Todesfessel - Cathrin Moeller - E-Book
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Todesfessel E-Book

Cathrin Moeller

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Beschreibung

Rügen ist eine faszinierende Insel – manchmal auch tödlich. Die hoch spannende Krimiserie der Erfolgsautorin führt uns an die Lieblingsorte auf der Insel und zugleich an mörderische Abgründe. Zum Start der beliebten Störtebeker-Festspiele wird eine übel zugerichtete Frauenleiche auf der Natur-Bühne in Ralswiek gefunden. Eine bekannte Richterin hängt am Steuerrad des Piratenschiffs. Ex-Kommissar Henry Zornik soll die Polizei bei den Ermittlungen unterstützen. Ist es eine Beziehungstat? Kurz darauf wird am Binzer Baumwipfelpfad eine weitere Leiche gefunden – ein Autowerkstattbesitzer, aufgehängt am Klettergerüst. Zornik ist von einem Zusammenhang beider Fälle überzeugt: Es kann kein Zufall sein, dass die beiden Toten stark nach Parfüm riechen. Noch ahnt er nicht, dass der Täter bereit ist, dem Ermittler das Liebste zu nehmen, wenn der ihm in die Quere kommt. «Handfest und knallhart (...) in einem atemraubenden Showdown gelöst.» Christine Jacob, Leipziger Volkszeitungzu «Todesglut» «Todesfessel» ist Band 3 der packenden Serie um den Ex-Kommissar Henry Zornik und die Studierenden der «Akademie des Verbrechens», die mit ihren ganz besonderen Mitteln ihre Mordfälle lösen. 

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Seitenzahl: 471

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Cathrin Moeller

Todesfessel

Ein Rügen-Krimi

 

 

 

Über dieses Buch

Rügen ist faszinierend. Manchmal auch tödlich.

 

Zum Start der beliebten Störtebeker-Festspiele wird eine übel zugerichtete Frauenleiche auf der Naturbühne in Ralswiek gefunden. Eine bekannte Richterin hängt am Steuerrad des Piratenschiffs. Ex-Kommissar Henry Zornik soll die Polizei bei den Ermittlungen unterstützen. Ist es eine Beziehungstat? Kurz darauf wird am Binzer Baumwipfelpfad eine weitere Leiche gefunden – ein Autowerkstattbesitzer, aufgehängt am Klettergerüst. Zornik ist von einem Zusammenhang beider Fälle überzeugt: Es kann kein Zufall sein, dass die beiden Toten stark nach Parfüm riechen. Noch ahnt er nicht, dass der Täter bereit ist, dem Ermittler das Liebste zu nehmen, wenn der ihm in die Quere kommt.

 

«Handfest und knallhart (…) in einem atemraubenden Showdown gelöst.» Christine Jacob, Leipziger Volkszeitung, zu «Todesglut»

 

 

Pressestimmen zur Reihe:

«Wenn Sie Lust haben, mal wieder den Atem anzuhalten (…): ‹Todesglut. Die Akademie des Verbrechens› wird Sie nicht loslassen, bis Sie den Täter kennen.» Sabine Ertz, Saarländischer Rundfunk, zu «Todesglut»

 

«Mit der ‹Akademie des Verbrechens›-Reihe hat Cathrin Moeller der Insel ein schriftstellerisches Denkmal gesetzt. Bereits jetzt.» ntv.de zu «Todesklinge»

Vita

Cathrin Moeller, Diplomsozialpädagogin, arbeitete unter anderem in Resozialisierungsprojekten. Neben der Arbeit an den eigenen Texten, darunter der Spiegel-Bestseller «Wolfgang muss weg!», coacht sie kulturelle Bildungsprojekte. Sie wohnt mit ihrem Mann, einem Kriminalhauptkommissar, in der Nähe von Leipzig. Nach «Todesglut» und «Todesklinge» folgt nun mit «Todesfessel» der dritte Band der Rügen-Krimi-Serie um Ex-Ermittler Zornik und die Studierenden der «Akademie des Verbrechens».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Claudia Wuttke

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01788-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Montag, 31. Mai 2021

Kapitel 1

Er riss den Reißverschluss seiner Jacke mit einem Ruck bis unters Kinn zu, was ihn dennoch nicht vollständig gegen den eisigen Seewind schützte, der immer stärker wurde. Die düsteren Regenwolken am Himmel fegten, vom Wind getrieben, unaufhaltsam landeinwärts, als würden sie eine düstere Vorahnung verkünden. Die maroden Fenster des alten Bahnhofsgebäudes der Station Stralsund Rügendamm klapperten in ihren Rahmen. Das Gebälk des Dachstuhls über ihm knackte bedrohlich, als würde es im nächsten Augenblick in sich zusammenstürzen. Der Wind heulte durch jede Ritze, während sich die Dunkelheit wie eine Decke über den schwindenden Tag legte.

Er atmete tief durch. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und sein Puls pochte in seinen Schläfen. Eine Mischung aus Vorfreude und Angst durchströmte seinen Körper. Sein Verstand war gespannt wie ein Drahtseil, während er sie erwartete und gleichzeitig die Zweifel nicht ignorieren konnte, die in ihm aufkeimten.

Hier, am Rande der Stadt in dem verlassenen Industriegebiet mit seinen langsam verfallenden Bauten hinterm Hafen, spendeten die wenigen Straßenlaternen nur spärliches Licht. Von seiner Position im Obergeschoss hatte er den Bahnsteig gut im Blick. Wenn sie den Zug verließ, musste sie durch den Tunnel der Unterführung und den Gang im Bahnhofsgebäude, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Wenn sie kam. Er war sich nicht sicher, ob sie seiner «Einladung» gefolgt war. Er schaute auf seine Armbanduhr. Der Zug hatte vier Minuten Verspätung. Die Waggontüren öffneten sich. Zwei Leute stiegen aus. Ein junger, schlaksiger, unscheinbarer Mann mit Rucksack über der Schulter, die Kapuze auf dem Kopf tief ins Gesicht gezogen, und sie! Ja, sie war eine dieser Frauen mit der gewissen Ausstrahlung, eine, die vor Selbstbewusstsein strotzte. In ihrem Trenchcoat, dessen zusammengeschnürter Gürtel ihre schlanke Taille betonte, war sie viel zu elegant gekleidet für ein Treffen an diesem verwahrlosten Ort, wo man von Verfall und Dreck umgeben war. Sie schaute sich suchend um, wartete einen Moment und ließ den Kapuzenmann vorbeigehen. Aha, der Typ schien sie zu beunruhigen. Diese plötzliche Unsicherheit gefiel ihm. Sie holte das Smartphone aus der Manteltasche, tippte etwas ein. Dann schaute sie auf das Display. Das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er reagierte nicht darauf. Zögernd setzte sie sich in Bewegung, steckte das Handy zurück und lief in einigem Abstand hinter dem Kapuzenmann auf ihren hohen Stiefelabsätzen den Bahnsteig entlang. Dabei trug sie die Handtasche fest unter den Arm geklemmt. Ihr brünettes, schulterlanges Haar wehte ihr ins Gesicht. Sie strich es aus der Stirn. Als sie die Treppe erreichte, trat er vom Fenster weg und machte sich langsam auf den Weg zu ihr.

Er lächelte in sich hinein, freute sich auf ihr Gesicht, fragte sich aber, ob sein Plan wohl aufging. Er biss sich auf die Lippen. Seine Anspannung wuchs, und er spürte das Adrenalin in seinem Blut. Am Ende des Ganges blieb er stehen und wartete, dass sie um die Ecke bog. Da hörte er einen Schrei. Ihren Schrei! Er rannte den Gang entlang und sah, dass sie auf dem Boden lag und der Kapuzenmann mit ihrer Handtasche Richtung Bahnsteig davonsprintete. Er ließ ihn laufen, denn der Mantel unter ihren Fingern am Bauch färbte sich blitzschnell rot. Erstaunt sah sie ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Sie röchelte. Er legte den Finger auf ihre Lippen, als sie etwas sagen wollte. Er überreichte ihr sein Geschenk. Sie nahm es mit fragendem Blick entgegen.

«Später», sagte er nur und schob ihr einen Arm unter die Knie und einen unter ihren Rücken, hob sie hoch und trug sie zum Auto, das er in zwanzig Metern Entfernung zum Bahnhof geparkt hatte. Jetzt musste er sie erst einmal von hier wegbringen. Doch er war nicht gekommen, um sie zu retten.

Dienstag, 1. Juni 2021

Kapitel 2

Im Radio sang Johannes Oerding von seinen guten Tagen. Das Gerät stand auf der Fensterbank im frisch gestrichenen Kinderzimmer unterm Dach der reetgedeckten Fischerkate, in der Henry nunmehr seit anderthalb Jahren mit Lucia und Matti – seinem Adoptivsohn – wohnte. Lucia tänzelte im Rhythmus vor der hellgrünen Wand herum, auf die sie mit einem dicken Pinsel das zwei Meter große Giraffen-Wandbild malte, das Matti für seine zukünftige kleine Schwester ausgesucht hatte. Beim Refrain sang Lucia nun lauthals mit: «… Auch wenn’s nur jetzt und nicht für immer ist …» Dabei hielt sie den Pinsel wie ein Mikrofon und übertönte den Liedermacher, den sie auch wegen der sympathischen Ausstrahlung so mochte. Henry kniete daneben auf dem Boden, sah sich die Bauanleitung an und sortierte die Einzelteile des Kinderbettes, das der Paketdienst vor einer Stunde geliefert hatte. «Und weil ich weiß, dass meine Sonne ihre Pausen braucht und sich dann irgendwo versteckt …», stimmte er in den Gesang mit ein, denn der Song und auch der Text sprachen ihm aus der Seele. Im nächsten Moment zog Henry die Stirn in Falten. «Na großartig! Die Tüte mit den Schrauben fehlt», sagte er und durchwühlte die herumliegenden Verpackungen noch einmal nach dem Beutel. Lucia half ihm und holte den einen Karton zurück, den er schon in den Flur geräumt hatte, weil der ihr beim Malen im Weg lag.

«Warte doch! Du sollst nichts tragen!»

«Du übertreibst mal wieder, der wiegt höchstens hundert Gramm.» Schmunzelnd verdrehte sie die Augen, von denen eins grün und das andere blau war. Vom ersten Moment, als er ihr in der Akademie begegnet war, hatten sie ihn fasziniert. Aber nicht nur die Augen. Immer wenn sie sich im Lehrerzimmer, im Flur oder auf der Treppe des alten Herrenhauses begegnet waren, musste er sie automatisch ansehen, was ihm damals peinlich gewesen war, weil er nicht wusste, wie sie es fand, wenn er sie länger als eine Sekunde anstarrte. Henry stand auf, nahm ihr den Karton, der ihr bis unter die hübsche Nase reichte, aus der Hand und gab ihr einen Kuss. Sie sah zum Anbeißen aus in ihrer farbverschmierten Latzhose über dem gewölbten Bauch. Das lange schwarze Haar saß ihr wie ein vom Wind zerzaustes Vogelnest auf dem Kopf. Mit rosigen Wangen strahlte sie ihn an. Wie sehr er diese Frau liebte. Sie und Matti hatten in den letzten anderthalb Jahren einen anderen Menschen aus ihm gemacht, hatten ihm dabei geholfen, seine Dämonen zu vertreiben, und ihm ein Gefühl von Geborgenheit gegeben, das er als Kind nie kennengelernt hatte. Alles fühlte sich richtig an. Selbst seine Exfreundin Jolien, die ihn vor anderthalb Jahren gestalkt hatte, warf keine Schatten mehr auf sein Leben, nachdem er ihr deutlich gemacht hatte, dass er gerichtlich gegen sie vorgehen würde. Sie war nach dieser Ansage von der Insel weggezogen und hatte ihn seitdem in Ruhe gelassen. Und dass in den nächsten Tagen seine und Lucias Tochter zur Welt kommen würde, schien sein neues Leben und das Glück, das er gefunden hatte, zu besiegeln. Bis dahin würde auch Matti von der Abschlussfahrt seiner Grundschulklasse zurück sein. Seine ehemalige Kollegin und gute Freundin Martha hatte den Jungen begleitet, weil Matti, ein Kind mit Asperger, zwar hochintelligent war, aber bei sozialen Interaktionen schnell in Schwierigkeiten geriet. Deshalb war es gut, wenn er eine Vertrauensperson auf Klassenfahrt in seiner Nähe hatte. Eigentlich Henrys Aufgabe, aber er wollte Lucia so kurz vor der Geburt nicht allein lassen. Sie wohnten abseits von Bergen in Alleinlage. Henry wollte einfach nichts riskieren und zur Stelle sein, wenn es mit den Wehen losging. Auch wenn Lucia seine Fürsorge manchmal für übertrieben hielt. Er konnte nicht anders. Schließlich war es sein erstes leibliches Kind. Morgen war dann auch sein vorerst letzter Unterrichtstag in der Akademie, wo er seit anderthalb Jahren junge Nachwuchsermittler im Kurs Kriminologie ausbildete, den er in «Wie man einen Mörder fängt» umbenannt hatte. Obwohl das Semester erst Mitte Juli zu Ende ging, hatte er für die nächsten drei Wochen Sonderurlaub genommen, um Lucia, die als forensische Pathologin auch an der Akademie unterrichtete, in der Anfangsphase mit dem Baby zu unterstützen. Mit diesem unbeschreiblichen Glücksgefühl im Bauch nahm er Lucia singend den Pinsel aus der Hand. Je mehr Lucia über seine falschen Töne lachte, desto lauter posaunte er sie hinaus. Schließlich sangen sie im Duett und tanzten übermütig durch den Raum, bis das Lied zu Ende war. Dann schnappte sie sich erneut den Pinsel und beschwerte sich mit gespielt strengem Gesicht, dass er sie von der Arbeit abhielt. Sie zeigte auf das noch in seine Einzelteile zerlegte Bett. «Wenn wir weiter so herumblödeln, kommt Mariella eher zur Welt, als ihr Kinderzimmer eingerichtet ist.»

«Zu Befehl!», antwortete er scherzhaft, strich Lucia über den gewölbten Bauch. «Hörst du es, Kind? Deine Mutter hat Angst, dass du auf dem Boden schlafen musst.»

«Si, chi dorme non piglia pesci.»

Henry hob grinsend den Zeigefinger. «Signora Bertolli, möglicherweise fange ich so keine Fische, aber in der Ruhe liegt die Kraft, wie es bei uns so schön heißt», sagte er, drehte den letzten Karton auf den Kopf und schüttelte kräftig. Eine kleine Plastiktüte fiel heraus. Henry hob sie auf, packte die Schrauben aus und sortierte sie entsprechend den Abbildungen in der Anleitung. Der Radiomoderator der Ostseewelle leitete zu den Nachrichten über, in denen sämtliche weltpolitischen Krisen abgehandelt wurden, bevor über die lokalen Neuigkeiten informiert wurde. «Bei der Bergung eines vor 18 Monaten gesunkenen Fischkutters vor der Küste Usedoms im Greifswalder Bodden wurde ein menschliches Skelett gefunden und in das rechtsmedizinische Institut nach Greifswald zur Untersuchung verbracht. Ersten Angaben zufolge handelt es sich bei der Leiche offenbar um ein Mordopfer. Die Polizei ist noch dabei, die Identität der verstorbenen Person zu ermitteln, was sich nach Aussagen des Polizeisprechers aufgrund der langen Zeit im Wasser schwierig gestaltet.» Henry horchte auf. Sein Blick traf den von Lucia, die ihn entsetzt anstarrte.

«Mist!», sagte er. «Von acht Schrauben fehlen drei.» Nachdenklich stand er auf und lief in den Keller, wo er eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte.

Dort suchte er aus dem Kästchen über der Werkbank, in der er Kleinteile aufbewahrte, drei Schrauben heraus, die passen müssten. Erst als er auch noch zwei Muttern in der Hand hielt, die er gar nicht benötigte, wurde ihm bewusst, wie seine Gedanken bereits zu der Leiche im Fischkutter gedriftet waren – und zu den Konsequenzen, die es möglicherweise haben könnte, wenn die Identität des Opfers herauskam. Sein Magen verkrampfte. Denn wenn seine Befürchtung zutraf, würde er sich damit auseinandersetzen müssen, ob er wollte oder nicht. Lucia hatte ihm genau angesehen, woran er bei der Radiomeldung dachte. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Schon gar nicht in ihrem jetzigen Zustand. Er löschte das Licht und stieg die Treppe hoch. Als er in der Diele ankam, klingelte es an der Haustür. Lucia stand auf der obersten Stufe im Dachgeschoss und wollte gerade herunterkommen. «Ich gehe schon!», rief er.

Aber sie hielt kopfschüttelnd den Zeigefinger vor den Mund, wedelte hektisch mit dem Arm und machte ihm deutlich, dass er in die Küche verschwinden solle. Wer konnte das sein? Sie musste von oben aus dem Kinderzimmerfenster gesehen haben, wer da vor der Tür stand. «Moment», rief sie laut und stapfte die Stufen herunter, während er im Flur auf sie wartete. Lucia flüsterte ihm ins Ohr: «Blume», und zeigte abermals mit dem Daumen Richtung Küche. Das hatte doch keinen Zweck, dachte er. Denn wenn Blume ihn tatsächlich zu der Leiche im Fischkutter befragen wollte, konnte Henry sowieso nicht ewig vor ihm weglaufen. Das Beste war, sich den Tatsachen zu stellen. Er atmete tief durch und öffnete seinem ehemaligen Kollegen die Tür. «Francesco?», fragte er gespielt überrascht und bemerkte, dass sein Expartner von der Stralsunder Mordinspektion auch ziemlich blass aussah. «Was treibt dich auf meinen Hof?» Obwohl Blume verdammt mitgenommen wirkte, vergaß er seine Kinderstube nicht und begrüßte erst einmal Lucia mit einer leichten Verbeugung. Sein Blick flatterte nervös, und Henry war klar, dass es Francesco einige Überwindung gekostet haben musste hierherzukommen. Lag es daran, dass dem Hauptkommissar seit dem Fall vor anderthalb Jahren, wo sie sich das letzte Mal in die Quere gekommen waren, klar geworden war, dass sie ein Verbrechen am Ende nur gemeinsam lösen konnten? An dieser Erkenntnis hatte Francesco schon schwer zu schlucken gehabt. Aber es war Henrys einzige Vermutung, warum der ihm sonst so feindselig gesinnte Francesco nun derart verunsichert war. Fast als widerstrebe es ihm, zu sagen, was er zu sagen hatte. Ging es etwa doch nicht um den Fischkutter? «Darf ich reinkommen?», fragte sein ehemaliger Kollege, der in dem schwarzen Anzug mit dem bis oben hin zugeknöpften Hemd sichtlich zu schwitzen begonnen hatte. Der würde auch bei 30 Grad im Schatten seinen Schlips nicht ablegen, dachte Henry noch und trat mit einer einladenden Armbewegung Richtung Wohnzimmer beiseite. Lucia fragte Francesco, ob er etwas trinken wolle. Blume nickte höflich. «Wenn Sie ein Wasser hätten.» Während Lucia in der Küche verschwand, führte Henry ihn ins Wohnzimmer, bot ihm den Platz im Sessel an und setzte sich ihm gegenüber auf das Ledersofa. Blume schaute sich um. «Schön habt ihr es hier», sagte er und fummelte nervös an seinem goldenen Manschettenknopf herum. Was war nur in den Kommissar gefahren? So nervös hatte Henry ihn noch nie gesehen.

«Danke, aber du bist bestimmt nicht zu uns rausgefahren, um unsere Einrichtung zu bewundern.» Henry kratzte sich am Kopf. Eine Geste, in die er immer unbewusst verfiel, wenn er verunsichert war. Lucia wusste dann gleich, was mit ihm los war, und zog ihn gerne damit auf.

Blume räusperte sich und lockerte nun doch den Schlips, was Henry noch mehr beunruhigte. «Also spuck es schon aus. Ich habe heute noch Kinderzimmermöbel zusammenzubauen.»

«Wann ist es denn so weit?»

«In ein paar Tagen, aber das tut ja jetzt nichts zur Sache.»

«Dein erstes Kind, stimmt’s?»

«Matti ist mein erstes Kind. Auch wenn ich nicht der leibliche Vater bin, ist mir Hannas Sohn wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen.»

«Schön, dass es mit der Adoption funktioniert hat.»

«Oh, das hat sich vor anderthalb Jahren aus deinem Mund noch anders angehört.»

«Wir hatten unsere Differenzen, aber das Kriegsbeil haben wir doch eigentlich begraben.»

«Francesco, was willst du von mir?»

«Wir haben eine Leiche gefunden.»

Henry nickte, versuchte, gelassen zu bleiben, während sich sein Nacken versteifte. Also doch der Fischkutter. «Ich habe kurz vor deinem Besuch im Radio davon gehört.»

«Das kann nicht sein. Der Polizeipräsident höchstpersönlich hat bis auf Weiteres eine Nachrichtensperre verhängt.»

«Dann habt ihr wohl ein Leck, und jemand hat trotzdem gegenüber der Presse gequatscht. Es wäre nicht das erste Mal.» Henry erinnerte sich daran, wie damals, im Rosenmörder-Fall, Einzelheiten des Täterwissens an die Presse durchgesickert waren und ihnen die Arbeit erschwert hatten. «Vielleicht wollte sich einer von den Fischern oder den Bergungsleuten ein paar Euro dazuverdienen.»

«Fischer, Bergungsleute?», fragte Blume verständnislos.

«Na, wer hat denn den Kutter entdeckt und herausgezogen?»

«Du meinst das Skelett im Fischkutter?» Blume wirkte sichtlich erleichtert. «Das ist nicht mein Fall. Nein, ich rede von der Leiche auf der Ralswieker Freilichtbühne, die der Bühnenwart vor zwei Stunden gefunden hat.» Nun fummelte Blume an seinem anderen Manschettenknopf herum. «Du kennst sie …» Er machte eine Pause. «Ingrid Haupt.»

«Richterin Gnadenlos?»

Blume nickte. «Sie hängt aufgeknüpft am Steuerrad von Störtebekers Piratenschiff.»

«Ach du Scheiße!»

Lucia kam herein und balancierte ein Tablett mit Gläsern und einer Wasserkaraffe. Henry sprang auf und nahm es ihr ab. Ihre Blicke trafen sich. Er sah, dass sie Francescos Worte gehört hatte und ebenfalls erleichtert war, dass es nicht um die Leiche im Fischkutter ging. Jetzt wurde Henry auch klar, woher Francescos Angespanntheit rührte. Eine ermordete Richterin war nicht nur eine äußerst schlechte Nachricht, nein, sie hatte oberste Priorität. Da zählte jede Minute.

Kapitel 3

Kurz entschlossen hatte Neda sich Sophies Auto geborgt und war nach dem Kriminologie-Kurs bei Zornik auf gut Glück nach Sassnitz gefahren. Sie saß im Auto gegenüber dem Gastmahl des Meeres und observierte den Hintereingang des Restaurants. Sie kannte weder seinen Namen noch seine Adresse oder seine Telefonnummer. Sie besaß nur die Beschreibung von Jellas Klassenkameradin, dass der junge Mann, mit dem die Nachbarstochter ihrer Eltern zuletzt zusammen war, einen hellbraunen Bart sowie ein Nasen- und Lippenpiercing trug, dass er wohl immer mit einer coolen Strickmütze herumlief, dem Schauspieler Lucas Bravo verdammt ähnlich sah und als Koch in diesem Fischrestaurant arbeitete. Während sie kaugummikauend auf die Tür starrte, zweifelte Neda, ob es richtig war, was sie hier tat. Vorgestern, beim letzten Sonntagsbesuch, hatten ihre Eltern sie gedrängt, doch bitte nach Jella zu suchen. Die Achtzehnjährige war seit fünf Tagen verschollen. Die alleinerziehende Sabine war krank vor Sorge und hatte keine Ahnung, wo ihre Tochter stecken könnte, auch auf dem Handy war sie nicht erreichbar. Das Mädchen hatte nach der letzten Abiturprüfung und einem vorangegangenen Streit mit der Mutter ihre Klamotten gepackt und war einfach ausgezogen. Die Polizei hatte zwar die Vermisstenanzeige aufgenommen, aber nichts unternommen, weil keine Gefahr für Leib und Leben vermutet wurde. Jella war weder suizidgefährdet noch sah es nach einer Entführung aus. Sie war seit Anfang Mai volljährig, und damit konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Weil Sabine wie gelähmt war, hatte Neda sich dann gleich gestern bei mehreren Klassenkameradinnen der Abiturientin erkundigt. Eine wusste, dass Jella einen neuen Freund hatte, mit dem sie sich heimlich traf, weil ihre Mutter verlangte, dass sie sich auf die Schule konzentrieren solle. Und dann erfuhr Neda noch, dass Jella ihre letzte Prüfung ziemlich verhauen und den Abschluss nicht geschafft hatte. Da war Neda klar, dass Jella sich schämte, weil sie ihre Mutter enttäuscht hatte. Sabine war sehr leistungsorientiert. Vermutlich hatte das Mädchen bei ihrem Freund Zuflucht gesucht, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Okay, wenn sie Jella wirklich ausfindig machte und sie wohlauf war, dann würde sie sich nicht einmischen und das auch ihren Eltern raten. Sie würde sich nur davon überzeugen, dass es Jella gut ging, und das Sabine übermitteln, ohne ihr den Aufenthaltsort der Tochter zu verraten. Alles andere mussten Mutter und Tochter selbst miteinander klären. Das ging Neda nichts an.

Mittlerweile war es 14.00 Uhr. Die Tür zum hinteren Eingang öffnete sich. Zum Schichtende traten mehrere Männer und Frauen unterschiedlichen Alters heraus. Laut Website war das Restaurant jetzt bis 17.00 Uhr geschlossen. Und tatsächlich passte die Beschreibung auf einen der drei Männer, die das Haus verließen und sich voneinander verabschiedeten. Neda wartete einen Moment, ob er zu einem Fahrzeug lief. Er ging am Fahrradständer und an den parkenden Autos vorbei. Demnach war er wohl zu Fuß unterwegs. Neda überlegte nicht lange, stieg aus und folgte ihm in der Hoffnung, dass er nach Hause wollte und sie zu dem Liebesnest führte, in dem sich Jella möglicherweise vor dem Rest der Welt versteckte. Wenn es stimmte und Jella mit ihm zusammen war, dann würde Neda ihren Auftrag schnell erledigt haben. Sie lief ihm im gebührenden Abstand hinterher und bemühte sich, nicht schneller zu werden. Ihn einfach anzusprechen und nach Jella zu fragen, wagte sie noch nicht. Es war nur eine Vermutung aufgrund einer einzigen Aussage, dass Jella mit diesem jungen Mann aus Liebe durchgebrannt war. Genauso gut konnte sich das Mädchen aufgemacht haben, um mit dem Rucksack um die Welt zu reisen. Die Schule war vorbei, und sie war erst einmal frei. Wenn Neda ihn ansprach, würde sie sich entweder blamieren, weil er nichts mit Jella zu tun hatte und sie einer Falschinformation aufgesessen war, oder er stellte sich schützend vor seine Freundin. Nein, sie wollte lieber erst einmal unsichtbar bleiben.

Sie vergrößerte den Abstand. Er nahm die Strandpromenade Richtung Stadthafen. Neda schlenderte wie eine Touristin auf Sightseeing den Weg an den schmucken Häusern vorbei, fotografierte Rosen in Vorgärten und Segelboote vor der Küste, die bei dem herrlichen Sonnenschein auf den Wellen tanzten.

Der Typ mit der Strickmütze lief bis zu einem Wohnmobilstellplatz, der nahe dem Parkhaus am Stadthafen lag. Ihr stieg sein herbfrischer Parfümgeruch in die Nase, der wie eine Fahne hinter ihm herwehte. Sie war eindeutig zu nah dran und vergrößerte den Abstand, damit er keinen Verdacht schöpfte. Wenn sie sich im Netz bewegte, um digitale Informationen zu beschaffen, konnte ihr so schnell niemand etwas vormachen, aber im realen Verfolgen Verdächtiger war sie so gut wie ein kletternder Fisch. Er blieb stehen, schaute sich um und holte das Handy aus der Jackentasche, sah auf das Display und steckte es wieder ein. Scheinbar wartete er auf jemanden, der nicht kam. Jella? Nach drei Minuten, in denen er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat, holte er das Handy wieder heraus und telefonierte. Neda, immer noch in der Rolle einer Touristin, fotografierte das Museums-U-Boot am Kai aus verschiedenen Positionen. Am Tonfall hörte sie, dass der Mann sich über etwas aufregte, aber der Wind zerpflückte die einzelnen Worte, sodass sie nicht verstand, was er sagte. Bevor sie für ihr Foto aus einer anderen Perspektive in die Hocke ging, drehte sie sich kurz zu ihm um. Aufgebracht steckte er das Handy wieder ein und marschierte in großen Schritten auf die Hängebrücke zu, die nach oben über die Steilküste in die Stadt führte. Sie beobachtete ihn weiter, ließ sich aber Zeit damit, ihm zu folgen, und schoss noch einige Bilder vom Hafen und von den Fischerbooten, um ihre Tarnung als Touristin aufrechtzuerhalten. Dann lief sie in gebührendem Abstand hinter ihm über den stählernen gebogenen Weg, der auf einem gepflasterten Platz endete, den der hässliche Plattenbau des Rügenhotels verschandelte. Sicher stand das Gebäude aus den Siebzigern unter Denkmalschutz und sollte an DDR-Zeiten erinnern. Sie fand trotzdem, dass man es getrost abreißen konnte, blieb stehen, tat, als würde sie sich für das Haus interessieren, fotografierte den Betonklotz und behielt den Mann dabei im Auge. Der lief schnellen Schrittes quer über den Platz, vorbei am wunderschönen Kurhotel. Die Zeiger der Uhr im Turm standen auf 14.21 Uhr. Neda folgte ihm weiter, kam ins Schwitzen und musste den Reißverschluss ihrer Jacke öffnen. Sie hoffte inständig, dass er nun nach Hause ging. Sie hatte heute noch einiges andere zu tun. Zum Beispiel diesen Vortrag auszuarbeiten, mit dem sie gleich morgen früh in Zorniks Kurs dran war und mit dem sie ihre Vornote im Rahmen der Abschlussprüfung von zwei auf eins verbessern wollte. Ja, sie war ehrgeizig und wollte vor ihren Eltern glänzen. Auch wenn diese das nie von ihr verlangt hatten.

Er bog links auf die Hauptstraße ab, die zu einem Kreisverkehr führte. Kurz danach verschwand er im Eingang eines gelben Mehrfamilienhauses. Neda legte einen Sprint ein, wartete einen Moment, las die acht Namen auf den Klingelschildern, von denen zwei nicht deutsch klangen. Mist! Sie zögerte, drückte gegen die Eingangstür. Sie war unverschlossen. Neda blickte in einen Flur, der bis auf Schulterhöhe mit schmutzig grünen Kacheln gefliest war. Rechts hingen die Briefkästen, links standen zwei Fahrräder und ein abgedeckter Kinderwagen. Geradeaus sah sie eine zweite Tür, die wahrscheinlich in den Hof führte. Zum Treppenaufgang musste es um die Ecke hinter den Briefkästen gehen. Sie trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. In dem Moment ging das Licht aus.

 

Neda lauschte in die Dunkelheit des Hausflurs, in dem sie nun stand. Bis auf Babygeschrei war es still. Sie hörte weder Schritte noch dass jemand eine Tür aufschloss. Und nun? Vielleicht hatte sie zu lange gezögert. Wenn er im Erdgeschoss wohnte, konnte er längst hinter der Tür verschwunden sein. Oder hatte er draußen seine Verfolgerin bemerkt, war nur in das Haus gegangen, um sie abzuschütteln, und wohnte gar nicht hier? Solche Manöver und Tricks hatten sie an der Akademie zigmal geübt. Doch dieser praktische und öffentliche Teil ihrer Ausbildung verunsicherte sie seit dem ersten Semester, weil sie wusste, dass sie darin schlecht war. War er vielleicht zur Hintertür wieder hinausgelaufen? Das machte aber nur Sinn, wenn er sich verfolgt fühlte. Sie stand unentschlossen da. Was sollte sie als Nächstes tun? Die Dunkelheit schärfte ihre Sinne. Sie roch den Hauch seines Männerparfüms. Wenn sie nun dem Geruch folgte, der in der Luft lag, würde sie ihn und seine Wohnung vielleicht doch noch finden. Dann konnte sie an der Tür lauschen, ob sie Jella hörte. Neda folgte dem Geruch und bog vorsichtig um die Ecke, da wurde sie gepackt und abrupt nach hinten zurückgezogen. Jetzt roch sie sein Parfüm ganz nah. Er musste sich hinter dem Kinderwagen versteckt haben. Wieso hatte sie das nicht bemerkt? Er nahm sie in den Schwitzkasten, drückte ihr die Luft ab und hielt ihr mit der anderen Hand ein Messer gegen die Rippen. «Wieso verfolgst du mich?», zischte er in ihr Ohr.

«Das muss ein Missverständnis sein, ich bin dir nicht gefolgt.»

«Verkauf mich nicht für blöd. Wer schickt dich?»

«Niemand schickt mich.» Er drückte fester zu, und sie spürte, dass sich die Messerspitze in ihre Haut bohrte. In dem Moment flog die Haustür auf und ein Postbote betrat den Flur, drückte auf den Lichtschalter und riss die Augen auf. Blitzschnell nahm er die Situation wahr und warf Nedas Angreifer das Päckchen gegen den Kopf, das er in der Hand hielt. Der Mann stöhnte auf und schubste sie mit voller Wucht beiseite. Sie stürzte und schlug sich die Stirn an der Kante des Briefkastens. Einen kurzen Moment war sie wie benebelt. Nun sprang der Angreifer mit vorgehaltenem Messer auf den Postboten zu. Der jedoch trat dem jungen Mann mit ausgestrecktem Bein das Messer aus der Hand. Es landete klirrend auf dem Boden. Der Postbote verpasste dem Kerl einen Faustschlag gegen das Kinn, sodass der taumelte und gegen die Fahrräder stolperte. Schnell rappelte er sich jedoch wieder hoch, rammte dem Postboten den Ellenbogen so in den Magen, dass der aufschrie, hob blitzschnell das Messer auf und rannte zum Vordereingang aus dem Haus. Das Licht ging aus. Der Postbote hielt sich den Bauch und schnappte nach Luft.

«Alles okay?», fragte er stöhnend, schaltete das Licht wieder an und half ihr hoch.

Sie hielt sich den Kopf. «Geht schon. Bei Ihnen auch alles gut?»

Er nickte.

«Zeigen Sie mal her! Sie bluten ja.» Er nahm ihren Kopf in die Hand und schaute sich ihre Stirn genauer an. «Das ist nur eine oberflächliche Platzwunde.» Er holte eine Packung Papiertaschentücher aus der Jackentasche seiner schwarz-gelben Uniform und reichte sie ihr. Sie nahm sich eins heraus und wischte über die Wunde. «Ich kann Ihnen auch ein Pflaster aus dem Sanikasten des Transporters holen.»

«Danke, aber Sie haben mir schon genug geholfen», sagte sie mit Blick auf seinen Handrücken, der bereits anschwoll.

«Der Typ hatte einen ganz schön harten Schädel», sagte er in scherzhaftem Ton, wahrscheinlich ein Versuch, um sie aufzuheitern. «Was ist passiert? Wollte er Sie bestehlen oder etwa vergewaltigen?»

«Nein und nein, es war eher ein Missverständnis.»

«Aha, ein Missverständnis?» Er musterte sie skeptisch. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig. Ein sportlicher Typ, der mit seinen sanften grünen Augen sicher so mancher Frau den Kopf verdrehte. «Und deshalb hat er Sie mit einem Messer bedroht.» Neda druckste herum, schließlich wollte sie nicht mit dem Fremden darüber reden, dass sie sich selbst in diese Situation gebracht hatte.

«Sie kennen den Mann?», fragte er.

«Nein, ich kenne ihn nicht. Wissen Sie, ob er hier wohnt?»

Er runzelte die Stirn. «Warum interessiert Sie das? Wollen Sie Anzeige erstatten?»

Neda sah ihn nur an und ließ die Frage offen.

«Also, der ist mir hier beim Postaustragen noch nie begegnet.»

«Danke noch mal für Ihre Courage, aber ich muss jetzt los.»

«Bitte, das war doch selbstverständlich.» Er nickte, strich sich über die Uniform und nahm die Klinke in die Hand, um ihr die Tür aufzuhalten. Ihr Blick fiel auf das Päckchen, das halb unter den Kinderwagen gerutscht war. Sie hob es auf. «Bitte!» Er fasste sich an die Stirn. «Himmel!» Der Vorfall hatte ihn wohl ganz schön durcheinandergebracht. Und sie auch, wenn sie ehrlich zu sich war.

Er nahm das Päckchen. «Das hätte ich fast vergessen. Na dann, passen Sie auf sich auf!»

Neda sah ihm nach, wie er im Treppenhaus verschwand, und trat dann vor die Tür. Ein Gedanke hämmerte in ihrem Kopf: Was hatte der Typ, der sie ohne Grund dermaßen aggressiv bedroht hatte, zu verbergen?

Immer noch verstört von der Situation lief Neda zum Hafen zurück, wo sie Sophies Auto in der Nähe des Fischrestaurants geparkt hatte. Dabei sah sie sich mehrmals um. Vielleicht hatte der Angreifer den Spieß umgedreht und folgte jetzt ihr, um herauszubekommen, was sie von ihm wollte. Sie rief sich seine Stimme bei dem Überfall ins Gedächtnis, die hatte sie schon einmal gehört. Auf der Hängebrücke blieb sie stehen, hielt sich am Geländer fest und blickte einige Minuten in die Ferne auf das Meer, wo Möwen auf den Schaumkronen der Wellen schaukelten. Natürlich! Jetzt erinnerte sie sich. Sie war sich sogar sicher. Das war der junge Mann gewesen, der die Nachbarstochter am Abend des Ostermontags mit dem Motorrad nach Hause gebracht hatte. Neda war zu Besuch bei ihren Eltern gewesen und wollte gerade wieder nach Hause fahren. Er hatte einen Helm getragen. Deshalb konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber er hatte Jella hinterhergerufen, weil sie irgendwas vergessen hatte. Vielleicht erinnerte er sich auch an die Situation und ahnte, dass sie nach Jella suchte. Trotzdem war es komisch, dass er so aggressiv reagierte. Und wenn die beiden etwas angestellt hatten? Oder Jella? Und sie deshalb nicht gefunden werden wollte? Das Mädchen war kess, ziemlich impulsiv und feierte gern bis zum Umfallen. Und immerhin wusste sie, womit sich Neda beruflich beschäftigte. Oh, Mann, ganz schön dumm von ihr, diese Verfolgungsjagd. Neda schämte sich für ihr dilettantisches Vorgehen. Aber sie konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Sie hatte ihren Eltern versprochen, sich darum zu kümmern. Bestimmt hatten sie gegenüber Sabine Nedas Fähigkeiten in den höchsten Tönen gelobt. Es war auch eine Frage der Ehre, dass ihre Tochter es schaffte, die verschollene Jella aufzuspüren. So blöd, wie die Situation gerade gelaufen war, die Reaktion des bärtigen Kochs hatte ihr Misstrauen längst geweckt, dass hinter Jellas Verschwinden vielleicht mehr steckte als ein nicht bestandenes Abitur.

Kapitel 4

Henry musterte sein Gegenüber. Blume trank einen Schluck Wasser und stellte das Glas vor sich auf den Couchtisch ab. Lucia schien instinktiv zu spüren, dass Francesco unter vier Augen mit ihm reden wollte, und entschuldigte sich damit, dass sie weitermalen musste. Blume wartete, bis sie aus dem Zimmer war, und vollführte seinen Fingertanz, wie Henry es nannte, wenn Blume die Finger beider Hände im Flechtgriff vor seinem Bauch abwechselnd streckte und beugte. Diese Geste, die sonst in Zusammenspiel mit seiner überheblichen Miene seine Allwissenheit demonstrierte. Nun schien sie eher Ausdruck seiner Unsicherheit zu sein. Henry ahnte, was Blume gleich fragen würde, und wusste, wie schwer ihm das fiel. Aber dass eine angesehene Richterin gewaltsam zu Tode gekommen war und auf der Ralswieker Naturbühne kurz vor der Eröffnung der Störtebeker-Festspiel-Saison gefunden wurde, war äußerst brisant, und Blume stand unter einem enormen Erfolgsdruck.

«Wir haben Anweisung von ganz oben, dass dieser Fall so schnell wie möglich aufgeklärt werden muss und oberste Priorität hat. Auch weil es von großer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung ist, dass die Festspiele in einer Woche ihre geplante Premiere durchführen können. Nun, wo das gesamte Gelände wegen der Spurensicherung erst einmal auf unbestimmte Zeit gesperrt ist, können keine Proben stattfinden.»

Henry sah ihm ins Gesicht: «Was hat das mit mir zu tun?»

Blume wich seinem Blick aus. «Wir haben kaum Leute. Fast die ganze Mannschaft der Mordinspektion ist krankheitsbedingt ausgefallen», sagte er und knetete wieder seinen Manschettenknopf, bis er Henrys Blick auf sein Handgelenk bemerkte.

«Dann hol dir Amtshilfe aus Rostock, Greifswald oder Schwerin.»

«Dort sieht es nicht besser aus, die kommen kaum mit ihren eigenen Sachen hinterher.» Blume atmete tief durch und nahm jetzt Henrys Blick auf. «Ich wollte fragen, ob du …?»

«Ich?», Henry lachte auf.

Blume schluckte. «Ob du wenigstens einen Blick auf die Leiche und den Fundort werfen könntest. Vielleicht siehst du etwas, was mir bei der ersten Begutachtung entgangen ist.» Henry traute seinen Ohren nicht. Gab Francesco gerade zu, dass er Henry für den besseren Ermittler hielt, dessen Einschätzung ihm wichtig war? Er blies die Backen auf. Auch wenn er im ersten Impuls schon dazu bereit war, seinem Exkollegen zu helfen, bremste er sich bei dem Gedanken. Er wusste, wie sehr er sich in einen Fall verbiss, wenn er einmal die Spur aufgenommen hatte. Seine Lebenssituation erlaubte es im Augenblick jedoch nicht, auf Mörderjagd zu gehen. «Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass es nicht dabei bleibt, wenn ich nur einen Blick auf die Leiche werfe. Unser Kind kommt in ein paar Tagen, ich habe mir extra deswegen ab übermorgen Sonderurlaub in der Akademie genommen. Ich bin gerade dabei, das Kinderzimmer zusammenzubauen.» In ihm kämpfte es. Blumes flatternder Blick, der seine ganze Hilflosigkeit ausdrückte, brachte Henrys Vorsatz ins Wanken, sich jetzt nicht in eine Mordermittlung hineinziehen zu lassen. Verfluchte! Warum konnte er so schwer Nein sagen? «Ich kann das nicht allein entscheiden. Ich muss das mit Lucia besprechen. Warte einen Moment.» Er stand auf und lief nach oben. Und die muss ich auch noch reparieren, dachte Henry, als er auf die knarrende Stufe trat.

«Ist er weg?»

Henry schüttelte den Kopf.

«Was will er denn?»

Er erzählte ihr von der toten Richterin und Blumes Dilemma. «Und da hat er dich gefragt? Das ist doch wunderbar und deine Chance, dich mit ihm zu versöhnen!» Ihre Augen blitzten begeistert auf.

Henry hingegen war nicht ganz so euphorisch. «Du kennst mich, und habe ich nicht gerade genug zu tun?» Er zeigte auf die Möbelteile.

Sie berührte seinen Arm und schaute ihn aufmunternd an. «Überleg doch mal, damit bahnst du auch den Weg, dass unsere Studis zukünftig offiziell an Ermittlungen teilhaben können. Das wolltest du doch immer.»

«Von denen haben wir nicht gesprochen.» Henry schüttelte zweifelnd den Kopf. «Und du weißt selbst, wie Blume sein kann. Ich traue ihm einfach nicht.»

«Menschen ändern sich. Außerdem kannst du es sowieso nicht ignorieren, dass quasi vor unserer Tür eine Frau ermordet wurde, die du auch noch kanntest. Du wirst bestimmt nicht tatenlos dabei zusehen, wenn dein Exkollege den Fall nicht aufgeklärt bekommt. Das würde dein Gerechtigkeitssinn nicht zulassen.»

«Aber ich will auch dieses Kinderzimmer mit dir fertig machen und für euch da sein.» Er zeigte auf ihren Bauch.

«Schatz, du bist doch für uns da! Wenn du jetzt mitgehst, sind die Spuren noch frisch, und du kannst deine eigenen Schlüsse ziehen. Vielleicht klärt sich alles ganz schnell auf. Und ich sage unserer Tochter, dass sie noch damit warten soll, auf die Welt zu kommen, bis ihr Vater diesen Mörder geschnappt hat.»

Henry kratzte sich an der Stirn. «Aber …» Er sprach seine Befürchtungen nicht aus.

«Mach dir keine Sorgen, dass ich mich vernachlässigt fühlen könnte, wenn du für die Zeit der Ermittlung deinen Tunnelblick hast. So ist das nun mal bei guten Ermittlern.» Sie gab ihm einen Kuss und schob ihn sanft aus dem Raum.

Henry nickte kurz und lief wieder nach unten. Woher wusste Lucia nur immer so genau, was er brauchte? Als er ein zweites Mal auf die knarrende Stufe trat, fragte er sich, wann er die wohl reparieren würde.

Blume saß im Sessel und wirkte angespannt.

«Na gut, ich schaue mir die Leiche an, dann sehen wir weiter.»

 

Sie fuhren mit Francescos Dienstwagen nach Ralswiek. Henry blickte aus dem Fenster, wo die Boddenlandschaft im schönsten Sonnenschein an ihnen vorbeizog. Francesco schwieg und konzentrierte sich auf den Überholvorgang. Sein aufdringliches Parfüm, dessen Geruch Henry noch nie hatte ausstehen können, nahm ihm den Atem. Er öffnete die Seitenscheibe einen Spaltbreit und sog die frische Brise ein, die vom Wasser herüberwehte. Die Luft tat gut, änderte aber nichts an der Furcht, die seit Besteigen des Fahrzeugs in ihm rumorte. Okay, Francesco hat den Hut auf. Du bist nur der Berater! Du siehst dir die Leiche an, teilst deine Beobachtungen und verschwindest wieder. Dann baust du das Kinderbett auf und reparierst die Treppe. Doch je näher sie der Freilichtbühne kamen, desto kribbeliger wurde er. Die Zweifel wichen einer positiven Aufregung. Was würde ihn erwarten? Als Francesco den Wagen hinter den Einsatzfahrzeugen der Schutzpolizei parkte, nahm Henry die Umgebung längst mit dem professionellen Blick des Ermittlers wahr. Seine Angst war wie weggeblasen.

Kapitel 5

Bis jetzt hatte er nichts in den Nachrichten von einem Leichenfund auf dem Festspielgelände gehört. Die Proben für die neue Festspielsaison mussten doch längst begonnen haben! Er war zur Ralswieker Naturbühne zurückgefahren, um zu sehen, ob sie sie schon gefunden hatten. Mittlerweile waren zehn Stunden vergangen, nachdem er ihr beim Sterben zugesehen hatte. Nein, es war ihm nicht leichtgefallen, sie zu töten. Obwohl seine Wut auf sie so groß war, hatte er es doch nicht geschafft, sie mit bloßen Händen zu töten. Nachdem sie ihren letzten Atemzug getan hatte und ihr Körper erschlafft war, spürte er nur noch Erleichterung. Da war keine Spur von Reue, kein Bedauern dessen, was er getan hatte. Er hatte sie noch eine Weile betrachtet, wie sie in ihrer schmutzigen Kleidung angebunden am Stuhl auf dem Boden lag, weil sie im Todeskampf damit umgekippt war. Da war nichts mehr übrig von der angeblich so starken Frau. Voller Verachtung erinnerte er sich daran, wie sie zum Schluss gejammert hatte. Ihr Tod fühlte sich zunächst wie ein Stück Selbstheilung an. Ja, er verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung. Er ging den richtigen Weg. Doch dieser Zustand hielt nur ein paar Stunden an. Jetzt hatte die innere Unruhe bereits wieder die Oberhand gewonnen. Sein Vorhaben war noch nicht beendet. Er durfte keine Zeit verlieren, musste seine Spuren akribisch beseitigen. Er holte die kleine Flasche aus der Jackentasche, öffnete die Schutzhaube und inhalierte den Geruch. Das beruhigte ihn. Er hatte alles genau durchdacht.

Natürlich würden sie alle Hebel in Bewegung setzen, um den Mord aufzuklären. Immerhin war sie eine angesehene und bekannte Persönlichkeit, Teil ihres Systems. Wenn sie kamen und nachfragten, wusste er genau, was er sagen würde. Er hatte sich schon alles zurechtgelegt. Sein Alibi war wasserdicht. Sie würden auch keine DNA von ihm finden. Er hatte sie hinterher ausgezogen und gründlich gereinigt, das Haar gekämmt und die Augen geschlossen. Um ihr nicht die ganze Würde zu nehmen, hatte er ihr zum Schluss frische Wäsche angezogen. Dass sie tot war, reichte ihm als Strafe. Er war kein Mensch, der noch nachtrat, wenn sein Gegner schon am Boden lag. Dann hatte er sie mit dem Boot zur Ralswieker Bühne gebracht und am Steuerrad von Störtebekers Piratenschiff, der «Bunten Kuh», festgebunden. Ja, das passte. Immerhin hatte sie zu Lebzeiten mit ihren Entscheidungen das Ruder fest in der Hand gehalten. Diese Symbolik gefiel ihm.

Er verschloss die Flasche, steckte sie wieder ein und schaute durch die Linse seiner Kamera, zoomte das Bild heran. Ein Zivilfahrzeug näherte sich. Das war die Mordkommission. Zwei Männer stiegen aus. Der eine war Hauptkommissar Blume. Warum kam er nicht allein? Das gefiel ihm gar nicht.

War das nicht dieser Zornik? Über den hatte er doch schon in der Zeitung gelesen. Das musste er nachprüfen. Er schoss mehrere Fotos. Wenn das tatsächlich dieser erfolgreiche Mordermittler war, musste er ihn im Auge behalten und möglicherweise seinen Plan anpassen.

Kapitel 6

Sie hoben das Absperrband. Henry schaute in die erstaunten Gesichter von Maya, Henning und der jungen Kollegin. Er erinnerte sich, dass sie Liz hieß. Sie war es, die ihn auf Francescos Anweisung vor anderthalb Jahren im Fall der Mädchenleiche in der Kinderheimruine oben in Lohme noch vom Platz gescheucht hatte, weil er damals einen Blick auf den Fundort der Leiche werfen wollte. Wie sich die Zeiten änderten! Wie sich die Zeiten änderten!

Henry sah den ehemaligen Kollegen an, dass sie sich freuten, ihn wiederzusehen. Manchmal machte es sich eben bezahlt, den Schutzleuten nicht mit Herablassung zu begegnen, sondern ihnen auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Etwas, das Francesco nie gelungen war.

Die Kriminaltechniker in ihren weißen Anzügen suchten das Gelände rund um die Naturbühne sowie das Schiff nach Spuren und Spurenträgern ab.

Sie liefen an den Zuschauerrängen vorbei über die Bühne zum Steg, an dem das Piratenschiff mit dicken Seilen festgemacht war. Dabei schaute sich Henry schon gezielt um. «Ist der Fundort der Tatort?»

«Der Rechtsmediziner war noch auf dem Weg, als ich zu dir aufgebrochen bin.»

«Martin?»

«Nein, der ist doch vor zwei Wochen in Rente gegangen. Ich kenne seinen Nachfolger noch nicht.» Henry hoffte, dass der Neue genauso kompetent war und keiner vom Typ dieser aufgeblasenen Besserwisser. Blume zu fragen, ob ihm denn bei der ersten Betrachtung der Leiche ein Detail aufgefallen war, das darauf hindeutete, ob die Richterin an Ort und Stelle ermordet wurde, sparte er sich. Er wusste, dass Francesco die genaue Betrachtung von Gewaltopfern möglichst vermied, da ihm jedes Mal schlecht dabei wurde. In Erwartung, dass er gleich mit Henry die Leiche inspizieren musste, war sein Exkollege jetzt schon wieder ganz blass geworden. Entsprechend fischte er die kleine silberne Dose aus der Manteltasche und rieb sich Tigerbalsam unter die Nase. Das hatte er schon damals gemacht, aber es hatte ihn nie davor bewahrt, den Geruch des Todes einzuatmen, von dem ihm also immer noch schlecht wurde. Henry schüttelte innerlich den Kopf. Er verstand nicht, warum Francesco den Job bei der Mordinspektion nicht aufgab. Gut, er wollte die Erwartungen seines Vaters erfüllen, des ehemaligen Polizeipräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern. Aber dafür hätte es auch andere Abteilungen gegeben, in denen die Begutachtung von Leichen nicht zum Alltag gehörte. Aber das war nicht sein Bier. «Wer hat sie gefunden?»

Francesco steckte die Dose wieder ein. «Der Bühnentechniker kurz vor Beginn der Proben zum neuen Störtebeker Spektakel. Ein unschöner Start in den Arbeitstag.»

«Kann man wohl sagen. Wo ist er jetzt?», fragte Henry.

«Im Sanitätsraum neben der Hauptbühne. Der Notarzt ist bei ihm und hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Der Mann stand unter Schock. Er hat das Opfer entdeckt, ist schreiend davongerannt und zusammengebrochen. Das hat die Regieassistentin gesehen und ist ihm zu Hilfe geeilt. Sie hat dann geistesgegenwärtig gehandelt, sofort den Notruf abgesetzt und niemanden in die Nähe gelassen, damit keine Spuren zertrampelt werden.»

Sie betraten das Schiff über den Holzsteg, der vom sandigen Ufer etwa zwanzig Meter über das Wasser des Boddens ragte. Die Planken wiesen Schleifspuren auf, die eindeutig bis zur Leiche führten. Henry drehte sich bewusst noch einmal um, bevor er die Leiche anschauen würde, um die Situation in sich aufzunehmen. Er schaute über das Festspielgelände, blickte über die leeren Zuschauerränge. Hierher kamen in den Sommermonaten Tausende Menschen zum Entspannen, zum Staunen, zum Erleben, aber nicht zum Sterben. Wer kam auf die Idee, die Leiche einer Richterin so präsent zur Schau zu stellen? Auf einem Schiff, das Teil der Bühnenkulisse war, gut sichtbar für das Publikum. Als Richterin stand sie auf einer Bühne, entschied mit ihrem Urteilsspruch über Recht und Unrecht. Auch in diesem Theater handelten die Geschichten über Störtebeker von Recht und Unrecht. War die Platzierung ein Symbol dafür? Zumindest war sie irgendein Symbol, das war mehr als deutlich. Diese ausgestellte Leiche war eine Nachricht und ein großes Ausrufezeichen. Henry wandte sich dem Opfer zu.

«Schockierender Anblick, was?», fragte Francesco und blieb einen Schritt hinter ihm stehen. Henry nahm das Bild der toten Richterin in sich auf, die nur mit schlichter schwarzer Unterwäsche bekleidet war. Sie war am Steuerrad mit einem dicken Seil festgebunden, das ihr um den Hals lag. Die Haare schienen gekämmt. Die Augen waren geschlossen. Ihre rechte Gesichtshälfte war voller Schürfwunden, die gereinigt aussahen. Eine zierliche Gestalt. Er schätzte, dass sie höchstens einen Meter sechzig groß war und maximal fünfundfünfzig Kilo wog. Das konnte ein einzelner Täter bewältigen, wenn er mindestens mittelgroß und halbwegs kräftig war. Es war offensichtlich, dass dieses Schiff nicht der Tatort war. Warum hast du dir diese Mühe gemacht und sie auf diesen öffentlichen Platz gebracht? Du hast sie an den Pranger gestellt. Wofür? Er drehte sich zu Francesco. «Ist das Gelände rund um die Uhr zugänglich?»

Sein Exkollege schüttelte den Kopf. «Nein, es gibt einen Zaun um das gesamte Areal, und das einzige Tor, über das Lieferfahrzeuge passieren können, ist von einem Wachschutz von 6.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr gesichert und in der übrigen Zeit verschlossen. Der gleiche Wachschutz kontrolliert auch nachts das Gelände. Allerdings nur während der Spielsaison, wenn Bühnentechnik und Kulissen draußen aufgebaut sind. Also ab Mitte dieser Woche, wenn sie für die beginnenden Hauptproben alles installiert haben.»

«Der Täter hat sie gereinigt, ihr frische Unterwäsche angezogen. Ihre eigene? Oder hat er den Slip und das Trägershirt extra für sie besorgt?», fragte Henry und schaute sich zu Francesco um. «Lass uns später überprüfen, ob das ihre Unterwäsche ist oder nicht.» Henry bat ihn um Latexhandschuhe. Nachdem Francesco ihm ein Paar reichte, zog er sie sich mit dem typisch schmatzenden Geräusch über. Henry kam näher und ging neben der Leiche in die Hocke. Du hast ihre Augen geschlossen. Weil du den Anblick nicht ertragen konntest? Warum hast du ihre Schürfwunden gesäubert? Es sieht fast so aus, als hätte es dir leidgetan, dass du sie verletzt hast. Hattest du eine emotionale Bindung zu ihr? Er beugte sich über sie, nahm den intensiven Geruch eines frischen Damenparfüms an ihrem Hals wahr und schaute sich die Strangfurche unter der Trosse an. Diese war zu dünn, um von dem Seil zu stammen, das ihr wie eine Schlinge um den Hals lag. Er entdeckte Vierfingerwürgemale. «Wahrscheinlich hat er sie zuerst mit den Händen gewürgt. Es aber nicht geschafft, sie so zu töten.» Für einen Gürtel oder einen Schal war die Furche zu dünn. Ein Draht hätte sich in die Haut geschnitten, und Blut wäre ausgetreten. «Was denkst du?», fragte Francesco, der hinter ihm stand und sich die Hand vor den Mund hielt. Ihm war schon wieder übel. «Ich vermute, dass sie unter einer Plastiktüte erstickt ist, die mit einem Kabelbinder um den Hals festgemacht wurde.» Er sah sich ihre Handinnenflächen an und fand weder Abwehrspuren vom Seil noch dass sie versucht hatte, sich eine Tüte vom Kopf zu reißen. Er zeigte Francesco die Handgelenke der Richterin. «Siehst du die Strangmarken?» Hier war die Haut aufgerieben, weil sie sich von den Fesseln befreien wollte. Doch das Blut schien abgetupft worden zu sein. «Sie haben die gleiche Dicke und Struktur wie am Hals, wo die Haut allerdings nicht verletzt ist.» Dann schaute er sich die Fußgelenke an und entdeckte ebenfalls die gleichen Spuren. «Kabelbinder, sie war gefesselt, hat sich dagegen gewehrt.» Henry hob ein Bein der Richterin an und zeigte Francesco einen blutunterlaufenen Strich, der sich von der Hacke bis zur unteren Wade zog. Den Abdruck einer Kante fand er auch an der anderen Hacke. «Sie war vermutlich an einen Stuhl gefesselt, als sie starb, einen Stuhl mit vierkantigen Beinen. Ich schätze, dass sie damit umgekippt ist. Dabei ist sie aufs Gesicht gefallen und hat sich die rechte Gesichtshälfte aufgeschlagen und das Hämatom an der Schläfe zugezogen.» Er nahm ihre Finger unter die Lupe. Und entdeckte unter dem rechten Mittelfinger einen winzigen blauen Holzsplitter. «Ich vermute ein blauer Holzstuhl», sagte er, verlangte eine Pinzette und eine Tüte, um den Splitter als Beweisstück zu sichern. «Ich denke, der Täter hat sie in den letzten Minuten in ihrem Todeskampf allein gelassen.» Henry starrte auf die Tote. Du hattest eine unbändige Wut auf sie, hast sie angegriffen und gewürgt. Vielleicht hat sie dich provoziert. Doch du hast es nicht geschafft, sie mit bloßen Händen zu erdrosseln, warst vielleicht sogar über dich selbst erschrocken, zu welcher Handlung dich deine Wut getrieben hat. Aber einmal angefangen, musstest du dein Werk vollenden und sie töten. Sie hätte dich gejagt und dich niemals davonkommen lassen. Henry hatte Ingrid Haupt nur flüchtig gekannt, wusste aber, dass sie sehr wortgewandt und manchmal hart in ihren Entscheidungen war, besonders wenn es um rechtsradikale Gewalttäter ging, die unter das Jugendstrafrecht fielen. Was ihr in einigen Kreisen den Namen Richterin Gnadenlos eingebracht hatte. Ob dieser Titel bewundernd oder verachtend gemeint war, kam auf die Gesinnung desjenigen an, der sie so bezeichnete.

«Wisst ihr schon mehr über ihr Privatleben?», fragte Henry. Es war statistisch belegt, dass die meisten Morde an Frauen nun mal Beziehungstaten waren und sich in einem Umfeld abspielten, in dem nach außen oft alles in Ordnung schien. Genau das war der Grund, der Nachbarn, Freunde oder auch Verwandte hinterher schockierte, weil sie dem Täter eine solche Tat nie zugetraut hatten.

«Sie ist seit 30 Jahren verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn, eine gescheiterte Existenz, der wegen Körperverletzung einige gerichtliche Verfahren am Hals hatte.»

«Ach? Und der Ehemann?»

«Ein unbescholtener Geschichtsprofessor, schreibt Bücher und hält Vorträge.»

«Habt ihr ihn schon informiert?»

«Nein, dazu war noch keine Gelegenheit. Ich wollte erst …»

«Liegt eine Vermisstenmeldung vor?»

«Nein.»

Henry seufzte über Francescos fehlenden Instinkt. Ihn ließ die Tatsache, dass der Ehemann seine Frau nicht als vermisst gemeldet hatte, aufhorchen. Na gut, der Mann war vielleicht unterwegs auf Dienstreise oder so, aber telefonierte man da nicht wenigstens? Henry drehte Ingrid Haupt etwas auf die Seite. Der Staub der Planken haftete am unteren Rücken, an Slip und Unterhemd. Dabei nahm er wieder den frischen Geruch des Parfüms wahr, der ihren Körper umhüllte. «Er hat sie nach ihrem Tod und der Reinigung hergebracht, sie von hinten umfasst, rückwärts gezogen und sie so über die Planken zum Steuerrad geschleift.» Henry stand auf, lief zur Reling und schaute sich um. Francesco trat hinzu und atmete tief durch. Er schwitzte. Der Anblick der Leiche hatte ihn sichtlich mitgenommen. Henry wies auf den Strand, der zwischen Zuschauerrängen und dem Bodden die Bühne darstellte und an beiden Seiten von mittelalterlichen Burgkulissen begrenzt war. «Habt ihr Reifenspuren im Sand gefunden, die zum Steg führen?» «Nein, aber die kann der Täter ja beseitigt haben, nachdem er die Richterin abgelegt hat.» Henry schüttelte den Kopf.

«Viel zu aufwendig. Und wie ist er durch das verschlossene Tor gekommen?»

«Vielleicht gehört oder gehörte der Täter zum Personal der Festspiele und besitzt einen Schlüssel. Vielleicht hatte er nicht nur Wut auf die Richterin, sondern auch auf die Störtebeker Festspiel GmbH und wollte ihnen mit der Ablage der Leiche schaden. Es muss da irgendeinen Zusammenhang geben.»

«Ich finde es auch kurios, dass jemand eine Leiche so präsent zur Schau stellt. Ihr solltet auf jeden Fall alle Mitarbeiter und ehemaligen Mitarbeiter dahingehend überprüfen, ob es irgendwelche Verbindungen beziehungsweise Überschneidungen gibt, aber ich denke, dass der Täter übers Wasser kam und es deshalb keine Reifenspuren gibt. Sieh mal! Der Täter hat mit seinem Boot am Steg direkt gegenüber der «Bunten Kuh» festgemacht, die Leiche mit einem Unterarmgriff auf den Steg gezogen und rückwärts laufend an den Platz gebracht, wo sie gefunden wurde. Das dauerte keine fünf Minuten», sagte Henry und simulierte den Transport mit einer imaginären Leiche.

Ein junger Mann mit Arzttasche eilte zwischen den Rängen herunter, zog sich etwas umständlich blaue Füßlinge über die Schuhe und marschierte dann quer über die Bühne zur Piratenkogge.

«Wer ist das? Der Rechtsmediziner?», fragte Henry erstaunt und betrachtete den Ankömmling mit der auffällig schwarzen Brille und den akkurat gescheitelten Haaren. Henry schätzte, dass der Arzt ihn um einen Kopf überragte. Aufgrund seiner Größe und der schmalen Schultern bewegte er sich etwas steif und wirkte auf den ersten Blick unsicher. Henry schätzte ihn auf höchstens 25 Jahre. Ganz schön jung. Dieser Fall erforderte aber jemanden mit Erfahrung. Henry atmete tief durch und hoffte inständig, dass der scheinbare Neuling sein Handwerk verstand.

«Ja, das muss Martins Nachfolger sein. Ich weiß nur, dass er noch in der Facharztausbildung ist.»

Der junge Mann trat auf sie zu. «Dr. Gabriel Pellmann», sagte er und verbeugte sich leicht. «Entschuldigen Sie, dass ich so spät bin, aber es gab einen Stau vorm Rügendamm. Wo ist die Leiche?»

Sie führten ihn zum Steuerrad. Pellmann stellte die Tasche ab, zog sich Handschuhe über und holte ein Smartphone heraus, aktivierte die Diktierfunktion und nannte zuerst eine Aktennummer, die dem Fall zugeordnet wurde. Dann sprach er in präzisen Sätzen den Ort und die Uhrzeit auf Band, maß mit einem Thermometer die Lufttemperatur. «14.45 Uhr, 21 Grad Außentemperatur. Weibliche Leiche, zirka 160 Zentimeter groß, von schlanker Gestalt, schätzungsweise 50 bis 55 Kilogramm Körpergewicht.» Er maß die Körpertemperatur der Leiche: «27 Grad.»

«Ungefährer Todeszeitpunkt?», fragte Francesco.

Pellmann bat um einen Moment Geduld, beugte zuerst den Arm und dann ein Bein der Toten. «Die Totenstarre hat bereits eingesetzt, entsprechend der Körpertemperatur im Verhältnis zur Außentemperatur und zur hohen Luftfeuchtigkeit denke ich, dass der Tod vor 10 bis 13 Stunden, also letzte Nacht zwischen 2.00 Uhr und 4.00 Uhr eingetreten ist. Das ist aber nur eine erste grobe Einschätzung», sagte er zögerlich, als er Henrys und Francescos fragende Blicke sah. Er überprüfte die Ausprägung der Totenflecke schulbuchmäßig. «Genaueres kann ich Ihnen nach Untersuchung des Gewebes sagen.»

«Wann?», wollte Francesco wissen.

«Morgen, übermorgen.»

«Das dauert viel zu lange.» Francesco fuhr sich nervös durchs Haar. Sein Handy klingelte. Er ging mehrere Schritte beiseite, und Henry hörte, dass sein Exkollege unterwürfig Bericht erstattete. Dabei lief er unruhig hin und her. Scheinbar setzte ihn sein Dienstherr unter Druck und forderte erste Ergebnisse.

«Todesursache?», fragte Henry den jungen Rechtsmediziner und beobachtete ihn dabei, wie er die Leiche an Hals und Gesicht untersuchte. Ob Pellmann zu denselben Schlüssen kam wie Henry?

«Punkteblutung in den Augen, bläulich heraushängende Zunge deuten auf Ersticken hin …» Henry nickte ihm aufmunternd zu. «Der Strang wurde ihr posthum umgelegt.» Dabei merkte Henry, dass der junge Kollege hoch konzentriert war, aber Angst vor einer Fehleinschätzung zu haben schien. Henry erkannte in Pellmanns Herangehensweise die Eigenschaften und Fähigkeiten, die einen guten Rechtsmediziner ausmachten: fundiertes Fachwissen, Sorgfalt und Objektivität. Er formulierte seine Beobachtungen präzise und verständlich. Auch wenn es ihm noch am nötigen Selbstbewusstsein mangelte, so behielt er bei der Untersuchung der Leiche einen kühlen Kopf und wahrte die emotionale Distanz, die es brauchte, um mit solchen schrecklichen Bildern umzugehen. Ihm fehlte lediglich die praktische Erfahrung. Woher sollte er sie auch haben, wenn er frisch aus der Facharztausbildung kam.

«Abwehrspuren?»

«Kann ich keine erkennen. Sie war gefesselt.»

«Das lässt man ja nicht einfach mit sich machen, oder?»

«Vielleicht geschah es anfangs im gegenseitigen Einvernehmen und ist schiefgelaufen.»

«Sie denken an ein Sexspiel?» Vielleicht roch sie deshalb auch nach Parfüm?

«Das herauszufinden, ist eher Ihr Job», sagte der Rechtsmediziner forsch und schien über seinen Tonfall selbst erschrocken. Es entstand eine kurze Pause. «Die Würgemale deuten darauf hin, dass der Täter ihr mit bloßen Händen die Luft abgedrückt hat. Manche Menschen erregt das. Hätte sie das nicht gewollt, hätte sie sich gewehrt, was Spuren hinterlassen hätte.»

Henry neigte abwägend seinen Kopf hin und her. Das war eine interessante und durchaus plausible Theorie.

«Vielleicht hat es ihr nicht gereicht, um zum Orgasmus zu kommen. Der Täter hat sie an einen Stuhl gefesselt und ihr die Tüte über den Kopf gezogen. Dann ist es zu einem Unfall mit Todesfolge gekommen.»