbörse in die Hosentasche, steckte das halbwegs aufgeladene Smartphone in die Brusttasche seines Hemdes und schloss die Haustür ab.

Das Taxi fuhr zu Delphines Wohnung, und Clemens bat den Fahrer, kurz zu warten, während er zur Tür eilte und klingelte. Selbst nach mehrmaligem Wiederholen tat sich nichts, außer dass sich ein Nachbar aus dem geöffneten Fenster heraus beschwerte über den Terror am frühen Morgen und dass er die Polizei hole, wenn Clemens nicht gleich verdufte. Clemens winkte entschuldigend und stieg langsam die wenigen Stufen zur Straße hinab. Was nun? Er zwang sich, ruhig zu bleiben, setzte sich wieder auf den Beifahrersitz des Taxis, während der Fahrer ihn von der Seite beobachtete.

Delphine hatte gestern bis achtzehn Uhr gearbeitet, eventuell noch kurz aufgeräumt, telefoniert, Mails beantwortet, was auch immer. Doch was war danach geschehen?

»Suchen Sie jemanden?«, fragte ihn der Taxifahrer, der sich wahrscheinlich bereits fragte, was Clemens da wollte. Das Taxameter zeigte mittlerweile fünfundvierzig Euro an.

Clemens nickte. »Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich suche meine Freundin. Sie ist gestern Abend nicht zu mir gekommen, und ich habe so einen blöden Anruf erhalten, der auf sie anspielte. Außerdem haben wir uns gestritten. Jetzt mache ich mir Sorgen.« Er seufzte. Warum erzählte er diesem Jungspund von vermutlich Mitte zwanzig das alles?

Der Mann spitzte die Lippen. »Ist sie vielleicht bei einer Freundin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Meine Freundin, wenn die sauer ist mit mir, dann will die mich net sehen. Dann geht sie ins Fitnessstudio und fährt auf dem Spinningbike, bis sie fast vom Rad fällt. Dann ist sie wieder ansprechbar. Zumindest manchmal.« Er lächelte und zuckte mit den Schultern.

Clemens hieb sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Dass ihm das nicht früher eingefallen war! Klar, Delphine war laufen gegangen! Wie jeden Dienstagabend. Und am Mittwochmorgen gleich noch mal, um im Training zu bleiben. Wie hieß nur dieser See, an dem sie immer entlanglief? Erst ein Stück über den Wiesengrund Richtung Alterlangen und dann … Alterlanger See, so hieß er.

»Hast du die Lösung, mein Freund?« Der Taxifahrer klopfte ihm grinsend auf die Schulter und war ganz selbstverständlich zum Du übergegangen, was Clemens normalerweise mehr als nur gestört hätte, aber momentan war es ihm nicht wichtig. Immerhin hatte ihn der Kerl auf eine Spur gebracht, hoffentlich auf die richtige.

Er nickte. »Zum Alterlanger See«, orderte er, und los ging die Fahrt. Unter der A 73 durch, über den Dechsendorfer Damm immer weiter geradeaus bis zur Möhrendorfer Straße und einmal quer durch die Wohnsiedlung links bis zur Alterlanger Straße, an deren Ende der See lag. Hier parkte das Taxi, siebenundsiebzig Euro dreißig leuchteten auf. Clemens drückte dem Fahrer einen Hunderter in die Hand und bedankte sich.

»Soll ich nicht noch warten?«, fragte der junge Kerl, den Hunderter anstrahlend.

»Nein, alles gut. Wenn ich sie hier nicht finde, kann ich auch einen Spaziergang nach Hause machen. Vielen Dank.«

Clemens meinte es ehrlich. Er stieg aus und versetzte der Beifahrertür einen leichten Stoß, sodass sie ins Schloss fiel. Der Fahrer nickte noch einmal kurz zum Abschied, dann gab er Gas.

Er sah sich auf dem Parkplatz um. Wo sollte er Delphine suchen? Wenn sie wirklich laufen war, musste sie zumindest irgendwann hier ankommen. Er lief ein Stück am See entlang, am Spielplatz vorbei. Weiter vorne entdeckte er ein Fahrrad. Es kam ihm bekannt vor, ein dunkelblaues Damenrad mit hellen Reifen und einem Korb, der mit einer weißen Blütengirlande geschmückt war. Das war Delphines Rad. Clemens atmete erleichtert auf. Sie war tatsächlich hier, wollte wahrscheinlich einfach nur eine Runde laufen gehen, bevor sie wieder in ihre Physiopraxis fuhr. Und er hatte sich so viele Sorgen gemacht. Sollte er auf sie warten? Wie würde sie reagieren, wenn sie ihn hier anträfe? Am Ende fühlte sie sich noch von ihm kontrolliert. Vielleicht ging er lieber wieder, solange sie ihn noch nicht entdeckt hatte. Clemens beschloss, am Seeufer entlang über den Wiesengrund Richtung Burgberg zu laufen. Das dauerte gut eine Stunde, aber schließlich hatte er es nicht eilig. Und ein bisschen Bewegung tat ihm bestimmt gut, auch wenn die Temperaturen vermutlich schon über zwanzig Grad lagen. Morgens um halb acht! Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Er wanderte am Ufer entlang, die Sonne glitzerte im Wasser, und er war froh über seine getönte Brille. Sein Gehirn weigerte sich immer noch, sich mit hellem Licht auseinanderzusetzen. Weiter hinten am Ufer bewegte sich das Schilfgras im Wind, eine Entenfamilie setzte sich in Bewegung und eroberte die Mitte des Sees. Mit leuchtenden Augen beobachtete Clemens die kleinen Puschelknäule, die sich wie aufgedrehte Spielfiguren durchs Wasser schraubten. Dass die nicht untergingen? Waren das überhaupt echte Federn?

Etwas anderes weckte seine Aufmerksamkeit, etwas helles, direkt am flachen Seeufer ihm gegenüber, wo der See eine kleine Biegung machte, versteckt im Schilfgras. Da lag etwas. Bestimmt wieder Müll, den irgendein Depp heimlich entsorgt hatte. Clemens seufzte. So etwas kam leider häufiger vor. Im Grunde genommen konnte es ihm ja egal sein, schließlich war er nicht im Dienst. Aber wie so oft machte ihm sein schlechtes Gewissen einen Strich durch die Rechnung. Er konnte nicht einfach so tun, als hätte er es nicht gesehen, und so bewegte er sich in Richtung der möglichen Müllhalde. Doch je näher er der Stelle kam, desto mehr beschlich ihn eine dunkle Ahnung.

Das wirkte nicht wie Dreck, auch nicht wie eine Plane, die im Wasser trieb, was er zuerst vermutet hatte. Es war nicht nur hell, sondern auch ziemlich groß, wirkte aber nicht wie Kunststoff. Eher wie … Nein, das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. So schnell ihn seine Füße trugen, schlug er sich durch das Schilf zu der Stelle durch, sein Herz einer Dampfmaschine gleich, die auf Höchstlast fuhr. Er spürte den Puls bis hoch in den Hals. Endlich hatte er sich durch das Gestrüpp durchgearbeitet, die blutenden Handflächen, die durch die scharfkantigen Blätter zerschnitten wurden, fielen ihm gar nicht auf, ebenso wenig wie seine bereits bis zum Knie durchnässte Kleidung. Er watete durch das seichte Ufer, teilte die letzten Halme vor sich und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan.

Vor ihm im Wasser lag Delphine mit dem Kopf nach unten, ihr nackter Körper hatte sich an einem im See liegenden Ast verfangen, die schwarzen Haare schwammen wie eine Krone um ihren Schädel herum.

Clemens entfuhr ein schriller Schrei, und er schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Was passierte hier? Ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, griff er nach ihr und drehte sie zu sich herum. Vielleicht lebte sie noch, vielleicht konnte er sie retten, sie wiederbeleben, irgendetwas tun. Irgendwas.

Erst nach mehrmaligem Bemühen gelang es ihm, ihren Arm aus dem Geäst zu befreien und ihren Körper zu drehen. Eigentlich hätte es ihm bereits zu diesem Zeitpunkt klar sein müssen, dass seine Bemühungen vergeblich waren, denn die Leichenstarre war schon komplett ausgebildet. Als er ihr Gesicht sah, wurde ihm bewusst, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Die ehemals strahlend grünen Augen waren weit aufgerissen und eingetrübt, der Mund leicht geöffnet und die Haut so blass, wie es nur bei Schneewittchen sein konnte. Trotzdem schleppte er sie mit letzter Kraft an Land. Dann brach er schluchzend neben ihr zusammen, den Kopf an ihrer Wange. Von irgendwoher näherten sich lauter werdende Sirenen, doch er strich nur weinend über ihre Haare, immer und immer wieder.

Mittwoch, 8:00 Uhr

Zwei Streifenpolizisten näherten sich Clemens, aber erst als sich eine Stimme direkt an ihn richtete, nahm er sie bewusst wahr.

»Nehmen Sie die Hände hoch, erheben Sie sich und entfernen Sie sich von der Frau!«, forderte ihn eine weibliche Stimme auf, die ihm vage bekannt vorkam. Clemens hob langsam den Kopf, und die beiden Beamten fuhren zurück, wirkten zutiefst erschrocken.

»Sofort weg von der Frau!« Der männliche Polizist deutete mit einer Bewegung seiner Waffe weg von Delphine, die Augen weit aufgerissen. Täuschte sich Clemens, oder zitterte der Beamte?

»Ich gehe hier nicht weg. Das hier ist meine Freundin, Delphine Otto. Ich habe sie gerade hier gefunden. Und mein Name ist –« Weiter kam er nicht.

»Clemens!«, rief die blond gelockte Beamtin und verzog ungläubig das Gesicht. »Clemens Sartorius, bist du das wirklich?«

Ihr Kollege starrte sie verständnislos an. »Meinst du etwa Kriminalhauptkommissar Clemens Sartorius?« Der Adamsapfel in seiner Kehle hüpfte deutlich.

Sie nickte, und mit einem Mal wusste Clemens auch wieder, wer sie war. Sabine hieß sie, doch wie lautete ihr Nachname? Er wusste noch, dass sie einen Bruder hatte, der Tom hieß. Und dass er kurz mit ihr liiert gewesen war, damals, nach Hannahs Tod. Und jetzt war Delphine tot. Wie Hannah. Wie einzelne Murmeln klackerten die Gedanken durch sein Hirn, zwängten sich durch eine enge Öffnung, um dann eine schier endlos lange Bahn hinabzurollen, bevor sie in der Unendlichkeit verschwanden.

Dann wurde Clemens bewusst, dass die beiden immer noch auf eine Antwort von ihm warteten. »Ja, ich bin es wirklich. Und du bist Sabine …«

»Ulrich«, half sie ihm sofort aus. »Ich heiße immer noch Ulrich. Der passende Mann zum Heiraten ist mir noch nicht begegnet.« Als sie den fassungslosen Blick ihres Kollegen wahrnahm, schlug sie sich rasch mit der Hand vor den Mund.

»Es tut mir leid, wirklich, also … in Anbetracht dessen, dass deine Freundin –« Ihre Stimme brach ab.

Ihr Kollege schüttelte augenrollend den Kopf, bevor er sich an Clemens wandte.

»Herr Sartorius, es tut mir leid, dass ich Sie net gleich erkannt habe, aber trotzdem muss ich Sie bitten, von … Ihrer Freundin wegzutreten, bis die Kollegen anwesend sind. Sie verstehen doch sicher …« Er verstummte.

Natürlich verstand Clemens. Die Pflicht, die Vorgaben, die Regeln. Alles hatte nach einem bestimmten Muster abzulaufen. Wie immer. Dennoch fühlte er sich außerstande, dieser Aufforderung, die im Grunde genommen ein Befehl war, nachzukommen. Er konnte Delphine hier nicht einfach so nackt und bloß liegen lassen. Vor den Augen aller. Das war schlicht unmöglich. Sein Blick fiel auf seine Hände, und er nahm die blutigen Schlieren darauf wahr, entdeckte die gleichen Spuren auf Delphines Körper und entsann sich, dass er sich vorhin mit ebendiesen Händen ins Gesicht gefasst hatte. Er musste einen schrecklichen Anblick bieten, kein Wunder, dass die Beamten vor ihm zurückgewichen waren. Wahrscheinlich wirkte er wie ein Irrer. Am Ende glaubten die beiden noch, er hätte etwas mit Delphines Tod zu tun. Er musste aufstehen, ihnen alles erklären. Aber Clemens wusste nicht, wie er seine Beine dazu bewegen sollte.

»Ich weiß, wie das hier aussieht, aber ich kann alles erklären.« Clemens hob entschuldigend die Hände und wusste im selben Moment, wie bescheuert sich das anhörte. Diesen Satz hatte er so oft von Verdächtigen gehört, dass er ihm bereits die Ohren ausleierte. Und in den seltensten Fällen hatte sich der Inhalt des Satzes als wahr erwiesen.

»Na, da bin ich aber gespannt«, erwiderte der junge Polizist prompt. Clemens konnte es ihm nicht verdenken. Sabine blickte ihn müde lächelnd an.

»Sie können uns gerne alles in Ruhe erklären, meinetwegen auch mehrfach, aber wenn Sie jetzt net gleich von dem Körper verschwinden, werde ich Sie festnehmen, ob Kommissar oder net.« Die Ruhe war aus der Stimme des Beamten verschwunden.

Clemens erhob sich mühsam. Der Polizist tat nur seine Arbeit, und Clemens konnte ihm das nicht übel nehmen.